Sie sind ein erstklassiger Gershwin. Warum wollen Sie ein

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Kampnagel
»Sie sind ein erstklassiger
Gershwin. Warum wollen
Sie ein zweitklassiger Ravel
werden?«
Ravels Antwort auf Gershwins Bitte um Unterrichtsstunden
KA3a: Fr, 09.03.2012, 20 Uhr | KA3b: Sa, 10.03.2012, 20 Uhr | Hamburg, Kampnagel
GERSHWIN MEETS RAVEL –
EIN AMERIKANER IN PARIS
John Axelrod Dirigent | Jean-Yves Thibaudet Klavier
Maurice Ravel La valse; Boléro
George Gershwin Concerto in F; An American in Paris; Variations on „I got Rhythm“
DAS ORCHESTER DER ELBPHILHARMONIE
N D R S I N F O N I EO RC H E S T ER
Freitag, 9. März 2012, 20 Uhr
Samstag, 10. März 2012, 20 Uhr
Hamburg, Kampnagel
Dirigent:
Solist:
John Axelrod
Jean-Yves Thibaudet Klavier
Moderation:
Friederike Westerhaus
Maurice Ravel
(1875 – 1937)
La valse
Poème chorégraphique pour orchestre (1920)
George Gershwin
(1898 – 1937)
Concerto in F
für Klavier und Orchester (1925)
I. Allegro
II. Adagio – Andante con moto
III. Allegro agitato
Pause
George Gershwin
An American in Paris
(1928)
Variations on „I got Rhythm“
für Klavier und Orchester (1934)
Maurice Ravel
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Boléro
(1928)
John Axelrod
Dirigent
Mit einem außergewöhnlich vielfältigen Repertoire, innovativer Programmgestaltung und
seinem charismatischen Auftreten gehört John
Axelrod zu den führenden Dirigenten unserer
Zeit. Nach der erfolgreichen fünfjährigen Amtszeit als Musikdirektor und Chefdirigent des
Luzerner Theaters und Sinfonieorchesters sowie
der Wahl zum Directeur musical des Orchestre
National des Pays de la Loire ist Axelrod seit
dieser Saison Chefdirigent des Orchestra Sinfonica die Milano „G. Verdi“. Seit 2009 leitet
er jährlich auch das „Hollywood in Vienna“Filmmusik-Galakonzert mit dem ORF RadioSymphonieorchester Wien, das den Beitrag
Wiener Komponisten zur Entwicklung des
„Hollywood-Sounds“ würdigt. John Axelrod hat
darüber hinaus über 130 bedeutende Orchester
dirigiert, darunter – neben dem NDR Sinfonieorchester – das RSO Berlin, Gewandhausorchester Leipzig, Orchestre de Paris, London
Philharmonic und Philharmonia Orchestra,
Orchestra Sinfonica Nazionale della RAI Turin,
Royal Stockholm Philharmonic oder das Gulbenkian Symphony Orchestra. Als Gastdirigent
in den USA und in Asien hat Axelrod u. a. mit
dem Washington National Symphony, Los
Angeles Philharmonic, Philadelphia, Chicago
Symphony oder NHK Symphony Orchestra Tokyo
zusammengearbeitet. Auf die besondere Einladung von Lang Lang und Herbie Hancock
tourte er 2009 durch Europa und die USA und
wiederholte diese Konzerte 2011 in der Pariser
Salle Pleyel sowie im Teatro alla Scala. Als
Erster Gastdirigent der Sinfonietta Cracovia
war Axelrod ferner u. a. auf ARTE zu sehen und
gab für den 2007 mit dem Emmy Award aus-
gezeichneten BBC Holocaust Memorial Film
ein Konzert auf dem Gelände von Auschwitz.
Auch als Operndirigent ist John Axelrod gefragt.
So leitete er etwa die Premieren von Bernsteins
„Candide“ am Pariser Théâtre du Châtelet und
an der Mailänder Scala oder von Ernst Kreneks
„Kehraus um St. Stephan“ bei den Bregenzer
Festspielen. Durch sein besonderes Engagement für zeitgenössische Musik hat Axelrod
zahlreiche Werke von Komponisten wie Pascal
Dusapin, Wolfgang Rihm, Kaija Saariaho oder
Jörg Widmann zur Uraufführung gebracht.
Axelrods Diskographie beinhaltet u. a. Goreckis
3. Sinfonie mit dem Danish National Symphony
Orchestra, Rihms neues Klavierkonzert „Sotto
Voce II“ mit dem Luzerner Sinfonieorchester,
Fazil Says „1001 Nights in a Harem“ mit Patricia
Kopatchinskaya oder CDs mit Werken von
Franz Schreker und seinen Schülern.
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Jean-Yves Thibaudet
Zwei Großmeister des schönen Scheins
Klavier
Zu den Werken von George Gershwin und Maurice Ravel
Als einer der weltweit gefragtesten Pianisten
kann Jean-Yves Thibaudet heute auf eine 30-jährige Bühnenkarriere und über 40 Plattenaufnahmen zurückblicken. Nach seinen eindrucksvollen Auftritten in Tanglewood, wo er im letzten
Sommer sämtliche Klavierwerke Ravels spielte,
begann die aktuelle Saison für Thibaudet mit
einer Europa-Tournee zusammen mit dem
Philadelphia Orchestra und Charles Dutoit.
Seine Saisonprogramme gestaltet Thibaudet
rund um Komponisten, in deren Repertoire er
mit unübertroffener Leidenschaft und Tiefe
eintaucht. So interpretiert er 2011/12 vor allem
die Konzerte von Ravel, Liszt und Saint-Saëns,
u. a. mit dem Philadelphia Orchestra sowie auf
einer Europa-Tournee mit dem Concertgebouw
Orchestra und auf einer USA-Tournee mit dem
Royal Philharmonic Orchestra. Im Oktober
und November gab Thibaudet mit der Mezzosopranistin Angelika Kirchschlager Liederabende mit Werken von Liszt und Brahms, u. a.
in der New Yorker Carnegie Hall. Nach Gastspielen beim New York Philharmonic Orchestra
und Orpheus Chamber Orchestra beschließt
Thibaudet die Saison mit Debussy-Recitals in
Deutschland und Frankreich anlässlich des
150. Geburtstags des Komponisten.
George Gershwin und Maurice Ravel, wie mögen
diese beiden Herren wohl zueinander gestanden haben? Ein berühmtes Foto zeigt Ravel und
Gershwin auf der Dinnerparty, die die Sängerin
Eva Gauthier am 7. März 1928 in ihrem New
Yorker Apartment zu Ravels 53. Geburtstag
ausrichtete. Ravel sitzt am Klavier – nicht weil
er besonders gerne und gut öffentlich gespielt
hätte (Ravel galt als mäßiger Pianist), sondern
Jean-Yves Thibaudets Aufnahmen wurden mit
Preisen wie dem Deutschen Schallplattenpreis,
Diapason d‘Or, Gramophone Award oder dem
ECHO ausgezeichnet. Im Frühjahr 2010 veröffentlichte Thibaudet seine jüngste CD, „Gershwin“,
mit dem Baltimore Symphony Orchestra unter
Marin Alsop. Zu Thibaudets Diskographie gehören außerdem CDs mit Klavierkonzerten von
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Saint-Saëns, Transkriptionen von Opern-Arien,
den kompletten Klavierwerken von Satie oder
Jazz-Alben mit Musik von Duke Ellington und
Bill Evans. Bekannt für seinen Stil und seine
Eleganz auf und abseits der traditionellen Konzertbühne hat sich Thibaudet auch in der Modeund Filmwelt sowie im karitativen Bereich einen
Namen gemacht. Seine Konzertkleidung stammt
von der gefeierten Londoner Designerin Vivienne
Westwood; in Bruce Beresfords Film über Alma
Mahler war Thibaudet im Kino zu sehen, außerdem war er der Solist in den Oscar-gekrönten
Soundtracks zu „Abbitte“ sowie „Stolz und Vorurteil“. Im November 2004 fungierte Thibaudet
als Präsident der Hospices de Beaune, einer
jährlichen Wohltätigkeits-Auktion im Burgund.
2001 wurde er zum „Chevalier dans l’Ordre
des Arts et des Lettres“ ernannt, 2002 erhielt
er den „Premio Pegasus“ für sein langjähriges
Engagement beim Spoleto Festival (Italien).
weil er bei Gruppenfotos fast immer saß. Dies
war die beste Art zu verbergen, dass er mit
1,58 m einen Kopf kleiner war als allen anderen
Herren der Runde. Gershwin lächelt, allerdings
nicht in die Kamera, sondern mit dem Blick
auf die Hände des Piano-Poseurs gesenkt.
Der kleine Mann dort sitzt auf seinem Platz.
Denn auf dieser und allen anderen Partys gab
Gershwin stets den Alleinunterhalter am Klavier.
Maurice Ravel (am Klavier) und George Gershwin (rechts) auf der von Eva Gauthier ausgerichteten Party zu Ravels
53. Geburtstag in New York (1928)
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stück luxuriöser Zweckmäßigkeit ist Gershwins
Studio mit einem eigens für ihn angefertigten
Arbeitstisch. Nicht nur, dass dieses gewaltige
Möbelstück reichlich Platz für sein überdimensionales Partiturpapier bietet, es ist auch zu
Gershwins kindlichem Vergnügen mit einer
Unmenge von Schubläden, Fächern, Schreibgerätbehältern, Tintenfässern und Bleistiftspitzern ausgestattet … Im Salon hängen neben
den bedeutendsten Gemälden seiner wertvollen Sammlung (Gaugins, Kandinskys, Picassos
und Utrillos) einige der gelungensten eigenen
Bilder.“ Hier stellte einer, der sich aus einfachsten Verhältnissen hochgearbeitet hatte,
seinen Status stolz zur Schau.
Um hinter seine geliebten Tasten zu kommen,
soll er sogar VIPs und schöne Frauen mitten
im Gespräch stehen gelassen haben. Auch die
Einladung zu diesem Abend verdankte er angeblich seinen Entertainerqualitäten. Ob er zu
seiner Party etwas Bestimmtes wünsche, soll
die Gastgeberin Ravel gefragt haben. „Oh ja,
dass Gershwin kommt und seine Musik spielt“,
so die Antwort des Jubilars.
Solch denkwürdige Gershwin-Aussprüche europäischer Komponistengrößen gibt es viele.
Es war eine Marotte des musikalischen Selfmade Man Gershwin, akademisch gebildete
Kollegen um Unterricht zu bitten. „Sie sind ein
erstklassiger Gershwin. Warum wollen Sie ein
zweitklassiger Ravel werden?“, soll Ravel auf
eine entsprechende Anfrage geantwortet haben.
Igor Strawinsky wird folgende Replik zugeschrieben: „Wie viel verdienen Sie im Jahr“, habe der
materiell gesonnene Russe Gershwin gefragt,
als dieser auch ihn um Unterricht anging.
Gershwin nannte eine taktvoll nach unten abgerundete Summe. Der Sacre-Autor parierte
mit einem Kompliment: „Dann sollte ich lieber
bei Ihnen Unterricht nehmen.“ – Strawinsky
bestand stets darauf, dass dieses Gespräch nie
stattgefunden habe; die Geld-Geschichte habe
er bereits von Ravel gehört, noch bevor er selbst
Gershwin das erste Mal begegnet sei. Der
skeptische Gershwin-Biograf Charles Schwartz
führt denn auch all diese PR-Anekdoten auf
den Komponisten selbst oder dessen Familie
zurück. Auf Tonband dokumentiert ist die Wertschätzung Arnold Schönbergs. Der sprach 1937
einen Nachruf zu Ehren des Komponisten- und
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George Gershwin beim Malen seines Porträts von
Arnold Schönberg (Dezember 1936)
Maurice Ravel im Garten seines Hauses in
Montfort l‘Amaury (1929)
Hobbymaler-Kollegen, mit dem er Tennis gespielt und der ihn in Öl portraitiert hatte: „Für
Gershwin war Musik die Luft, die er atmete,
die Speise, die ihn nährte, der Trank, der ihn
erfrischte. Musik war das, was sein Gefühl erweckte, und Musik war das Gefühl, das er ausdrückte. Unmittelbarkeit dieser Art ist nur großen Männern eigen, und es kann kein Zweifel
bestehen, dass er ein großer Komponist war.“
makellose, durchstilisierte Fassade. Das bleibt
auch dann so, wenn man diese beiden Prachtexemplare der Gattung Snob in ihrem alltäglichen Lebensraum studiert. Von Gershwins
letztem Apartment in New York, Ecke 132 East
und 72. Straße, berichtete dessen Biograf
Antonio Mingotti: „Einer der berühmtesten
Architekten von New York richtet ihm die
Wohnung nach seinen Wünschen ein. (…) Das
Empfangszimmer ist kostbar getäfelt, die Diele
im Old England Style, die Bar völlig aus Glas
und das Schlafzimmer mit allem Raffinement
modernsten Komforts ausgestattet. Das Glanz-
Fürs Erste scheinen die Herren Ravel und
Gershwin in ihren perfekt sitzenden Smokings
von sich also nicht mehr preiszugeben als eine
Ravels Zuhause dagegen war ein Museum
seines Ästhetizismus’. Im Wald von Rambouillet
nahe Paris hatte er ein halb verfallenes Haus
erworben, das er auf den Namen „Belvédère“
taufte und mit unendlicher Akribie in eine Art
überdimensionierte Puppenstube verwandelte.
Imitationen aller Art waren Ravels Leidenschaft:
So musste jeder Gast, der den „Eremiten von
Montfort“ besuchen kam, den Gesang von
dessen Lieblingsspielzeug, einer mechanischen
Nachtigall, bewundern. Den Garten seines Anwesens gestaltete der Komponist als MiniaturFeengarten, in dem er mit Bonsais und Zwergpflanzen eine Landschaft nachahmte – darin
konnte der Hausherr sich dann als Riese fühlen.
Das Schmuckstück von Ravels Reich aber war
ein Boudoir im chinesischen Stil, dessen besonderer Reiz für seinen Besitzer gerade darin
bestand, dass keines der darin ausgestellten
Dinge original chinesisch war. Selbst in der
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Sphäre des Künstlichen bevorzugte Ravel das
Nachgemachte. Zum Entsetzen seiner kunstsinnigen Freunde (und zu Ravels diebischem
Vergnügen) hing in „Belvédère“ sogar ein
falscher Renoir.
Von der Tin Pan Alley zur
Carnegie Hall
George Gershwin hatte sich Ruhm und Reichtum schwer erarbeitet. Als Sohn russisch-jüdischer Emigranten war Jacob Gerschovitz 1898
in Brooklyn auf die Welt gekommen. Bereits mit
16 Jahren verdingte er sich als „song-plugger“
in der Tin Pan Alley. Diese Straße der Musikverlage in New York war die Wiege der modernen Musikindustrie. Hier wurden Hits für den
Massengeschmack nach betriebswirtschaftlichen Methoden produziert. Marktforschung
und Testvorführungen zählten zum festen
Instrumentarium der Verleger; musikalische
Maloche stand für deren Angestellte auf der
Tagesordnung: Bevor Schallplatten das Probehören vereinfachten, waren es die „song-plugger“, die als Klavier spielende und singende
Verkäufer die Hits des Hauses an den Kunden
brachten. So arbeitete auch Gershwin für
15 Dollar Wochenlohn acht bis zehn Stunden
am Tag als Vorführpianist in einer kleinen,
schallisolierten Kabine.
Der Ausweg kam in Gestalt von Paul Whiteman.
Der war Leiter einer Band und nannte sich
selbst „King of Jazz“. – Tatsächlich spielte seine
Kapelle Tanzmusik mit ein paar Synkopen.
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Whiteman mag kein Jazz-Purist gewesen sein,
aber er war ein genialer PR-Stratege, und er
hatte einen Traum: Er wollte eine eigene,
amerikanische Kunstmusik schaffen, für die
er sich den Namen „Symphonischer Jazz“ ausgedacht hatte. Schreiben sollte diese Musik
der junge Gerschovitz. Das erste gemeinsame
Projekt der beiden war eine „Jazz Oper“ mit
dem Titel „Blue Monday“. Angelehnt an das
Vorbild von Leoncavallos veristischem „Bajazzo“
sollte hier die Lebensrealität der schwarzen
Unterklasse auf die Bühne gebracht werden.
Doch „Blue Monday“ wurde 1922 nach nur einer
Vorführung abgesetzt. Als nächstes beauftragte
Whiteman seinen Schützling mit einem Konzert für Soloklavier und Jazzband. Geschickt
lancierte er in der „New York Tribune“ einen
Vorbericht über ein Konzert unter dem Motto
„Was ist amerikanische Musik?“; zu den Proben
lud Whiteman vorab einige Kritiker ein; und das
Konzert mit Gershwins „Rhapsody in Blue“
als Hauptprogrammpunkt legte er auf den
12. Februar 1924, den 115. Geburtstag von
Abraham Lincoln.
Die „Rhapsody in Blue“ wurde Gershwins
Durchbruch. Doch sie setzte auch Maßstäbe, die
weit über die 32-taktigen Broadway-Schlager
hinausgingen, mit denen er bis dato sein Geld
verdient hatte: Die Orchesterpartitur der
„Rhapsody“ wurde von Whitemans Arrangeur
Frede Grofé geschrieben, da Gershwin mit
Orchestration keinerlei Erfahrung hatte. Und
auch das Problem der großen Form war für den
ehemaligen „song-plugger“ neu; als genialer
Melodiker löste Gershwin die Herausforderung,
ein 15-Minuten-Stück zu schreiben, indem
er seine melodischen Inspirationen locker,
„rhapsodisch“, aneinanderhängte. Der große
Erfolg der „Rhapsody in Blue“ verlangte schnell
nach einem würdigen Nachfolgestück, Gershwin
muss alleine deshalb unter enormem Druck
gestanden haben. Doch er legte sich die Messlatte noch höher. Das Concerto in F verrät
schon durch die dreisätzige Form, dass sein
Komponist gewillt war, sich am Maßstab klassisch-romantischer Vorbilder zu messen.
Auch die Orchestration übernahm Gershwin
nun selbst. So ist das Concerto in F sicher sein
ambitioniertestes Konzertstück. Hit-verdächtige Melodien findet man hier allerdings kaum.
Das Problem der großen Form löste Gershwin,
indem er Themen des ersten Satzes im dritten
wieder aufgriff und das ganze Werk so zum
zyklischen Zusammenhang rundete. Uraufgeführt wurde das Concerto am 3. Dezember
1925 in der Carnegie Hall mit dem New York
Symphony Orchestra unter der Leitung von
Walter Damrosch und mit Gershwin am Klavier.
Voll auf der Höhe seines Kunstanspruches
zeigte sich Gershwin mit „Ein Amerikaner in
Paris“. Das Werk entstand nach einer Europareise 1928, bei der er in Paris und Wien die
Größen der europäischen Komponistenzunft
kennen lernte. Noch während der Reise entwarf Gershwin ein Tongedicht in der Tradition
der Sinfonischen Dichtung, das die Geschichte
eines Amerikaners erzählt, der durch die SeineMetropole schlendert. Gershwin orchestrierte
das Werk selbst – einschließlich der vier Pariser
Autohupen, die er eigens mitgebracht hatte.
George Gershwin spielt sein „Concerto in F“ für
Walter Damrosch
Und er löste die Form-Frage, indem er seine
melodischen Einfälle als Episoden entlang eines
Handlungsfadens organisierte. Den erläuterte
er im Programmheft der Uraufführung: „Meine
Absicht war es, die Gefühle und Eindrücke
eines amerikanischen Besuchers in Paris zu
schildern, der den verschiedenen Geräuschen
der Stadt lauscht und die französische Atmosphäre in sich einsaugt.“ Der Spaziergänger
wird mit einem Hauptthema vorgestellt, das
förmlich zum Mitpfeifen einlädt. Das Thema
kehrt durch das Stück hindurch wieder und
verbindet die verschiedenen Episoden, die den
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Autohupen-Set, wie es in Gershwins „Ein Amerikaner in Paris“
verwendet wird
Paris-Besucher u. a. in ein Straßencafé und eine
Kirche führen. Beim unvermeidlichen Blues,
einer viertaktigen Phrase, die klingt wie die
Quintessenz aus Lässigkeit und Weltschmerz,
„überkommt unseren amerikanischen Freund
Heimweh. Aber, Nostalgie ist keine unheilbare
Krankheit“. Der Besucher fängt sich wieder,
und das Stück endet mit der Wiederkehr des
Spaziergänger-Themas und einer triumphalen
Beschwörung „der Geräusche der Stadt und
der französischen Atmosphäre“.
Gershwins Domäne war die Erfindung von
Ohrwürmern, einprägsamen Viertaktphrasen,
die zugleich so geschickt harmonisiert waren,
dass viele seiner Songs zu Jazz-Standards
wurden. Georges Bruder Ira setzte zu den
Melodien nicht minder prägnante Worte, die
immer ein Stück des amerikanischen Traums
enthielten. Nirgends ist das dem Brüder-Paar
besser gelungen als bei „I got Rhythm“; wer
diese Musik-Text-Einheit einmal verinnerlicht
hat, den lässt sie nicht mehr los: „I got Rhythm /
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I got Music / I got my Girl / Who could ask for
anything more.“ So lag es nahe, dass Gershwin
1934 gerade diesen Song zum Konzertstück
ausbaute. Seine „I got Rhythm“-Variations jagen
die Musik nicht nur durch verschiedene stilistische Sphären – zu hören ist u. a. eine chinesische
Variation –, sie vermitteln auch einen Eindruck
von Gershwins Klavierspiel. Wer ihn auf alten
Filmaufnahmen sieht, gewinnt den Eindruck
eines Hypermotorikers, der vor nervöser Energie förmlich birst. Gershwins Synkopen-Delirien
sind die kongeniale Begleitmusik zur Großstadthektik und der rastlosen Verfolgung persönlicher Glücksprojekte. Der Texter Ira war dagegen der Phlegmatiker der Familie. Bevor er
den Wortlaut seiner Verse festlegte, probierte
Ira stets mehr oder minder sinnfreie DummyTexte, die nur den Rhythmus artikulierten. Iras
ebenso launiger wie denkwürdiger Dummy zu
„I got Rhythm“ ist überliefert: „Roley-Poley /
Eating soley / Ravioli / Better watch your diet
or bust.“
Getanzte Emotion zum Extrem
getrieben
„Ich bin von Natur aus künstlich“, pflegte
Maurice Ravel von sich zu sagen. Knapper und
präziser kann man die Ästhetik dieses manischen Stilisten nicht zusammenfassen. Er borgte
sich Elemente der Zigeunermusik, des Blues,
der Renaissance oder des französischen Barock
und montierte sie mit der Präzision eines
„Schweizer Uhrmachers“ (Strawinsky über
Ravel) zu ästhetischen Gebilden, die ebenso
fein gearbeitet und ebenso wenig „echt“ waren
wie sein geliebter mechanischer Singvogel.
Durch und durch künstlich, das war der echte
Ravel. Dies gilt auch für beide Werke des
heutigen Abends: Ravel komponierte hier nicht
eigentlich einen Walzer oder einen Bolero;
er wählte sich eine Vorlage, in beiden Fällen
einen Tanz, und stilisierte diese bis zum
Äußersten. Die Pläne für „La valse“ reichten
dabei weit zurück. Bereits 1906 hatte Ravel
die Idee zu einer Hommage an den WalzerKönig Johann Strauß; er verfolgte das Projekt
aber vorerst nicht weiter. – Nur eine Melodie
aus den Skizzen fand ihren Weg in Ravels
„Valses nobles et sentimentales“, die schon
im Titel eine Verbeugung vor Franz Schubert
darstellen. Bis zum Ersten Weltkrieg trug das
Strauß-Projekt noch den Arbeitstitel „Wien“;
als der Weltkriegssanitäter von der Front
zurückkehrte und sich ab 1919 wieder an die
Arbeit machte, hatte er den Titel zu „La valse“
geändert.
Es hat sich eingebürgert, Ravels abgründige
Walzerseligkeit als Abgesang auf das alte,
feudale Europa zu interpretieren, dessen Ordnung 1814 ein (Menuett) tanzender Kongress
festgelegt hatte und das im Stahlgewitter
des Weltkrieges endgültig untergegangen war.
So verstanden, könnte man schon in den ersten,
düsteren Takten von „La valse“ ein sich zusammenbrauendes Unheil ahnen, das sich später
mit katastrophischen Einbrüchen in die Walzerseligkeit immer weiter Bahn bricht. Ravel war
solch plumper Realismus selbstredend ein
Gräuel. Er beschwor im Vorwort von „La valse“
lieber eine Szenerie wie aus einem Sissy-Film:
„Wiener-Walzer-Rhythmen. Ziehende Wolken
geben kurz den Blick auf tanzende Paare frei.
Die Wolken verziehen sich langsam und wir
sehen einen Raum erfüllt von der wirbelnden
Menge. Während der Rhythmus klarer wird,
erleuchtet sich die Szenerie bis die Lichter der
Kronleuchter aufflammen. Ein kaiserlicher Hof
um 1855 …“. Für die Weltuntergangstöne in
seiner Walzer-Destruktion hatte der Komponist
eine bemerkenswerte Erklärung. „Dieser Tanz
mag tragisch erscheinen – wie jede andere
Emotion, die man zum Extrem treibt. Doch
man sollte nur sehen, was die Musik wirklich
ausdrückt: eine aufsteigende Progression
von Klang.“
Der Impresario Serge Diaghilev, für dessen
Balletttruppe „La valse“ ursprünglich gedacht
war, fand klare Worte, als Ravel ihm das Werk
am Klavier vorspielte. Das sei „kein Ballett,
sondern das Portrait eines Balletts“, befand
Diaghilev. Besser kann man Ravels distanzierte
Ästhetik des „als ob“ kaum auf den Punkt bringen. Doch der Komponist verzieh dem Impresario diese „Kritik“ nie; er packte wortlos seine
Noten ein, weigerte sich, noch ein Wort mit
dem Russen zu sprechen und reichte ihm niemals mehr die Hand. Nichts kränkte diesen
Meister der Fassade offenbar tödlicher als die
ungeschminkte Wahrheit.
Was Ravel in „La valse“ begonnen hatte, vollendete er im „Boléro“: Mathematisch kühl,
objektiv und rein technisch denkend wie ein
Ingenieur, trieb er eine getanzte Emotion bis
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Konzertvorschau
Rollenbild der Tänzerin Ida Rubinstein für Ravels „Boléro“
zum Extrem. Seltene Einigkeit herrscht in der
Ravel-Rezeption darüber, worum es hier gehen
könnte: Jene berühmte Szene aus Blake
Edwards’ Film „Zehn – Die Traumfrau“ mit Bo
Derek (1979) steht durchaus in einer langen
Tradition, denn die Idee vom „Boléro“ als
getanztem Liebesakt ist so alt wie das Stück
selber. Schon die Ballerina Ida Rubinstein, für
deren Balletttruppe Ravel den „Boléro“ komponiert hatte, siedelte ihre Version für die
Uraufführung des Balletts 1928 an der Pariser
Oper in einer Taverne an. Dort tanzt eine
Solistin auf dem Tisch, bis ihre Bewegung sich
nach und nach der männlichen Kneipenkund12
schaft mitteilt und diese in Ekstase versetzt.
Hollywood griff das Sujet dankbar auf:
In „Boléro“ von 1934 legten Carole Lombard
und George Raft zu Ravels Musik einen der
letzten prickelnden Hollywood-Tänze aufs
Parkett, bevor ein verschärftes Zensur-Gesetz
solchem Treiben im Film enge Grenzen setzte.
Und auch Maurice Béjart gestaltete auf den
Spuren von Rubinstein und ihrer Choreografin
Bronislava Nijinska den „Boléro“ als mechanisches Bacchanal für eine auf einem Podest
erhöhte Primadonna und männliche Tänzer
zu ihren Füßen. An diese Szenen muss Hans
Heinrich Stuckenschmid, der große Chronist
der Musik des 20. Jahrhunderts, gedacht haben,
als er schrieb: „Ein Wesensmerkmal der
Ravelschen Musik ist ihre Hautsinnlichkeit,
ihre Paarungsbesessenheit. Sie ist klanggewordener Eros wie kaum noch eine andere (…)“.
Davon, dass jemals eine Liebe oder erotische
Leidenschaft welcher Art auch immer Ravels
Leben berührt hätte, ist allerdings nichts
aktenkundig. Wahrscheinlich wäre diesem
Großmeister des doppelten Bodens und der
reflektierenden Distanz so etwas viel zu „echt“
gewesen. So verwundert es nicht, dass Ravel
selbst mit den erotisch aufgeheizten Ballettund Filmszenerien zum „Boléro“ nichts anfangen konnte. Der Komponist hatte sich für die
Inszenierung seines Balletts ein Fabrikgelände
als Bühnenbild gewünscht, das sollte den rein
mechanischen Charakter der Musik betonen.
NDR SINFONIEORCHESTER
C4 | Do, 22.03.2012 | 20 Uhr
D6 | Fr, 23.03.2012 | 20 Uhr
Hamburg, Laeiszhalle
Thomas Hengelbrock Dirigent
Lise de la Salle Klavier
Jean-Philippe Rameau
Suite aus „Dardanus“
Camille Saint-Saëns
Klavierkonzert Nr. 2 g-Moll op. 22
Modest Mussorgsky/Maurice Ravel
Bilder einer Ausstellung
22.03.2012 | 19 Uhr
23.03.2012 | 19 Uhr
Einführungsveranstaltungen mit Thomas Hengelbrock
B8 | Do, 29.03.2012 | 20 Uhr
A8 | So, 01.04.2012 | 11 Uhr
Hamburg, Laeiszhalle
Constantinos Carydis Dirigent
Sol Gabetta Violoncello
Anatolij Ljadow
Kikimora –
Legende für Orchester op. 63
Dmitrij Schostakowitsch
Konzert für Violoncello und
Orchester Nr. 1 Es-Dur op. 107
Nikolaj Rimsky-Korsakow
Scheherazade –
Sinfonische Suite op. 35
29.03.2012 | 19 Uhr: Einführungsveranstaltung
Sol Gabetta
Lise de la Salle
Ilja Stephan
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Impressum
Saison 2011 / 2012
D7 | Fr, 13.04.2012 | 20 Uhr
Hamburg, Laeiszhalle
Matthias Foremny Dirigent
Kristóf Baráti Violine
Franz Liszt
Prometheus –
Sinfonische Dichtung
Antonín Dvořák
Konzert für Violine und Orchester
a-Moll op. 53
Dmitrij Schostakowitsch
Sinfonie Nr. 6 h-Moll op. 54
19 Uhr: Einführungsveranstaltung
KAMMERKONZERT
NDR PODIUM DER JUNGEN
Di, 27.03.2012 | 20 Uhr
Hamburg, Rolf-Liebermann-Studio
GROSSE KLAVIERTRIOS
Evrus-Trio
Liudmila Minnibaeva Violine
Bettina Barbara Bertsch Violoncello
Tinatin Gambashidze Klavier
Ludwig van Beethoven
Variationen über
„Ich bin der Schneider Kakadu“ op. 121a
Maurice Ravel
Trio a-Moll
Franz Schubert
Klaviertrio B-Dur D 898
Mi, 21.03.2012 | 20 Uhr
Hamburg, Rolf-Liebermann-Studio
STRINGS & SINGING
Wishful Singing
Quatuor Hermès
Werke von
Frank Martin
Claude Debussy
Olli Virtaperko
Antonio Caldara
Joseph Haydn
Auszüge aus diesem Programm werden auch in der Reihe
„Konzert statt Schule“ gegeben (ab Klasse 7).
Termin:
Do, 22.03.2012 | 9.30 + 11 Uhr
Hamburg, Rolf-Liebermann-Studio
Herausgegeben vom
NORDDEUTSCHEN RUNDFUNK
PROGRAMMDIREKTION HÖRFUNK
BEREICH ORCHESTER UND CHOR
Leitung: Rolf Beck
Redaktion Sinfonieorchester:
Achim Dobschall
Redaktion des Programmheftes:
Julius Heile
Der Einführungstext von Dr. Ilja Stephan
ist ein Originalbeitrag für den NDR.
Fotos:
Priska Ketterer (S. 3)
Michael Tammaro | Decca (S. 4)
culture-images | Lebrecht (S. 5, S. 6, S. 9, S. 10)
akg-images (S. 7, S. 12)
Marco Borggreve (S. 13 links)
Marco Borggreve (S. 13 rechts)
John Kringas (S. 14 links)
Gela Megrelidze (S. 14 rechts)
Kristóf Baráti
NDR | Markendesign
Gestaltung: Klasse 3b, Hamburg
Litho: Otterbach Medien KG GmbH & Co.
Druck: Nehr & Co. GmbH
Evrus-Trio
Nachdruck, auch auszugsweise,
nur mit Genehmigung des NDR gestattet.
Karten im NDR Ticketshop im Levantehaus,
Tel. 0180 – 1 78 79 80 (bundesweit zum Ortstarif,
maximal 42 Cent pro Minute aus dem Mobilfunknetz),
online unter ndrticketshop.de
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