Palliativmedizin Krebskranken ein Sterben zu Hause ermöglichen

Werbung
T H E M E N
D E R
Z E I T
Palliativmedizin
Thomas Schindler1
Achim Rieger1, 2
Susanne Woskanjan1
Krebskranken ein Sterben
zu Hause ermöglichen
Palliativmedizinische Versorgung auf hohem Niveau kann
auch im ambulanten Sektor gewährleistet werden, wenn die
entsprechenden Versorgungsstrukturen vorhanden sind.
S
eit den 60er-Jahren des 20. Jahrhunderts wird – vor allem in den angloamerikanischen Ländern – zunehmend darauf hingewiesen, wie wichtig
es ist, terminal Schwerstkranken ein
Sterben in Würde zu ermöglichen und
die dafür erforderlichen Strukturen zu
schaffen (1, 8, 13, 21). Wesentliche Impulse in diese Richtung kamen von der
Hospizbewegung, die sich zuerst in
England, später auch in anderen Ländern für eine bessere Versorgung von
Schwerstkranken und Sterbenden einsetzte und bis heute maßgeblich von
ehrenamtlichem Engagement getragen
wird. Seit den 80er-Jahren bemühen
sich auch in Deutschland Hospizinitiativen nach englischem Vorbild um eine
Reform der ambulanten und stationären Betreuung Sterbender (18).
Dies führte zunächst zu einem wachsenden Angebot stationärer Versorgungseinrichtungen: Im Zeitraum von 1990
bis 1999 erhöhte sich die Zahl der Palliativstationen von drei auf 55, die der stationären Hospize von drei auf 65 (10).
Im ambulanten Bereich wurden hingegen nur vereinzelt Initiativen unterstützt, die – vor allem durch ein verbessertes Angebot im pflegerischen Bereich – dazu beitrugen, den Anteil der
zu Hause sterbenden Krebspatienten zu
erhöhen (9, 16, 19). Seit Mitte der 90erJahre werden auch Vorhaben gefördert,
in deren Mittelpunkt die konsiliarärztliche Beratung der Hausärzte bei der
palliativmedizinischen Versorgung ihrer
Patienten steht (7, 15, 20). Das Berliner
1 Home Care Berlin e.V. (Vorstandsvorsitzender: Dr. med.
Reimer Junkers)
2 Universitätsklinikum Charité Campus Virchow-Klinikum,
Medizinische Klinik mit Schwerpunkt Onkologie und
Hämatologie (Leiter: Prof. Dr. med. Dieter Huhn)
A 2688
Home-Care-Projekt setzte einen anderen konzeptionellen Schwerpunkt.
1993 wurde in Berlin auf Initiative
des Berliner Onkologen Dr. BerndRüdiger Suchy und des Public-HealthForschungsprojekts „Ambulante Onkologie“ der gemeinnützige Verein
„Home Care e.V.“ (seit 1998: „Home
Grafik 1
Häufigste Gründe für die Überweisung
in die Home-Care-Betreuung
Terminalbetreuung
58,0
Schmerzen
40,6
andere körperliche Beschwerden
33,5
Ernährungsschwierigkeiten
25,6
psychische Problematik
11,9
pflegerische Problematik
9,2
soziale Problematik
9,2
0
5 10 15 20 25 30 35 40 45 50 55 60
in Prozent aller Patienten; Mehrfachnennungen möglich
Die Onkologischen Schwerpunktpraxen stehen
als zuweisende Einrichtung in die Home-CareVersorgung immer noch an der Spitze (30
Prozent), gefolgt von den Krankenhäusern
(26 Prozent) und den Hausärzten (22 Prozent).
Care Berlin e.V.“) gegründet. Anlass
für die Gründung war die Beobachtung,
dass mit der Ausweitung der Onkologischen Schwerpunktpraxen (OSP) zwar
immer mehr Tumorpatienten ambulant
behandelt werden konnten, dass aber
diejenigen Patienten, deren Mobilität
infolge des Fortschreitens ihrer Krank-
heit erheblich eingeschränkt war, am
Lebensende häufig doch noch in ein
Krankenhaus eingewiesen werden mussten. Anhand einer 1992 bis 1994 in der
OSP Suchy durchgeführten Pilotstudie
konnte nachgewiesen werden, dass
durch den Einsatz eines „Home-CareArztes“, der ausschließlich schwerstkranke Tumorpatienten in ihrer Wohnung betreut, die präfinale Einweisungsrate erheblich gesenkt werden
kann und die meisten Patienten ihrem
Wunsch entsprechend und medizinisch
gut versorgt zu Hause sterben können.
Die Ergebnisse der Pilotstudie und
das Engagement des Vereins führten
1994 für den Bereich der Kassenärztlichen Vereinigung (KV) Berlin zu einer
Vereinbarung (von Beginn an unter
dem Titel „Home Care“) zwischen KV
und gesetzlichen Krankenkassen, die
die ambulante Versorgung schwerstkranker und sterbender Tumorpatienten durch „Home-Care-Ärzte“ auf eine
neue finanzielle Basis stellte (12). Das
Angebot beschränkt sich auf Patienten,
die kurativ nicht mehr behandelbar
sind, deren Krebsleiden eine deutliche
Progredienz aufweist und deren Mobilität so weit eingeschränkt ist, dass ihnen ein Verlassen der Wohnung nicht
mehr zugemutet werden kann. Die
Zahl der OSP, die sich dem Projekt angeschlossen haben und im Sinne der
Vereinbarung Home-Care-Aktivitäten
anbieten, hat sich bis heute (Stand: Juli
2000) auf 13 erhöht. Parallel dazu ist
auch die Zahl der jährlich durch HomeCare-Ärzte versorgten Patienten stetig
gestiegen; sie lag 1999 bei 1 114 dokumentierten Fällen.
Die nachfolgende Übersicht basiert
auf der Auswertung der Patientendo-
Deutsches Ärzteblatt½ Jg. 97½ Heft 41½ 13. Oktober 2000
T H E M E N
kumentation für das Jahr 1999. An der
Dokumentation beteiligten sich zwölf
Praxen*. Die Dokumentationsbögen
werden von den Home-Care-Ärzten im
Sinne einer Totalerhebung zu jedem
Patienten angelegt und bis zum Versorgungsabschluss geführt.
Situation zu Beginn der
Versorgung
Das Durchschnittsalter der betreuten
Patienten betrug 66 Jahre. Der Anteil
der Frauen lag mit 52 Prozent etwas
über dem der Männer. In fast zwei Dritteln der Fälle wohnten die Patienten
mit Angehörigen zusammen in einer
Wohnung, in knapp einem Viertel allein, drei Prozent lebten in einem Pflegeheim, und zehn Prozent wurden bereits zum Zeitpunkt der Übernahme in
die Home-Care-Versorgung in einem
der beiden stationären Hospize Berlins
betreut. In 60 Prozent der Fälle war
schon zu Home-Care-Beginn ein ambulanter Pflegedienst in die Versorgung
involviert. Überraschend wenigen Patienten (31 Prozent) war zum Aufnahmezeitpunkt eine Pflegestufe zuerkannt
worden (Stufe I: sechs Prozent, Stufe II:
18 Prozent, Stufe III: sieben Prozent).
Die prozentualen Anteile der Primärdiagnosen bei der Home-CareKlientel entsprechen im Wesentlichen
den Anteilen unter den Krebs-Todesfällen in Berlin wie auch in der Gesamtbevölkerung Deutschlands.
Der Allgemeinzustand stellte sich
bei 61 Prozent der Patienten bereits zu
Beginn der Home-Care-Versorgung als
„stark eingeschränkt“ dar (= intensive
palliativmedizinische Therapie beziehungsweise Bettlägerigkeit), bei 22
Prozent wurde er als „eingeschränkt“
eingestuft, und in 17 Prozent aller Fälle
befanden sich die Patienten in einem
moribunden Zustand. 35 Prozent aller
Patienten waren zum Aufnahmezeitpunkt kachektisch, bei 28 Prozent wurde ein deutlich reduzierter Ernährungszustand festgestellt, immerhin 37 Pro* Wir bedanken uns bei den Home-Care-Ärztinnen/Ärzten Petra Anwar, Dr. med. Christian Berndt, Michael
Friedmann, Dr. med. Helene Groß, Alexander Hass, Marion Heinschel, Ruben Herzog, Dr. med. Benno Mohr, Jan
Paulsen, Dr. med. Ingrid Pottins, Stephan Putz und Dr.
med. Hilke Wirl für ihre Mitarbeit an der Projektstatistik.
D E R
Z E I T
Grafik 2
Palliativmaßnahmen zum Zeitpunkt der Aufnahme und im Home-Care-Verlauf
(in Prozent der über einen Tag lang betreuten Patienten n = 1 041)
5,8
PEG/transnasale Sonde
7,9
18,6
zentraler venöser Zugang
24,0
hochkalorische enterale
Ernährung
3,7
3,7
hochkalorische parenterale
Ernährung
8,7
11,9
bei Aufnahme
0,3
s.c. Flüssigkeitssubstituti2,5
on
5,8
15,5
i.v. Flüssigkeitssubstitution
7,9
13,3
Sauerstoffgabe
11,7
10,8
Transfusion(en)
5,3
7,9
Aszitespunktion(en)
3,7
1,7
Pleurapunktion(en)
0
5
zent wiesen (noch) keinen wesentlichen
Gewichtsverlust auf.
Die häufigsten zu Beginn der HomeCare-Versorgung angegebenen Beschwerden waren Schwäche, Schmerzen und Appetitlosigkeit. Die stärkste
durchschnittliche Ausprägung auf einer
Skala von 1 (= schwach) bis 3 (= stark)
zeigten Paresen, exulzerierende Wunden, Schwäche und (Sub-)Ileus-Zustände, gefolgt von Schmerzen und Appetitlosigkeit. Eher gering ausgeprägt stellten sich Symptome wie Schlafstörungen, Angst und Husten dar.
Therapeutische Maßnahmen
Zum Aufnahmezeitpunkt erhielten 74
Prozent der Patienten eine medikamentöse Schmerztherapie. In fast der
Hälfte der Fälle waren Mittel der
WHO-Stufe III (starke Opioide) rezeptiert worden. Im Verlauf der HomeCare-Betreuung stieg der Anteil der
Patienten, die mit starken Opioiden behandelt werden mussten, auf 78 Prozent
an. Deutliche Veränderungen zeigten
sich auch bei der Applikationsform, ins-
Deutsches Ärzteblatt½ Jg. 97½ Heft 41½ 13. Oktober 2000
10
15
20
25
besondere in Bezug auf den Einsatz invasiver Techniken zur Analgetika-Applikation. Bei jeweils einem Viertel der
Patienten wurden – zumindest in den
letzten Lebenstagen – regelmäßige s.c.Injektionen gegeben oder s.c.- beziehungsweise i.v.-Dauerinfusionen – zumeist über Pumpensysteme – verabreicht.
Im Betreuungsverlauf hat sich der
Einsatz von Antiemetika (28 bei Aufnahme versus 53 Prozent im Verlauf)
und Antidepressiva (zehn versus 18
Prozent) fast verdoppelt, der von Sedativa (14 versus 38 Prozent) fast verdreifacht und der von Neuroleptika (sechs
versus 22 Prozent) beinahe vervierfacht. Auch Laxanzien (33 versus 46
Prozent) und Kortikosteroide (21 versus 33 Prozent) wurden deutlich häufiger als zum Aufnahmezeitpunkt verordnet.
Weniger deutlich angestiegen ist hingegen die Häufigkeit des Einsatzes invasiver Techniken zur Ernährungstherapie und Flüssigkeitssubstitution.
Die therapeutischen Interventionen
während der Home-Care-Betreuung
führten zu unterschiedlichen Verände-
A 2689
T H E M E N
rungen im Ausprägungsgrad der Beschwerden. Die deutlichsten Therapieerfolge zeigten sich bei Schmerzen (Reduktion des Ausprägungsgrades um 64
Prozent), Erbrechen (56 Prozent),
Schlaflosigkeit und Übelkeit (52 Prozent). Unbeeinflussbar zeigten sich hingegen Parese und Lähmungen.
Die durchschnittliche Home-CareBetreuungszeit betrug 44 Tage (Median: 23 Tage). In dieser Zeit wurden die
Patienten durchschnittlich zwölfmal
von ihrem Home-Care-Arzt besucht.
Die meisten Patienten konnten zu Hause sterben (61 Prozent), weitere 20 Prozent verbrachten ihre letzte Lebenszeit
unter Betreuung der Home-Care-Ärzte
in einem der beiden stationären Hospize Berlins (17 Prozent) oder in einem
Pflegeheim (drei Prozent). Lediglich 19
Prozent der Home-Care-Patienten mussten präfinal in ein Krankenhaus eingewiesen werden. Der präfinale stationäre Aufenthalt dauerte durchschnittlich
neun Tage und lag damit deutlich unter
der präfinalen Krankenhausverweildauer von Krebspatienten im Berliner
Durchschnitt (16 Tage). In 70 Prozent
der Fälle führten primär medizinische
Gründe (in erster Linie Dyspnoe, Blutungen und therapierefraktäre Schmerzen) zu einer stationären Einweisung
am Lebensende. Bei den verbleibenden 30 Prozent standen psychosoziale
Gründe (vor allem die Überlastung der
Angehörigen, der Wunsch des Patienten sowie das Scheitern der Bemühungen um die Organisation einer adäquaten Pflege) im Vordergrund.
D E R
Z E I T
lichen Erhebungsinstrumente zur Evaluation des Erfolgs von Versorgungsmodellen gibt, ist eine Gegenüberstellung des Berliner Home-Care-Projekts
mit anderen palliativmedizinischen
Diensten nicht unproblematisch. Dies
ist jedoch notwendig, um den Stellenwert des Berliner Projekts zu verdeutlichen.
Neben der Gewährleistung einer hohen Versorgungsqualität lässt sich der
Erfolg eines ambulanten palliativmedizinischen Versorgungsmodells auch an
der Senkung der stationären Einweisungsquote am Lebensende messen.
Obwohl sich nationale und internationale Modellprojekte erwartungsgemäß
durch eine geringere präfinale EinweiGrafik 3
Probleme während
der Home-Care-Betreuung
Belastung der Angehörigen
33,8
Krankheitsverarbeitung Patient
Palliativmedizin
auf hohem Niveau
22,6
Symptomkontrolle
13,2
schwieriges soziales Umfeld
11,7
Aufklärung über Prognose
11,0
Kommunikation
9,5
Schmerztherapie
6,4
Fragen des Therapieverzichts
5,2
Wunsch nach Sterbehilfe
Betreuung durch einen
erfahrenen Arzt
Das Berliner Home-Care-Projekt unterscheidet sich hinsichtlich seiner Organisationsform wesentlich von anderen Diensten zur Verbesserung der Versorgungssituation Schwerstkranker und
Sterbender. Im Gegensatz zu anderen
professionellen Palliativdiensten im
ambulanten Bereich steht nicht das
pflegerische Angebot oder die Unterstützung der Hausärzte bei der Primärversorgung im Vordergrund, sondern
die direkte Betreuung der Patienten
durch einen palliativmedizinisch erfahrenen Arzt. Da es (noch) keine einheit-
A 2690
1996 ebenfalls vom BMG geförderte
Göttinger Projekt SUPPORT auf 53
Prozent. Durch die enge Zusammenarbeit mit einem stationären Hospiz
konnte in Göttingen – ähnlich wie in
Berlin – die Zahl der präfinalen Krankenhauseinweisungen darüber hinaus
deutlich gesenkt werden (7). Im Rahmen des seit 1998 unter anderem von
der Europäischen Union geförderten „Palliativmedizinischen Konsiliardienstes für Berliner Hausärzte“ (PKD)
konnten 58 Prozent der Tumorpatienten zu Hause sterben (15). Ein außergewöhnlich hoher Anteil zu Hause
gestorbener Krebspatienten wird seit
mehreren Jahren in Mailand registriert
(1997: 85 Prozent), wo über einen Zeitraum von inzwischen 20 Jahren ein gut
funktionierendes und vor allem multiprofessionelles Netzwerk zur palliativmedizinischen Versorgung entwickelt
wurde (4).
3,0
psychische Belastung HC-Arzt
2,3
0
5
10
15
20
25
30
35
in Prozent aller Patienten; Mehrfachnennungen möglich
sungsrate im Vergleich zum jeweiligen
Landesdurchschnitt auszeichnen (5),
gibt es unter den Projekten Unterschiede. So erzielte das in den Jahren 1995
bis 1998 vom Bundesgesundheitsministerium (BMG) an den Zentren
Hamburg-Altona, Hamburg-Barmbek,
Cottbus und Rüdersdorf geförderte
Projekt QUAST einen Anstieg des Anteils der zu Hause sterbenden Tumorpatienten auf 49 Prozent (20), das seit
Aussagekräftige Studien über die Betreuung von schwerstkranken (Tumor-)
Patienten am Lebensende und den
zusätzlichen Nutzen durch stationäre
und/oder ambulante palliativmedizinische Dienste sind in Deutschland bisher rar und auch im internationalen
Vergleich eher selten (17). Eine Analyse der in den letzten 20 Jahren weltweit
gemachten Erfahrungen mit „Palliative
Care Delivery Systems“ verglich 1999
41 dieser Dienste hinsichtlich ihres
Nutzens – leider wurde keine deutsche
Studie einbezogen (3).
Die Ergebnisse belegen, dass Palliativmedizin auch im ambulanten Sektor
auf hohem Niveau angeboten werden
kann. Das Ziel, die ambulante Versorgung schwerstkranker und sterbender
Tumorpatienten zu verbessern und ihnen häufiger als bisher ein Sterben zu
Hause zu ermöglichen, konnte durch
das Berliner Home-Care-Projekt realisiert werden. Spezialisierte palliativmedizinische Dienste sollten daher einen festen Platz in der ambulanten Versorgungsstruktur des Gesundheitswesens erhalten.
Die Beeinflussbarkeit von Tumorschmerzen ist bei Kenntnis und Beherr-
Deutsches Ärzteblatt½ Jg. 97½ Heft 41½ 13. Oktober 2000
T H E M E N
schung der Regeln der modernen
Schmerztherapie sehr hoch. Auch relativ häufig auftretende Symptome Übelkeit, Erbrechen und Obstipation lassen
sich in der Regel deutlich lindern. Die
Akzeptanz entsprechender Fortbildungsangebote bei den nicht spezialisierten Kollegen in der Primärversorgung muss weiter erhöht werden, um
auch dort zu besseren Ergebnissen zu
kommen. Im Gegensatz zum Tumorschmerz lassen sich andere im Finalstadium eines Tumorleidens auftretende
Symptome, wie zum Beispiel Schwäche,
Appetitlosigkeit und Dyspnoe, bis heute nur unbefriedigend beeinflussen.
Verstärkte Forschung auf diesem Gebiet ist dringend notwendig.
Ein gravierendes Problem bleibt –
trotz Home-Care-Versorgung – die psychosoziale Belastung von Patient und
Angehörigen. Ein Teil der familiären
Belastungen bei der Betreuung Sterbender könnte durch entsprechend spezialisierte Palliativpflegedienste aufgefangen werden, die sich mit der erforderlichen Zeit den Bedürfnissen
Schwerstkranker und ihrer Angehörigen widmen. Gesundheitspolitische
Initiativen sind erforderlich, um qualifizierte Pflegedienste durch eine adäquate Honorierung ihrer Leistungen in die
Lage zu versetzen, ganz im Sinne von
„palliative care“ und ohne die Gefahr
wirtschaftlicher Schwierigkeiten tätig
zu werden.
Problematisch ist die häufig zu spät,
oftmals auch gar nicht vorgenommene
Einstufung von Tumorpatienten in eine
entsprechende Pflegestufe. Der extrem
variable Krankheitsverlauf sowie die
kurze durchschnittliche Betreuungsdauer terminal kranker Krebspatienten machen es dringend erforderlich,
spezielle Einstufungskriterien zu entwickeln, die den zumeist rasanten Verlauf der Krankheit berücksichtigen.
❚ Zitierweise dieses Beitrags:
Dt Ärztebl 2000; 97: A 2688–2692 [Heft 41]
Die Zahlen in Klammern beziehen sich auf das Literaturverzeichnis, das über das Internet (www.aerzteblatt.de)
erhältlich ist.
Anschrift für die Verfasser:
Dr. med. Thomas Schindler
Spenerstraße 31
10557 Berlin
E-Mail: [email protected]
A 2692
D E R
Z E I T
Klinische Studien
Hilfe aus dem Internet
In Europa fehlt ein Zentralregister Klinischer Studien. Es würde
Kooperationen bei diesen teuren, manchmal ethisch heiklen
Leistungen erleichtern und Wiederholungen entbehrlich machen.
A
llgemeines Ansehen und spezielle Bewertung klinischer Studien
hängen wesentlich von den Interessenten ab. Für den Forscher vermehren sie das Wissen. Der Arzt hofft, dass
ihre Ergebnisse seine diagnostischen
und therapeutischen Möglichkeiten verbessern; gute klinische Studien gelten
als der wichtigste Baustein der evidenzbasierten Medizin. Für die pharmazeutische Industrie zählen sie zu den Voraussetzungen, um neue Produkte auf
den Markt zu bringen und sie gegen
Konkurrenten zu behaupten. Versicherungen und Einrichtungen des Gesundheitswesens erwarten von ihnen Zahlen
zu Kosten und Nutzen geläufiger und
künftiger medizinischer Aktivitäten.
Ethik-Kommissionen als
Treuhänder des Patienten
Auch der Patient weiß, dass Fortschritte der Medizin klinische Studien voraussetzen. Ihn wird Forschung vor allem dann interessieren, wenn daraus
persönliche Vorteile entspringen. Je
verzweifelter seine Situation, desto
eher ist er bereit, das Risiko einzugehen, an einer klinischen Prüfung teilzunehmen.
Ethik-Kommissionen sind Treuhänder des Patienten. Sie haben darauf
zu achten, dass die Vielfalt der Interessen nicht auf seine Kosten befriedigt
wird, also die geschriebenen und ungeschriebenen Gesetze seiner Gesellschaft eingehalten werden. Ihnen wird
in allen westlichen Staaten eine Schiedsrichterfunktion zuerkannt, in Deutschland vor allem durch das Arzneimittelund das Medizinproduktegesetz.
Soll man Studien erst zur Kenntnis
nehmen, wenn sie in einer angesehenen
Zeitschrift gedruckt sind? Der Forscher
und Lehrer, der Verfasser einer kriti-
schen Übersicht wird dem zustimmen,
weil es ihm vor allem um die wissenschaftliche Bewertung von Veröffentlichungen geht. Aber auf solche hoch geschätzten Papiere kann keine Behörde
warten, die über eine Zulassung im gesetzlichen Sinne zu befinden hat. Sie
wird sich mit weniger Gesichertem bescheiden müssen, auch mit (noch) Unpubliziertem. Die US-amerikanische Zulassungsbehörde, die Food and Drug
Administration (FDA), verlangt bei Zulassungen, dass ihr Hersteller von Arzneimitteln auch solche Studien vorzulegen haben, die (noch) nicht zur Veröffentlichung bestimmt sind. Dabei spielt
deren Ergebnis keine Rolle, was auch
dem publicaton bias entgegenwirkt. Die
Studien unterliegen dem „Freedom of
Information Act“ des US-Kongresses,
können also auch von Dritten eingesehen und ausgewertet werden.
Ethik-Kommissionen befinden sich
in einer vergleichbaren, aber schwierigeren Lage. Damit sie eine ethische Bewertung vornehmen können, sollten sie
sich der wissenschaftlichen Qualität des
Vorhabens möglichst versichert haben,
denn ein ungutes Projekt rechtfertigt
nicht einmal eine Blutentnahme. EthikKommissionen werden nur ausnahmsweise Fachleute vor Ort oder Datenbanken wie medline mit gebührender
Sorgfalt befragen können. Wie gerne
schlügen sie da in einem Register bereits laufender Studien nach, um den
aktuellen Stand der Forschung direkt
zu erfahren!
Wie findet der kranke Laie den Weg
in eine wissenschaftlich qualifizierte klinische Studie? In Deutschland klingt
diese Frage suspekt. Der hiesigen öffentlichen Meinung zufolge sollten die
Patienten den Einschluss lieber vermeiden, denn – so der Tenor – klinische
Studien dienten nicht ihnen, sondern
der Karriere der Forscher und dem
Deutsches Ärzteblatt½ Jg. 97½ Heft 41½ 13. Oktober 2000
T H E M E N
D E R
Z E I T
Börsenstand der Industrie. In den USA kommerzielle Einrichtungen müssen lebensbedrohlicher Krankheiten oder
hingegen werden Patienten zur Teil- über ihre Leistungen berichten, für die Zustände betreffen. Derzeit umfasst es
nahme eingeladen. Eine in Boston seit sie Geld eingeworben haben. Bei dem nahezu 6 000 Studien.
sechs Jahren ansässige Firma (Center genannten Klinikum in Dallas geht es
Watch Publications) empfiehlt sich im immerhin um 150 Millionen Dollar
Internet als „Clinical Trials Listing Ser- jährlich. Da kann sich die Zahl geeigne- Leitlinien zum
vice“ mit Publikationen für „Freiwillige ter Patienten schnell als Engpass klini- Informationsprogramm
und Angehörige der Gesundheitsberu- scher Forschung erweisen.
ClinicalTrials.gov dient den Patienfe“, ja sogar als „The Information ReErst recht gilt dies für die pharmasource for the Clinical Trials Research zeutischen Firmen. Auch von manchen ten und deren Familien, dem GesundIndustry“ (1). Ihr Verzeichnis von hiesigen Unternehmen erfährt man, heitspersonal und der Öffentlichkeit als
Wirkstoffen in der klinischen Prüfung dass sie die Zahl ihrer heranreifenden ausführlicher Katalog. Das System ist
umfasst die Profile von mehr als 1 300 Präparate in den letzten Jahren verviel- von den National Institutes of Health
Arzneimitteln. Auch Universitäten fachen konnten. Automatisierung der (NIH) mithilfe ihrer National Library
schreiben ihre Studien im Internet aus, Synthese, der biochemisch-pharmako- of Medicine (NLM) entwickelt worden,
um Probanden und Patienten anzuwer- logischen Analyse und der Daten- in enger Zusammenarbeit mit allen
NIH-Instituten und der
ben. Auf der Homepage
FDA. Anfang Mai stammdes Southwestern Medical
ten die laufenden (einCenter, University of Texas
schließlich der nicht mehr
in Dallas, findet man unter
rekrutierenden) 5 946 Studem Stichwort „Patient
dien von folgenden SponCare“ 31 Studien quer
sorengruppen: National Indurch die Medizin, nicht
stitutes of Health 3 192, annur zu Arzneimitteln, sondern auch zu genetischen
dere Bundesinstitute 102,
Erkrankungen, seltenen
Industrie 676, UniversitäKrankheiten, zur Diagnoten und Ähnliches 1 975.
stik und zur Prophylaxe (2).
Offenbar stammen die
Während hierzulande
weitaus meisten Studien
die Ausschreibung einer
von staatlichen InstitutioStudie die Bedenkenträger
nen, weil sie das Gesetz daweckt, dürfte dies in den
zu verpflichtet. Dass die InUSA eher bei ihrer Gedustrie nur einen kleinen
Die Firma Center Watch Publication bietet mit ihrem Internet-Angebot
heimhaltung zutreffen. Das
Anteil stellt, hängt wohl
Patienten die Möglichkeit, sich an Klinischen Studien zu beteiligen. Profile von mehr als 1 300 Arzneimitteln liegen schon vor.
US-amerikanische Gesundmit ihrem Interesse an Verheitsministerium hat bis ins
traulichkeit zusammen.
Einzelne vorgegeben, wie bei Studien auswertung, Fortschritte der biocheWie vollständig melden typische
an Nichteinwilligungsfähigen vorzuge- mischen, molekularbiologischen und Universitäten ihre Vorhaben? Beispielhen ist. Dabei fehlt nicht die Anwei- pharmakologischen Erkenntnisse be- haft prüften wir das South Western
sung, die Öffentlichkeit umfassend zu schleunigen die präklinische Entwick- Medical Center der Universität Texas
informieren (3).
lung. Tiere kann man wohl einsparen. in Dallas. Die Frage lautete, welche der
Aber es müssen immer mehr Patienten auf seiner Homepage aufgeführten etgewonnen werden, damit sich Prüfun- wa 31 Studien auch im Bundesregister
USA: Gesetz zur Registrierung gen auf Nutzen und Unbedenklichkeit, erscheinen; keine wurde gefunden. Die
also klinische Studien, anschließen kön- Gegenfrage war, welche der für das
klinischer Studien
nen. Wenn auch die genetische Ausstat- Bundesregister gemeldeten Studien
„Clinical Trials Research Industry“ ist tung im Sinne von Pharmacogenomics auch im universitätseigenen Register
nicht nur das Schlagwort einer Firma in die Arzneimittelprüfung eingeht, erscheinen. Es war nur eine. Das will(1), sondern Wirklichkeit. Viele Grup- steigt der Bedarf an Patienten fast un- kürlich herausgegriffene Beispiel zeigt,
pen sind interessiert. Patienten lassen begrenzt.
dass die 6 000 Studien in ClinicalTrisich einschließen, nicht aus NächstenDiese Aspekte haben die USA zu ei- als.gov nur eine kleine Auswahl darstelliebe, sondern weil ihnen handfeste nem Gesetz veranlasst, das zur Regi- len. Auch private Universitäten, etwa
Vorteile geboten werden: besonders strierung klinischer Studien verpflich- Harvard, scheinen sich eher zögerlich
sorgfältige Untersuchungen, neueste tet. Das Projekt wird im Internet unter zu verhalten.
Therapien kostenlos, gelegentlich auch der Adresse ClinicalTrials.gov geführt
Wie verteilen sich die im Bundesrefinanzielle Vergütung. Leser der Home- (4). Seit 1998 sammelt es staatlich oder gister gesammelten Studien auf die
page werden gebeten, ihre „Loved privat geförderte Studien, die experi- Subdisziplinen der Medizin? Auffalones“ aufmerksam zu machen. Nicht- mentelle Behandlungen schwerer und lend ist die Spitzenposition von „SympDeutsches Ärzteblatt½ Jg. 97½ Heft 41½ 13. Oktober 2000
A 2693
T H E M E N
toms und General Pathology“ (3 924
Nennungen). Eine Stichprobe zeigt,
dass manche der hier gelisteten Studien
weniger Arzneimittelprüfungen als Gegenstände der Krankheitslehre betreffen. Hilfreich ist das reiche Angebot
von Studien über „Rare Diseases“. Das
Stichwort „Orphan Drugs“ gestattet eine weitere Analyse.
Die 676 Studien der Pharmaindustrie
verteilen sich derzeit auf 158 Sponsoren. Einige der Namen sind uns Europäern vertraut. Man könnte natürlich
prüfen, ob die Nennung eine US-Niederlassung oder die Europäische Mutter anzeigt. Ein „Heimatpark“ für USEinrichtungen ist aber nicht eingezäunt, denn man findet auch neue Studien, die in den Niederlanden, Dänemark oder England gesponsert werden.
Aus Deutschland werden zwei Studien
genannt, die schon liefen, ehe ClinicalTrials.gov vor zwei Jahren eingerichtet wurde.
Die FDA hat Leitlinien zum Informationsprogramm erstellt. Alle Texte
sind musterhaft formuliert, also offenbar gemäß einer Vorgabe verfasst und
von Fachleuten überarbeitet. Diese
prüfen auch, ob die Studien ernsthafte
Erkrankungen oder Zustände betreffen, wie das Gesetz einschränkend verlangt. Die Texte erscheinen in doppelter Auführung. Eine einfach formulierte Version richtet sich an Patienten/Probanden, eine ausführliche an
Fachleute.
Medline: Unentbehrlich
für medizinische Forschung
Eine ClinicalTrials.gov vergleichbare
Datenbank gibt es in Europa nicht; nur
Ansätze sind erkennbar. Dafür mag es
manche Gründe geben. Wer jemals die
Analyse einer Studie durch die FDA
oder die NIH erlebt hat, wird Respekt
vor der dahinter stehenden Qualifikation empfinden. Sie macht auch ClinicalTrials.gov konkurrenzlos. Medline,
das ältere Angebot der National Library of Medicine, ist unentbehrlich für
medizinische Forschung. Das neue Angebot ist von vergleichbarer Bedeutung
für klinische Studien am Menschen, allerdings mit mehreren Einschränkungen.
A 2694
D E R
Z E I T
a) Das Register behandelt fast nur
Studien in den USA. Aber dort gedeihen etwa 50 Prozent der globalen wissenschaftlichen Produktion (auf Deutschland entfallen nur fünf Prozent). Es ist
also ein repräsentativer, wenn auch
nicht vollständiger Einblick in den
Weltmarkt der „Clinical Studies Industry“.
b) Es behandelt nur Studien, die
ernsthafte Erkrankungen und Zustände betreffen.
c) Ohne gesetzliche Verpflichtung
zur Anmeldung sämtlicher klinischer
Studien wird man keine Vollständigkeit
erzwingen. Selbst in den USA verpflichtet die Regelung nur die nationalen Institutionen, aber offenbar nicht
die der einzelnen Bundesstaaten und
schon gar nicht die Einrichtungen der
Industrie.
Jede Literatursuche ist grundsätzlich
unvollständig, und doch geht eine EthikKommission davon aus, dass sie studiengerecht erstellt ist. So sollte sie auch
eine Befragung des US-Registers durch
den jeweiligen Antragsteller fordern.
Goethe stellt fest: „Nichts ist schlimmer
als tätige Unwissenheit.“ Sein Wort gilt
für jede Art von Forschung. Bei klinischen Studien gewinnt es eine zusätzliche ethische Dimension. Beantragt
man die Genehmigung von Tierversuchen, so muss man sie im Hinblick auf
den gegenwärtigen Stand der Erkenntnis rechtfertigen (7). Diese Auflage
sollte nicht weniger bei Studien am
Menschen gelten. Die Nutzer des Internets sollten auch ihren zeitlichen Gewinn bedenken. In Medline erscheint
nur, was bereits eine Eingangsprüfung
in die Weltliteratur bestanden hat. Das
US-Register hingegen enthält Studienpläne, deren Publikation noch Jahre
ausstehen kann.
Klinische Studien sind ein hohes gesellschaftliches Gut, das es zu bewahren
und zu pflegen gilt. Der Patient wird
weniger am Fortschritt der Wissenschaft oder der Heilung späterer Patienten als am eigenen Wohlbefinden interessiert sein; seine Mitarbeit kommt
aber der Allgemeinheit zugute. Dass
der US-Kongress diesen Einsatz gesetzlich anerkennt, fördert und erleichtert
auch die ethische Anerkennung, die immer eine öffentliche ist. Wer klinische
Studien in den USA ausrichtet, spürt
staatlichen Rückenwind. Der Bedarf an
Studien wird zunehmen, und damit auch
die Nachfrage nach teilnahmebereiten
Patienten. Aus vielen Gründen kann
man klinische Studien nicht in Länder
mit anderer Population, anderem wissenschaftlichem und ethischem Standard verlagern. Wissenschaft, Technik
und menschliches Wohlergehen sind untrennbar verbunden. Das hat man in
den USA offenbar gut verstanden.
Europäische Datei
wäre wünschenswert
Der allgemeine Erkenntnisgewinn
steigt mit den Jahren exponentiell an.
Sein Gehalt zwingt, in Wissenschaft,
Technik und Gesellschaft umfassende,
gut gebaute und vernetzte Dateien zu
schaffen. Eine Unterlassung müsste
man mit dem Verschwinden teuer gewonnener Erkenntnisse in ungeordneten Datenhalden bezahlen (5). Auch
Ethik setzt Wissen über die quantitativen Folgen unserer Entscheidung voraus; sie ruht auf nummerischen Grundlagen (6). Aus wissenschaftlichen, therapeutischen, ethischen und finanziellen Gründen sollte das durch die USA
vorgegebene Register möglichst weitgehend genutzt werden. Eine entsprechende europäische Datei wäre wünschenswert. Sie würde den hiesigen Bedingungen eher gerecht. Der Weg dahin ist weit, gepflastert mit juristischen
Hindernissen.
Literatur
1. http://www.centerwatch.com
2. http://www.swmed.edu
3. Food and Drug Administration: Protection of human
subjects: Informed consent. Bull. Med. Eth. October
1997: 9–11.
4. http://ClinicalTrials.gov
5. Maurer SM, Firestone RB, Scriver CR: Science`s neglected legacy. Large, sophisticated databases cannot
be left to chance and improvisation. Nature 2000;
405: 117–120.
6. Habermann E: Numerische Ethik. BIF Futura 1997; 12:
264–271.
7. Tierschutzgesetz in der Bekanntmachung vom 25.
Mai 1998 (§ 8 [3] 1).
Prof. Dr. Ernst Habermann
Dr. Hans-Joachim Krämer
Rudolf-Buchheim-Institut für Pharmakologie
der JLU Gießen
Gaffkystraße 11 C
35385 Gießen
Deutsches Ärzteblatt½ Jg. 97½ Heft 41½ 13. Oktober 2000
Herunterladen