Die vollständige Induktion Die natürlichen Zahlen, insbesondere ihre Eigenschaft, dass jede Zahl genau einen Nachfolger hat und es dazwischen nichts gibt, ermöglichen die Konstruktion eines häufig benutzten Beweisverfahrens. Es wird vollständige Induktion1) genannt. Betrachten wir z. B. die folgende Behauptung, die wir abkürzend A(n) nennen wollen: A(n): 2 · n + 1 ist eine ungerade Zahl für alle n ∈ N. Damit haben wir im Prinzip unendlich viele Aussagen definiert: A(1); A(2); A(3); usw. Die Idee der vollständigen Induktion besteht nun darin, alle diese Behauptungen zu beweisen. (Deshalb heißt sie vollständig.) Man beginnt mit weiter mit dann dann dann usw. A(1): A(2): A(3): A(4): A(5): 2 · 1 + 1 = 3; 3 ist eine ungerade Zahl 2 · 2 + 1 = 5; 5 ist eine ungerade Zahl 2 · 3 + 1 = 7; 7 ist eine ungerade Zahl 2 · 4 + 1 = 9; 9 ist eine ungerade Zahl 2 · 5 + 1 = 11; 11 ist eine ungerade Zahl o.k. o.k. o.k. o.k. o.k. Und so „hangelt“ man sich immer weiter, ausgehend davon, dass die Behauptung für eine Zahl gilt, rechnet man sie für die nächstfolgende Zahl aus. (Hier kommt die Sache, dass jede natürliche Zahl genau einen Nachfolger hat, zum Tragen. Zwischen den Zahlen, z. B. zwischen 3 und 4, darf es selbstverständlich keine weiteren geben, sonst hätten wir sie bei diesem Vorgehen überschlagen und unsere angestrebte Vollständigkeit wäre dahin; aber auch das erfüllen die natürlichen Zahlen.) Die ganze Angelegenheit ist so einfach wie ein Abzählreim im Kindergarten. Das Problem ist nur, dass wir hier bis unendlich zählen müssen (und das ist sehr, sehr mühsam). Zum Glück gibt es in der Mathematik für diesen Fall einen Trick: Man ersetzt die einzelnen Zahlen 1; 2; 3; ... durch eine Variable, z. B. n. Die nachfolgende Zahl ist dann n + 1. (z. B. n = 4 dann ist die nachfolgende Zahl n + 1 = 4 + 1 = 5) 1) Induktion (lat.): wissenschaftliche Methode vom besonderen Einzelfall auf das Allgemeine, Gesetzmäßige zu schließen 1 1) Wir nehmen nun an, A(n) sei wahr für irgendein n, z. B. für n = 1. A(1): 2 · 1 + 1 = 3; 3 ist eine ungerade Zahl – o.k. Jetzt rechnen wir nur noch nach, dass die darauf folgende Behauptung A(n + 1) dann auch gilt. In unserem Fall müssen wir nachweisen, dass aus der Aussage A(n): „2n + 1 ist eine ungerade Zahl“ die Aussage A(n + 1): „2(n + 1) + 1 ist eine ungerade Zahl“ folgt!1) Da n ein Platzhalter für eine beliebige Zahl ist, haben wir nachgewiesen, dass jede nachfolgende Behauptung richtig ist. Alle Behauptungen A(1); A(2); A(3), A(4); usw. sind deshalb bewiesen. Beweis: A(n): 2n + 1 ist eine ungerade Zahl. Die nächste ungerade Zahl ergibt sich durch Addition von 2, also 2n + 1 + 2 = 2n + 2 + 1. Das lässt sich durch Ausklammern von 2 umformen in: 2(n + 1) + 1. Also ist 2(n + 1) + 1 eine ungerade Zahl. Genau das wird in A(n + 1) behauptet. Also stimmt A(n + 1). Folglich gilt: A(n) ⇒ A(n + 1) ist wahr. Man rechnet also nur die Behauptung A(1) konkret (d. h. mit Zahlen) nach. (Das nennt man Induktionsverankerung.) Dann zeigt man, dass die nächste Behauptung A(n + 1) auch gilt (allgemein mit Variablen). (Das nennt man Induktionsschluss.) Damit können wir unseren „Abzählreim“ bis unendlich fortsetzen: A(1) konkret nachgerechnet Induktionsverankerung A(2) stimmt auch, weil wir allgemein bewie- sen haben, dass dann auch die nachfol- gende Behauptung gilt. Also A(1) ⇒ A(2). A(3) stimmt, da wir gerade A(2) überprüft haben und wir allgemein bewiesen haben: Wenn die Aussage A(n) richtig ist, Induktionsschluss dann ist auch die Nachfolgende, A(n + 1), richtig. Also in diesem Fall: A(2) ⇒ A(3). A(4) stimmt, denn A(4) ist die auf A(3) fol- gende Behauptung. A(5) stimmt, denn A(5) ist die auf A(4) fol- gende Behauptung. Da A(1) gilt (das haben wir konkret nachgerechnet) und jede nachfolgende Behauptung auch (das haben wir allgemein mit Variablen bewiesen), können wir davon ausgehen, dass alle Behauptungen gelten (damit haben wir die Vollständigkeit erreicht). Der Beweis einer Behauptung durch vollständige Induktion besteht also aus zwei Schritten: (1) Induktionsverankerung: A(1). Nachweisen durch konkretes Nachrechnen (2) Induktionsschluss: A(n) ⇒ A(n + 1). Aus A(n) muss durch logische Schlüsse oder Umformungen A(n + 1) abgeleitet werden. Dann ist gezeigt: 1) 2 A(n + 1) ergibt sich, indem man in der Behauptung A(n) die Variable n duch (n + 1) ersetzt Wenn die Behauptung für n richtig ist, dann gilt sie auch für n + 1. Damit ist der Beweis vollständig erbracht. Achtung: Beim Induktionsschluss handelt es sich um eine „Wenn-dannAussage“. Es geht nicht darum, A(n) zu beweisen, sondern nur zu zeigen, dass A(n + 1) wahr ist, falls A(n) wahr ist. Genau das ist eben eine Art des Weiterhangelns ausgehend von einem wahren A(n) nachzuweisen, dass A(n + 1) dann auch wahr ist. Man beginnt diese Hangelei bei A(1). 1. M = {1; 3; 5; 7; 9; ...} Behauptung: A(n): „2n – 1 ist ∈ M ∀ n ∈ N“. (1) Induktionsverankerung: A(1): 2 · 1 – 1 = 1; 1 ∈ M o.k. (2) Induktionsschluss: zu zeigen ist A(n) ⇒ A(n + 1) ist wahr. Also: 2n – 1 ∈ M ⇒ 2(n + 1) – 1 ∈ M Hinweis Beispiel Beweis: A(n): 2n – 1 ∈ M ⇒ Die nächste ungerade Zahl erhält man durch Addition von 2; ⇒ 2n – 1 + 2 = 2n + 2 – 1 = 2(n + 1) – 1; ⇒ 2(n + 1) – 1 ist auch eine ungerade Zahl, also ∈ M; ⇒ A(n + 1) stimmt; damit ist A(n) ⇒ A(n + 1) wahr. 2. Behauptung: Für die Addition von Zweierpotenzen gilt folgende Berechnungsformel für alle n ∈ N: A(n): 2 + 4 + 8 + 16 + 32 + 64 + ... + 2n = 2 · (2n – 1) (1) Induktionsverankerung: A(1): 2 = 2 · (21 – 1); o.k. (A(1) ist eine „Summe“ mit nur einem Summanden) (2) Induktionsschluss: zu zeigen ist A(n) ⇒ A(n + 1) ist wahr: also: [2 + 4 + 8 + 16 + 32 + 64 + ... + 2n = 2 · (2n – 1)] ⇒ [2 + 4 + 8 + 16 + 32 + 64 + ... + 2n + 1 = 2 · (2n + 1 – 1)]. Beweis: A(n): 2 + 4 + 8 + 16 + 32 + 64 + ... + 2n = 2 · (2n – 1) ⇒ 2 + 4 + 8 + 16 + 32 + 64 + ... + 2n = 2 · (2n – 1) | + 2n + 1 n n+1 n ⇒ 2 + 4 + 8 + 16 + 32 + 64 + ... + 2 + 2 = 2 · (2 – 1) + 2n + 1 n + 1 ⇒ 2 + 4 + 8 + 16 + 32 + 64 + ... + 2 = 2 · 2n – 2 + 2n + 1 n + 1 ⇒ 2 + 4 + 8 + 16 + 32 + 64 + ... + 2 = 2n + 1 – 2 + 2n + 1 ⇒ 2 + 4 + 8 + 16 + 32 + 64 + ... + 2n + 1 = 2 · 2n + 1 – 2 ⇒ 2 + 4 + 8 + 16 + 32 + 64 + ... + 2n + 1 = 2 · (2n + 1 – 1): A(n + 1) ⇒ A(n + 1) stimmt; damit ist A(n) ⇒ A(n + 1) wahr. 3 3. Nun sind wir in der Lage, den Satz über die Mächtigkeit einer Potenzmenge aus Kapitel 2.2.1.2 zu beweisen: Eine n-elementige Menge Mn hat genau 2n Teilmengen. A(n): Mn hat genau 2n Teilmengen. (1) Induktionsverankerung: A(1): M1 hat zwei Teilmengen: 21 = 2 o.k. (2) Induktionsschluss: zu zeigen ist A(n) ⇒ A(n + 1) ist wahr: also: Mn hat genau 2n Teilmengen ⇒ Mn + 1 hat genau 2n + 1 Teilmengen Mn hat genau 2n Teilmengen. Da Mn ⊂ Mn + 1 ist jede Teilmenge von Mn auch Teilmenge von Mn + 1. Damit hat Mn + 1 schon 2n Teilmengen. Weitere 2n Teilmengen von Mn + 1 erhalten wir, wenn wir zu jeder der 2n Teilmengen von Mn das Element n + 1 hinzufügen. Dadurch sind alle Teilmengen von Mn erfasst und keine ist doppelt gezählt. Also hat Mn + 1 genau 2n + 2n = 2 · 2n = 2n + 1 Teilmengen. Damit ist nachgewiesen: A(n) ⇒ A(n + 1) ist wahr. Bemerkung: Die Induktionsverankerung ist zwar ein sehr einfacher Rechenschritt, dennoch darf man auf sie bei der vollständigen Induktion keinesfalls verzichten. Betrachten wir dazu das folgende Beispiel, bei dem die Nachprüfung der Induktionsverankerung nicht ausgeführt wurde: M = {5; 8; 11; 14; 17; 20; 23; ...} Behauptung: 3n + 1 ∈ M ∀ n∈N Beweis: A(n): 3n + 1 ∈ M (das nächste Element von M erhält man durch Addition von 3) ⇒ 3n + 1 + 3 ∈ M ⇒ 3n + 3 + 1 = 3(n + 1) + 1 ∈ M ⇒ A(n + 1): 3(n + 1) + 1 ∈ M Der Induktionsschluss A(n) ⇒ A(n + 1) ist korrekt durchführbar, dennoch ist die Behauptung falsch, weil schon A(1): 3 · 1 + 1 ∈ M eine falsche Aussage ist. Diesem Induktionsbeweis fehlte seine Verankerung. Hinweis 4 Bemerkung: Das Beweisverfahren der vollständigen Induktion ist nur anwendbar, wenn die zu beweisende Behauptung durch natürliche Zahlen strukturiert ist. 1. Zeigen Sie für die angegebenen Mengen M: a) M = {3; 7; 11; 13; ...} 4n – 1 ∈ M ∀ n ∈ N b) M = {5; 8; 11; 14; 17; ...} 3n + 2 ∈ M ∀ n ∈ N 2. Beweisen Sie folgende Berechnungsformeln: a) 2 + 4 + 6 + 8 +...+ 2n = n + n² Übungen 2 b) 1 + 2 + 3 + 4 + 5 + 6 + ... + n = n n --- + -----2 2 c) 1 + 3 + 5 + 7 + 9 + ... + (2n – 1) = n² d) 3 + 7 + 11 + 15 + ... + (4n – 1) = n + 2n² e) 1 + 2 + 4 + 8 + 16 + ... + 2n – 1 = 2n – 1 f) 1 + 4 + 9 + 16 + 25 + ... + n² = n ( n + 1 ) ( 2n + 1 ) ------------------------------------------6 5