Kampnagel »Sie sind ein erstklassiger Gershwin. Warum wollen Sie ein zweitklassiger Ravel werden?« Ravels Antwort auf Gershwins Bitte um Unterrichtsstunden KA3a: Fr, 09.03.2012, 20 Uhr | KA3b: Sa, 10.03.2012, 20 Uhr | Hamburg, Kampnagel GERSHWIN MEETS RAVEL – EIN AMERIKANER IN PARIS John Axelrod Dirigent | Jean-Yves Thibaudet Klavier Maurice Ravel La valse; Boléro George Gershwin Concerto in F; An American in Paris; Variations on „I got Rhythm“ DAS ORCHESTER DER ELBPHILHARMONIE N D R S I N F O N I EO RC H E S T ER Freitag, 9. März 2012, 20 Uhr Samstag, 10. März 2012, 20 Uhr Hamburg, Kampnagel Dirigent: Solist: John Axelrod Jean-Yves Thibaudet Klavier Moderation: Friederike Westerhaus Maurice Ravel (1875 – 1937) La valse Poème chorégraphique pour orchestre (1920) George Gershwin (1898 – 1937) Concerto in F für Klavier und Orchester (1925) I. Allegro II. Adagio – Andante con moto III. Allegro agitato Pause George Gershwin An American in Paris (1928) Variations on „I got Rhythm“ für Klavier und Orchester (1934) Maurice Ravel 2 Boléro (1928) John Axelrod Dirigent Mit einem außergewöhnlich vielfältigen Repertoire, innovativer Programmgestaltung und seinem charismatischen Auftreten gehört John Axelrod zu den führenden Dirigenten unserer Zeit. Nach der erfolgreichen fünfjährigen Amtszeit als Musikdirektor und Chefdirigent des Luzerner Theaters und Sinfonieorchesters sowie der Wahl zum Directeur musical des Orchestre National des Pays de la Loire ist Axelrod seit dieser Saison Chefdirigent des Orchestra Sinfonica die Milano „G. Verdi“. Seit 2009 leitet er jährlich auch das „Hollywood in Vienna“Filmmusik-Galakonzert mit dem ORF RadioSymphonieorchester Wien, das den Beitrag Wiener Komponisten zur Entwicklung des „Hollywood-Sounds“ würdigt. John Axelrod hat darüber hinaus über 130 bedeutende Orchester dirigiert, darunter – neben dem NDR Sinfonieorchester – das RSO Berlin, Gewandhausorchester Leipzig, Orchestre de Paris, London Philharmonic und Philharmonia Orchestra, Orchestra Sinfonica Nazionale della RAI Turin, Royal Stockholm Philharmonic oder das Gulbenkian Symphony Orchestra. Als Gastdirigent in den USA und in Asien hat Axelrod u. a. mit dem Washington National Symphony, Los Angeles Philharmonic, Philadelphia, Chicago Symphony oder NHK Symphony Orchestra Tokyo zusammengearbeitet. Auf die besondere Einladung von Lang Lang und Herbie Hancock tourte er 2009 durch Europa und die USA und wiederholte diese Konzerte 2011 in der Pariser Salle Pleyel sowie im Teatro alla Scala. Als Erster Gastdirigent der Sinfonietta Cracovia war Axelrod ferner u. a. auf ARTE zu sehen und gab für den 2007 mit dem Emmy Award aus- gezeichneten BBC Holocaust Memorial Film ein Konzert auf dem Gelände von Auschwitz. Auch als Operndirigent ist John Axelrod gefragt. So leitete er etwa die Premieren von Bernsteins „Candide“ am Pariser Théâtre du Châtelet und an der Mailänder Scala oder von Ernst Kreneks „Kehraus um St. Stephan“ bei den Bregenzer Festspielen. Durch sein besonderes Engagement für zeitgenössische Musik hat Axelrod zahlreiche Werke von Komponisten wie Pascal Dusapin, Wolfgang Rihm, Kaija Saariaho oder Jörg Widmann zur Uraufführung gebracht. Axelrods Diskographie beinhaltet u. a. Goreckis 3. Sinfonie mit dem Danish National Symphony Orchestra, Rihms neues Klavierkonzert „Sotto Voce II“ mit dem Luzerner Sinfonieorchester, Fazil Says „1001 Nights in a Harem“ mit Patricia Kopatchinskaya oder CDs mit Werken von Franz Schreker und seinen Schülern. 3 N D R S I N F O N I EO RC H E S T ER Jean-Yves Thibaudet Zwei Großmeister des schönen Scheins Klavier Zu den Werken von George Gershwin und Maurice Ravel Als einer der weltweit gefragtesten Pianisten kann Jean-Yves Thibaudet heute auf eine 30-jährige Bühnenkarriere und über 40 Plattenaufnahmen zurückblicken. Nach seinen eindrucksvollen Auftritten in Tanglewood, wo er im letzten Sommer sämtliche Klavierwerke Ravels spielte, begann die aktuelle Saison für Thibaudet mit einer Europa-Tournee zusammen mit dem Philadelphia Orchestra und Charles Dutoit. Seine Saisonprogramme gestaltet Thibaudet rund um Komponisten, in deren Repertoire er mit unübertroffener Leidenschaft und Tiefe eintaucht. So interpretiert er 2011/12 vor allem die Konzerte von Ravel, Liszt und Saint-Saëns, u. a. mit dem Philadelphia Orchestra sowie auf einer Europa-Tournee mit dem Concertgebouw Orchestra und auf einer USA-Tournee mit dem Royal Philharmonic Orchestra. Im Oktober und November gab Thibaudet mit der Mezzosopranistin Angelika Kirchschlager Liederabende mit Werken von Liszt und Brahms, u. a. in der New Yorker Carnegie Hall. Nach Gastspielen beim New York Philharmonic Orchestra und Orpheus Chamber Orchestra beschließt Thibaudet die Saison mit Debussy-Recitals in Deutschland und Frankreich anlässlich des 150. Geburtstags des Komponisten. George Gershwin und Maurice Ravel, wie mögen diese beiden Herren wohl zueinander gestanden haben? Ein berühmtes Foto zeigt Ravel und Gershwin auf der Dinnerparty, die die Sängerin Eva Gauthier am 7. März 1928 in ihrem New Yorker Apartment zu Ravels 53. Geburtstag ausrichtete. Ravel sitzt am Klavier – nicht weil er besonders gerne und gut öffentlich gespielt hätte (Ravel galt als mäßiger Pianist), sondern Jean-Yves Thibaudets Aufnahmen wurden mit Preisen wie dem Deutschen Schallplattenpreis, Diapason d‘Or, Gramophone Award oder dem ECHO ausgezeichnet. Im Frühjahr 2010 veröffentlichte Thibaudet seine jüngste CD, „Gershwin“, mit dem Baltimore Symphony Orchestra unter Marin Alsop. Zu Thibaudets Diskographie gehören außerdem CDs mit Klavierkonzerten von 4 Saint-Saëns, Transkriptionen von Opern-Arien, den kompletten Klavierwerken von Satie oder Jazz-Alben mit Musik von Duke Ellington und Bill Evans. Bekannt für seinen Stil und seine Eleganz auf und abseits der traditionellen Konzertbühne hat sich Thibaudet auch in der Modeund Filmwelt sowie im karitativen Bereich einen Namen gemacht. Seine Konzertkleidung stammt von der gefeierten Londoner Designerin Vivienne Westwood; in Bruce Beresfords Film über Alma Mahler war Thibaudet im Kino zu sehen, außerdem war er der Solist in den Oscar-gekrönten Soundtracks zu „Abbitte“ sowie „Stolz und Vorurteil“. Im November 2004 fungierte Thibaudet als Präsident der Hospices de Beaune, einer jährlichen Wohltätigkeits-Auktion im Burgund. 2001 wurde er zum „Chevalier dans l’Ordre des Arts et des Lettres“ ernannt, 2002 erhielt er den „Premio Pegasus“ für sein langjähriges Engagement beim Spoleto Festival (Italien). weil er bei Gruppenfotos fast immer saß. Dies war die beste Art zu verbergen, dass er mit 1,58 m einen Kopf kleiner war als allen anderen Herren der Runde. Gershwin lächelt, allerdings nicht in die Kamera, sondern mit dem Blick auf die Hände des Piano-Poseurs gesenkt. Der kleine Mann dort sitzt auf seinem Platz. Denn auf dieser und allen anderen Partys gab Gershwin stets den Alleinunterhalter am Klavier. Maurice Ravel (am Klavier) und George Gershwin (rechts) auf der von Eva Gauthier ausgerichteten Party zu Ravels 53. Geburtstag in New York (1928) 5 N D R S I N F O N I EO RC H E S T ER stück luxuriöser Zweckmäßigkeit ist Gershwins Studio mit einem eigens für ihn angefertigten Arbeitstisch. Nicht nur, dass dieses gewaltige Möbelstück reichlich Platz für sein überdimensionales Partiturpapier bietet, es ist auch zu Gershwins kindlichem Vergnügen mit einer Unmenge von Schubläden, Fächern, Schreibgerätbehältern, Tintenfässern und Bleistiftspitzern ausgestattet … Im Salon hängen neben den bedeutendsten Gemälden seiner wertvollen Sammlung (Gaugins, Kandinskys, Picassos und Utrillos) einige der gelungensten eigenen Bilder.“ Hier stellte einer, der sich aus einfachsten Verhältnissen hochgearbeitet hatte, seinen Status stolz zur Schau. Um hinter seine geliebten Tasten zu kommen, soll er sogar VIPs und schöne Frauen mitten im Gespräch stehen gelassen haben. Auch die Einladung zu diesem Abend verdankte er angeblich seinen Entertainerqualitäten. Ob er zu seiner Party etwas Bestimmtes wünsche, soll die Gastgeberin Ravel gefragt haben. „Oh ja, dass Gershwin kommt und seine Musik spielt“, so die Antwort des Jubilars. Solch denkwürdige Gershwin-Aussprüche europäischer Komponistengrößen gibt es viele. Es war eine Marotte des musikalischen Selfmade Man Gershwin, akademisch gebildete Kollegen um Unterricht zu bitten. „Sie sind ein erstklassiger Gershwin. Warum wollen Sie ein zweitklassiger Ravel werden?“, soll Ravel auf eine entsprechende Anfrage geantwortet haben. Igor Strawinsky wird folgende Replik zugeschrieben: „Wie viel verdienen Sie im Jahr“, habe der materiell gesonnene Russe Gershwin gefragt, als dieser auch ihn um Unterricht anging. Gershwin nannte eine taktvoll nach unten abgerundete Summe. Der Sacre-Autor parierte mit einem Kompliment: „Dann sollte ich lieber bei Ihnen Unterricht nehmen.“ – Strawinsky bestand stets darauf, dass dieses Gespräch nie stattgefunden habe; die Geld-Geschichte habe er bereits von Ravel gehört, noch bevor er selbst Gershwin das erste Mal begegnet sei. Der skeptische Gershwin-Biograf Charles Schwartz führt denn auch all diese PR-Anekdoten auf den Komponisten selbst oder dessen Familie zurück. Auf Tonband dokumentiert ist die Wertschätzung Arnold Schönbergs. Der sprach 1937 einen Nachruf zu Ehren des Komponisten- und 6 George Gershwin beim Malen seines Porträts von Arnold Schönberg (Dezember 1936) Maurice Ravel im Garten seines Hauses in Montfort l‘Amaury (1929) Hobbymaler-Kollegen, mit dem er Tennis gespielt und der ihn in Öl portraitiert hatte: „Für Gershwin war Musik die Luft, die er atmete, die Speise, die ihn nährte, der Trank, der ihn erfrischte. Musik war das, was sein Gefühl erweckte, und Musik war das Gefühl, das er ausdrückte. Unmittelbarkeit dieser Art ist nur großen Männern eigen, und es kann kein Zweifel bestehen, dass er ein großer Komponist war.“ makellose, durchstilisierte Fassade. Das bleibt auch dann so, wenn man diese beiden Prachtexemplare der Gattung Snob in ihrem alltäglichen Lebensraum studiert. Von Gershwins letztem Apartment in New York, Ecke 132 East und 72. Straße, berichtete dessen Biograf Antonio Mingotti: „Einer der berühmtesten Architekten von New York richtet ihm die Wohnung nach seinen Wünschen ein. (…) Das Empfangszimmer ist kostbar getäfelt, die Diele im Old England Style, die Bar völlig aus Glas und das Schlafzimmer mit allem Raffinement modernsten Komforts ausgestattet. Das Glanz- Fürs Erste scheinen die Herren Ravel und Gershwin in ihren perfekt sitzenden Smokings von sich also nicht mehr preiszugeben als eine Ravels Zuhause dagegen war ein Museum seines Ästhetizismus’. Im Wald von Rambouillet nahe Paris hatte er ein halb verfallenes Haus erworben, das er auf den Namen „Belvédère“ taufte und mit unendlicher Akribie in eine Art überdimensionierte Puppenstube verwandelte. Imitationen aller Art waren Ravels Leidenschaft: So musste jeder Gast, der den „Eremiten von Montfort“ besuchen kam, den Gesang von dessen Lieblingsspielzeug, einer mechanischen Nachtigall, bewundern. Den Garten seines Anwesens gestaltete der Komponist als MiniaturFeengarten, in dem er mit Bonsais und Zwergpflanzen eine Landschaft nachahmte – darin konnte der Hausherr sich dann als Riese fühlen. Das Schmuckstück von Ravels Reich aber war ein Boudoir im chinesischen Stil, dessen besonderer Reiz für seinen Besitzer gerade darin bestand, dass keines der darin ausgestellten Dinge original chinesisch war. Selbst in der 7 N D R S I N F O N I EO RC H E S T ER Sphäre des Künstlichen bevorzugte Ravel das Nachgemachte. Zum Entsetzen seiner kunstsinnigen Freunde (und zu Ravels diebischem Vergnügen) hing in „Belvédère“ sogar ein falscher Renoir. Von der Tin Pan Alley zur Carnegie Hall George Gershwin hatte sich Ruhm und Reichtum schwer erarbeitet. Als Sohn russisch-jüdischer Emigranten war Jacob Gerschovitz 1898 in Brooklyn auf die Welt gekommen. Bereits mit 16 Jahren verdingte er sich als „song-plugger“ in der Tin Pan Alley. Diese Straße der Musikverlage in New York war die Wiege der modernen Musikindustrie. Hier wurden Hits für den Massengeschmack nach betriebswirtschaftlichen Methoden produziert. Marktforschung und Testvorführungen zählten zum festen Instrumentarium der Verleger; musikalische Maloche stand für deren Angestellte auf der Tagesordnung: Bevor Schallplatten das Probehören vereinfachten, waren es die „song-plugger“, die als Klavier spielende und singende Verkäufer die Hits des Hauses an den Kunden brachten. So arbeitete auch Gershwin für 15 Dollar Wochenlohn acht bis zehn Stunden am Tag als Vorführpianist in einer kleinen, schallisolierten Kabine. Der Ausweg kam in Gestalt von Paul Whiteman. Der war Leiter einer Band und nannte sich selbst „King of Jazz“. – Tatsächlich spielte seine Kapelle Tanzmusik mit ein paar Synkopen. 8 Whiteman mag kein Jazz-Purist gewesen sein, aber er war ein genialer PR-Stratege, und er hatte einen Traum: Er wollte eine eigene, amerikanische Kunstmusik schaffen, für die er sich den Namen „Symphonischer Jazz“ ausgedacht hatte. Schreiben sollte diese Musik der junge Gerschovitz. Das erste gemeinsame Projekt der beiden war eine „Jazz Oper“ mit dem Titel „Blue Monday“. Angelehnt an das Vorbild von Leoncavallos veristischem „Bajazzo“ sollte hier die Lebensrealität der schwarzen Unterklasse auf die Bühne gebracht werden. Doch „Blue Monday“ wurde 1922 nach nur einer Vorführung abgesetzt. Als nächstes beauftragte Whiteman seinen Schützling mit einem Konzert für Soloklavier und Jazzband. Geschickt lancierte er in der „New York Tribune“ einen Vorbericht über ein Konzert unter dem Motto „Was ist amerikanische Musik?“; zu den Proben lud Whiteman vorab einige Kritiker ein; und das Konzert mit Gershwins „Rhapsody in Blue“ als Hauptprogrammpunkt legte er auf den 12. Februar 1924, den 115. Geburtstag von Abraham Lincoln. Die „Rhapsody in Blue“ wurde Gershwins Durchbruch. Doch sie setzte auch Maßstäbe, die weit über die 32-taktigen Broadway-Schlager hinausgingen, mit denen er bis dato sein Geld verdient hatte: Die Orchesterpartitur der „Rhapsody“ wurde von Whitemans Arrangeur Frede Grofé geschrieben, da Gershwin mit Orchestration keinerlei Erfahrung hatte. Und auch das Problem der großen Form war für den ehemaligen „song-plugger“ neu; als genialer Melodiker löste Gershwin die Herausforderung, ein 15-Minuten-Stück zu schreiben, indem er seine melodischen Inspirationen locker, „rhapsodisch“, aneinanderhängte. Der große Erfolg der „Rhapsody in Blue“ verlangte schnell nach einem würdigen Nachfolgestück, Gershwin muss alleine deshalb unter enormem Druck gestanden haben. Doch er legte sich die Messlatte noch höher. Das Concerto in F verrät schon durch die dreisätzige Form, dass sein Komponist gewillt war, sich am Maßstab klassisch-romantischer Vorbilder zu messen. Auch die Orchestration übernahm Gershwin nun selbst. So ist das Concerto in F sicher sein ambitioniertestes Konzertstück. Hit-verdächtige Melodien findet man hier allerdings kaum. Das Problem der großen Form löste Gershwin, indem er Themen des ersten Satzes im dritten wieder aufgriff und das ganze Werk so zum zyklischen Zusammenhang rundete. Uraufgeführt wurde das Concerto am 3. Dezember 1925 in der Carnegie Hall mit dem New York Symphony Orchestra unter der Leitung von Walter Damrosch und mit Gershwin am Klavier. Voll auf der Höhe seines Kunstanspruches zeigte sich Gershwin mit „Ein Amerikaner in Paris“. Das Werk entstand nach einer Europareise 1928, bei der er in Paris und Wien die Größen der europäischen Komponistenzunft kennen lernte. Noch während der Reise entwarf Gershwin ein Tongedicht in der Tradition der Sinfonischen Dichtung, das die Geschichte eines Amerikaners erzählt, der durch die SeineMetropole schlendert. Gershwin orchestrierte das Werk selbst – einschließlich der vier Pariser Autohupen, die er eigens mitgebracht hatte. George Gershwin spielt sein „Concerto in F“ für Walter Damrosch Und er löste die Form-Frage, indem er seine melodischen Einfälle als Episoden entlang eines Handlungsfadens organisierte. Den erläuterte er im Programmheft der Uraufführung: „Meine Absicht war es, die Gefühle und Eindrücke eines amerikanischen Besuchers in Paris zu schildern, der den verschiedenen Geräuschen der Stadt lauscht und die französische Atmosphäre in sich einsaugt.“ Der Spaziergänger wird mit einem Hauptthema vorgestellt, das förmlich zum Mitpfeifen einlädt. Das Thema kehrt durch das Stück hindurch wieder und verbindet die verschiedenen Episoden, die den 9 N D R S I N F O N I EO RC H E S T ER Autohupen-Set, wie es in Gershwins „Ein Amerikaner in Paris“ verwendet wird Paris-Besucher u. a. in ein Straßencafé und eine Kirche führen. Beim unvermeidlichen Blues, einer viertaktigen Phrase, die klingt wie die Quintessenz aus Lässigkeit und Weltschmerz, „überkommt unseren amerikanischen Freund Heimweh. Aber, Nostalgie ist keine unheilbare Krankheit“. Der Besucher fängt sich wieder, und das Stück endet mit der Wiederkehr des Spaziergänger-Themas und einer triumphalen Beschwörung „der Geräusche der Stadt und der französischen Atmosphäre“. Gershwins Domäne war die Erfindung von Ohrwürmern, einprägsamen Viertaktphrasen, die zugleich so geschickt harmonisiert waren, dass viele seiner Songs zu Jazz-Standards wurden. Georges Bruder Ira setzte zu den Melodien nicht minder prägnante Worte, die immer ein Stück des amerikanischen Traums enthielten. Nirgends ist das dem Brüder-Paar besser gelungen als bei „I got Rhythm“; wer diese Musik-Text-Einheit einmal verinnerlicht hat, den lässt sie nicht mehr los: „I got Rhythm / 10 I got Music / I got my Girl / Who could ask for anything more.“ So lag es nahe, dass Gershwin 1934 gerade diesen Song zum Konzertstück ausbaute. Seine „I got Rhythm“-Variations jagen die Musik nicht nur durch verschiedene stilistische Sphären – zu hören ist u. a. eine chinesische Variation –, sie vermitteln auch einen Eindruck von Gershwins Klavierspiel. Wer ihn auf alten Filmaufnahmen sieht, gewinnt den Eindruck eines Hypermotorikers, der vor nervöser Energie förmlich birst. Gershwins Synkopen-Delirien sind die kongeniale Begleitmusik zur Großstadthektik und der rastlosen Verfolgung persönlicher Glücksprojekte. Der Texter Ira war dagegen der Phlegmatiker der Familie. Bevor er den Wortlaut seiner Verse festlegte, probierte Ira stets mehr oder minder sinnfreie DummyTexte, die nur den Rhythmus artikulierten. Iras ebenso launiger wie denkwürdiger Dummy zu „I got Rhythm“ ist überliefert: „Roley-Poley / Eating soley / Ravioli / Better watch your diet or bust.“ Getanzte Emotion zum Extrem getrieben „Ich bin von Natur aus künstlich“, pflegte Maurice Ravel von sich zu sagen. Knapper und präziser kann man die Ästhetik dieses manischen Stilisten nicht zusammenfassen. Er borgte sich Elemente der Zigeunermusik, des Blues, der Renaissance oder des französischen Barock und montierte sie mit der Präzision eines „Schweizer Uhrmachers“ (Strawinsky über Ravel) zu ästhetischen Gebilden, die ebenso fein gearbeitet und ebenso wenig „echt“ waren wie sein geliebter mechanischer Singvogel. Durch und durch künstlich, das war der echte Ravel. Dies gilt auch für beide Werke des heutigen Abends: Ravel komponierte hier nicht eigentlich einen Walzer oder einen Bolero; er wählte sich eine Vorlage, in beiden Fällen einen Tanz, und stilisierte diese bis zum Äußersten. Die Pläne für „La valse“ reichten dabei weit zurück. Bereits 1906 hatte Ravel die Idee zu einer Hommage an den WalzerKönig Johann Strauß; er verfolgte das Projekt aber vorerst nicht weiter. – Nur eine Melodie aus den Skizzen fand ihren Weg in Ravels „Valses nobles et sentimentales“, die schon im Titel eine Verbeugung vor Franz Schubert darstellen. Bis zum Ersten Weltkrieg trug das Strauß-Projekt noch den Arbeitstitel „Wien“; als der Weltkriegssanitäter von der Front zurückkehrte und sich ab 1919 wieder an die Arbeit machte, hatte er den Titel zu „La valse“ geändert. Es hat sich eingebürgert, Ravels abgründige Walzerseligkeit als Abgesang auf das alte, feudale Europa zu interpretieren, dessen Ordnung 1814 ein (Menuett) tanzender Kongress festgelegt hatte und das im Stahlgewitter des Weltkrieges endgültig untergegangen war. So verstanden, könnte man schon in den ersten, düsteren Takten von „La valse“ ein sich zusammenbrauendes Unheil ahnen, das sich später mit katastrophischen Einbrüchen in die Walzerseligkeit immer weiter Bahn bricht. Ravel war solch plumper Realismus selbstredend ein Gräuel. Er beschwor im Vorwort von „La valse“ lieber eine Szenerie wie aus einem Sissy-Film: „Wiener-Walzer-Rhythmen. Ziehende Wolken geben kurz den Blick auf tanzende Paare frei. Die Wolken verziehen sich langsam und wir sehen einen Raum erfüllt von der wirbelnden Menge. Während der Rhythmus klarer wird, erleuchtet sich die Szenerie bis die Lichter der Kronleuchter aufflammen. Ein kaiserlicher Hof um 1855 …“. Für die Weltuntergangstöne in seiner Walzer-Destruktion hatte der Komponist eine bemerkenswerte Erklärung. „Dieser Tanz mag tragisch erscheinen – wie jede andere Emotion, die man zum Extrem treibt. Doch man sollte nur sehen, was die Musik wirklich ausdrückt: eine aufsteigende Progression von Klang.“ Der Impresario Serge Diaghilev, für dessen Balletttruppe „La valse“ ursprünglich gedacht war, fand klare Worte, als Ravel ihm das Werk am Klavier vorspielte. Das sei „kein Ballett, sondern das Portrait eines Balletts“, befand Diaghilev. Besser kann man Ravels distanzierte Ästhetik des „als ob“ kaum auf den Punkt bringen. Doch der Komponist verzieh dem Impresario diese „Kritik“ nie; er packte wortlos seine Noten ein, weigerte sich, noch ein Wort mit dem Russen zu sprechen und reichte ihm niemals mehr die Hand. Nichts kränkte diesen Meister der Fassade offenbar tödlicher als die ungeschminkte Wahrheit. Was Ravel in „La valse“ begonnen hatte, vollendete er im „Boléro“: Mathematisch kühl, objektiv und rein technisch denkend wie ein Ingenieur, trieb er eine getanzte Emotion bis 11 N D R S I N F O N I EO RC H E S T ER Konzertvorschau Rollenbild der Tänzerin Ida Rubinstein für Ravels „Boléro“ zum Extrem. Seltene Einigkeit herrscht in der Ravel-Rezeption darüber, worum es hier gehen könnte: Jene berühmte Szene aus Blake Edwards’ Film „Zehn – Die Traumfrau“ mit Bo Derek (1979) steht durchaus in einer langen Tradition, denn die Idee vom „Boléro“ als getanztem Liebesakt ist so alt wie das Stück selber. Schon die Ballerina Ida Rubinstein, für deren Balletttruppe Ravel den „Boléro“ komponiert hatte, siedelte ihre Version für die Uraufführung des Balletts 1928 an der Pariser Oper in einer Taverne an. Dort tanzt eine Solistin auf dem Tisch, bis ihre Bewegung sich nach und nach der männlichen Kneipenkund12 schaft mitteilt und diese in Ekstase versetzt. Hollywood griff das Sujet dankbar auf: In „Boléro“ von 1934 legten Carole Lombard und George Raft zu Ravels Musik einen der letzten prickelnden Hollywood-Tänze aufs Parkett, bevor ein verschärftes Zensur-Gesetz solchem Treiben im Film enge Grenzen setzte. Und auch Maurice Béjart gestaltete auf den Spuren von Rubinstein und ihrer Choreografin Bronislava Nijinska den „Boléro“ als mechanisches Bacchanal für eine auf einem Podest erhöhte Primadonna und männliche Tänzer zu ihren Füßen. An diese Szenen muss Hans Heinrich Stuckenschmid, der große Chronist der Musik des 20. Jahrhunderts, gedacht haben, als er schrieb: „Ein Wesensmerkmal der Ravelschen Musik ist ihre Hautsinnlichkeit, ihre Paarungsbesessenheit. Sie ist klanggewordener Eros wie kaum noch eine andere (…)“. Davon, dass jemals eine Liebe oder erotische Leidenschaft welcher Art auch immer Ravels Leben berührt hätte, ist allerdings nichts aktenkundig. Wahrscheinlich wäre diesem Großmeister des doppelten Bodens und der reflektierenden Distanz so etwas viel zu „echt“ gewesen. So verwundert es nicht, dass Ravel selbst mit den erotisch aufgeheizten Ballettund Filmszenerien zum „Boléro“ nichts anfangen konnte. Der Komponist hatte sich für die Inszenierung seines Balletts ein Fabrikgelände als Bühnenbild gewünscht, das sollte den rein mechanischen Charakter der Musik betonen. NDR SINFONIEORCHESTER C4 | Do, 22.03.2012 | 20 Uhr D6 | Fr, 23.03.2012 | 20 Uhr Hamburg, Laeiszhalle Thomas Hengelbrock Dirigent Lise de la Salle Klavier Jean-Philippe Rameau Suite aus „Dardanus“ Camille Saint-Saëns Klavierkonzert Nr. 2 g-Moll op. 22 Modest Mussorgsky/Maurice Ravel Bilder einer Ausstellung 22.03.2012 | 19 Uhr 23.03.2012 | 19 Uhr Einführungsveranstaltungen mit Thomas Hengelbrock B8 | Do, 29.03.2012 | 20 Uhr A8 | So, 01.04.2012 | 11 Uhr Hamburg, Laeiszhalle Constantinos Carydis Dirigent Sol Gabetta Violoncello Anatolij Ljadow Kikimora – Legende für Orchester op. 63 Dmitrij Schostakowitsch Konzert für Violoncello und Orchester Nr. 1 Es-Dur op. 107 Nikolaj Rimsky-Korsakow Scheherazade – Sinfonische Suite op. 35 29.03.2012 | 19 Uhr: Einführungsveranstaltung Sol Gabetta Lise de la Salle Ilja Stephan 13 N D R S I N F O N I EO RC H E S T ER Impressum Saison 2011 / 2012 D7 | Fr, 13.04.2012 | 20 Uhr Hamburg, Laeiszhalle Matthias Foremny Dirigent Kristóf Baráti Violine Franz Liszt Prometheus – Sinfonische Dichtung Antonín Dvořák Konzert für Violine und Orchester a-Moll op. 53 Dmitrij Schostakowitsch Sinfonie Nr. 6 h-Moll op. 54 19 Uhr: Einführungsveranstaltung KAMMERKONZERT NDR PODIUM DER JUNGEN Di, 27.03.2012 | 20 Uhr Hamburg, Rolf-Liebermann-Studio GROSSE KLAVIERTRIOS Evrus-Trio Liudmila Minnibaeva Violine Bettina Barbara Bertsch Violoncello Tinatin Gambashidze Klavier Ludwig van Beethoven Variationen über „Ich bin der Schneider Kakadu“ op. 121a Maurice Ravel Trio a-Moll Franz Schubert Klaviertrio B-Dur D 898 Mi, 21.03.2012 | 20 Uhr Hamburg, Rolf-Liebermann-Studio STRINGS & SINGING Wishful Singing Quatuor Hermès Werke von Frank Martin Claude Debussy Olli Virtaperko Antonio Caldara Joseph Haydn Auszüge aus diesem Programm werden auch in der Reihe „Konzert statt Schule“ gegeben (ab Klasse 7). Termin: Do, 22.03.2012 | 9.30 + 11 Uhr Hamburg, Rolf-Liebermann-Studio Herausgegeben vom NORDDEUTSCHEN RUNDFUNK PROGRAMMDIREKTION HÖRFUNK BEREICH ORCHESTER UND CHOR Leitung: Rolf Beck Redaktion Sinfonieorchester: Achim Dobschall Redaktion des Programmheftes: Julius Heile Der Einführungstext von Dr. Ilja Stephan ist ein Originalbeitrag für den NDR. Fotos: Priska Ketterer (S. 3) Michael Tammaro | Decca (S. 4) culture-images | Lebrecht (S. 5, S. 6, S. 9, S. 10) akg-images (S. 7, S. 12) Marco Borggreve (S. 13 links) Marco Borggreve (S. 13 rechts) John Kringas (S. 14 links) Gela Megrelidze (S. 14 rechts) Kristóf Baráti NDR | Markendesign Gestaltung: Klasse 3b, Hamburg Litho: Otterbach Medien KG GmbH & Co. Druck: Nehr & Co. GmbH Evrus-Trio Nachdruck, auch auszugsweise, nur mit Genehmigung des NDR gestattet. Karten im NDR Ticketshop im Levantehaus, Tel. 0180 – 1 78 79 80 (bundesweit zum Ortstarif, maximal 42 Cent pro Minute aus dem Mobilfunknetz), online unter ndrticketshop.de 14 15