„Für die Opfer lebenslänglich…“ Langzeitfolgen von sexueller Gewalt Imke Deistler Frauenberatungs- und Fachstelle bei sexueller Gewalt. Frauennotruf e.V. Kiel Sexuelle Gewalt umfasst den ganzen Menschen. Sie trifft das Mädchen/die Frau: 1. in ihrer Würde, ihrer Identität und ihrem Selbstgefühl; 2. in ihren persönlichen Grenzen und ihrem Grenzerleben; 3. in ihrer Leiblichkeit, ihrem Körper und ihrem Körpererleben; 4. in ihren sozialen Beziehungen und ihrer Beziehungsgestaltung; 5. In ihrer Leistungs- und Arbeitsfähigkeit; 6. in ihrer Wahrnehmung der Welt und der Mitmenschen; 7. in ihrem Wertesystem und ihrer Lebenseinstellung. Sexuelle Gewalt trennt sie von sich selbst und von der Welt. Modell der strukturellen Dissoziation “Gesunde“ integrierte Persönlichkeit Traumatisierte Person (Monotrauma) ANP EP EP ANP: Anscheinend Normaler Persönlichkeitsanteil EP: Emotionaler Persönlichkeitsanteil Komplex traumatisierte Person ANP EP EP EP EP EP Zuviel- und Zuwenig- Symptomatik bei sexueller Gewalt 1. Beispiele für Zuviel-Symptome (vgl. EP) Intrusionen (Flashbacks) Schlafstörungen, Alpträume Ständiges Gefühl der Bedrohung, Hypervigilanz Gefühle von innerer Unruhe und Rastlosigkeit Ekelgefühle Aggressives oder autoaggressives Verhalten Schuld- und Schamgefühle „Identifikation mit dem Aggressor“ Übermäßiges Essen Substanzmissbrauch und Substanzabhängigkeit Panikattacken, Ängste Zuviel- und Zuwenig- Symptomatik bei sexueller Gewalt 2. Beispiele für Zuwenig-Symptome (vgl. ANP) Phobisches Vermeidungsverhalten (z.B. bezügl. Partnerschaft, Sexualität und ähnlichen „Triggern“) Sozialer Rückzug (Schwierigkeiten mit Nähe, Misstrauen gegenüber Menschen etc.) Gefühl innerer Leere Depressionen bzw. depressive Verstimmungen Dissoziationen (z.B. Amnesien, Depersonalisation, Derealisation) Mangelnde Selbstfürsorge bis zur Verwahrlosung Anorexie, Zwänge Mangelnde Regressionsfähigkeit Mögliche klinische Diagnosen 1. Spezifische Diagnosen: - Akute Belastungsstörung (bis 4 Wo. nach Tat) - Posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) - Komplexe Posttraumatische Belastungsstörung (DESNOS) (nur DSM-IV im Anhang) - Persönlichkeitsveränderung nach Extrembelastung (nur ICD-10) 2. Unspezifische Diagnosen: Gesamtes Spektrum psychischer Störungen (insbesondere: Angststörungen, Depressionen, Essstörungen, Schlafstörungen, Suchterkrankungen, Dissoziative Störungen, Sexualstörungen, Impulskontrollstörungen, Persönlichkeitsstörungen, Psychotische Störungen, Zwangsstörungen etc.) Wie entsteht ein psychisches Trauma? Die Reaktionsmöglichkeiten in bedrohlichen Situationen: Zwei biologische Reaktionssysteme: Annäherung vs. Vermeidung fight (kämpfen) vs. flight (fliehen) Bei absolutem Kontrollverlust: freeze (erstarren, aussteigen, dissoziieren) Die Traumazange Wenn man mit aversiven Reizen überflutet wird, und man nicht fliehen kann, und man nicht dagegen ankämpfen kann, dann erlebt man einen absoluten Kontrollverlust, der zu traumatischem Stress führt. Der Prozess der psychischen Verarbeitung bei belastenden Ereignissen und beim Trauma: Nach belastendem Ereignis: Nach Traumatisierung: Konfrontation: Darüber reden, Erinnern, Träume etc. Konfrontation: Darüber reden, Flashbacks, Alpträume, Reinszenierungen etc. Vermeidung: Vergessen, Vermeidungsverhalten, Verdrängen etc. Vermeidung: Amnesien, extr. Vermeidungsverhalten, Dissoziationen etc. Ein chronisch erhöhtes Erregungsniveau (‚Ängste, Schreckhaftigkeit, Hypervigilanz, Anspannung) -> Verarbeitung („Integration“) -> keine Verarbeitung Kriterien für die Posttraumatische Belastungsstörung (PTSB) a. b. c. d. e. f. Die Person wurde mit einem traumatischen Ereignis konfrontiert, das außerhalb der üblichen menschlichen Erfahrung liegt, und das für fast jeden Menschen sehr belastend wäre Das traumatische Ereignis wird ständig auf verschiedene Arten wiedererlebt (z.B. in Träumen, Erinnerungen, Flashbacks). Die Person vermeidet Stimuli, die mit dem Trauma in Verbindung stehen, oder die allgemeine Reagibilität ist abgeflacht (z.B. soziale Isolierung, diss. Amnesie). Es liegen anhaltende Symptome eines erhöhten Erregnungsniveaus vor. Die Dauer der Störung beträgt mind. einen Monat. Das Störungsbild verursacht ein bedeutsames Leiden. Kriterien für die DESNOS (Komplexe PTSB) 1. Störungen der Affektregulierung (Ausagieren extremer Wut, Selbstaggression, Suizidalität, Störungen der Sexualität, Exzessives Risikoverhalten, depressive Verstimmungen etc.) 2. Störungen der Wahrnehmung oder des Bewusstseins (Amnesien, Hypermnesien, Dissoziation etc.) 3. Störungen der Selbstwahrnehmung (Ohnmachtgefühle, Schuldgefühle, Scham, Isolation etc.) 4. Veränderungen in der Wahrnehmung der Täter (Idealisierung des Täters, Andauernde Rachegedanken, Identifikation mit dem Aggressor etc.) 5. Störungen in der Beziehung zu anderen Menschen (Isolation und Rückzug, Suche nach dem „Retter“, Unfähigkeit zu vertrauen, Probleme, sich selbst zu schützen, Tendenz zur Reviktimisierung etc.) 6. Somatisierungen (Somatoforme Beschwerden, Schmerzen etc.) 7. Veränderungen im Wertesystem und in der Lebenseinstellung (Fehlende Zukunftsperspektive, Verlust v. Sinngefühl etc.) Zugangsschwierigkeiten für Opfer von sexueller Gewalt Tabuisiertes, scham- und schuldbesetztes Thema Schweigegebot des/der Täter Die Dialektik des Traumas (Überflutung vs. Vermeidung) Mangelndes Vertrauen in Menschen Widerstand gegen Abhängigkeit „Traumamaterial“ ist i.d.R. non-verbal Erschwerter Zugang zum Hilfesystem für Migrantinnen, Seniorinnen, Frauen mit geistiger (und z.T. körperlicher) Behinderung, bildungsferne und bildungsnahe Frauen. Beratung und Psychotherapie Fast alle Modelle der Psychotraumatologie schlagen drei Phasen vor: 1. 2. 3. Stabilisierung. Traumakonfrontation. Reintegration. Verbesserungen in der Versorgung für Frauen mit sexuellen Gewalterfahrungen y Die Psychotraumatologie als neuer Zweig in ambulanter und stationärer Beratung und Psychotherapie. y Sensibilisierung von professionellen UnterstützerInnen im ambulanten und stationären Bereich. y Sensibilisierung der Allgemeinen Öffentlichkeit und der Betroffenen. y Hervorragende Vernetzung zu ambulanten und stationären Angeboten. Verschlechterungen in der Versorgungslage Schere zwischen verbesserter Beratung/Psychotherapie und Verschlechterung der ambulanten und stationären Versorgungslage. Zu wenige kompetente bzw. bereitwillige niedergelassene TherapeutInnen. Das Bewilligungsverfahren der Krankenkassen zur Psychotherapie entspricht nicht der Realität sexuell traumatisierter Patientinnen. Zunahme schwerer psychiatrischer Krankheitsbilder in den Frauenberatungsstellen und Frauennotrufen. Frauennotrufe sind oft die einzig mögliche Anlaufstelle für Betroffene. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit! ANHANG Aufgaben während der Stabilisierungsphase Stärkung des ANP durch: Schaffung äußerer Sicherheit (kein Täterkontakt, Überprüfung v. Beziehungen, materielle Sicherheit etc.) Aufbau einer vertrauensvollen Arbeitsbeziehung zwischen Klientin und Beraterin/Therapeutin (interpersonelle Sicherheit) Schaffung innerer Sicherheit (Identifizierung von Triggern, Distanzierungsübungen, Umgang mit Triggern und Flashbacks, Umgehen mit Spannungszuständen und innerer Leere etc., Erlernen von Selbstfürsorge und Selbstberuhigungsstrategien) Ungünstige Faktoren, die die Wahrscheinlichkeit einer PTBS erhöhen: wenn das traumatisierende Ereignis auf Handlungen von Menschen zurückgeht, wenn das Ereignis lange anhält, wenn das Ereignis mit hoher Lebensbedrohung verbunden ist, wenn moralische Konflikte eine Rolle spielen (Schuldgefühle der Überlebenden, unterlassene Hilfeleistung etc), wenn die soziale Umwelt die Traumatisierung ignoriert bzw. das Opfer abwertet. Beispiele psychischer Symptome Intrusionen (Flashbacks) Überdimensionale Schuld- und Schamgefühle Gefühle von innerer Unruhe und Rastlosigkeit und/oder Gefühl innerer Lehre Ständiges Gefühl der Bedrohung Aggressives oder selbstaggressives Verhalten Allgemeines Misstrauen gegenüber Menschen (oder Männern) Ekelgefühle (z.B. vor Körperlichkeit) Schwierigkeiten bzw. Unfähigkeit, Nähe zuzulassen Zweifel an der eigenen Wahrnehmung Geringes Selbstwertgefühl „Identifikation mit dem Aggressor“ Folgen von Gewalt sind oftmals Langzeitfolgen Körperlichen Folgen sexueller Gewalt Psychische Folgen sexueller Gewalt Soziale Folgen sexueller Gewalt Mögliche körperliche Folgen Nicht ausgeheilte Verletzungen (Knochenbrüche, Verletzungen u.a. im Genital- und Analbereich, Narben etc.) Über/Untergewicht als Folge von Essstörungen Zahnerkrankungen Psychosomatische Beschwerden (Unterleibsschmerzen, Kopfschmerzen, Magen- und Darmbeschwerden, Halsschmerzen, Rückenschmerzen, Allergien, Hauterkrankungen, Bruxismus etc.) Mögliche soziale Folgen Verminderte Erwerbsfähigkeit oder Erwerbsunfähigkeit Schwierigkeiten im Umgang mit Ämtern (und damit der eigenen Versorgung) Soziale Isolation Probleme in der Partnerschaft Sexuelle Enthaltsamkeit oder Promiskuität Prostitution