bdv_Inhalt 14.05.2003 9:40 Uhr Seite 1 Bildungsmonitoring Schweiz Soziale Integration und Leistungsförderung Thematischer Bericht der Erhebung PISA 2000 Maja Coradi Vellacott Schweizerische Koordinationsstelle für Bildungsforschung Judith Hollenweger Pädagogische Hochschule Zürich Michel Nicolet Université de Neuchâtel Stefan C. Wolter Schweizerische Koordinationsstelle für Bildungsforschung Herausgeber der Reihe Bundesamt für Statistik (BFS), Schweizerische Konferenz der kantonalen Erziehungsdirektoren (EDK) Neuchâtel, 2003 bdv_Inhalt 14.05.2003 9:40 Uhr Seite 2 Soziale Integration und Leistungsförderung Herausgeber der Reihe: Thematischer Bericht der Erhebung PISA 2000 BFS/EDK, Neuchâtel Bildungsmonitoring Schweiz Auftraggeber des Berichts: Autorinnen und Autoren: Nationale Projektleitung PISA.ch/EDK Maja Coradi Vellacott, Judith Hollenweger, Michel Nicolet, Stefan Wolter Auskunft: Nationale Projektleitung PISA.ch Bundesamt für Statistik CH-2010 Neuchâtel 032 713 66 42 E-Mail: [email protected] Vertrieb: Bundesamt für Statistik, CH-2010 Neuchâtel Tel. 032 713 60 60 / Fax 032 713 60 61 Bestellnummer: Preis: Reihe: Internet: 576-0000 Fr. 12.– Bildungsmonitoring Schweiz Mehr Informationen finden Sie im Internet unter www.pisa.admin.ch Sprachversionen: Dieser Bericht ist nur in deutscher Sprache verfügbar Übersetzungen: Titelgrafik/Grafik/Layout: Titelfoto: Übersetzungsdienst des BFS, Neuchâtel eigenart, Stefan Schaer, Bern Kontrast, Atelier für Fotografie, Thomas Wiedmer, Schönbühl-Urtenen Copyright: BFS/ EDK, Neuchâtel 2003 Abdruck – ausser für kommerzielle Nutzung – unter Angabe der Quelle gestattet ISBN: 3-303-15291-8 bdv_Inhalt 14.05.2003 9:40 Uhr Seite 3 Inhalt Vorwort Einleitung Introduction Introduzione 5 7 10 12 1 1.1 15 1.2 1.3 1.3.1 1.3.2 1.3.3 1.3.4 1.4 1.4.1 1.4.2 1.4.3 1.5 1.6 1.7 Übersicht über PISA Ergebnisse Kurzzusammenfassung der PISA Ergebnisse International Bestimmung der Einflussfaktoren in einem Sechs-Länder Modell Unterschiede zwischen den Ländern Fragestellung und Vorbedingungen Auswahl der Einflussfaktoren Ergebnisse Interpretation der Ergebnisse und Simulationen Wie kommt soziale Selektivität zustande? Der Einfluss der Ressourcenausstattung von Eltern auf die schulische Leistung der Kinder Schulische Selektion Unterschiede zwischen Schulen Vor PISA und nach PISA – Grenzen bei der Beurteilung von PISA Ergebnissen Schlussfolgerungen Literatur 2 2.1 2.1.1 2.1.2 2.1.3 2.2 2.2.1 2.2.2 Länderberichte Französisches und flämisches Belgien Zu Belgien allgemein Französische Gemeinschaft Flämische Gemeinschaft Deutschland Zielland europäischer Arbeitsmigration Administriertes Schulsystem und beamtete Lehrpersonen 2.2.3 Frühe Bildungsentscheide und komplexe Bildungswege 2.2.4 Kumulierung ungünstiger Bedingungen für Migranten und sozial benachteiligte Familien 2.3 Finnland 2.3.1 Eine homogene Lesegesellschaft im Aufbruch BFS/EDK 15 17 18 18 19 21 22 24 24 25 26 28 29 30 33 35 36 37 39 41 41 43 44 45 46 46 2003 2.3.2 Autonome Schulhausteams: Lokale Gestaltungsfreiheit und nationale Vergleichsmöglichkeiten 2.3.3 Späte Bildungsentscheide und hohe Teilnahme an höheren Ausbildungsgängen 2.3.4 Ausnahmefall Migration 2.4 Frankreich 2.4.1 Ein Land, das von grossen sozialen und regionalen Unterschieden geprägt ist 2.4.2 Ein Bildungssystem mit einer relativ starken sozialen Ungleichheit 2.4.3 Leistungen der immigrierten Schülerinnen und Schüler und «republikanische Schule» 2.4.4 Zentralisiertes System und gleichzeitig relativ grosse Autonomie der Schulen 2.5 Kanada 2.5.1 Eine junge, multikulturelle Gesellschaft 2.5.2 Schule als Aufgabe der Gemeinschaft 2.5.3 Bemühungen zur Integration leistungsschwacher Kinder 2.5.4 Armut als Risikofaktor für Bildungserfolg 2.6 Kanada – Québec 2.6.1 Eine Provinz, die sich durch hohe Bildungsausgaben und durch gute Resultate in der PISA-Studie auszeichnet 2.6.2 Ein Bildungssystem, das auf sozialer Ebene wenige Unterschiede macht 2.6.3 Eine aktive Politik zur sozialen und schulischen Integration 2.6.4 Auswirkungen der Kombination zwischen Autonomie der Schulen und Direktiven des Erziehungsministeriums 2.7 Literatur 2.8 Informationen zu den Ländern auf dem Internet 3 3.1 Schlussfolgerungen Hoher Anteil an Migranten/innen entscheidend in der Schweiz SOZIALE INTEGRATION UND LEISTUNGSFÖRDERUNG 47 48 49 49 49 50 52 53 54 54 55 56 57 57 57 58 59 60 60 62 63 63 SEITE 3 bdv_Inhalt 14.05.2003 9:40 Uhr Seite 4 INHALT 3.2 3.3 3.4 3.5 3.6 3.7 4 4.1 Kinder und Jugendliche in der Schweiz betroffen durch mehrfache Benachteiligungen Späte Einschulung und frühe Selektion begünstigt soziale Differenzierung im Alter von 15 Jahren Wirkung früher Förderung und Unterstützungsmassnahmen Einfluss der Lehrperson Autonomie und Steuerung in Bildungssystemen Literatur 4.7 Empfehlungen Notwendige besondere Massnahmen bei hohem Anteil an Migranten Soziale Durchmischung Leistungspotential sozial und sprachlich benachteiligter Schülerinnen und Schüler Überprüfung von Selektionsentscheiden auf soziale Selektivität Überprüfung der Einführung flächendeckender Massnahmen Verbesserung der Datenlage und des Kenntnisstandes Literatur 5 5.1 5.2 Anhänge Anhang A Anhang B 4.2 4.3 4.4 4.5 4.6 BFS/EDK 64 65 66 66 67 69 69 70 70 70 71 71 71 72 72 76 In der Reihe Bildungsmonitoring bisher erschienen SEITE 4 64 2003 80 SOZIALE INTEGRATION UND LEISTUNGSFÖRDERUNG bdv_Inhalt 14.05.2003 9:40 Uhr Seite 5 Vorwort des Herausgebers Das Wissen, die Qualifikationen und die Leistungsfä- ausarbeiten zu können, waren weitere Auswertun- higkeit sind für die Entwicklung von Wirtschaft und gen und vertiefte Erkenntnisse über die Zusammen- Gesellschaft entscheidend. Die Modernisierung des hänge von Lernvoraussetzungen und Leseleistung Bildungswesens ist ein politisches Anliegen von notwendig, als aufgrund des nationalen Berichts1 höchster Priorität in allen Industrieländern. Dabei vorlagen. kommt der regelmässigen Berichterstattung über Ähnlich wie in anderen Ländern wurden des- Funktions- und Wirkungsweisen der Bildungssys- halb thematische Vertiefungsstudien in Auftrag teme hohe Bedeutung zu. Leistungsmessungen bil- gegeben, um die Faktoren, welche das Leistungs- den einen zentralen Pfeiler eines solchen Bildungs- niveau der Jugendlichen beeinflussen, näher zu monitorings. Das Projekt PISA (Programme for Inter- untersuchen. Folgende fünf Themen wurden vertieft national Student Assessment) der OECD misst mit untersucht: international standardisierten Instrumenten die • Lehrplan und Leistungen setzt die PISA2000-Leis- Kenntnisse und Fähigkeiten von 15-jährigen Jugend- tungen in Bezug zu den Anforderungen in den lichen in den drei Bereichen: Lesekompetenzen, Lehrplänen und zu den Erwartungen von Lehr- Mathematik, Naturwissenschaften. Dabei geht es in erster Linie um die Anwendung von Wissen und kräften. • Les compétences en littératie analysiert detailliert die Resultate der Lesekompetenz und deren nicht um dessen Wiedergabe. Im ersten PISA-Zyklus (2000) ging es um die mögliche Erklärungsfaktoren in Bezug auf die Lesefähigkeiten von Jugendlichen am Ende der obli- Schülerinnen und Schüler und auf institutioneller gatorischen Schulzeit. Diese sind im Vergleich mit 32 Ebene. anderen Ländern in der Schweiz mittelmässig. In • Die besten Ausbildungssysteme befasst sich mit neun OECD-Ländern sind die Leseleistungen signifi- den spezifischen Gegebenheiten derjenigen na- kant höher. Von diesem Vergleich abgesehen ist die tionalen Bildungssysteme, aus denen die besten Erkenntnis beunruhigend, dass die Lesefähigkeit von Leistungen in PISA2000 hervorgingen. rund 20% der Schulabgängerinnen und -abgänger • Soziale Integration und Leistungsförderung un- in der Schweiz den Anforderungen der Ausbildungen tersucht diejenigen Zusammenhänge und Berei- auf der Sekundarstufe II nicht genügt. Betroffen sind che von Bildungssystemen, die für die Förderung vor allem Jugendliche aus bildungsfernen Schichten. und Integration sozial Benachteiligter entschei- Ein weiterer Grund für geringe Leseleistungen sind dend sind. mangelnde Kenntnisse der Unterrichtssprache von • Bildungswunsch und Wirklichkeit untersucht die Eingewanderten. Die Ergebnisse aus PISA 2000 zei- Wirkungen von Leistungen und Strukturen auf gen ausserdem, dass es der Schule in der Schweiz den nachobligatorischen Bildungsverlauf. weniger gut als in anderen Ländern gelingt, solche Unterschiede in den Lernvoraussetzungen zu Die Ergebnisse dieser Vertiefungsstudien und daraus kompensieren. abgeleitete Empfehlungen der Fachleute sind wich- Diese Erkenntnisse weisen einen klaren Hand- tige Grundlagen für bildungspolitische Entscheide lungsbedarf aus. Um bildungspolitische Massnah- und deren Umsetzung. Wir danken den Autorinnen men auf verschiedenen Ebenen des Bildungssystems und Autoren der Studien für ihr grosses Engage- 1 Für das Leben gerüstet? Die Grundkompetenzen der Jugendlichen – Nationaler Bericht der Erhebung PISA 2000, Neuchâtel 2002 BFS/EDK 2003 SOZIALE INTEGRATION UND LEISTUNGSFÖRDERUNG SEITE 5 bdv_Inhalt 14.05.2003 9:40 Uhr Seite 6 VORWORT DES HERAUSGEBERS ment. Die Zusammenarbeit von Forschung und Politik wird für PISA auch in Zukunft von grosser Bedeutung sein. Bundesamt für Statistik Heinz Gilomen Konferenz der kantonalen Erziehungsdirektoren Hans Ambühl SEITE 6 BFS/EDK 2003 SOZIALE INTEGRATION UND LEISTUNGSFÖRDERUNG bdv_Inhalt 14.05.2003 9:40 Uhr Seite 7 Einleitung Die Schweiz beteiligt sich am OECD-Projekt der Leis- niveaus verbunden sein muss, sondern dass bei ein- tungsmessungen der 15-Jährigen (PISA) und hat im zelnen Ländern mit geringeren sozialen Disparitäten Frühjahr 2000 die erste Erhebung mit 15-Jährigen das Gesamtniveau eher höher ist (vgl. Finnland oder sowie Schülerinnen und Schülern der 9. Klasse Kanada). Auch weist eine enge Beziehung zwischen durchgeführt. Auf internationaler sowie nationaler tiefem Sozialstatus der Herkunftsfamilie und Kompe- Ebene sind bereits einige Publikationen erschienen, tenzerwerb auf allgemein schlechtere Bildungs- und andere Auswertungen sind noch in Arbeit. Die natio- Berufschancen der betroffenen Kinder und Jugend- nale Steering Group hat verschiedene vertiefende lichen hin. In bestimmten Ländern ist die Gefahr Studien in Auftrag gegeben, um die zentralen Frage- offensichtlich grösser, dass eine sozial bestimmbare stellungen, die sich für die Schweiz aus den ersten Gruppe von Kindern oder Jugendlichen in ihrer Par- Auswertungen ergeben haben, genauer zu bearbei- tizipation an wichtigen Lebensbereichen (Schule/ ten. Die hier vorliegende Studie soll sich mit der Unterricht, Beruf, Mobilität, Freizeit, kulturelles Frage beschäftigen, weshalb Schülerinnen und Schü- Leben) langfristig benachteiligt wird. ler mit schwierigen sozialen und/oder sprachlichen Die bereits im Rahmen der PISA-Studie dargestell- Voraussetzungen in der Schweiz im Verhältnis zu ten theoretischen Grundlagen können mit den Über- anderen Ländern eine ausgeprägt schlechtere Lese- legungen der Schweiz und der OECD im Rahmen leistung haben. Oder anders formuliert: Welche Fak- von DeSeCo4 ergänzt werden. Zudem sollen die von toren der Bildungssysteme anderer Länder sind ver- der OECD erarbeiteten Indikatoren des sozialen Aus- mutlich verantwortlich für bessere oder ausgegliche- schlusses respektive der sozialen Integration berück- nere Leistungen von sozial und/oder kulturell sichtigt werden. In verschiedenen OECD-Publikatio- benachteiligten Jugendlichen? nen5 werden diese erarbeitet und konzeptualisiert; Die hierzu relevanten theoretischen Bezüge wer- dazu gehören z.B. der Anteil der vom regulären Bil- den sowohl im nationalen Bericht der Schweiz als dungssystem ausgeschlossenen Kinder, der Anteil auch im internationalen Bericht3 hergestellt. Die dort der Kinder in sonderpädagogischen Schulungsfor- verwendeten Konstrukte wurden für die PISA-Studie men oder andere Faktoren, welche Schulwahl und bereits definiert und operationalisiert und bilden Übergänge in die nächsten Bildungsstufen beeinflus- somit die Grundlage für die weiteren Analysen und sen. Hierzu liegen auch Erkenntnisse aus Langzeit- Vergleiche. In dieser Studie wird auf dem Hinter- studien6 vor, die auch mit dem Konstrukt der sozia- grund der PISA-Ergebnisse davon ausgegangen, dass len Kohäsion7 in Verbindung gebracht werden kön- eine starke Koppelung des Kompetenzerwerbs und nen. Weitere Indikatoren, die für diese Studie rele- der Leistungen an die soziale und kulturelle Lage der vant sind, finden sich in der OECD-Publikation zum Herkunftsfamilie nicht erwünscht ist. Die PISA-Studie Thema Schulversagen8. 2 hat gezeigt, dass eine stärkere Entkoppelung nicht Die in dieser Vertiefungsstudie zu bearbeitende mit einer allgemeinen Absenkung des Kompetenz- Fragestellung ist sehr komplex und erfordert eine 2 3 4 5 6 7 8 BFS/EDK (Hrsg.) (2002): Für das Leben gerüstet? Nationaler Bericht zur Erhebung PISA 2000, Bildungsmonitoring, Neuenburg BFS. OECD (2001): Knowledge and Skills for Life. First Results from PISA 2000. Paris: OECD. Definition and Selection of Competencies (vgl. http://www.statistik.admin.ch/stat_ch/ber15/deseco/) Vgl. Klasen, S.: Social Exclusion, Children, and Education: Conceptual and Measurement Issues. OECD Internet-Publikation. Vgl. Bynner, J.: Risks and Outcomes of Social Exclusion. Insights from Longitudinal Data. OECD Internet-Publikation. Esping-Andersen, G. (2001): A new Challenge to Social Cohesion? Emerging Risk Profiles in OECD Countries. In OECD (Ed.) What Schools for the Future? Paris. OECD (1998): Overcoming Failure at School. Paris: OECD. BFS/EDK 2003 SOZIALE INTEGRATION UND LEISTUNGSFÖRDERUNG SEITE 7 bdv_Inhalt 14.05.2003 9:40 Uhr Seite 8 EINLEITUNG ländervergleichende Analyse von zahlreichen Fakto- Deutschland mit sehr hohem sozioökonomischen ren, die kaum unabhängig voneinander betrachtet Einfluss und ähnlicher Migrationspolitik wie die werden können. Wo möglich, wurden Mehrebenen- Schweiz), Belgien (ähnliche Problemlage, d.h. hoher analysen anhand der existierenden PISA-Daten und sozioökonomischer Einfluss und vergleichbare Struk- weiteren Datensets durchgeführt. Die Mehrdimen- turen) sowie Finnland und Kanada (beste PISA- sionalität wird auf den folgenden Ebenen erfasst: (a) Ergebnisse und teilweise vergleichbarer kultureller Sozialer und politischer Kontext, (b) Schul- und Bil- Hintergrund, d.h. Mehrsprachigkeit im Falle Kana- dungssystem, (c) Schulgemeinde und Schule, (d) das, aber bei einer deutlich unterschiedlichen Migra- Klasse und Unterricht, (e) Familie und Schüler/Schü- tionspolitik). lerin. Die Mehrdimensionalität soll in einer Matrix Hinsichtlich PISA ergeben sich folgende Themen- ergänzt werden mit einer Aufteilung nach Strukturin- kreise für den Ländervergleich: (a) Einfluss und dikatoren, Prozessindikatoren und Ergebnisindikato- Wirkung der sozialen Schichtung auf Kompetenzer- ren. Da jedoch die meisten der für diese Fragestel- werb in der Schule, (b) Einfluss und Wirkung der lung relevanten Variablen nicht im PISA Datenset zu Migration auf soziale Schichtung und auf Kom- finden sind, sind die Analysen davon abhängig, wie petenzerwerb, (c) Einfluss schulischer Faktoren viele und welche Daten sich mit dem PISA Datenset (Makro-, Meso-, Mikroebene) auf Kompetenzer- verbinden lassen und bezüglich welcher Systemda- werb von sozial und kulturell benachteiligten Kinder ten eine minimale Varianz zwischen den zu verglei- und Jugendlichen sowie (d) Zusammenhang zwi- chenden Ländern vorhanden ist. Wo quantitative schen einem fehlenden oder mangelhaften Kompe- Vergleiche nicht möglich oder wenig aussagekräftig tenzerwerb und dem Risiko eines sozialen Ausschlus- sind, sollen andere Studien, Untersuchungen und ses. Diese Themenkreise werden jeweils im Kontext Erhebungen zu den relevanten Variablen und Indika- des relevanten gesellschaftlichen und politischen toren beigezogen werden. Daneben werden kom- Umfeldes betrachtet. plexe Zusammenhänge und Fragestellungen auch Für den quantitativen Teil dieser Studie wurden anhand von Expertenbefragungen und Dokumen- die PISA-Ergebnisse der Schweiz in einer komparati- tenanalysen untersucht, erschlossen und mit eigenen ven Sicht den Ergebnissen der fünf Vergleichsländer Beobachtungen ergänzt. gegenübergestellt sowie zusammen mit anderen Für diese fokussierten Analysen werden Länder Variablen der Bildungssysteme und Sozialstruktur in für eine mögliche Auswahl berücksichtigt, die a) kul- einer Mehrebenenanalyse auf Faktoren der sozialen turell mit der Schweiz vergleichbar sind, b) bei der Differenzierung der Leistungen untersucht. Weiter «reading literacy» in PISA gute Ergebnisse erzielten wurden für die Schweiz spezifisch wichtige Punkte und letztlich c) entweder sehr kleine oder sehr grosse mit den PISA Daten vertieft analysiert und darge- Abhängigkeit der Schülerleistungen vom sozioöko- stellt. Dieser Teil der Studie bildet das Kapitel 1 und nomischen Umfeld zeigen. Letzteres Kriterium wurde von Maja Coradi Vellacott und Stefan C. Wol- erlaubt die Einteilung der teilnehmenden Länder in ter verfasst. vier Typen9: (a) Länder mit hohen Leistungen und Wo quantitative Vergleiche nicht möglich oder flachem sozialen Gradienten (Finnland, Japan, wenig aussagekräftig sind, bilden andere Studien, Kanada), (b) Länder mit eher hohen Leistungen und Untersuchungen und Erhebungen Ausgangspunkt steilem sozialen Gradienten (UK, Belgien), (c) Länder für die Analysen; diese wurden zudem durch Infor- mit eher schlechten Leistungen und steilem sozialen mationen aus Expertenbefragungen, Dokumenten- Gradienten (Luxemburg, Deutschland) sowie (d) analysen und eigene Beobachtungen ergänzt. Im Länder mit eher schlechten Leistungen und flachem Kapitel 2 sind die Ergebnisse dieser fokussierten sozialen Gradienten (Lettland, Brasilien, Russland). Analyse zu den Ländern und ihren Schulsystemen Die Schweiz zeigt knapp durchschnittliche Leistun- sowie zur Situation sozial und sprachlich benachtei- gen bei einem eher steilen sozialen Gradienten. Aus- ligter Familien dargestellt. Dieser Teil der Studie gewählt wurden letztlich die folgenden Länder: wurde von Judith Hollenweger und Michel Nicolet Frankreich bearbeitet. 9 und Deutschland (Nachbarländer, Vgl. Deutsches PISA-Konsortium (Hrsg.): PISA 2000 Basiskompetenzen von Schülerinnen und Schülern im internationalen Vergleich. Opladen: Leske & Budrich, Seite 392 SEITE 8 BFS/EDK 2003 SOZIALE INTEGRATION UND LEISTUNGSFÖRDERUNG bdv_Inhalt 14.05.2003 9:40 Uhr Seite 9 EINLEITUNG Die Schlussfolgerungen und daraus abgeleitet die Empfehlungen basieren auf einer Synthese der Ergebnisse aus dem quantitativen und qualitativen Teil dieser Studie. Sie orientieren sich an den wichtigsten Erkenntnissen, die aus der Integration der thematisch fokussierten Länderanalyse und der Mehrebenenanalyse gewonnen werden konnten. BFS/EDK 2003 SOZIALE INTEGRATION UND LEISTUNGSFÖRDERUNG SEITE 9 bdv_Inhalt 14.05.2003 9:40 Uhr Seite 10 Introduction La Suisse participe au projet de l’OCDE visant à moindres (comme en Finlande et au Canada). L’exis- mesurer régulièrement les compétences des jeunes tence d’un lien étroit entre les compétences des de 15 ans (PISA). Une première enquête a été réali- élèves et le statut social de leur famille est la marque sée au printemps 2000 parmi les jeunes de cet âge et d’un système où les enfants et les adolescents défa- les élèves de neuvième année. Plusieurs publications vorisés ont moins de chances que les autres de réus- ont déjà paru sur ce sujet aux niveaux international sir dans les études ou dans la vie active. Le danger et national, d’autres sont en préparation. Le groupe que des enfants ou des adolescents appartenant à national de pilotage du projet PISA a demandé à des des groupes sociaux déterminés soient désavantagés spécialistes de réaliser des études approfondies sur à long terme dans certains domaines de la vie sociale les principaux problèmes que les premiers résultats (école/enseignement, profession, mobilité, loisirs, vie de l’enquête ont soulevés en Suisse. Dans la présente culturelle) est plus élevé dans certains pays que dans étude, nous tenterons de comprendre pourquoi les d’autres. compétences en lecture des élèves défavorisés sur le En plus des bases théoriques du programme PISA, plan social et/ou linguistique sont nettement moins on tiendra compte des réflexions menées en Suisse et bonnes en Suisse que dans d’autres pays. Quels sont au sein de l’OCDE dans le cadre du programme les facteurs susceptibles d’expliquer que les élèves DeSeCo12. On considérera également les indicateurs socialement et/ou culturellement défavorisés obtien- de l’OCDE relatifs à l’exclusion et à l’intégration nent dans d’autres pays des résultats meilleurs ou sociales, tels qu’ils sont présentés et définis dans les plus équilibrés que chez nous ? publications de cette organisation13. Ces indicateurs Le présent travail s’appuie sur les bases théoriques comprennent par exemple la proportion d’enfants exposées dans le rapport national10 et dans le rapport exclus du système d’éducation ordinaire, la propor- international11 de l’enquête PISA. Ces bases théo- tion d’enfants en classes pédagogiques spéciales, riques ont été définies pour l’étude PISA ; elles ser- ainsi que d’autres facteurs influençant les choix sco- vent donc aussi de fondement aux analyses et aux laires et le passage vers les degrés scolaires supé- études comparatives qui s’inscrivent dans le prolon- rieurs. On se référera en outre à certaines études gement de cette étude. Nous partons du principe portant sur le long terme14, dont les résultats peuvent qu’il n’est pas souhaitable qu’il existe une forte cor- être mis en rapport avec la notion de cohésion rélation entre les compétences acquises par les élèves sociale15. La publication de l’OCDE sur l’échec sco- et la situation socio-culturelle de leur famille. L’étude laire16 fournit également des indicateurs pertinents PISA a montré qu’une faible corrélation entre ces pour notre sujet. deux éléments ne va pas nécessairement de pair avec Il s’agit d’un sujet très complexe qui exige une une baisse générale du niveau des compétences, et analyse comparative de nombreux facteurs qui ne que le niveau des élèves tend au contraire à être plus peuvent guère être dissociés. Nous avons procédé, là élevé dans les pays où les disparités sociales sont où c’était possible, à des analyses à plusieurs 10 11 12 13 14 15 16 OFS/CDIP (éd.) (2002): Préparés pour la vie ? Rapport national de l’enquête PISA 2000, Neuchâtel OFS. OECD (2001): Connaissances et compétences: des atouts pour la vie. Premiers résultats de PISA 2000. Paris: OCDE Definition and Selection of Competencies (voir http://www.statistik.admin.ch/stat_ch/ber15/deseco/) Cf. Klasen, S.: Social Exclusion, Children, and Education: Conceptual and Measurement Issues. Publication Internet. Cf. Bynner, J.: Risks and Outcomes of Social Exclusion. Insights from Longitudinal Data. Publication Internet de l’OCDE. Esping-Andersen, G. (2001): A new Challenge to Social Cohesion? Emerging Risk Profiles in OECD (éd.) What Schools for the Future? Paris OECD (1998): Overcoming Failure at School. Paris: OCDE SEITE 10 BFS/EDK 2003 SOZIALE INTEGRATION UND LEISTUNGSFÖRDERUNG bdv_Inhalt 14.05.2003 9:40 Uhr Seite 11 INTRODUCTION niveaux, fondées sur les données de PISA et sur tures proches de celles de la Suisse), la Finlande et le d’autres séries de données. Les niveaux suivants ont Canada (qui ont obtenu les meilleurs résultats lors du été considérés : (a) contexte social et politique, (b) test PISA et qui ont des points communs avec la système scolaire et éducatif, (c) école et collectivité Suisse ; le Canada est plurilingue mais sa politique scolaire, (d) classe et enseignement, (e) famille et migratoire est nettement différente de la nôtre). élève. Cette pluridimensionnalité s’intègre dans une La comparaison a porté sur les thèmes suivants : matrice où sont distingués des indicateurs de struc- (a) influence et conséquences de la stratification ture, des indicateurs de fonctionnement et des indi- sociale sur l’acquisition des compétences à l’école, cateurs de résultats. Comme la plupart des variables (b) influence et conséquences des migrations sur la pertinentes pour notre sujet ne sont pas fournies par stratification sociale et sur l’acquisition des compé- PISA, nos analyses sont tributaires de la quantité et tences à l’école, (c) influence de facteurs scolaires de la nature des données extérieures susceptibles (macrostructures, mésostructures et microstructures) d’être mises en rapport avec les données PISA. Nos sur l’acquisition de compétences par les enfants et les analyses dépendent également de l’existence de adolescents socialement et culturellement défavori- données pour lesquelles les différences entre les pays sés, (d) rapport entre les déficits d’acquisition de considérés sont faibles. Chaque fois que des compa- compétences et le risque d’exclusion sociale. Ces raisons quantitatives se sont avérées impossibles ou quatre thématiques sont considérées chaque fois peu pertinentes, nous avons fait appel à d’autres dans leur contexte social et politique. études ou enquêtes propres à nous éclairer sur les Dans la partie quantitative de cette étude, les variables et les indicateurs considérés. Pour les ques- résultats obtenus par la Suisse lors de l’enquête PISA tions complexes, nous avons recouru à des experts ont été confrontés aux résultats des cinq pays préci- ou à des travaux antérieurs, que nous avons complé- tés. Ces résultats ont fait l’objet, avec d’autres tées par nos propres observations. variables propres au système d’éducation et à la Pour nos analyses comparatives, nous avons structure sociale de chaque pays, d’une analyse à choisi des pays qui (a) sont comparables avec la plusieurs niveaux pour déterminer les facteurs Suisse sur le plan culturel, (b) ont obtenu de bons sociaux qui sont à l’origine des différences de presta- résultats en lecture (« reading literacy ») lors de l’en- tions des élèves. En outre, des points particulière- quête PISA et (c) où les performances des élèves ment importants pour la Suisse ont été analysés de dépendent soit très fortement, soit très faiblement manière approfondie sur la base des données PISA. du contexte socioéconomique. Sur la base de ce der- Cette partie de l’étude (chapitre 1) a été rédigée par nier critère, les pays participant à PISA peuvent se Maja Coradi Vellacott et Stefan C. Wolter. répartir en quatre types : (a) les pays où les perfor- Là où des comparaisons quantitatives étaient mances sont élevées et où le gradient social est faible impossibles ou peu pertinentes, nous proposons des (Finlande, Japon, Canada), (b) les pays où les perfor- analyses fondées sur d’autres études et enquêtes, mances sont plutôt élevées et où le gradient social complétées par les informations reçues des experts est fort (Royaume-Uni, Belgique), (c) les pays où les consultés, par des analyses documentaires et par nos performances sont plutôt faibles et où le gradient propres observations. Les résultats de ces travaux social est fort (Luxembourg, Allemagne), (d) les pays touchant les pays, leurs systèmes scolaires et la situa- où les performances et le gradient social sont faibles tion sociale et linguistique des familles défavorisées, (Lettonie, Brésil, Russie). La Suisse se caractérise par sont présentés au chapitre 2. Cette partie a été éla- des performances très moyennes et un gradient borée par Judith Hollenweger et Michel Nicolet. 17 social assez fort. Les pays suivants ont été retenus : Nos conclusions et les recommandations qui en la France et l’Allemagne (deux pays voisins de la découlent sont l’expression synthétique des parties Suisse ; l’Allemagne exerce une forte influence socio- quantitative et qualitative de cette étude. Elles intè- économique sur la Suisse et pratique en matière de grent les principaux résultats des analyses théma- migrations une politique semblable à la nôtre), la Bel- tiques nationales et des analyses à plusieurs niveaux. gique (forte influence socio-économique et struc- 17 Cf. Deutsches PISA-Konsortium (éd.): PISA 2000 Basiskompetenzen von Schülerinnen und Schülern im internationalen Vergleich. Opladen: Leske & Budrich, page 392 BFS/EDK 2003 SOZIALE INTEGRATION UND LEISTUNGSFÖRDERUNG SEITE 11 bdv_Inhalt 14.05.2003 9:40 Uhr Seite 12 Introduzione La Svizzera partecipa al progetto dell’OCSE di misu- competenze indica anche opportunità formative e razione delle prestazioni dei quindicenni (PISA) e professionali generalmente più scarse per i bambini e nella primavera del 2000 ha svolto la prima rileva- i giovani interessati. In certi Paesi vi è evidentemente zione tra quindicenni e allievi del 9° anno. A livello un maggior rischio che un determinato gruppo internazionale e nazionale sono già uscite alcune sociale di bambini o giovani sia sfavorito a lungo ter- pubblicazioni, altre analisi sono ancora in corso. Lo mine nella sua partecipazione a importanti settori Steering Group nazionale ha commissionato vari della vita (scuola/insegnamento, professione, mobi- studi dettagliati, allo scopo di approfondire gli inter- lità, tempo libero, vita culturale). rogativi centrali emersi dalle prime analisi per la Sviz- Le basi teoriche già presentate nell’ambito dello zera. Il presente studio si occupa dei motivi per cui in studio PISA possono essere completate con le rifles- Svizzera gli allievi con premesse sociali e/o linguisti- sioni della Svizzera e dell’OCSE nell’ambito di che sfavorevoli nella lettura realizzano prestazioni DeSeCo20. Bisogna inoltre tener conto degli indicatori nettamente peggiori rispetto ad altri Paesi. In altre dell’esclusione o dell’integrazione sociale elaborati parole: quali sono i fattori dei sistemi formativi di altri dall’OCSE e analizzati in varie pubblicazioni21. Tra Paesi che presumibilmente comportano prestazioni questi figurano ad esempio la quota di bambini migliori o più equilibrate da parte dei giovani social- esclusi dal sistema formativo regolare, la quota di mente e/o culturalmente sfavoriti? bambini in forme di scuola pedagogicamente speciali Le relazioni teoriche che assumono rilievo in que- o altri fattori che influenzano la scelta della scuola e st’ottica sono evidenziate sia nel rapporto nazionale i passaggi ai livelli formativi successivi. In proposito della Svizzera che nel rapporto internazionale . Le sono disponibili anche risultati di studi a lungo ter- strutture utilizzate sono già state definite e messe in mine22 che possono essere collegati alla nozione di pratica per lo studio PISA e rappresentano quindi la coesione sociale23. Altri indicatori d’interesse per que- base per le analisi e i raffronti ulteriori. In questo stu- sto studio figurano nella pubblicazione dell’OCSE dio, sullo sfondo dei risultati di PISA si parte dal pre- dedicata al fallimento scolastico24. 18 19 supposto che non è auspicabile una forte associa- La problematica da approfondire nel presente stu- zione dell’acquisizione di competenze e delle presta- dio è molto complessa e presuppone un raffronto zioni alla situazione sociale e culturale della famiglia internazionale di numerosi fattori, difficilmente di provenienza. Lo studio PISA ha mostrato che una osservabili indipendentemente gli uni dagli altri. maggior dissociazione non è per forza legata a un Dove possibile, sono state effettuate analisi a più calo generale del livello di competenza, ma che in livelli sulla base dei dati di PISA e di altre serie di dati alcuni Paesi con minori disparità sociali il livello gene- esistenti. La multidimensionalità è rilevata ai seguenti rale è tendenzialmente più elevato (cfr. la Finlandia o livelli: (a) contesto sociale e politico, (b) sistema sco- il Canada). Una stretta correlazione tra status sociale lastico e formativo, (c) comunità scolastica e scuola, basso della famiglia di provenienza e acquisizione di (d) classe e insegnamento, (e) famiglia e allievi. La 18 19 20 21 22 23 24 UST/CDPE (ed.) (2002): Für das Leben gerüstet? Nationaler Bericht zur Erhebung PISA 2000, Bildungsmonitoring, Neuchâtel UST. OCSE (2001): Knowledge and Skills for Life. First Results from PISA 2000. Parigi: OCSE. Definition and Selection of Competencies (cfr. http://www.statistik.admin.ch/stat_ch/ber15/deseco/) Cfr. Klasen, S.: Social Exclusion, Children, and Education: Conceptual and Measurement Issues. Pubblicazioni Internet. Cfr. Bynner, J.: Risks and Outcomes of Social Exclusion. Insights from Longitudinal Data. OCSE. Pubblicazione Internet. Esping-Andersen, G. (2001): A new Challenge to Social Cohesion? Emerging Risk Profiles in OCSE (ed.) What Schools for the Future? Parigi. OCSE (1998): Overcoming Failure at School. Parigi: OCSE. SEITE 12 BFS/EDK 2003 SOZIALE INTEGRATION UND LEISTUNGSFÖRDERUNG bdv_Inhalt 14.05.2003 9:40 Uhr Seite 13 INTRODUZIONE multidimensionalità deve essere completata, in una quisizione di competenze, (c) influsso di fattori scola- matrice, con una ripartizione secondo indicatori delle stici (a macrolivello, mesolivello e microlivello) sul- strutture, dei processi e dei risultati. Siccome però la l’acquisizione di competenze da parte dei bambini e maggior parte delle variabili d’interesse per questo giovani socialmente e culturalmente sfavoriti, non- interrogativo non figura nella serie di dati di PISA, le ché (d) relazione tra un’acquisizione di competenze analisi dipendono da quanti e quali dati possono mancante o lacunosa e il rischio di esclusione sociale. essere combinati con la serie di dati di PISA e da quali Queste tematiche sono analizzate sempre nel conte- dati di sistema presentano una varianza minima tra i sto dell’ambiente sociale e politico corrispondente. Paesi oggetto del raffronto. Dove raffronti quantita- Per la parte quantitativa dello studio, i risultati di tivi non sono possibili o sono poco rappresentativi, PISA della Svizzera sono stati confrontati con i risul- bisogna far ricorso ad altri studi, indagini e rilevazioni tati dei cinque Paesi selezionati e analizzati parallela- sulle variabili e sugli indicatori pertinenti. Relazioni e mente ad altre variabili dei sistemi formativi e della interrogativi complessi sono inoltre analizzati struttura sociale in un’analisi a più livelli volta a indi- mediante la consultazione di esperti e l’analisi di viduare i fattori di differenziazione sociale delle pre- documenti e completati con osservazioni proprie. stazioni. Per la Svizzera sono inoltre stati analizzati e Per queste analisi focalizzate vengono presi in rappresentati in modo specifico con i dati di PISA considerazione Paesi che a) sono culturalmente para- importanti punti. Questa parte dello studio costitui- gonabili alla Svizzera, b) hanno ottenuto buoni risul- sce il capitolo 1 ed è stata redatta da Maja Coradi tati nella «reading literacy» in PISA e, infine, c) pre- Vellacott e Stefan C. Wolter. sentano una dipendenza molto piccola o molto Dove raffronti quantitativi non sono possibili o grande delle prestazioni degli allievi dall’ambiente sono poco rappresentativi, il punto di partenza per socioeconomico. Quest’ultimo criterio permette di l’analisi è costituito da altri studi, indagini e rileva- ripartire i Paesi partecipanti in quattro tipi 25: (a) Paesi zioni, completati con informazioni ricavate dalla con- con prestazioni elevate e gradiente sociale piatto sultazione di esperti, dall’analisi di documenti e da (Finlandia, Giappone, Canada), (b) Paesi con presta- osservazioni proprie. Nel capitolo 2 sono presentati i zioni abbastanza elevate e gradiente sociale ripido risultati di queste analisi focalizzate sui Paesi e sui (Regno Unito, Belgio), (c) Paesi con prestazioni loro sistemi scolastici, nonché sulla situazione delle abbastanza scarse e gradiente sociale ripido (Lus- famiglie socialmente e linguisticamente sfavorite. semburgo, Germania) nonché (d) Paesi con presta- Questa parte dello studio è stata elaborata da Judith zioni abbastanza scarse e gradiente sociale piatto Hollenweger e Michel Nicolet. (Lettonia, Brasile, Russia). La Svizzera registra presta- Le conclusioni e le raccomandazioni corrispon- zioni appena nella media con un gradiente sociale denti si basano su una sintesi dei risultati ricavati abbastanza ripido. Alla fine sono stati selezionati i dalle parti quantitativa e qualitativa dello studio e si seguenti Paesi: Francia e Germania (Paesi limitrofi, orientano alle principali conclusioni tratte integrando Germania con un influsso socioeconomico molto ele- l’analisi tematica per Paese e l’analisi a più livelli. vato e politica migratoria simile a quella della Svizzera), Belgio (problematiche analoghe, e cioè influsso socioeconomico elevato e strutture paragonabili), nonché Finlandia e Canada (migliori risultati in PISA e contesto culturale in parte paragonabile, e cioè plurilinguismo nel caso del Canada, ma con una politica migratoria completamente differente). Dal punto di vista di PISA, per il raffronto internazionale emergono le seguenti tematiche: (a) influsso ed effetto della stratificazione sociale sull’acquisizione di competenze a scuola, (b) influsso ed effetto delle migrazioni sulla stratificazione sociale e sull’ac- 25 Cfr. Deutsches PISA-Konsortium (ed.): PISA 2000 Basiskompetenzen von Schülerinnen und Schülern im internationalen Vergleich. Opladen: Leske & Budrich, pag. 392. BFS/EDK 2003 SOZIALE INTEGRATION UND LEISTUNGSFÖRDERUNG SEITE 13 bdv_Inhalt 14.05.2003 9:40 Uhr Seite 14 bdv_Inhalt 14.05.2003 9:40 Uhr Seite 15 1 Übersicht über PISA Ergebnisse Eines der überraschendsten Ergebnisse der PISA ten und letzten Abschnitt dieses den PISA Ergebnis- Untersuchung 2000 ist sicherlich die Feststellung, sen gewidmeten Teils wird auf die Beschränkungen dass der Leistungsabstand von Schüler/innen26 aus der Aussagen, die sich mit PISA Daten machen las- unterschiedlichem sozio-ökonomischen Milieu gera- sen, speziell eingegangen. Der Hinweis auf die Ein- de in Ländern mit einem vorwiegend öffentlichen schränkungen der PISA Daten ist einerseits für eine (und kostenlosen) Schulsystem immer noch sehr Gesamtbewertung der PISA Ergebnisse und anderer- gross ist. Schüler/innen aus einem Elternhaus, das seits auch im Zusammenhang mit weiteren Arbeiten dem obersten Viertel der Verteilung des Sozialstatus und Analysen von Bedeutung. zugeordnet wird, haben in der Schweiz eine Lesekompetenz, die um mehr als hundert Punkte (etwa eineinhalb Kompetenzstufen) über der Kompetenz der Schüler/innen liegt, deren Eltern aus dem unters- 1.1 Kurzzusammenfassung der PISA Ergebnisse International ten Viertel des Sozialstatus stammen. Dieses Kapitel untersucht die Fragestellung der Kurz zusammengefasst, kann man die PISA 2000 sozialen Integration von Schüler/innen anhand der Resultate wie folgt charakterisieren: PISA Daten. Der Aufbau der Beschreibung der Resul- a) Überraschend ist generell die Stärke des Einflusses tate und der eigenen Untersuchungen ist wie folgt: des sozialen und ökonomischen Milieus auf die In einem ersten Teil werden die PISA Resultate des- Lesekompetenzen der Schüler/innen. kriptiv für die sechs untersuchten Länder knapp dar- b) Der Einfluss des sozialen Milieus auf die Lesekom- gestellt. Darauf folgt im zweiten Teil eine Analyse der petenz der Schüler/innen ist in den einzelnen verschiedenen sozialen Einflussfaktoren auf die Lese- Staaten sehr unterschiedlich hoch ausgefallen. leistung, bei der die Wirkungsdifferenzen der einzel- c) Die Stärke des Einflusses des sozialen Milieus auf nen Faktoren zwischen den Ländern verglichen wer- die Lesekompetenz hängt nicht mit dem durch- den. Dieser Abschnitt dient der detaillierten Auf- schnittlichen Niveau der Lesekompetenz in einem schlüsselung der verschiedenen Aspekte des sozialen Land zusammen, d.h. es gibt keinen sogenannten Hintergrundes der Schüler/innen und deren Wir- «trade-off» zwischen Höhe der Leistung und sozi- kung. Im dritten Teil werden die unterschiedlichen aler Ungleichheit in den Leistungen; im Gegenteil, Wirkungen der sozialen Herkunft auf die schulische hohe durchschnittliche Leistungen lassen sich teil- Leistung zwischen den Ländern mittels einer so weise sogar mit sozial homogenen Leistungen genannten Mehrebenenanalyse untersucht. Diese verbinden (Finnland). Über alle Länder gesehen, Form der Analyse erlaubt es, die Wirkungsstärke ein- ergibt sich keine statistisch signifikante Korrelation zelner Strukturparameter in den sechs Ländern zu zwischen Leistungsniveau und sozialer Homoge- testen und die Wirkung von Systemänderungen zu nität oder Heterogenität der Resultate. simulieren. Im vierten Abschnitt werden Teilaspekte, die sich bei der Mehrebenenanalyse als entscheidend Die fünf neben der Schweiz für unsere Vergleichsstu- für den Einfluss des sozialen Hintergrundes auf die die ausgewählten Länder können bezüglich der Schulleistungen erwiesen haben, vertieft untersucht, durchschnittlichen Leistung in drei Gruppen einge- dies vornehmlich auf die Schweiz bezogen. Im fünf- teilt werden (siehe auch Tabelle 1). Signifikant über 26 Die Bezeichnung Schüler/innen bezieht sich bei den internationalen Vergleichen auf die Fünfzehnjährigen, bei den rein schweizerischen Vergleichen auf die Neuntklässler/innen. BFS/EDK 2003 SOZIALE INTEGRATION UND LEISTUNGSFÖRDERUNG SEITE 15 bdv_Inhalt 14.05.2003 9:40 Uhr Seite 16 ÜBERSICHT ÜBER PISA ERGEBNISSE Tabelle 1: Deskriptive Statistiken der sechs Vergleichsländer Wirkung der Anteil der Durchschnitt Unterschied Veränderung Schüler-/innen der Lese- zwischen den des sozialen mit Migrations- leistungen ISEI Quartilen28 Status29 hintergrund 507 103 51.6 11% Deutschland 484 114 66.7 14% Finnland 546 52 12.4 1% Land Belgien30 Frankreich 505 83 22.5 12% Kanada 534 67 19.2 13% Schweiz 494 115 41.8 19% Datenquelle: OECD (2001b) dem OECD Durchschnitt liegen Finnland, Kanada sozialen Hintergrund erzielen in ein und derselben und Belgien (in dieser Reihenfolge), um den Durch- Schule ähnliche Leistungen, anderseits können sich schnitt liegen Frankreich und die Schweiz und unter sozioökonomisch bedingte Leistungsunterschiede dem Durchschnitt der OECD Länder, liegt Deutsch- auch innerhalb von Schulen zeigen. Im ersten Fall land (erste Kolonne in Tabelle 1). Die beiden leis- bedeutet dies nun nicht automatisch, dass keine tungsstärksten Länder sind wiederum diejenigen, die soziale Differenzierung der schulischen Leistungen sozial am wenigsten differenzieren27, während Frank- beobachtbar wären, es kann durchaus sein, dass die reich diesbezüglich leicht unter dem Durchschnitt Schüler/innen, was ihre soziale Herkunft anbelangt, liegt und Belgien, Deutschland sowie die Schweiz homogen auf die einzelnen Schulen eines Landes deutlich stärker nach sozialen Kriterien differenzieren verteilt sind und sich die sozial abhängigen Leis- als der Durchschnitt aller OECD Staaten (Kolonnen 2 tungsunterschiede somit zwischen den Schulen zei- und 3 in Tabelle 1). Als weitere Vergleichsgrösse gen. In den meisten Ländern ist letzteres der Fall. Nur geben wir in der untenstehenden Tabelle den Anteil in Finnland ist der Anteil der Varianz der Leistungen derjenigen Schüler/innen an, welche nicht in der von zwischen den Schulen, der sich durch den sozialen ihnen mehrheitlich zuhause gesprochenen Sprache Status der Schüler/innen erklären lässt, kleiner als der getestet wurden. Diese Variable hat sich auch als sig- Anteil der Varianz innerhalb einer Schule, der sich nifikante Erklärungsgrösse für die gemessenen Lese- durch den sozialen Status erklären lässt. Dieses kompetenzen erwiesen, allerdings unabhängig vom Ergebnis lässt auf eine Stratifizierung und Hierarchi- sozialen Status der Eltern, d.h. der Einfluss des sozia- sierung des Bildungswesens in den übrigen fünf len Status und des sozioökonomischen Umfelds der Staaten schliessen. Dies kann durch unterschiedliche Eltern lässt sich weder auf die Muttersprache noch Prozesse zustande kommen. Belgien, Deutschland, bspw. auf den Migrationsstatus alleine zurückführen. Kanada und die Schweiz kennen eine altersmässig Soziale Differenzierung kann an verschiedenen frühe Selektion der Schüler/innen. Eine solche führt Orten auftreten. Schulen können einerseits recht aber nur dann zu einer so genannten sozialen Entmi- homogen sein, d.h. Schüler mit unterschiedlichem schung der Schüler/innen, wenn entweder die Leis- 27 28 29 30 Unter sozialer Differenzierung verstehen wir hier, dass die Kompetenzen der Schüler/innen, die aus unterschiedlichen sozialen Milieus stammen, durch diesen Umstand bedingt weit auseinanderliegen. Als Synonyme werden auch Begriffe wie soziale Heterogenität und soziale Selektivität verwendet werden. ISEI = International Socio-Economic Index of Occupational Status Veränderung um 1 Standardabweichung des sozialen Status. Wirkung in Punkten auf der Leseskala. Die durchschnittliche Leseleistung liegt im flämischen Teil des Landes (532 Punkte) deutlich über derjenigen im französischen Landesteil (476 Punkte). Auch bezüglich der sozialen Differenzierung der Leseleistungen ist ein Unterschied zwischen beiden Landesteilen erkennbar. Sie ist im französischen Teil deutlich stärker ausgeprägt als im flämischen Landesteil. Eine Untersuchung der Landesteile in der Schweiz zeigt (mit den Daten der Schüler/innen der 9. Klasse) in der deutschen und der französischen Schweiz ähnliche Durchschnitte bei der Leseleistungen, aber eine (mit einer Quantilsregression geschätzte) signifikant höhere Heterogenität der Leistungen in der Deutschschweiz, welche mit einer höheren sozialen Differenzierung einhergeht. SEITE 16 BFS/EDK 2003 SOZIALE INTEGRATION UND LEISTUNGSFÖRDERUNG bdv_Inhalt 14.05.2003 9:40 Uhr Seite 17 ÜBERSICHT ÜBER PISA ERGEBNISSE tungen schon zu einem frühen Zeitpunkt in der schu- tung auf als die Schweiz. Belgien, Deutschland und lischen Biographie sozial stark geprägt sind oder die Kanada weichen hingegen nicht signifikant von der Selektionsregeln (siehe 2.4.2.) dem sozialen Status Schweiz ab. ein hohes Gewicht beimessen. 2) Einfluss der Bildungsnähe der Eltern: Die Bildungsnähe der Eltern wurde als Index von vier 1.2 Bestimmung der Einflussfaktoren in einem Sechs-Länder Modell Variablen definiert, welche die Anzahl der Bücher, den Besitz von Kulturgütern und von Bildungsressourcen, sowie die Häufigkeit von Diskussionen über In diesem Kapitel werden kurz die Resultate einer soziale, politische und kulturelle Themen erfassen. multivariaten Regression zusammengefasst, in wel- Der Einfluss der Bildungsnähe ist wiederum in allen cher die Schüler/innendaten aller sechs Vergleich- Ländern signifikant und in allen Ländern signifikant sländer gemeinsam getestet wurden. Die uns inter- höher als in Finnland. Der Unterschied zu Finnland ist essierenden Variablen, welche die soziale Selektivität hier aber weniger gross als beim ISEI (im Durch- des Bildungswesens charakterisieren können, wer- schnitt rund 50% höhere Effekte als in Finnland). den dabei als so genannte Interaktionsterme mit den Obwohl der Effekt in Kanada signifikant höher ist als Ländern interagiert, so dass wir für jede uns interes- in Finnland, ist er kleiner als in den übrigen vier Län- sierende Variable eine statistische Aussage über die dern. Der Unterschied zwischen Kanada und der Unterschiede zwischen den Ländern machen kön- Schweiz ist signifikant. Deutschland, Frankreich und nen. Diese Vorgehensweise hat weiter den Vorteil, Belgien weichen hingegen nicht signifikant von der dass somit auch eine gewisse Hierarchie zwischen Schweiz ab. den einzelnen Erklärungsvariablen festgelegt werden kann. Das Vergleichsland aller Analysen ist jeweils 3) Einfluss der Testsprache: Finnland. Bei den Schüler/innen, die nicht in ihrer Mutterspra- Die Resultate werden nachfolgend zusammenge- che getestet wurden, sieht das Bild leicht anders aus fasst. Die Berechnungen sind in der Tabelle 1 des als bei den ersten beiden Variablen. Signifikant besser 31 als in Finnland schneiden Jugendliche, die zuhause Anhangs B dargestellt. nicht die Testsprache sprechen, in Belgien, Frankreich 1) Einfluss des sozioökonomischen Status 32 und Kanada ab. Der Einfluss dieser Variable ist in Bel- (ISEI) gien sogar leicht, aber signifikant positiv33. Nicht sig- des Elternhauses: Der sozioökonomische Status (ISEI) wirkt in allen nifikant von Null verschieden ist der Wert für Frank- sechs Vergleichsländern signifikant, in allen Ländern reich. In Deutschland, Finnland und der Schweiz sind aber signifikant stärker als in Finnland. Im Durch- Jugendliche, die nicht die Testsprache sprechen, sig- schnitt wirkt der ISEI in den fünf anderen Ländern nifikant schlechter als der Rest der Jugendlichen. Die mehr als doppelt so stark wie in Finnland. Zwischen Unterschiede zwischen Deutschen, Finnen und den fünf Ländern bestehen bis auf eine Ausnahme Schweizern sind allerdings nicht signifikant. keine statistischen Unterschiede. Diese Ausnahme betrifft den Vergleich zwischen Frankreich und der 4) Einfluss des Geburtsortes des/der Schüler/in: Schweiz. Frankreich weist einen statistisch signifikant Auch wenn man für die Fremdsprachigkeit und den tieferen Einfluss des sozialen Status auf die Leseleis- sozialen Status schon kontrolliert hat, ist der Um- 31 32 33 Aus der Tabelle sind nicht sämtliche im Text beschriebenen Effekte direkt ersichtlich. Die Koeffizienten der Interaktionsterme beziehen sich jeweils auf die Differenz zu Finnland. Um die Signifikanzen aller weiterer Effekte zu erhalten, wurde die Interaktionsterme jeweils zum Basiswert (Finnland) hinzu addiert. Diese Tests aufzulisten würde jedoch zu Unübersichtlichkeiten führen. Im Gegensatz zu den Analysen im internationalen PISA Bericht werden keine der Indikatoren für Vermögen oder Einkommen verwendet. Weil alle Angaben aus den Schüler/innenfragebögen stammen, und die Schüler/innen nicht direkt nach Einkommen oder Vermögen der Eltern gefragt werden konnten, wurden dafür Hilfskonstrukte verwendet. Diese sollten im optimalen Fall einen guten Indikator für die gesuchten Grössen abgeben. Eigene Tests mit alternativen Indikatoren haben jedoch gezeigt, dass diese Hilfsgrössen zweifelhaft sind und teilweise sogar in die falsche Richtung zeigen. Dabei muss berücksichtigt werden, dass bei der verwendeten Spezifikation der Variable Flamen oder Wallonen, die im anderen Landesteil wohnen und somit nicht in ihrer Muttersprache getestet werden, auch dazu gezählt werden. Diese Spezifikation wurde mit Absicht so gewählt, damit die Frage der Testsprache unabhängig von einem reinen Migrationseffekt getestet werden kann. Gleiches gilt für die anderen mehrsprachigen Länder, Kanada und die Schweiz, teilweise auch für Finnland. BFS/EDK 2003 SOZIALE INTEGRATION UND LEISTUNGSFÖRDERUNG SEITE 17 bdv_Inhalt 14.05.2003 9:40 Uhr Seite 18 ÜBERSICHT ÜBER PISA ERGEBNISSE stand, dass der/die Schüler/in nicht im betreffenden die schulische Leistung lässt sich folgendermassen Land geboren wurde und somit nicht seine ganze zusammenfassen: Jugend im Testland verbracht hat von zusätzlicher Bezogen auf die verschiedenen Kriterien der sozialen Signifikanz in einigen Ländern, aber nicht in allen. Differenzierung (sozialer Status der Eltern, Bildungs- Keine zusätzliche Bedeutung hat dieser Effekt in nähe der Eltern, Muttersprache, Migrationsstatus der Belgien, Finnland und Frankreich. In Deutschland, Schüler/innen und der Eltern) lassen sich nur gerade Kanada und der Schweiz hingegen ist er signifikant in der Schweiz durchgehend für alle sozioökonomi- negativ. schen und -demographischen Kriterien signifikante Effekte feststellen. Was den sozialen Status und die 5) Einfluss des Geburtsortes der Eltern: Bildungsnähe der Eltern anbelangt, so unterscheidet Unabhängig vom Geburtsort der Schüler/innen kann sich Finnland positiv von allen übrigen Vergleichslän- man auch testen, ob der Geburtsort der Eltern einen dern. Weiter gelingt es Belgien und Frankreich, eine eigenen Effekt auf die schulischen Leistungen hat. bessere Integrationsleistung für nicht mutterspra- Man kontrolliert hier somit, ob Schüler/innen aus chige Schüler/innen zu erbringen als alle anderen einer Familie mit einem vollständigen Migrationshin- Länder. tergrund (alle Personen sind im Ausland geboren) gleich gut abschneiden wie Jugendliche, bei denen wenigstens ein Elternteil im Testland geboren 1.3 Unterschiede zwischen den Ländern wurde. Es überrascht nicht, dass wir weder in Finn34 land noch in Frankreich zusätzliche negative Effekte 1.3.1 Fragestellung und Vorbedingungen sehen; beobachtbar sind solche aber in Belgien, der Im Anschluss an die Analysen des obigen Kapitels Schweiz und in Kanada. In Belgien ist der Geburtsort wird nun untersucht, ob die in den sechs Vergleich- der Eltern sogar entscheidender als derjenige des/ sländern unterschiedlichen durchschnittlichen Leis- der Schüler/in. In Deutschland sieht man keinen tungen oder die unterschiedliche soziale Selektivität zusätzlichen Effekt zum negativen Effekt des (der Einfluss der sozialen Herkunft auf die Leistung) Geburtsortes des/der Schüler/in. Doppelt getroffen durch bestimmte systemische Faktoren erklärt wer- sind also nur Kanada und die Schweiz. Auf das den. Um dieser Fragestellung gerecht zu werden, Gesamtresultat wirkt sich aber aus, dass in der bedarf es jedoch eines Modells, das den Mehrebe- Schweiz 13,6% der in PISA getesteten Schüler/innen nencharakter von Bildungssystemen berücksichtigt. (und 19,1% der Eltern) im Ausland geboren wurden, Gewisse Einflüsse betreffen alle Schüler/innen eines in Kanada lediglich 6,4% (und 12,4% der Eltern). Landes, sind aber von Land zu Land verschieden. Negativ für die Schweiz wirkt sich also einerseits die Solche Einflussfaktoren, wie beispielsweise die Aus- ungenügende Integrationsleistung bei Migrant/ gaben im Bildungswesen, können deshalb als Erklä- innen (im Vergleich zu den anderen Ländern) und rungsfaktoren für Unterschiede zwischen den Län- andererseits der sehr hohe Anteil von Erstgenera- dern herangezogen werden. Wiederum andere Fak- tionsmigranten35 aus.36 toren betreffen Schüler/innen eines Landes in unter- Die Vergleichsanalyse verschiedenster Aspekte schiedlicher Weise und erklären deshalb die inner- des sozialen Hintergrundes und deren Wirkung auf staatliche Varianz von Leistungen oder des Einflusses 34 35 36 Von den etwa 7% der Schüler/innen im Gesamtsample, die im Ausland geboren wurden, haben rund 80% Eltern, die ebenfalls beide im Ausland geboren wurden und 20% Familienverhältnisse mit «gemischter» Migrationsgeschichte. Insbesondere dann, wenn man zur ersten Generation auch noch jene Migrant/innen zählen würde, die nicht im Gastland geboren wurden. Es ist sicherlich wichtig, in diesem Zusammenhang an einen sehr wenig beachteten Tatbestand zu erinnern. Mit der starken Arbeitsmigration in die Schweiz in der zweiten Hälfte der achtziger Jahre entstand anfangs der neunziger Jahre ein quantitativ bedeutender Familiennachzug, der die demographische Entwicklung der Schweiz nachhaltig veränderte. Ähnlich starke Umwälzungen sind in den anderen fünf Vergleichsländern nicht zu beobachten gewesen. Während zwischen 1987 und 1996 die Zahl der schweizerischen Jugendlichen zwischen 15–24 Jahren um 16% zurückging, nahm jene der ausländischen Jugendlichen um 21% zu (siehe Galley & Meyer, 1998). Neben dem rein zahlenmässigen Anstieg ausländischer Kinder kamen in der ersten Hälfte der neunziger Jahre durch den Familiennachzug zunehmend schon im Ausland geborene Kinder in die Schweiz, die in der ersten Hälfte des aktuellen Jahrzehnts aus der Schulpflicht entlassen werden, d.h. im «PISA-Testalter» sind. Wenn man den starken Einfluss der Verweildauer im Gastland auf die Leistungen in PISA berücksichtigt (siehe Moser, 2002), besteht die Hoffnung, dass die Zeit (d.h. die über die Zeit erfolgte Integrationsarbeit von Schule und Gesellschaft) die Unterschiede zwischen Migrant/innen und den übrigen Schüler/innen einebnet. SEITE 18 BFS/EDK 2003 SOZIALE INTEGRATION UND LEISTUNGSFÖRDERUNG bdv_Inhalt 14.05.2003 9:40 Uhr Seite 19 ÜBERSICHT ÜBER PISA ERGEBNISSE der sozialen Herkunft auf die Leseleistung, nicht aber 1.3.2 Auswahl der Einflussfaktoren den Unterschied zwischen Ländern.37 Erste Ebene Bei der Mehrebenenanalyse werden in einem Die zu erklärende Variable auf der ersten Ebene ist ersten Schritt auf der ersten Ebene die Einflussfakto- die in PISA gemessene Leseleistung. In dieser Studie ren auf die schulischen Leistungen gesucht und pro interessiert primär, welche zwischenstaatlichen Un- Land ermittelt. In einem zweiten Schritt werden die terschiede die unterschiedliche Stärke des Einflusses länderspezifischen Einflussfaktoren analysiert. Mit der sozialen Herkunft auf die schulische Leistung anderen Worten sucht man nach Erklärungen, wes- erklären. Um den Nachteil der wenigen Beobachtun- halb (auf der zweiten Ebene) die schulische Leistung gen auf der zweiten Ebene (wenig Länder) möglichst der Schüler/innen in den einzelnen Ländern unter- klein zu halten, wurde ein Mass für die soziale Her- schiedlich bestimmt wird. Die Einflussfaktoren der kunft gewählt.40 Der dazu konstruierte Index für die ersten Ebene sind die zu erklärenden Variablen auf soziale Herkunft umfasst folgende Informationen41: der zweiten Ebene. • Beruf des Vaters oder der Mutter Auf die hier vorliegende Forschungsfrage ange- • Ausbildung (in Jahren) des Vaters oder der Mutter wandt bedeutet dies, dass auf der ersten Ebene der • zuhause vorhandene Bildungsressourcen (Wörter- Einfluss des sozialen Hintergrundes auf die schuli- bücher, Taschenrechner, Internetanschluss u.a.) schen Leistungen in jedem Land ermittelt wird und • zuhause vorhandene Kulturgüter (klassische Lite- auf der zweiten Ebene nach Faktoren gesucht wird, die die unterschiedliche Wirkung des sozialen Hinter- ratur, Kunstwerke, Musikinstrumente, usw.) • zuhause vorhandene Bücher grundes zwischen den Ländern erklären können. Eine wichtige Vorbedingung für die Durchführung Der Einfluss dieses Indexes auf die Leseleistung bildet einer solchen Analyse ist eine genügend grosse Zahl dann auf der zweiten Ebene der Analyse die zu erklä- von Beobachtungen auf beiden Ebenen. Beispiels- rende Variable. Ebenfalls auf der ersten Ebene wurde weise ist eine genügend grosse Zahl an Einheiten der der Einfluss der Fremdsprachigkeit (wenn die Mut- höchsten Ebene erforderlich.38 Aus diesem Grund tersprache weder der Unterrichtssprache noch einem werden möglichst alle an PISA beteiligten Länder in Dialekt entspricht42), des Geschlechts und der Anzahl die Analyse miteinbezogen, nicht nur die 6 Ver- Geschwister untersucht. gleichsländer, die in dieser Studie vertieft behandelt werden. Im Idealfall wären die etwas über 30 an Zweite Ebene PISA teilnehmenden Länder in die Analyse miteinbe- Es wurden zahlreiche systemische Faktoren auf ihren zogen worden. Aufgrund fehlender oder unzuverläs- Einfluss auf die soziale Selektivität hin getestet. Es siger Daten (vor allem im Bereich der Makrodaten, sind dies: also Daten, die teilweise nicht selbst aus der PISA • das BIP pro Kopf, in US Dollars, umgerechnet Untersuchung stammen) mussten 12 Länder aus der unter Berücksichtigung von PPP43, Werte von Analyse ausgeschlossen werden. Im folgenden wer- 1999, Quelle: OECD, 2002a den deshalb die Ergebnisse einer Studie mit 20 Län- • die relativen Ausgaben für Bildungsinstitutionen dern präsentiert. Diese Anzahl von Beobachtungen auf Primarstufe (pro Schüler/in, relativ zum BIP ist an der unteren Grenze der zulässigen Mindestan- pro Kopf), Werte von 1999, Quelle: OECD, 39 2002a. So kann gemessen werden ob die reiche- zahl für solche Analysen. 37 38 39 40 41 42 43 Die Schule mit ihren spezifischen Einflussfaktoren wäre eine dritte Ebene, die einzubeziehen sinnvoll wäre. Da Kanada sämtliche Daten, welche die Schulebene beschreiben, unter Verschluss hält, konnten diese in der vorliegenden Analyse jedoch nicht berücksichtigt werden. Für weitere Informationen über die technischen Voraussetzungen der Mehrebenenanalyse siehe z.B. Ditton (1998). Die genauen Berechnungen finden sich im Anhang B, Tabellen 2 und 3 Für eine detaillierte Analyse der einzelnen Komponenten des Konstruktes «soziale Herkunft» siehe Coradi Vellacott und Wolter (2002). Bei einem solchen Index ist die spezifische Behandlung fehlender Werte unerlässlich. In Anlehnung an die Vorgehensweise, welche für den Index der sozialen Herkunft im internationalen Bericht zur Anwendung kam (OECD, 2001b), wurde im Fall eines fehlenden Wertes ein spezifisch reduzierter Index eingesetzt. Ein grosser Vorteil dieses Vorgehens besteht darin, dass Häufungen von fehlenden Werten (zum Beispiel die in Japan besonders hohe Zahl von rund 60 Prozent fehlenden Werten bei den Angaben zu Beruf und Ausbildung der Eltern) nicht verzerrend wirken. Die Variable wurde so spezifiziert, dass Schüler/innen, welche eine andere offizielle Landessprache sprechen (also nicht im «heimischen» Landesteil zur Schule gehen), auch zu den Fremdsprachigen gezählt werden. PPP = Purchasing Power Parity, d.h. der Wechselkurs entspricht der Kaufkraftparität. BFS/EDK 2003 SOZIALE INTEGRATION UND LEISTUNGSFÖRDERUNG SEITE 19 bdv_Inhalt 14.05.2003 9:40 Uhr Seite 20 ÜBERSICHT ÜBER PISA ERGEBNISSE Tabelle 2: Werte der Vergleichsländer bei systemischen Faktoren Anteil Schüler/ Land BIP Relative Alter bei innen mit pro Kopf Ausgaben der ersten immigrierten in US $ Primarstufe Selektion Eltern 24669 16 12 11% Belgien Deutschland 24627 16 10 14% Finnland 23429 18 16 1% Frankreich 23155 18 15 12% Kanada 26462 19 12,5 13% Schweiz 28778 23 12 19% Datenquelle: OECD (2002a) ren Länder relativ zu ihrem Reichtum auch mehr für Bildung ausgeben. • die durchschnittliche soziale Herkunft der Schüler/innen pro Land, Quelle: eigene Berechnungen • die relativen Ausgaben für Bildungsinstitutionen • der durchschnittliche Anteil von Schüler/innen mit auf Sekundarstufe (pro Schüler/in, relativ zum BIP immigrierten Eltern pro Land, Quelle: eigene pro Kopf), Werte von 1999, Quelle: OECD, Berechnungen 2002a • das Alter der Schüler/innen bei der ersten Selek- Von den ausgewählten Systemvariablen haben sich tion. Die Zahlen dazu entstammen einer Publika- einige in allen Analysen als nicht signifikant erwie- tion von Müller & Shavit (1998) und wurden dort, sen. Diese Resultate werden deshalb nicht gesondert wo sie offensichtlich nicht den wirklichen Werten ausgewiesen. Als nicht signifikant erwiesen haben entsprachen, durch die Autoren angepasst. sich die Faktoren «Teilnahmequote von Dreijährigen • die Prozentzahl der fünfzehnjährigen Schüler/ an Unterrichtsprogrammen im Elementarbereich», innen, die Schulen besuchen, in denen Kurse in «Prozentzahl der Schüler/innen, die Schulen besu- der Testsprache für schwache Schüler/innen chen, in denen Kurse in der Testsprache für schwa- angeboten werden, Quelle: OECD PISA (2000) che Schüler/innen angeboten werden», sowie «Pro- Datenbasis, OECD, 2002a zentzahl der Schüler/innen, die Schulen besuchen, • die Prozentzahl der fünfzehnjährigen Schüler/ an denen spezielles Tutoring von Lehrpersonen für innen, die Schulen besuchen, in denen spezielles schwache Schüler/innen angeboten wird». Unter Tutoring von Lehrpersonen für schwache Schü- den Variablen, welche Ausgaben für Bildungsinstitu- ler/innen angeboten wird, Quelle: OECD PISA tionen messen, war die Variable für die Primarstufe (2000) Datenbasis, OECD, 2002a am aussagekräftigsten.45 Die verbleibenden fünf Fak- • Teilnahmequote von Dreijährigen an Unterrichtsprogrammen in Einrichtungen des Elementarbe- 44 45 46 toren wurden im Mehrebenenmodell auf zweiter Ebene eingeführt.46 reichs für Kinder ab drei Jahren bis zur Schul- Tabelle 2 zeigt die Werte der sechs Vergleichslän- pflicht44, Netto-Teilnahmequoten 1999; Quelle: der bei denjenigen Faktoren, welche entweder auf OECD, 2001a die Unterschiede bei den durchschnittlichen Leseleis- Diese Quote entspricht nicht derjenigen Quote des Jahres, in denen die in PISA getesteten Schüler/innen selbst dreijährig waren. Dieser Umstand ist dann nicht von grosser Wichtigkeit, wenn die relativen Strukturen zwischen den Ländern sich in den letzten zehn Jahren nicht massgeblich verändert haben. Die Variable wurde vor allem deshalb gewählt, weil die OECD diese als Indikator für die Qualität eines Bildungssystems in Hinblick auf lebenslanges Lernen sieht. Variablen können aus verschiedenen Gründen keine signifikante Erklärungskraft aufweisen. Es kann erstens sein, dass der systemische Faktor falsch operationalisiert wurde und deshalb nicht signifikant ist oder zweitens, dass dieser Systemunterschied (auch wenn er richtig gemessen wurde) tatsächlich keine Erklärungswert aufweist. Fünf Variablen sind in diesem Fall bereits eine grosse Anzahl, da auf der zweiten Ebene nur mit 20 Ländern gearbeitet werden kann. Das Problem der Freiheitsgrade sollte deshalb bei der Betrachtung der Ergebnisse berücksichtigt werden. SEITE 20 BFS/EDK 2003 SOZIALE INTEGRATION UND LEISTUNGSFÖRDERUNG 14.05.2003 9:40 Uhr Seite 21 ÜBERSICHT ÜBER PISA ERGEBNISSE Grafik 1: Der Einfluss der sozialen Herkunft auf die Leseleistung 47 Schweiz Deutschland 6 Länder bdv_Inhalt Frankreich Finnland Kanada Belgien 20 25 30 35 40 45 50 55 Wirkung einer SD SES auf Literacy Quelle: eigene Berechnungen; Datenquelle: Internationale Datenbank PISA 2000, OECD tung oder der sozialen Selektivität zwischen den Selektion hängt signifikant mit einem schwäche- Ländern einen signifikanten Einfluss haben. ren Einfluss der sozialen Herkunft auf die Leseleistung zusammen. • Ein grösserer durchschnittlicher Anteil von Schü- 1.3.3 Ergebnisse Das Modell zeigt, dass die Streuung in der Leseleis- ler/innen mit immigrierten Eltern hängt signifikant tung zu 79 Prozent auf Unterschieden innerhalb der mit einem stärkeren Einfluss der sozialen Herkunft untersuchten Länder und zu 21 Prozent auf Unter- auf die Leseleistung zusammen. schieden zwischen den untersuchten Ländern be- • (Relativ) Mehr Ausgaben für Bildungsinstitutio- ruht. Die schulischen Leistungen streuen demnach nen auf Primarstufe hängen signifikant mit einem hauptsächlich in den einzelnen Ländern und weniger schwächeren Einfluss der sozialen Herkunft auf zwischen den Ländern. Wenn man die Streuung der die Leseleistung zusammen. Leistungen zwischen den Ländern betrachtet, so können von dieser interstaatlichen Varianz nur rund Die Stärke des Einflusses der sozialen Herkunft auf 6 Prozent durch die ausgewählten systemischen Fak- die schulischen Leistung ist in jenen Ländern grösser, toren erklärt werden. die einen hohen Anteil an Migrant/innen in der Test- Ein anderes Bild zeigt sich jedoch beim Einfluss der population aufweisen und die in einem frühen Alter sozialen Herkunft auf die Leseleistung. Rund 60 Pro- die erste schulische Selektion durchführen. Hingegen zent der Varianz in der sozialen Selektivität zwischen ist der Einfluss dort geringer, wo die Bildungsausga- den Ländern kann durch die in Tabelle 2 dargestell- ben relativ zum BIP pro Kopf hoch sind. Interessant ten systemischen Faktoren erklärt werden. Für die ist natürlich die Frage, in welchem Ausmass die ein- Interpretation der Ergebnisse ist es wichtig klarzustel- zelnen Systemparameter die soziale Selektivität len, dass nicht die soziale Selektivität selbst erklärt beeinflussen. Um die Wirkungshöhe dieser Parame- wird, sondern die Unterschiede in der Wirkung der ter darstellen zu können, werden deshalb Änderun- sozialen Herkunft auf die schulischen Leistungen gen in diesen Werten und deren Auswirkungen auf zwischen den Ländern. die soziale Selektivität simuliert. In der ersten Gra- Von den ausgewählten Systemvariablen erklärt phik wird die geschätzte soziale Selektivität darge- nur gerade das BIP pro Kopf Unterschiede in der stellt, wie sie in der Mehrebenenanalyse auf der durchschnittlichen Höhe der Leseleistung zwischen ersten Modellebene für die einzelnen Länder den Ländern. geschätzt wurde. Auf die soziale Selektivität haben hingegen drei Die Graphik ist wie folgt zu interpretieren: Verän- der Variablen einen signifikanten Effekt: dert sich der sozioökonomische Status (SES) der • Ein höheres Alter der Schüler/innen bei der ersten Eltern eines/r getesteten Schülers/in um eine 47 Für tabellarische Darstellungen der Ergebnisse kann der Anhang konsultiert werden. BFS/EDK 2003 SOZIALE INTEGRATION UND LEISTUNGSFÖRDERUNG SEITE 21 14.05.2003 9:40 Uhr Seite 22 ÜBERSICHT ÜBER PISA ERGEBNISSE Grafik 2: Einfluss der sozialen Herkunft bei gleichem Selektionsalter wie Finnland Schweiz Deutschland Frankreich 6 Länder bdv_Inhalt ■ Finnland ■ Gleiches Selektionsalter wie Finnland Ursprüngliche Werte Kanada Belgien 20 25 30 35 40 45 50 55 Wirkung einer SD SES auf Literacy Quelle: eigene Berechnungen; Datenquelle: Internationale Datenbank PISA 2000, OECD Standardabweichung (SD) des SES, dann verändert Um nun die quantitative Bedeutung der einzelnen sich die Punktzahl auf der Leseskala in Finnland um Systemvariablen besser abschätzen zu können, wer- etwas über 35 Punkte, in der Schweiz um etwas über den drei Simulationen durchgeführt (siehe Grafiken 45 Punkte. Das unterste und das oberste Quartil des 2–4), bei denen die Systemvariablen zuerst einzeln SES liegen rund 2.433 Punkte auseinander, d.h. und dann zusammen auf den Wert von Finnland Schüler/innen aus dem untersten Quartil des SES gesetzt werden. hätten in der Schweiz eine Leseleistung, die 112 In der Schweiz wird die erste Selektion in ein hie- Punkte (2.433 x 45) unterhalb der Leseleistung von rarchisch aufgebautes Schulsystem sehr früh vorge- Schüler/innen aus dem obersten SES Quartil liegt. nommen. Ohne an dieser Stelle auf die verschiede- Die Modellprognose des Unterschiedes von 112 nen Wirkungskanäle einer frühen Selektion einzuge- Punkten ist somit ziemlich nahe dem tatsächlichen hen, kann festgehalten werden, dass die frühe Selek- Leseleistungsunterschied von 115.7 Punkten in der tion gemäss der gefundenen Resultate den Einfluss Schweiz. der sozialen Herkunft auf die Leseleistung verstärkt. Dieser Effekt ist schon in verschiedenen früheren 1.3.4 Interpretation der Ergebnisse Studien (vor PISA) nachgewiesen und mehrmals und Simulationen repliziert worden.49 Gleiches gilt für den Anteil der Mehr Ausgaben für Bildungsinstitutionen auf der Pri- Migranten/innen an der Schulpopulation. marstufe scheinen ein Mittel zur Eindämmung der In einem ersten Schritt wird in allen Ländern das starken sozialen Selektivität zu sein.48 Die Schweiz Selektionsalter auf 16 Jahre gesetzt. Wie zu erwarten liegt mit ihren Ausgaben (relativ zum BIP pro Kopf) ist, reduziert sich damit die soziale Selektivität in allen im internationalen Vergleich am oberen Ende der übrigen Ländern, teilweise aber nur unmerklich. Der Skala (siehe Kolonne 2 in Tabelle 2), was die soziale Wert in Finnland bleibt tiefer als in den übrigen fünf Selektivität in der Schweiz relativ zu den anderen Ländern (vgl. Grafik 1). Wenn nun die gleiche Simu- Vergleichsländern reduziert. Allerdings müssen die lation für den Anteil der Migranten/innen an der beiden anderen Effekte so stark sein, dass der als Schulpopulation vorgenommen wird (siehe Grafik 3), positiv zu wertende Einfluss der Bildungsausgaben ergeben sich tendenziell die gleichen Effekte (da überkompensiert wird. Finnland den tiefsten Migrant/innenanteil hat), die 48 49 Der Einfluss der Bildungsausgaben auf die soziale Selektivität ist nicht a priori eindeutig und klar. Unter Umständen könnte es nämlich auch so sein, dass die höheren Ausgaben primär den Schüler/innen zufliessen, die schon einen Vorteil haben und somit die sozioökonomisch bedingten Leistungsunterschiede noch verschärfen. Hier finden wir aber einen umgekehrten Effekt, d.h. die höheren Ausgaben dämmen die sozial bedingten Unterschiede eher ein. Ein ähnliches Resultat finden bspw. auch Brunello und Checchi (2003) in einer Längsschnittsuntersuchung für Italien. Rijken (1999) zeigte beispielsweise, dass bei Schüler/innen, welche zum Zeitpunkt der Selektion älter waren, der Einfluss der sozialen Herkunft kleiner ausfiel (unter Kontrolle der geringeren Anzahl Schüler, welche nach der Selektion im System verbleiben und der Art des anlässlich der Selektion gemachten Übergangs). SEITE 22 BFS/EDK 2003 SOZIALE INTEGRATION UND LEISTUNGSFÖRDERUNG 14.05.2003 9:40 Uhr Seite 23 ÜBERSICHT ÜBER PISA ERGEBNISSE Grafik 3: Einfluss der sozialen Herkunft bei gleichem Anteil der Migranten/innen in der Schulpopulation wie Finnland Schweiz 6 Länder Deutschland Frankreich ■ Finnland ■ Gleicher Migrationsanteil an Schulpopulation wie Finnland Ursprüngliche Werte Kanada Belgien 20 25 30 35 40 45 50 55 Wirkung einer SD SES auf Literacy Quelle: eigene Berechnungen; Datenquelle: Internationale Datenbank PISA 2000, OECD Grafik 4: Einfluss der sozialen Herkunft bei gleichem Anteil der Migranten/innen an der Schulpopulation und gleichem Selektionsalter wie Finnland Schweiz Deutschland 6 Länder bdv_Inhalt Frankreich ■ Finnland ■ Migrationsanteil an Schulpopulation und Selektionsalter wie Finnland Ursprüngliche Werte Kanada Belgien 20 25 30 35 40 45 50 55 Wirkung einer SD SES auf Literacy Quelle: eigene Berechnungen; Datenquelle: Internationale Datenbank PISA 2000, OECD Auswirkungen sind aber sichtbar stärker und trachtungen sind und dynamische Verknüpfungen besonders für die Schweiz ausgeprägt. und Wirkungen zwischen den Systemvariablen und Die soziale Selektivität reduziert sich in der zur Leseleistung ausblenden. Die Simulation hatte Schweiz soweit, dass diese nun etwa auf der Höhe aber zum Zweck, die Wirkungshöhe der einzelnen Finnlands liegt. Kombiniert man nun die beiden sys- Systemvariablen zu demonstrieren. Wie leicht temischen Effekte (siehe Grafik 4), dann sieht man ersichtlich ist, ist insbesondere die Wirkung des deutlich: Hätte die Schweiz den gleichen Migran- hohen Anteils von Migranten/innen (an der Schul- ten/innenanteil und das gleiche Selektionsalter wie population) auf die soziale Selektivität entscheidend Finnland, wäre die soziale Selektivität in der Schweiz für die gegenüber Finnland relativ hohe Selektivität am tiefsten.50 Natürlich muss man bei diesen Simula- in der Schweiz.51 tionen berücksichtigen, dass sie rein statische Be50 51 Die Erkenntnis, dass der hohe Migrationsanteil Die tiefere soziale Selektivität der Schweiz relativ zu Finnland erklärt sich nun durch die relativ höheren Bildungsausgaben in der Schweiz, d.h. die Differenz der beiden Länderwerte entspricht der Höhe des Einflusses der Bildungsausgaben auf die soziale Selektivität eines Bildungssystems. Der Einfluss des hohen Anteils an Migrant/innen auf die soziale Selektivität erklärt sich aber nicht einfach dadurch, dass die Schweiz sich durch eine auf unqualifizierte Arbeitskräfte ausgerichtete Migrationspolitik vor allem Migrant/innen aus den tiefen sozialen Schichten ins Land geholt hatte. Im Mittel und in der Streuung des sozioökonomischen Status sind die Schweiz und Finnland nämlich nicht signifikant unterschiedlich. BFS/EDK 2003 SOZIALE INTEGRATION UND LEISTUNGSFÖRDERUNG SEITE 23 bdv_Inhalt 14.05.2003 9:40 Uhr Seite 24 ÜBERSICHT ÜBER PISA ERGEBNISSE und das frühe Selektionsalter die soziale Selektivität bzw. auf die Diskriminierung von Kindern aus sozial des schweizerischen Bildungswesen stark prägt und tieferen Schichten. Schliesslich untersuchen wir auch die Bildungsleistungen sozial ungleicher macht als in die Frage, ob ein höherer Anteil an fremdsprachigen anderen Vergleichsländern, ist zwar eine erste Inter- Schüler/innen in einer Schule einen signifikanten pretationshilfe, sagt aber noch nichts darüber aus, Effekt auf die durchschnittliche Leseleistung in einer weshalb und wie diese Wirkung zustande kommt. Schule hat. Diese Frage ergibt sich aus den beiden Festzuhalten gilt auch, dass die beiden Variablen erstgestellten. Wenn Ressourcenrestriktionen und keine signifikante Erklärung für die Unterschiede bei Diskriminierung bei der Selektion in Schulstufen Kin- der durchschnittlichen Leseleistung zwischen den der aus tieferen sozialen Schichten und Migranten/ Vergleichsländern liefern, sondern nur die Unter- innen in tiefere Schulniveaus und in die gleichen schiede bei der sozialen Selektivität erklären. Schulen zwingen, muss befürchtet werden, dass ihr schulischer Erfolg damit zusätzlich geschmälert und die Diskrepanz zwischen den schulischen Leistungen 1.4 Wie kommt soziale Selektivität zustande? von Schüler/innen aus unterschiedlichem Elternhaus Obwohl es nicht möglich ist, diese Frage abschlies- 1.4.1 Der Einfluss der Ressourcenausstattung von send zu erklären, werden hier erste Resultate aus Eltern auf die schulische Leistung der Kinder vergrössert wird. Analysen präsentiert, die wenigstens teilweise erklä- Die Untersuchung, ob Ressourcen eine Rolle spielen, ren können, weshalb ein hoher Migrant/innenanteil wurde mit dem Konzept der Geschwisterrivalität oder eine frühe schulische Selektion sich verschär- («sibling rivalry») angegangen (siehe Wolter & fend auf die sozialen Unterschiede im Bildungswesen Coradi Vellacott, 2002). Dies, weil über die Ressour- auswirken können. cenausstattung der Eltern im PISA Fragebogen keine In der Literatur werden drei verschiedene Wir- genauen Angaben gemacht werden. Über das Ver- kungskanäle des sozialen Hintergrundes auf die mögen der Eltern ist gar nichts bekannt und das Ein- schulischen Leistungen unterschieden52: (1) Erwar- kommen der Haushalte wird im Schülerfragebogen tungshaltungen der Eltern, (2) Ressourcenausstat- lediglich mit Hilfskonstrukten abgebildet. Beim Kon- tung der Eltern und (3) Diskriminierung im Schulsys- zept der Geschwisterrivalität wird getestet, ob Kinder tem. Die im Mehrebenenmodell der PISA Länder aus kinderreicheren Familien bei einer Berücksichti- gefundenen Systemvariablen, Migrant/innenanteil gung aller beobachtbaren Unterschiede zwischen und Selektionsalter, lassen darauf schliessen, dass die den Familien (d.h. ceteris paribus) schlechtere schuli- Ursachen für die relativ hohe soziale Selektivität des sche Leistungen aufweisen als Kinder mit wenigen schweizerischen Bildungswesens hauptsächlich bei oder gar keinen Geschwistern. Nach der Kontrolle den beiden letzten Wirkungskanälen liegen. Diese aller beobachtbaren Unterschiede zwischen den beiden werden deshalb mit vertieften Analysen wei- Familien kann nämlich davon ausgegangen werden, ter untersucht, und zwar anhand von drei Problem- dass kinderreiche Familien pro Kind weniger stellungen. Die erste untersucht die Frage, ob sich Ressourcen (Zeit und Geld) ausgeben können als aufgrund unterschiedlicher Ressourcenausstattungen Familien mit weniger Kindern. Voraussetzung dafür, der Eltern ein Einfluss auf die Unterschiede in den dass sich ein solcher Effekt feststellen lässt, ist natür- 53 schulischen Leistungen zeigen lässt. Die zweite ana- lich auch der Umstand, dass familiäre Ressourcen lysiert das Selektionsverfahren beim Übertritt in überhaupt eine Rolle für den schulischen Erfolg der höhere Schulstufen in Hinsicht auf die Neutralität, Kinder spielen. 52 53 «(1) The education process in middle- and upper-class families might promote the development of attitudes that match the demand of the school-type learning environment, (2) upper class families simply provide better learning resources, and (3) upper class students enjoy direct favoritism in the formal or informal setup of the school system.» (Schnabel et al., 2002, p. 179) Die OECD geht in ihrer neuesten Publikation zu PISA genauer der Frage nach, ob es sich beim Einfluss des sozialen Status um eine Übertragen von Erwartungshaltungen, Freude am Lesen oder ähnliche Prädispositionen handelt (siehe OECD, 2002b). Elterliche Erwartungen und Werte wirken quasi als Mediatoren des sozialen Status auf die Leistungen der Kinder ein. Eine genaue Untersuchung der Unterschiede zwischen den Ländern in diesem Bereich wurde hier aber nicht speziell vorgenommen. Vor allem auch deshalb, weil die Prozesse, mittels deren diese Vermittlungen stattfinden, teilweise auch kulturabhängig sind und deshalb schwierig in einen internationalen Vergleich einzubeziehen sind. Die internationalen Resultate sind denn auch häufig durch einige Extremwerte in einzelnen Ländern geprägt. SEITE 24 BFS/EDK 2003 SOZIALE INTEGRATION UND LEISTUNGSFÖRDERUNG bdv_Inhalt 14.05.2003 9:40 Uhr Seite 25 ÜBERSICHT ÜBER PISA ERGEBNISSE Tabelle 3: Der Einfluss sozialer Herkunft und der Anzahl Geschwister auf die Leseleistung: Geschätzte Durchschnittswerte für die Schweiz Einheimische Familie Migrantenfamilie 2-Kind Familie hoher sozialer Status 569 492 2-Kind Familie tiefer sozialer Status 484 443 5-Kind Familie tiefer sozialer Status 475 379 Quelle: eigene Berechnungen; Datenquelle: Internationale Datenbank PISA 2000, OECD Die Ergebnisse lassen sich folgendermassen Die Länder mit den grössten Effekten sind die zusammenfassen: auch wenn für den Sozialstatus Schweiz, Deutschland und Belgien. Die Gruppierung und weitere sozio-demographische Kriterien kontrol- der Länder folgt also dem Muster, das sich auch bei liert wird, senkt ein zusätzliches Kind in einer Familie der Analyse des Effektes des Sozialstatus auf die die durchschnittliche schulische Leistung der (getes- Leseleistung zeigt, nur dass sich jetzt die Effekte auch teten) Kinder dieser Familie signifikant. Die Effekte zwischen Familien beobachten lassen, die der glei- sind konzentriert in den Familien der unteren Hälfte chen Gruppe des Sozialstatus angehören. des Sozialstatus und verstärkt in fremdsprachigen Zudem lässt sich aus den Analysen ablesen, dass Familien zu finden. Die Resultate weisen daraufhin, Kinder ärmerer oder kinderreicher Familien häufig dass es in allen sechs Ländern eine grössere Zahl von nicht über die physische Infrastruktur (eigenes Zim- Familien gibt, deren Kinder im öffentlichen Schulsys- mer, etc.) im Elternhaus verfügen, welche Vorausset- tem benachteiligt sind, weil es den Eltern an zung für eine erfolgreiche schulische Leistung wäre. Ressourcen mangelt oder die familiären Ressourcen Dieser Umstand ist gerade in der Schweiz besonders qualitativ schlechter sind als die anderer Eltern. Da ausgeprägt. Gleiches lässt sich für die verminderte die Effekte umso stärker ausfallen, wenn ein tiefer soziale Interaktion in den betreffenden Familien sozialer Status und ein Migrationshintergrund kom- sagen. biniert sind, sind natürlich die sogenannten Risiko- Die Effekte sind ziemlich ausgeprägt; ein ausge- gruppen, bei denen sich die Ressourcenrestriktionen wähltes Ergebnis (siehe Tabelle 3) mag dies verdeut- signifikant negativ auf die schulischen Leistungen lichen. Während die durchschnittliche Leseleistung der Kinder niederschlagen, in den einzelnen Ländern eines Kindes aus einer Schweizer Familie praktisch unterschiedlich gross. Der hohe Anteil an Migran- nicht durch die Anzahl der Geschwister beeinträch- ten/innen in der Schweiz führt zu einer deutlich tigt wird (auch wenn die Familie aus einem tiefen grösseren Risikogruppe als in anderen Ländern. sozialen Status stammt), ist der Effekt bei Migran- Obwohl die Resultate darauf hindeuten, dass ten/innen überaus stark. Ein Kind aus einer Migran- familiäre Ressourcen in allen sechs Vergleichsländern tenfamilie in der Schweiz mit vier Geschwistern fällt eine Rolle spielen, sind klare Unterschiede zwischen auf eine durchschnittliche Leseleistung, die unter den Ländern auszumachen (siehe Wolter 2003), die dem Durchschnitt von Brasilien liegt (schlechtestes wiederum auf kompensierende Massnahmen im Bil- Land in PISA 2000). dungswesen oder auch in der Sozialpolitik zurückgeführt werden können. Die Länder lassen sich in zwei 1.4.2 Schulische Selektion Gruppen aufteilen, welche sich in den Effekten sta- Die frühe schulische Selektion kann sich auf ver- tistisch signifikant voneinander unterscheiden. Die schiedene Art und Weise auf die soziale Selektivität Länder mit den geringsten Effekten (in aufsteigender des Bildungssystems auswirken.54 Wenn bei der frü- Reihenfolge) sind Finnland, Kanada und Frankreich. hen Selektion einerseits keine Diskriminierung erfol- 54 Es ist zu beachten, dass auch in Ländern ohne frühe Selektion in Schultypen dennoch leistungsmässig orientierte Gruppierungen der Schüler/innen in Schulen oder gar Klassen vorgenommen werden. Dies ist traditionellerweise in den USA der Fall (dort unter dem Namen «tracking» bekannt), kann aber auch in anderen Ländern beobachtet werden. Obwohl es eine recht umfangreiche Literatur zu dieser Thematik gibt, sind die Effekte auf die durchschnittliche Leistung oder auf den Einfluss des sozioökonomischen Umfeldes auf die Leistungen umstritten (siehe Ireson et al., 2002, Meijnen & Guldemond, 2002 als Beispiele für die jüngste Literatur zu diesen Themen). Diese auf Klassenebene zu verortenden Einflüsse können aber mit PISA Daten schlecht untersucht werden, da die Stichproben auf der Schulebene gemacht wurden. BFS/EDK 2003 SOZIALE INTEGRATION UND LEISTUNGSFÖRDERUNG SEITE 25 bdv_Inhalt 14.05.2003 9:40 Uhr Seite 26 ÜBERSICHT ÜBER PISA ERGEBNISSE gen würde und zudem die Schulen nach der Selek- auf, die Selektion in der Schweiz auf das Kriterium tion die Kinder alle gleichermassen fördern würden der Chancengleichheit hin zu überprüfen, soweit (relativ zu ihrem Bildungspotential), dann würden die dies mit den PISA Daten möglich ist. Unterschiede zwischen den Kindern durch die Selek- Dieser Test56 ergibt, dass unabhängig vom Ein- tion nicht verschärft, sie würden in etwa den Leis- fluss, den die sozioökonomischen und -demographi- 55 tungsunterschieden vor der Selektion entsprechen. schen Faktoren auf die Lesekompetenz ausüben, Der Selektionszeitpunkt und der Umstand, dass diese einen zusätzlichen, signifikanten Einfluss auf selektioniert wird, hätte unter diesen Rahmenbedin- die Wahrscheinlichkeit haben, dass sich ein/e Schü- gungen keinen eigenen negativen Einfluss auf die ler/in in einer höheren Schulstufe (bspw. Gymna- soziale Selektivität. Die unter Punkt 2.3, gezeigten sium) befindet. Zu diesen Variablen gehören (in der Resultate lassen nun aber auf einen solchen Einfluss Deutschschweiz) sowohl der sozioökonomische Sta- schliessen. Deshalb müssen wir erstens vermuten, tus, die Bildungsnähe der Eltern, wie auch der Immi- dass Kinder nach einer frühen schulischen Leistungs- grationsstatus. Damit verfügen wir über ein klares selektion unterschiedlich stark gefördert werden Indiz für einen Wirkungskanal, über welchen in der oder bspw. in ihrer Entwicklung schon durch das Schweiz die Bedeutung von sozioökonomischer Her- Fehlen der entsprechend guten Referenzgruppen kunft auf die schulischen Kompetenzen institutionell behindert sind. Zweitens legen die Ergebnisse den verstärkt wird. Gedanken nahe, dass die Wahrscheinlichkeit, bei Natürlich muss hier einschränkend auch erwähnt einer (altersmässig frühen) Selektion in eine höhere werden, dass mit dem Nachweis der Diskriminierung Schulstufe eingeteilt zu werden, nicht nur von der von Schüler/innen aus Migrantenfamilien und/oder Leistung, sondern auch von der Herkunft abhängt. tiefem sozialem Status in der Schweiz noch nichts Dieser Umstand entspräche einer klaren Diskriminie- darüber ausgesagt werden kann, ob eine solche Dis- rung von Kindern aus sozial tieferen Schichten. Der kriminierung in den Ländern, in denen die schulische ursprünglich Selektion vor allem nach dem Alter 15 einsetzt, nicht beobachtete Leistungsunterschied würde sich weiter vergrössern und es käme zu einer auch stattfindet. schärferen sozialen Selektivität des Systems als in Ländern, in denen die Schüler/innen länger in der 1.4.3 Unterschiede zwischen Schulen gleichen Schule oder Klasse zusammen bleiben. Die in 4.2 dargestellten Ergebnisse sprechen dafür, Der Prozess der frühen Leistungsselektion kann dass die frühe institutionelle Selektion in unter- also zu einer verstärkten Bedeutung des sozioökono- schiedliche Schulstufen die soziale Selektivität des mischen Umfeldes führen. Die genauen Wirkungska- Systems erhöht. Da Jugendliche aus tiefem sozialen näle sind mittels der PISA Daten jedoch schwer Milieu und mit Migrationshintergrund unabhängig abzubilden, da man nur über eine Querschnittsinfor- von ihrer Leistung eher in tieferen Schulniveaus ein- mation (für das Alter 15) verfügt und nicht über geteilt sind als andere, stellt sich die Frage, ob eine Informationen vor und nach der Selektion. Weiter ist Ballung solcher Jugendlichen in einem Schulhaus die es nicht möglich, alle Vergleichsländer in die Analyse Leistung aller Schüler/innen beeinträchtigen kann. Es mit einzubeziehen, da nicht alle eine gleich frühe interessiert also, ob die Zusammensetzung der Schü- Selektion kennen. Wir beschränken uns deshalb dar- lerschaft innerhalb einer Schule einen signifikanten 55 56 Neuere Forschungsliteratur weist darauf hin, dass Kinder schon mit grossen Leistungsunterschieden in die Schule eintreten und dass diese Leistungsunterschiede bei Schulbeginn schon auf die unterschiedliche soziale Herkunft zurückzuführen ist (z.B. Lee & Burkam, 2002) Der Test, den wir für unsere Fragestellung angewandt haben (die genauen Ergebnisse sind im Anhang B abgebildet), sieht folgendermassen aus: In einem ersten Schritt haben wir eine möglichst gute Schätzung der Lesekompetenzen der 15jährigen Schüler/innen vorgenommen, wobei natürlich auch die sozioökonomischen und –demographischen Faktoren berücksichtigt wurden. Diese haben denn auch alle einen signifikanten Erklärungswert. In einem zweiten Schritt schätzen wir nun für jede/n Schüler/in die Leistungskompetenz, die sich aufgrund dieses Modells ergeben würde, d.h. welche den gesamten sozioökonomischen Einfluss auf die Lesekompetenz beinhaltet. In einem dritten Schritt schätzen wir nun mittels eines «ordered probit» Modells die Wahrscheinlichkeit, mit der ein/e Schüler/in sich im Alter von 15 in einer (niveaumässig) höheren Schulstufe befindet. Aufgrund der leistungsabhängigen Selektion nehmen wir an, dass die geschätzte Lesekompetenz diese Wahrscheinlichkeit erklärt. Zusätzlich integrieren wir aber noch einmal als Kontrollvariablen den sozioökonomischen Status und andere soziodemographische Kriterien. Sollten diese nun auch noch einen signifikanten Einfluss, d.h. unabhängig von ihrem Einfluss auf die Lesekompetenz, auf die Wahrscheinlichkeit in einer höheren Schulstufe zu sein, haben, dann hätten wir den Nachweis für eine Diskriminierung. Die genauen Berechnungen sind in der Tabelle 4 im Anhang B dargestellt. Da nur Daten für das Alter 15 vorliegen und somit nicht direkt der Selektionsprozess abgebildet wird, ist der Test nicht vollständig eindeutig. Allerdings sind alternative Erklärungshypothesen zu der hier gemachten Interpretation der Ergebnisse ziemlich unwahrscheinlich und der Test somit gut brauchbar. SEITE 26 BFS/EDK 2003 SOZIALE INTEGRATION UND LEISTUNGSFÖRDERUNG bdv_Inhalt 14.05.2003 9:40 Uhr Seite 27 ÜBERSICHT ÜBER PISA ERGEBNISSE Einfluss auf die durchschnittliche Leseleistung einer liche Leistung in einer Schule erst ab einem relativ Schule hat. Zu diesem Zweck wird wiederum ein hohen Anteil auftritt. Dies bedeutet, dass Schulen Mehrebenenmodell berechnet, wobei auf der ersten niedrigere Anteile ohne negativen Einfluss auf die Ebene die einzelne Schüler/innenleistung analysiert schulischen Leistungen «verkraften» können. Wenn wird und auf der zweiten Ebene die Unterschiede nun der Anteil an fremdsprachigen Schüler/innen zwischen den Schulen.57 Die einzelnen Variablen auf in einem Land insgesamt nicht sehr hoch ist, dann den beiden Ebenen sind in den detaillierten Tabellen ist auch die Wahrscheinlichkeit, dass sich in einer im Anhang ersichtlich. Einzelne Variablen, die auch bestimmten Schule ein Anteil an fremdsprachigen getestet wurden, aber keine signifikanten Ergebnisse Schüler/innen von über 20% befindet, sehr klein. erbrachten, sind nicht dargestellt. Dies kann eine weitere Erklärung dafür sein, warum Die Streuung in der Leseleistung in der Schweiz ist sich diese Effekte in der Schweiz ausgeprägt zeigen.60 zu 30 Prozent auf Unterschiede zwischen den Schu- Generell wirkt sich ein hoher Anteil an fremdspra- len und zu 70% auf Unterschiede innerhalb der chigen Schüler/innen zuerst auf die Leistung dieser Schulen zurückzuführen. Die auf der ersten Ebene Schüler/innen aus und nicht auf jene Schüler/innen, des Modells eingeführten Variablen erklären rund welche die Testsprache sprechen. Die Leseleistung 24% der Streuung der Leseleistung innerhalb der der Neuntklässler/innen, welche sich zu Hause in der Schulen. Mit anderen Worten: die Unterschiede in Testsprache unterhalten, wird also vom Anteil fremd- der Leseleistung, welche sich nicht durch Schulfakto- sprachiger Jugendlicher nicht so stark beeinflusst wie ren ergeben, gründen zu 24% in der sozialen Her- die Leistung der Gesamtstichprobe. Erst ab einem kunft, der Fremdsprachigkeit, dem Geschlecht und Anteil von über 40% Fremdsprachiger in einer der Anzahl der Geschwister der einzelnen Schüler/ Schule fällt auch die Leistung der einheimischen innen. Die Variablen der zweiten Ebene vermögen Schüler/innen signifikant schlechter aus, wobei der rund 87% der Streuung der Leseleistung zwischen Effekt zwar statistisch signifikant, aber absolut gese- den Schulen zu erklären. Das heisst, der Schultyp hen nicht sehr hoch ist. Schwieriger ist nun die Frage, (Niveau), die durchschnittliche soziale Herkunft der warum sich der Anteil an fremdsprachigen Jugend- Neuntklässler/innen einer Schule, der Anteil von lichen überhaupt negativ auf deren Leistung aus- fremdsprachigen Schüler/innen sowie die Sprachre- wirkt, und weshalb dies erst ab einem bestimmten gion, in der eine Schule sich befindet, sind verant- Anteil der Fall ist. Gleiches gilt für die Beobachtung, wortlich für 87% der zwischen den Schulen unter- dass Schulen mit einem durchschnittlich tiefen Sozi- schiedlichen Leseleistungen. alstatus schlechter abschneiden. Dafür gibt es unter- 58 Wie beim sozialen Status ergeben sich auch beim schiedliche Erklärungsmöglichkeiten, die einzeln oder Migrant/innenanteil zusätzlich negative Effekte. auch zusammen zutreffend sein können, die wir aber Wenn zwei Schulen der gleichen Schulstufe den glei- nicht dahingehend überprüfen können, ob sie auch chen der wirklich gültig sind. Es handelt sich hier um ein soge- Schüler/innen59 aufweisen, die eine aber über 20% nanntes Identifikationsproblem bei sozialen Interak- fremdsprachige Schüler/innen hat und die andere tionen, welches eine eindeutige und andere Erklä- einen Anteil von 0 bis 5%, dann wäre die durch- rungsvarianten ausschliessende Beurteilung eines schnittliche Leseleistung der Schüler/innen in der Zusammenhangs verhindert. durchschnittlichen sozialen Status ersten Schule um 13 Punkte tiefer und zwar statistisch signifikant. Steigt der Anteil der fremdsprachigen Schüler/innen auf über 30% (40%), beträgt der Die möglichen Erklärungen lassen sich in drei Gruppierungen zusammenfassen: 1. Negativer Effekt der Interaktion zwischen den Schüler/innen. Es kann sein, dass sich aufgrund eines Nachteil über 17 (40) Punkte. Entscheidend an diesen Resultaten ist die Beob- negativen peer Effekts die Jugendlichen in ihren achtung, dass der negative Effekt eines Anteils an schulischen Leistungen gegenseitig hemmen (vor fremdsprachigen Schüler/innen auf die durchschnitt- allem bei einer hohen Konzentration von Jugend- 57 58 59 60 Für diese Analyse werden die Schweizer PISA Daten der Neuntklässlerinnen und Neuntklässler sowie ihrer Schulen benutzt. Dieses Ergebnis deckt sich mit der von Coradi Vellacott und Wolter (2002) im nationalen Bericht der Erhebung PISA 2000 dokumentierten erklärten Varianz der Leseleistung durch Herkunftsvariablen. Mit der Bezeichnung «Schüler/innen» sind hier, wie erwähnt, die Neuntklässler/innen gemeint. Allerdings sind keine international vergleichende Berechnungen angestellt worden. BFS/EDK 2003 SOZIALE INTEGRATION UND LEISTUNGSFÖRDERUNG SEITE 27 bdv_Inhalt 14.05.2003 9:40 Uhr Seite 28 ÜBERSICHT ÜBER PISA ERGEBNISSE lichen mit Lernschwierigkeiten). Die unterschiedliche Wirkung des Anteils fremdsprachiger Jugendlicher auf ihre eigenen Leistungen und auf jene der 1.5 Vor PISA und nach PISA – Grenzen bei der Beurteilung von PISA Ergebnissen Jugendlichen, welche die Testsprache sprechen, spricht teilweise für diese Hypothese. Eine hohe Der Umstand, dass wir mit PISA jede Kohorte nur Anzahl von Jugendlichen aus sozial tieferem Umfeld einmal in ihren Kompetenzen beurteilen (beim Ende kann auch dazu führen, dass die positiven Referenz- der obligatorischen Schulzeit), limitiert die Möglich- personen (mit den entsprechenden Sprachkompe- keiten, Ursachen für Kompetenzunterschiede oder tenzen) in einer Klasse fehlen. Ebenso ist ein soge- die soziale Differenzierung in den Kompetenzen nanntes lock in Phänomen möglich. Ein aus der beurteilen zu können. Psychologie bekanntes Problem, bei welchem die Neueste Forschungsliteratur gibt einige klare Hin- schlechteren Schüler die besseren Schüler quasi zur weise darauf, dass auch sozioökonomisch bedingte Mittelmässigkeit zwingen. Kompetenzunterschiede schon beim Schulbeginn 2. Negativer Ressourcenausstattungseffekt, der feststellbar sind (siehe bspw. Lee & Burkam, 2002) alle Schüler/innen derselben Schule trifft. Damit ist und dass sich diese im Verlauf der Beschulung nicht gemeint, dass Jugendliche in Schulen mit einem tie- nur erhalten, sondern in vielen Fällen weiter ausge- fen durchschnittlichen Sozialstatus oder einem baut werden. Dies bedeutet aber auch, dass wir beim hohen Anteil an fremdsprachigen Jugendlichen unter Messen von Korrelationen zwischen Kompetenzen schlechteren Infrastrukturen, schlechteren Lehrern und Charakteristiken der Schulen, der Lehrer oder des und auch weniger Engagement der Eltern dieser familiären Umfeldes zum Zeitpunkt der PISA Beurtei- Schüler/innen für die Schule leiden können. Bei die- lung nur in Ausnahmefällen davon ausgehen können, sem Punkt ist zu beachten, dass aufgrund der dass es sich dabei um die kausalen Hintergründe für schwierigeren die festgestellten Kompetenzunterschiede handelt. Lernsituation eigentlich mehr Ressourcen für ein vergleichbar gutes Resultat wie in einer Durchschnittsklasse notwendig wären. Während also über die Gründe, welche zu den festgestellten, sozioökonomisch bedingten Kompe- 3. Negative Erwartungen. Es ist auch durchaus tenzunterschieden bei 15-jährigen Schüler/innen möglich, dass, in der Form einer sich selbst erfüllen- geführt haben, nur spekuliert werden kann, besteht den Prophezeiung, Jugendliche von solchen Schulen auch keine Gewissheit über die Folgen für die wei- dadurch diskriminiert werden, dass Lehrer, Schulbe- tere schulische und berufliche Karriere, die sich aus hörden und Eltern weniger von ihnen erwarten, diesen Unterschieden ergeben können.61 somit auch zu tiefe Ansprüche stellen und sie zu wenig fordern. Aus der bestehenden Literatur können wir lediglich schliessen, dass in gewissen Ländern, die in Bezug Die Liste an möglichen Erklärungen liesse sich auf die soziale Differenzierung in der PISA Untersu- noch fortsetzen. Obwohl sicherlich alle der erwähn- chung gut oder auf jeden Fall nicht schlechter als der ten Gründe plausibel klingen, ist trotzdem noch ein- OECD Durchschnitt abgeschnitten haben, die soziale mal darauf hinzuweisen, dass es mit den PISA Daten Selektion zu einem späteren Zeitpunkt in der Bil- zwar gelingt, ein Problem zu lokalisieren, damit aber dungslaufbahn einsetzt.62 Eine geringe soziale Diffe- noch nicht geklärt ist, welcher Zusammenhang nun renzierung im Alter von 15 ist also keine Garantie wirklich kausal ist. dafür, dass das betreffende Bildungswesen überhaupt 61 62 Das Projekt TREE des NFP 43 wird gewisse neue Erkenntnisse für weiterführende Fragen in der Schweiz bringen. Diese Resultate weisen immerhin darauf hin, dass sich die Bedeutung der sozialen Selektivität eines Bildungssystems nach der obligatorischen Schulzeit insofern fortsetzt, als für einen erfolgreichen Übertritt in die Sekundarstufe II oder eine Vermeidung der Jugendarbeitslosigkeit nach der obligatorischen Schulzeit vor allem die besuchte Schulstufe und nicht die Leseleistung (wie in PISA gemessen) entscheidend ist. Dies verschärft natürlich die Brisanz der hier präsentierten Ergebnisse: Wenn der Übertritt in die Sekundarstufe I diskriminierend ist, sind die Jugendlichen aus tieferen sozialen Schichten bei einem Übertritt in die Sekundarstufe II, der aufgrund der Schulstufe erfolgt, wegen der ersten Selektion doppelt benachteiligt. Dies ist im speziellen in den Ländern der Fall, die durch einen starken Ausbau des tertiären Bildungswesens jeweils eine Mehrheit jeder Jugendkohorte bis in die tertiäre Ausbildung bringen (müssen). In diesem Fall kann es vor und auf der Stufe Sekundar II überhaupt keine starke Selektion mehr geben (deshalb auch keine grosse soziale Differenzierung), die Selektion hat sich aber in das tertiäre Bildungswesen hineinverschoben. Bei einer starken qualitativen Differenzierung im tertiären Bildungswesen und der damit verbundenen Hierarchisierung von Ausbildungsinstitutionen und -gängen, kann man bspw. in Frankreich (siehe Duru-Bellat 2000 und Duru-Bellat & Kieffer 2000) oder England (siehe Reay et al. 2001) einen starken Einfluss des sozialen Status auf die gewählte Ausbildung auf der tertiären Bildungsstufe feststellen. SEITE 28 BFS/EDK 2003 SOZIALE INTEGRATION UND LEISTUNGSFÖRDERUNG 14.05.2003 9:40 Uhr Seite 29 ÜBERSICHT ÜBER PISA ERGEBNISSE Grafik 5: Sozialer Ausschluss und soziale Selektivität im Bildungswesen (EU Staaten) 0.6 Sozialer Ausschluss (erwachsene Bevölkerung) bdv_Inhalt 0.5 P GR 0.4 0.3 Fin D 0.2 Lux 0.1 0.0 15 20 25 30 35 Soziale Differenzierung 40 45 50 Quelle: eigene Berechnungen; Datenquelle: Internationale Datenbank PISA 2000, OECD keine Form von sozialer Ungleichheit kennt. Dies gilt sieht man dies am direkten Vergleich von Finnland insbesondere für die Selektion in das tertiäre Bil- und Deutschland, den beiden Polen bei der sozialen dungswesen, zu einem gewissen Grad aber auch für Differenzierung im Bildungswesen (x-Achse). Finn- die Beteiligungsquote an der Erwachsenenbildung. land weist bezogen auf seine erwachsene Bevölke- Damit wird aber die starke und frühe soziale rung gar eine höhere soziale Auschlussquote auf als Selektion in Ländern wie der Schweiz nicht etwa Deutschland. Aber auch diese Beobachtung relati- relativiert. Diese verletzt immer noch das Gebot einer viert eine soziale Differenzierung in der obligatori- Chancengleichheit. Es will nur bedeuten, dass für schen Schulzeit nur insofern, dass sie nicht zwingend einen Vergleich von verschiedenen Ländern die sozi- zu sozialem Ausschluss führen muss, es bedeutet ale Gleichheit im ganzen Bildungssystem mit einbe- aber nicht, dass sie ohne Folgen bleibt. zogen werden müsste. Weiter wäre zu testen, ob die frühe Selektion nicht dennoch insgesamt zu einer stärkeren sozialen Differenzierung führt, wenn man 1.6 Schlussfolgerungen alle Bildungsstufen in die Analyse aufnimmt. Schliesslich wäre auch der Einfluss der sozialen Die PISA Resultate lassen den Schluss zu, dass die Differenzierung im Bildungswesen auf die soziale Schweiz in mehreren Gesichtspunkten, wenn nicht Kohäsion oder den sozialen Ausschluss gesamtgesell- gar in allen analysierten Punkten der sozialen Inte- schaftlich zu analysieren. Dass es sich hierbei um eine gration, schlechter abschneidet als Finnland. Bei den separate Fragestellung handelt, zeigt sich alleine aus Vergleichsländern Belgien und Deutschland ist in den einer deskriptiven Analyse, welche die soziale Diffe- meisten Punkten eine grosse Ähnlichkeit mit der renzierung in den PISA Daten (für die EU Staaten) Schweiz zu beobachten, was sich schon in den einfa- Masszahlen für die soziale Kohäsion gegenüberstellt chen Masszahlen wie dem Unterschied zwischen (siehe Graphik 5). Vergleicht man diese beiden mittlerer Lesekompetenz von Schüler/innen aus der Aspekte bivariat, findet man keinen Zusammenhang, obersten und der untersten sozialen Klasse gezeigt d.h. es ist nicht zu beobachten, dass Länder, die im hatte. PISA Vergleich eine kleine soziale Differenzierung Auf Länderebene scheinen insbesondere zwei aufweisen auch über eine höhere soziale Kohäsion Faktoren die Unterschiede in der sozialen Selektivität verfügen und umgekehrt. Besonders eindrücklich der einzelnen Bildungssysteme zu verstärken: Erstens BFS/EDK 2003 SOZIALE INTEGRATION UND LEISTUNGSFÖRDERUNG SEITE 29 bdv_Inhalt 14.05.2003 9:40 Uhr Seite 30 ÜBERSICHT ÜBER PISA ERGEBNISSE der Anteil der Migranten/innen an der schulischen ben auf die soziale Selektivität. Wie es scheint, kön- Population und zweitens das Alter bei der ersten nen höhere Schulausgaben dazu verhelfen, dass die schulischen Selektion. sozialen Abstände teilweise wieder geschlossen wer- Es kann nicht abschliessend beurteilt werden, den können. Über welche Kanäle diese positive Wir- weshalb ein hoher Anteil an Migranten/innen an der kung sich entfaltet, ist allerdings damit noch nicht Schulpopulation die soziale Selektivität verschärft. ergründet, und bedürfte auch hier genauerer Abklä- Zwei mögliche Wirkungskanäle konnten jedoch rungen. identifiziert werden. Erstens führt ein hoher Anteil an Insgesamt ist hervorzuheben, dass die systemi- fremdsprachigen Jugendlichen zu einer Konzentra- schen Variablen in ihren Wirkungen derart stark sind, tion von fremdsprachigen Kindern in einzelnen Schu- dass die Schweiz ohne weiteres eine gleich tiefe sozi- len, was die durchschnittliche Leistung dieser Schu- ale Selektivität aufweisen würde wie Finnland, wäre len signifikant senkt. Wenn nun die Tatsache, dass es der Migrationsanteil und das Alter der ersten schuli- viele fremdsprachige Jugendliche gibt, dazu führt, schen Selektion gleich wie in diesem Land. Während dass die Schulen sozial und herkunftsmässig ent- man letzteres mit einem Umbau des Bildungswesens mischt werden (sei es durch freie Schulwahl wie in durchaus – wenn auch erst längerfristig – durchset- Belgien oder de facto Schulwahl über die Wohnorts- zen könnte, ist ersteres eine durch die Migrationspo- wahl wie in der Schweiz oder in Frankreich), dann litik der Schweiz vorgegebene Grösse, die nicht entsteht eine soziale «Gettoisierung» der Schulen, durch die Bildungspolitik beeinflusst werden kann. welche die Leistungsunterschiede zwischen sozialen Um also die soziale Selektivität im schweizerischen Schichten verschärft. Zweitens kann ganz klar eine Bildungswesen zu reduzieren, muss nach Wegen Diskriminierung von sozial schwächeren oder auslän- gesucht werden, wie man trotz dieser ungünstigen dischen Jugendlichen beim Übertrittsprozess in die Ausgangslage die negativen Folgen mindern kann. Sekundarstufe I festgestellt werden, welche diese Dabei ist abschliessend zu bemerken, dass man für Selektivität noch einmal verstärkt. diese Lösungswege schwerlich auf ausländische Die frühe Selektion selbst wirkt über verschiedene Erfahrungen zurückgreifen können wird, da die Kanäle auf die soziale Selektivität des Systems. Die anderen Länder aufgrund anderer Bildungssysteme erste Ursache ist natürlich der Umstand, dass über- und Migrationspolitik gar nie gezwungen waren, haupt vor dem «PISA-Alter» selektioniert wird. gegen die negativen Auswirkungen solcher Rahmen- Zudem – und dies bedürfte sicherlich weiterer For- bedingungen bildungspolitische Massnahmen zu schung – ist zu vermuten, dass die Zuteilung zu ergreifen. unterschiedlichen schulischen Stufen die schon vor der Selektion bestehende soziale Differenzierung dadurch verstärkt, dass die einzelnen Schulstufen die 1.7 Literatur Jugendlichen nicht alle gleichermassen fördern. Dies wird alleine dann offensichtlich, wenn man sich in Brunello, G., Checchi, D. (2003): School Quality and Erinnerung ruft, dass die einzelnen Schulstufen in der Family Background in Italy, IZA Discussion Papers Schweiz teilweise ganz unterschiedliche qualitative No. 705, Bonn: IZA. Ansprüche an die Lehrpersonen stellen. Weiter sind Coradi Vellacott, M., Wolter, S.C. (2002): Soziale die verschiedenen Schulstufen häufig auch geogra- Herkunft und Chancengleichheit, in: BFS & EDK phisch in anderen Schulen untergebracht, was eine (Hrsg.), Für das Leben gerüstet? Nationaler Bericht Gettoisierung begünstigt. Dass die schlechteren der Erhebung PISA 2000, Bildungsmonitoring, Neu- Schulen oft räumlich in einem allgemein schlechteren enburg: BFS. wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Umfeld ange- Ditton, H. (1998): Mehrebenenanalyse. Grundlagen siedelt sind und somit weniger Förderung und Unter- und Anwendungen des Hierarchischen Linearen stützung von Eltern, Quartiervereinen, Arbeitgebern, Modells. Weinheim; München: Juventa Verlag. etc. erwarten können, führt zu einer multiplen Duru-Bellat, M. (2000): Social Inequalities in the Benachteiligung der sozial schwächeren und fremd- French Education System: The joint Effect of Indivi- sprachigen Jugendlichen. dual and Contextual Factors, Journal of Education Positiv für den schweizerischen Fall ist alleine der signifikant reduzierende Effekt höherer Schulausga- SEITE 30 BFS/EDK 2003 Policy, Vol. 15 (3), pp. 30–40. Duru-Bellat, M., Kieffer, A. (2000): Inequalities in SOZIALE INTEGRATION UND LEISTUNGSFÖRDERUNG bdv_Inhalt 14.05.2003 9:40 Uhr Seite 31 ÜBERSICHT ÜBER PISA ERGEBNISSE Educational Opportunities in France: Educational Comparison, IZA Discussion Papers No. 734, Bonn: Expansion, Democratization or shifting Barriers? IZA. Journal of Education Policy, Vol. 15 (3), pp. 333–352. Wolter, S.C., Coradi Vellacott, M. (2002): Sibling Galley, F., Meyer, T. (1998): Übergänge (Transitio- Rivalry: A Look at Switzerland with PISA Data, IZA nen) zwischen Erstausbildung und Erwerbsleben, Discussion Papers No. 594, Bonn: IZA. Länderbericht zuhanden der OECD, Bern. Ireson, J., Hallam, S., Hack, S., Clark, H., Plewis, I. (2002): Ability Grouping in English Secondary Schools: Effects on Attainment in English, Mathematics and Science, Educational Research and Evaluation, Vol. 8(3), pp. 299–318. Lee, V.E., Burkam, D.T. (2002): Inequality at the Starting Gate – Social Background Differences in Achievement as Children begin School, Washington: Economic Policy Institute. Meijnen, G.W., Guldemond, H. (2002): Grouping in Primary Schools and Reference Processes, Educational Research and Evaluation, Vol. 8(3), pp. 229–248. Moser, U. (2002): Kulturelle Vielfalt in der Schule: Herausforderung und Chance, in: BFS & EDK (Hrsg.), Für das Leben gerüstet?, Nationaler Bericht der Erhebung PISA 2000, Bildungsmonitoring, Neuenburg: BFS. Müller, W., Shavit, Y. (1998): From School to Work: A Comparative Study of Educational Qualifications and Occupational Destinations, Oxford: Clarendon Press. OECD (2001a): Education Policy Analysis 2001. Paris: OECD. OECD (2001b): Knowledge and Skills for Life, First Results from PISA 2000, Paris: OECD. OECD (2002a): Education at a Glance. OECD Indicators 2002. Paris: OECD. OECD (2002b): Reading for Change, Performance and Engagement across Countries: Results from PISA 2000, Paris: OECD. Reay, D., Davies, J., David, M., Ball, S.J. (2001): Choices of Degree or Degree of Choices? Class, ‘Race’ and the Higher Education Choice Process, Sociology, Vol. 35 (4), pp. 855–874. Rijken, S.R. (1999): Educational Expansion and Status Attainment: A Cross-National and Over-Time Comparison, Dissertation an der Universität Utrecht. Schnabel, K.U., Alfeld, C., Eccles, J.S., Köller, O., Baumert, J. (2002): Parental Influence on Students’ Educational Choices in the United States and Germany: Different Ramifications – Same Effect? Journal of Vocational Behavior, Voe. 60, pp. 178–198. Wolter, S.C. (2003): Sibling Rivalry: A Six country BFS/EDK 2003 SOZIALE INTEGRATION UND LEISTUNGSFÖRDERUNG SEITE 31 bdv_Inhalt 14.05.2003 9:40 Uhr Seite 32 bdv_Inhalt 14.05.2003 9:40 Uhr Seite 33 2 Länderberichte Die Beschreibung und Beurteilung von Bildungssyste- Belgien im Gegensatz zu Finnland, Kanada und men bezüglich ihrer Wirkung auf soziale Selektivität Frankreich nicht gelingt, den Einfluss des familiären ist sehr komplex, da soziale Selektivität einerseits Hintergrundes – unabhängig vom Sozialstatus – zu immer in einem bestimmten wirtschafts-, sozial- und kompensieren. Die statistischen Betrachtungen und bildungspolitischen Kontext stattfindet, andererseits Ergebnisse können allerdings die komplexen Bedin- durch familiäre Faktoren mitbedingt ist. Eine umfas- gungen zwischen diesen und weiteren Faktoren sende, systematische Darstellung der einzelnen Bil- nicht adäquat berücksichtigen. Auch lassen sie keine dungssysteme mit dem Ziel, daraus die für die sozi- Aussagen über die Entwicklung der sozialen Selekti- ale Selektivität relevanten Faktoren abzuleiten, muss vität vor und nach dem 15. Lebensjahr zu. Hier kön- an der Vielschichtigkeit und Komplexität der ausser- nen die Länderberichte helfen, einige Zusammen- schulischen Einflussfaktoren und der Bildungssys- hänge besser zu verstehen und weitere Hypothesen teme scheitern. Eine umfassende Darstellung der Bil- zu entwickeln und zu verfolgen. dungssysteme kann somit im Rahmen dieser Studie Die im empirischen Teil definierten Ebenen (vgl. nicht geleistet werden. Vielmehr soll hier einerseits 1.3.2) sollen für die Länderberichte weiter aufgeteilt eine länderspezifische Vertiefung der empirischen werden, um der Komplexität von Schulsystemen Ergebnisse stattfinden, andererseits eine Ergänzung Rechnung zu tragen. Wie bereits in der Einleitung mit Informationen und Daten erfolgen, welche für bemerkt, soll die Mehrdimensionalität dieser Frage- eine quantitative Analyse nicht zugänglich waren. stellung auf folgenden Ebenen berücksichtigt wer- Wie im Kapitel 1 ausgeführt, kann 60% der sozi- den: a) Politischer, sozialer und demographischer alen Varianz in der Leseleistung zwischen den Län- Kontext; b) Schul- und Bildungssystem; c) Schulge- dern mit den relativen Bildungsausgaben, dem Alter meinde und Schule; d) Lehrperson, Klasse und Unter- bei der ersten Selektion sowie mit dem unterschied- richt sowie die e) Familien, Kinder und Jugendliche. lichen Anteil der Schülerinnen und Schülern mit Auf diesen Ebenen können die relevanten Faktoren immigrierten Eltern erklärt werden. Zudem zeigt sich, noch wie folgt unterschieden werden: Handelt es sich dass die (frühe) Selektion durch Bildungssysteme bei einem bestimmten Indikator eher um eine Ursa- offensichtlich nicht nur aufgrund des Leistungspo- che, Begebenheit oder Voraussetzung (Strukturindi- tentials der Schülerinnen und Schüler erfolgt, son- katoren), um die Gestaltung oder Steuerung eines dern dass auch soziale Faktoren vor der Selektion Prozesses (Prozessindikatoren) oder um eine Wir- wirken und dass nach der Selektion eine unter- kung oder eine Folge (Ergebnisindikatoren)? Mit der schiedlich starke Förderung erfolgt. Ein weiteres ergänzenden Einteilung in Struktur-, Prozess- und wichtiges Ergebnis ist die Tatsache, dass es den Bil- Ergebnisindikatoren können alle möglicherweise dungssystemen in der Schweiz, Deutschland und relevanten Faktoren systematisch dargestellt werden. a) Politischer, sozialer und demographischer Kontext Strukturindikatoren Prozessindikatoren Ergebnisindikatoren • Sozialpolitik • Steuerungssysteme • Auswirkung des Sozialstatus • Einwanderungspolitik • Entscheidungswege • Migration • Prozesse kultureller • Bildungsausgaben Integration und • Bevölkerungsstruktur Identitätsbildung auf Wohnort • Armut, Arbeitslosigkeit, soziale Schichtung • Gesundheit der Bevölkerung, soziale Kohärenz BFS/EDK 2003 SOZIALE INTEGRATION UND LEISTUNGSFÖRDERUNG SEITE 33 bdv_Inhalt 14.05.2003 9:40 Uhr Seite 34 LÄNDERBERICHTE b) Schul- und Bildungssystem Strukturindikatoren Prozessindikatoren Ergebnisindikatoren • Finanzpolitik im Bildungs- • Schulwahlmöglichkeit • Repetitionsraten • Promotion • Anteil segregierter Kinder • Unterstützungssysteme • Gestaltung der Übergänge • Drop-out-Raten • Betreuungssysteme • Umsetzung der Bildungspolitik • Tiefe oder fehlende bereich ausserhalb des Unterrichts • Reformprozesse Bildungsabschlüsse • Lehrplan und Organisation • Ausdifferenzierung des Bildungsangebotes • Werte und Einstellungen c) Schulgemeinde und Schulen Strukturindikatoren Prozessindikatoren Ergebnisindikatoren • Charakteristiken der einzelnen • Organisation der Schule • Zufriedenheit der Lehrpersonen, • Unterstützung für Eltern Schulen • Zusammensetzung der Schule • Finanzielle und personelle (z.B. durch Dolmetscher) • Wahl der Schule • Flexibilität der Bildungs- Ressoucen • Qualitätssicherungssysteme Eltern • Einbindung der Schule in angebote soziales Umfeld • Gewaltproblematik in Schulen • Leistungen und Fertigkeiten der • Aktivitäten ausserhalb des • Schulleitung Unterrichts Schüler/Schülerinnen • Qualität der Beziehungen in • Ausschlussprozesse den Schulen d) Klassen, Lehrpersonen und Unterricht Strukturindikatoren Prozessindikatoren • Ausbildung und Weiterbildung • Organisation des Unterrichts • Qualität des Unterrichts • Vorhandene Unterstützungs- • Individualisierung • Qualität der Beziehungen in Ergebnisindikatoren • Umgang mit Heterogenität systeme einzelnen Klassen • Umgang mit Schülern, die • Unterrichtsorganisation auffällig werden (z.B. Teamteaching) • Zusammensetzung der Klasse • Beziehungen und Beziehungspflege e) Familien, Kinder und Jugendliche Strukturindikatoren Prozessindikatoren Ergebnisindikatoren • Ethnische Herkunft und • Teilnahme an schulischen • Anteil an Kindern mit Aktivitäten Verweildauer • Alter, Geschlecht, Anzahl Geschwister • Zuteilung der Kinder zu Gesundheitsproblemen, • Freizeitaktivitäten Gewaltproblematik • Teilnahme an Jugendkultur • Übertritt in höhere Ausbildungen • Beziehungen und Kommuni- • Anteil an Kindern ohne Bildungs- kation in der Familie Schultypen • Bisherige Bildungserfahrungen abschluss oder Berufsbildung • gesellschaftliche Partizipation der Familien • Bildungsnähe der Eltern • Beruf der Eltern SEITE 34 BFS/EDK 2003 SOZIALE INTEGRATION UND LEISTUNGSFÖRDERUNG bdv_Inhalt 14.05.2003 9:40 Uhr Seite 35 LÄNDERBERICHTE Nicht alle Faktoren in dieser Auflistung können für Schülerinnen und Schülern zentral sind, können jedes Land diskutiert werden, doch bietet diese diese Faktoren hier nicht erschlossen werden. Letzt- Übersicht eine Orientierung für die Länderberichte. lich müssen auch die zentralen Fragen unbeantwor- In diesen werden einige der Ergebnisse aus den tet bleiben, inwieweit Eigenschaften eines Schulsys- Mehrebenenanalysen thematisch vertieft und im tems auch von den besonderen sozialen und gesell- Kontext des jeweiligen Bildungssystems diskutiert: schaftlichen Bedingungen abhängig sind. So lässt • Soziale und kulturelle Herkunft der Schüler und sich etwa durch die Länderberichte nicht beantwor- Schülerinnen ten, ob in Finnland die späte Selektion von Schüle- • Frühe Förderung und Betreuung rinnen und Schülern oder die integrative Ausrichtung • Selektionsalter und -mechanismen der Stütz- und Fördermassnahmen bei weitreichen- • Unterstützungssysteme der lokaler Ausgestaltungsfreiheit auch unter den • Schulwahl schweizerischen Systembedingungen (z.B. statt 1% einen Anteil von 19% Migranten) funktionieren Zudem können zahlreiche Faktoren in den Länderbe- würde. richten berücksichtigt werden, zu denen für die Die Länderberichte folgen einer für das jeweilige Mehrebenenanalyse keine Daten zur Verfügung Land relevanten Strukturierung der wichtigsten standen. Sie ergänzen, illustrieren und weiten die Ergebnisse zu den oben genannten Faktoren. Dies Ergebnisse des quantitativen Teils aus und können hat zur Folge, dass die Bildungssysteme nicht syste- Beziehungen zwischen den oben genannten Fakto- matisch entlang einem gleichbleibenden Raster dar- ren und weiteren Eigenschaften der Bildungssysteme gestellt werden. Vielmehr setzen die Länderberichte herstellen: dort Schwerpunkte, wo sich einerseits aus den quan- • Migrationspolitik und gesellschaftlicher Kontext titativen Ergebnissen vertiefende Betrachtungen auf- • regionale Unterschiede (z.B. in der Konzentration drängen, andererseits länderspezifische Mechanis- fremdsprachiger Kinder) men zur Frage der sozialen Selektivität darzustellen • weitere länderspezifische Faktoren, welche direkt sind. oder indirekt mit Selektionsmechanismen oder Statistische Angaben zu den ausgewählten Län- sozialer Selektivität in Beziehung stehen (z.B. ver- dern und Informationen zu den Bildungssystemen spätete Einschulung, Repetition oder sonderpäda- sind im Anhang A zusammengestellt. Für eine syste- gogische Massnahmen) matische Übersicht zu allen Bildungssystemen und • Faktoren der Schulorganisation (z.B. Integrative ausgewählten thematischen Vergleichen sei auf Ausrichtung, Schulautonomie und nationale Leis- Eurydice63 verwiesen (Informationssystem der Euro- tungsmessung bei Ländern mit guten Leistungen päischen Union für das Bildungswesen). und geringer sozialer Selektivität) • Situation sozial und sprachlich benachteiligter 2.1 Französisches und flämisches Belgien Kinder und Jugendlicher Daneben gibt es auch einige Ergebnisse der Mehrebenenanalyse, die nicht anhand der Länderberichte Das Bildungssystem der französischen Gemeinschaft diskutiert werden können. Hierzu gehören etwa die kennzeichnet sich zugleich durch einen schwachen festgestellte ausgleichende Wirkung höherer relati- Leistungsdurchschnitt sowie durch eine sehr starke ver Bildungsausgaben auf die soziale Selektivität Differenzierung der Resultate auf Grund der sozialen oder die Wirkung der Erwartungshaltung von Eltern. und migratorischen Herkunft der Schülerinnen und Obwohl Prozesse auf der Mikroebene wie etwa die Schüler. Das flämische Bildungssystem verzeichnet, Interaktion zwischen Schülerin/Schüler und Lehrper- trotz einer auf sozialer und kultureller Ebene eben- son oder die Merkmale des Unterrichts und der falls grossen Ungleichheit, einen hohen Leistungs- Zusammenarbeit in Schulhäusern gerade für die Aus- grad. bildung von sozial geprägten Übertrittsentscheiden Diese zwei Gemeinschaften weisen gemeinsame und der Einschätzung des Leistungspotentials von Merkmale auf der Ebene von Organisation und 63 http://www.eurydice.org/Eurybase/frameset_eurybase.html BFS/EDK 2003 SOZIALE INTEGRATION UND LEISTUNGSFÖRDERUNG SEITE 35 bdv_Inhalt 14.05.2003 9:40 Uhr Seite 36 LÄNDERBERICHTE Funktionsweise ihrer Schulsysteme auf, unterschei- was beinahe 60% der Bevölkerung auf etwa einem den sich jedoch auf wirtschaftlicher Ebene. Die Fest- Viertel des Territoriums entspricht. Hinzu kommen 5 stellung, dass die soziale und kulturelle Herkunft der grosse Städte mit mehr als 100 000 Einwohnern – Schüler einen starken Einfluss auf ihre Leistungen in Brüssel (beinahe 2 Millionen Einwohner mit Agglo- der PISA-Erhebung hat, lässt sich hauptsächlich meration), Antwerpen (463 000 Einwohner), Gent durch ein Bildungssystem, das durch eine Wettbe- (230 000 Einwohner), Charleroi (207 000 Einwoh- werbssituation zwischen den Schulen gezeichnet ist, ner) und Lüttich (196 000 Einwohner) –, und 12 erklären. Speziell in der französischen Gemeinschaft mittlere Städte. neigt dieses System dazu, von den herrschenden Das BIP Belgiens liegt über jenem seiner französi- sozialen Ungleichheiten zu zehren und ein Segrega- schen und deutschen Nachbarn, jedoch unter jenem tionsphänomen zwischen den Schulen zu erzeugen der Niederlande. Die makroökonomischen Indizes bzw. zu verstärken. Auch wenn die Immigrations- zeichnen das Bild eines Landes, das in Bezug auf die und die Zentrumspolitik der Gemeinschaften versu- Einkommensverteilung64 verhältnismässig unausge- chen, die soziale Ausgrenzung zu reduzieren, so ist glichen ist, das ein grosses Missverhältnis bei der zu befürchten, dass dieses deregulierte System, wel- Arbeitsplatzaufteilung zwischen den Regionen65 auf- ches von der Wahl der Eltern abhängt und eine Art weist und das eine Langzeitarbeitslosenquote (mehr Bildungsmarkt Schulen als 12 Monate) hat, die mit derjenigen seiner deut- schafft, in denen die Erhaltung der Bildungsqualität schen und französischen Nachbarn66 vergleichbar ist. für alle Schüler ein schwer zu lösendes Problem dar- Die Wirtschaftssituation der 90er Jahre hat dem stellt. Süden des Landes grosse finanzielle Schwierigkeiten darstellt, ghettoisierte eingebracht, parallel dazu hat Flandern trotz der 2.1.1 Zu Belgien allgemein Rezession und der Abwertung, die Belgien hat hin- Belgien, Föderalstaat seit 1993, besteht aus drei nehmen müssen, einen wirtschaftlichen Aufschwung Gemeinschaften (flämische, französische und deut- erlebt. sche Gemeinschaft) und ist in drei Regionen aufge- Im Bereich der Bildung gibt es vier parallele Bil- teilt (Flandern – das 58% der belgischen Bevölke- dungsnetze, die oft in Konkurrenz zu einander ste- rung zählt-, sowie Wallonien und Brüssel-Haupt- hen: Die öffentlichen Bildungsnetze, welche entwe- stadt). Die drei Gemeinschaften stimmen mit den der von den Gemeinschaften, den Regionen oder drei Regionen nicht vollkommen überein. So umfasst den Gemeinden organisiert sind, und das «freie» Bil- die Region Wallonien nur einen Teil der französi- dungsnetz (Privatschulen), das etwa 60% der Schü- schen Gemeinschaft, jedoch die gesamte deutsche lerinnen und Schüler auf sich vereint. Die föderale Gemeinschaft (Brüssel-Stadt und die achtzehn umlie- Verfassung sichert den Eltern die freie Wahl der genden Gemeinden bilden zusammen die autonome Schule zu. Region Brüssel-Hauptstadt). Nebst der föderalen Belgien hat einen verhältnismässig hohen Auslän- Regierung (vom König nominiert) verfügt jede deranteil (vgl. Tabelle 1, Angang A). Die Integra- Gemeinschaft über ihre eigenen Institutionen. Die tionspolitik für Immigranten stammt von 1989 und Bildung (sowie die wissenschaftliche Forschung, die hat zur Schaffung des «Commissariat royal à l’immi- Sprachpolitik, das Gesundheitswesen usw.) liegen in gration» geführt. Die Gemeinschaften und die der Kompetenz der Gemeinschaften. Die Regionen Regionen haben ihre eigenen Integrationsinstru- behandeln alles, was das Territorium betrifft mente definiert. In der Region von Brüssel beispiels- (Umwelt, Landwirtschaft, Wohnungsbau usw.). Die weise hat die Integrationspolitik ab 1997 eine Neu- föderale Regierung kümmert sich hauptsächlich um orientierung erfahren. Seither werden auch die emp- das Geld, die Landesverteidigung, die soziale Sicher- findlichen Bezirke berücksichtigt, und die Politik der heit sowie die internationalen Beziehungen. sozialen Eingliederung beschränkt sich nicht aus- Belgien ist sehr städtisch geprägt. Es zählt 17 schliesslich auf die Immigranten. Die flämische urbane Zentren mit mehr als 80 000 Einwohnern, Gemeinschaft hat 1989 ihre eigene Politik einge- 64 65 66 Eurostat-Index, errechnet auf Grund der Daten 1999, mit einem Wert von 4.2 für Belgien (Deutschland: 3.6, Frankreich: 4.4). Eurostat-Index von 8.1, errechnet auf Grund der Daten 2000, der höchste Wert der europäischen Länder (mit Ausnahme von Italien und Spanien). Eurostat-Index, errechnet auf Grund der Daten 2000, mit einem Wert von 3.8 im Vergleich zu 4 für Frankreich und 3.7 für Deutschland. SEITE 36 BFS/EDK 2003 SOZIALE INTEGRATION UND LEISTUNGSFÖRDERUNG bdv_Inhalt 14.05.2003 9:40 Uhr Seite 37 LÄNDERBERICHTE führt, indem sie Integrationszentren für Immigranten stufe (Verringerung der Anzahl Schulen und der geschaffen hat. Im Juli 1996 wurde ein strategischer Anzahl Stellen für Unterrichtende in den Jahren Plan für die ethnisch-kulturellen Minderheiten verab- 1995–96). schiedet, der drei Aspekte beinhaltet: Emanzipations- Die Spaltung der Gesellschaft, die aus dieser politik (um die Beteiligung dieser Gruppen an der gegensätzlichen Wirtschaftsentwicklung hervorgeht, Gesellschaft zu fördern), Aufnahmepolitik und steht mit den grossen Unterschieden in den Ergeb- Unterbringungspolitik. Besondere Beachtung wurde nissen der PISA-Studie in Funktion der sozialen Her- der Einbeziehung der betroffenen Gruppen in die kunft der Schülerinnen und Schüler im Zusammen- betriebene Politik geschenkt. hang. Der Einfluss des sozialen Niveaus der Schüler auf ihre Leistungen ist insbesondere bei der Lese- 2.1.2 Französische Gemeinschaft kompetenz sehr ausgeprägt, wo die Abweichung Ein Gebiet mit starken wirtschaftlichen und zwischen dem durchschnittlichen Leistungsniveau sozialen Kontrasten der Schüler am oberen und der Schüler am unteren Die französische Gemeinschaft Belgiens besitzt ein Ende der sozialen Leiter die grösste aller Länder ist, vergleichsmässig gehobenes soziales Durchschnitts- die an der Erhebung67 teilgenommen haben. niveau. Doch die schwere Wirtschaftskrise, die Die Schüler mit einem geringen sozioökonomi- bestimmte Regionen des Landes getroffen hat, hat schen Status (was auf der ISEI-Skala, die die Berufe beträchtliche Verarmungsfolgen mit sich gebracht. von 0 bis 90 einteilt, einem Wert von 20 entspricht) Nichtsdestotrotz hat Wallonien (Region, die einen erreichen in der Lesekompetenz ein sehr tiefes grossen Teil der französischen Gemeinschaft beher- durchschnittliches Leistungsniveau; von den europä- bergt) zwischen 1996 und 2000 eine wirtschaftliche ischen Ländern findet sich nur Luxemburg noch auf Wachstumsperiode erlebt. Die französische Gemein- einem vergleichbaren Stand. Das Niveau der Schüler schaft weist grosse Unterschiede zwischen den mit einem gehobenen sozioökonomischen Status Regionen auf: Die einen Regionen, wie Brüssel, die (was auf der ISEI-Skala einem Wert von 80 ent- mehr in Richtung tertiärer Sektor orientiert sind, spricht) liegt im unteren Durchschnitt der europäi- haben einen Wirtschaftsaufschwung erfahren, wäh- schen Länder. rend andere einen bedeutenden Rückgang hinneh- Im Allgemeinen ist die Streuung der Resultate in men mussten. Letzteres ist beispielsweise der Fall in der französischen Gemeinschaft sehr gross. Mit einer der Provinz von Hennegau (welche 1'200000 Ein- Standardabweichung von 111 bei der Lesekompe- wohner zählt), die traditionellerweise auf die Eisen- tenz hat die französische Gemeinschaft gemeinsam und Stahlindustrie und auf die Steinkohleförderung mit Deutschland das Bildungssystem mit der ausge- ausgerichtet ist. Sie hat eine starke Drosselung ihrer prägtesten Leistungsheterogenität. Bei der Mathe- Wirtschaftsaktivitäten verzeichnet, was zu einem matik ist die Situation ähnlich, auch wenn die Stan- bedeutenden Anstieg der Arbeitslosenquote (von dardabweichung etwas kleiner ist (107). 14% 1996 auf 16.6% 1999) und gleichzeitig zu einer Langzeitarbeitslosigkeit von grossem Ausmass Ein Schulsystem, das durch Wettbewerb geprägt geführt hat. Diese Arbeitslosigkeit hat einen Verar- ist und zu grossen Unterschieden zwischen Schulen mungs- und Marginalisierungsprozess bei einem führt beträchtlichen Anteil der Bevölkerung ausgelöst. Das Die den Eltern überlassene Wahl der Schule (die BIP der Provinz von Hennegau ist während dieser durch die belgische Verfassung gewährleistet wird) Periode in zwei aufeinander folgenden Jahren (1996 sowie das sehr breite Angebot an Schulen (auf und 1997) gesunken. Grund verschiedener Bildungsnetze) schafft zwi- Das Bildungssystem der französischen Gemein- schen den Schulen eine Wettbewerbssituation. Die- schaft hat einen starken Rückgang der finanziellen ses Phänomen ist mit einer extremen Dezentralisie- Mittel erfahren, was zu grossen Sparmassnahmen rung der Entscheidungskompetenzen zur Evaluie- geführt hat, namentlich auf der Ebene der Sekundar- rung der Schülerinnen und Schüler (wie dies auch in 67 Wenn wir das durchschnittliche Leistungsniveau der 25% der Schüler, deren Eltern den tiefsten sozioökonomischen Status haben (gemäss des Internationalen Index des beruflichen Status – ISEI –, der die Berufe auf einer Skala von 0 bis 90 einteilt) mit dem durchschnittlichen Leistungsniveau der 25% der Schüler, deren Eltern den höchsten Status haben, vergleichen, stellen wir eine Differenz von 124 fest (Durchschnitt der OECD: 82), die die grösste aller Länder ist. BFS/EDK 2003 SOZIALE INTEGRATION UND LEISTUNGSFÖRDERUNG SEITE 37 bdv_Inhalt 14.05.2003 9:40 Uhr Seite 38 LÄNDERBERICHTE Flandern der Fall ist) und mit einer fehlenden zentra- der sie passen sich dem Niveau ihrer Schüler an und len Gesamtsteuerung68 verbunden. Es ist anzumer- senken das Anforderungsniveau (Überlebensstrate- ken, dass die Schule für jede Schulstufe selber für die gie), oder sie lassen jene Schüler, die sie nicht behal- Beurteilung der Lernenden und gegebenenfalls die ten wollen, umschulen oder wiederholen, um so ein Erteilung von Abschlüssen verantwortlich ist und bestimmtes Erfolgsniveau69 aufrecht zu erhalten (Eli- dass keine auf der Ebene der Gemeinschaft organi- testrategie). Wir wohnen offenbar also einem Segre- sierten Prüfungen existieren. Als Reaktion auf diese gationsphänomen zwischen den «gehobenen» Situation hat das Erziehungsministerium der Gemein- Schulen und den «einfachen» Schulen bei (Delvaux, schaft 1992 Ziele – so genannte «socles de compé- 1998). tences» – beschlossen, die in drei Etappen der Schulzeit (Ende der 2. Primarklasse, Ende der 6. Klasse und Ein System, das von einem hohen Anteil Ende des ersten Zyklus der Sekundarstufe – 8. Umschulungen geprägt ist Klasse) erreicht werden müssen und die für alle Bil- Belgien als Ganzes und die französische Gemein- dungsnetze gelten. schaft im Speziellen weisen sehr hohe Anteile von Es gibt beträchtliche Unterschiede zwischen den Wiederholungen und Umschulungen auf. So haben Schulen in Bezug auf den Anteil durchgefallener 43% der Schülerpopulation, die an der PISA-Studie Schüler, welche – zumindest teilweise – auf die vor- teilgenommen hat, einen schulischen Rückstand von herrschende Wettbewerbssituation zurückgeführt einem oder mehreren Jahren (in Flandern beträgt werden können. Eine Studie, die auf Grund von diese Quote 27%). Diese Situation lässt sich auf der Daten des Schuljahres 1991–92 (Vandenberghe, V. Ebene des Bildungssystems dadurch erklären, dass (1996), Functioning and regulation of educational die Wiederholung eines Schuljahres jedes Jahr mög- quasi-markets. Louvain-La-Neuve. Université catho- lich ist (ausgenommen für die ersten beiden Schul- lique, IRES) durchgeführt wurde, zeigt die bestehen- jahre der Sekundarstufe, dies jedoch erst seit Sep- den grossen Abweichungen zwischen den Schulen tember 2000)70. innerhalb der Bezirke in Bezug auf den Anteil der In den vergangenen Jahren hat eine starke Mobi- Kinder, welche eine Klasse wiederholen oder ausge- lisierung gegen den schulischen Misserfolg in der schlossen werden. So verzeichnen im Schulbezirk französischen Gemeinschaft stattgefunden, welche von Brüssel, welcher 135 Schulen zählt, vier Schulen zu einer Verminderung der Anzahl Misserfolge wäh- einen Anteil von mehr als 90% Schüler mit schuli- rend den 6 Jahren der Primarstufe geführt hat. Ver- schem Rückstand, wohingegen fünf Schulen einen antwortlich hierfür ist insbesondere das Gesetz von Anteil von mehr als 90% Schüler ohne schulischen 1983, welches mehr als eine Schuljahrwiederholung Rückstand aufweisen. Grosse Unterschiede sind pro Schulstufe verbietet71. Diese Politik hat (gemäss auch zwischen den Regionen zu verzeichnen. Die Delvaux, 1998) dazu geführt, dass der Eintritt in die Gründe für diese Unterschiede sind nicht alleine in Primarschule verzögert wird und dass die Schülerin- der jeweiligen spezifischen Wirtschaftssituation der nen und Schüler zu Beginn der Sekundarstufe ver- Region, sondern auch in der Anzahl Schulen und mehrt dem ersten Aufnahmejahr (Klasse B)72 zuge- somit im bestehenden Konkurrenzgrad zu suchen. wiesen werden, wodurch erneute schulische Rück- Ein regelrechter Bildungsmarkt, verbunden mit dem stände entstehen, da Schüler, die in die normale Fehlen einer zentralen Steuerung veranlasst die Sekundarstufe eintreten wollen, ein Jahr verlieren. Schulen zur Wahl zwischen zwei Strategien: Entwe- Eine weitere Auswirkung dieser Politik ist, dass Schü- 68 69 70 71 72 Um dieser Situation Abhilfe zu schaffen, wurde 1997 mittels Kommissionen – deren Aufgabe darin besteht, jährlich einen Evaluierungsbericht für das Ministerium der Gemeinschaft zu verfassen – ein System zur Evaluierung und Steuerung der Systeme eingeführt. Wir weisen darauf hin, dass die Schulen auf Grund der zu Schulbeginn eingeschriebenen Anzahl Schüler von der Gemeinschaft subventioniert werden. Diese Vorschrift scheint zu gewissen Selektionspraktiken im Laufe des Schuljahres zu führen. Gemäss den Daten von 1998/1999 variiert die jährliche Wiederholerrate zwischen 5.66% im 1. Primarschuljahr, 4.93% im 2. Schuljahr und 2.39% im 6. Schuljahr. Auf der Sekundarstufe beträgt die Quote im 2. Schuljahr 7.54%. Im 3. „ liegt sie bei 17.9% und im 3. „année de qulification» bei 24.59%. Ab 2005 ist die Wiederholung der Schuljahre vom 3. bis zum 6. Primarschuljahr nicht mehr möglich. Die Schüler, die das am Ende der Primarschule ausgestellte Grundschulzertifikat erhalten haben, werden automatisch für die Sekundarstufe zugelassen, deren zwei erste Jahre gemeinsam unterrichtet werden (1999 waren dies 88.6% der Schüler). Die anderen Schüler werden für das erste Aufnahmejahr der Sekundarstufe (Klasse B) zugelassen. Jene Schüler, die das erste Aufnahmejahr bestanden haben, erhalten das Grundschulzertifikat und dürfen in das erste Schuljahr der Sekundarstufe eintreten. SEITE 38 BFS/EDK 2003 SOZIALE INTEGRATION UND LEISTUNGSFÖRDERUNG bdv_Inhalt 14.05.2003 9:40 Uhr Seite 39 LÄNDERBERICHTE ler mit Schwierigkeiten häufiger Sonderklassen zuge- Ausnahme der Industriebecken von Gent und Ant- wiesen werden. werpen – weniger floriert und weniger industrialisiert war als Wallonien, deren Wirtschaft zwischen Land- Ein System, das belgische und ausländische wirtschaft, Handel und Kleinindustrie aufgesplittert Schüler ungleich behandelt ist, hat in den vergangenen Jahren einen bedeuten- Die französische Gemeinschaft zählt einen grösseren den Wirtschaftsaufschwung erlebt und ist dadurch Anteil Jugendlicher ausländischer Herkunft als der zur fortschrittlichsten Region Belgiens und sogar zu Durchschnitt der OECD-Länder (9%). In der PISA- einer der reichsten Europas aufgestiegen. Die wirt- Stichprobe sind 82% der Jugendlichen Belgier, 13% schaftliche Inversion zwischen den beiden Regionen sind in Belgien geboren und haben Eltern ausländi- hat sich bereits vor dem 2. Weltkrieg abgezeichnet. scher Herkunft und 5% sind im Ausland geboren. In Nach dem Ende des Krieges hat Flandern langsam Flandern beträgt der Prozentsatz der belgischen Überhand über die rückläufige wallonische Wirt- Schülerinnen und Schüler 88%. Der Anteil der Schü- schaft genommen. Seit 1966 hat das durchschnittli- ler, die zuhause Französisch oder eine andere Land- che BIP pro Einwohner von Flandern jenes von Wal- essprache sprechen, beträgt 91.7% und liegt leicht lonien überholt. Die Arbeitslosenquote von Flandern unter dem OECD-Durchschnitt (94.5%). liegt bei 4.3% im Vergleich zu 10.3% in Wallonien Bei der PISA-Studie können im Bereich der Lese- (Quelle: Le triomphalisme de l’économie. A. Gon- kompetenz Unterschiede zwischen autochthonen thier et M. Mintiens, Le Monde diplomatique, avril Schülern auf der einen Seite und Schülern der 1. 2001. Supplément: Belgique, dynamique flamande), Generation (in Belgien geboren mit Eltern, die im und das Durchschnittseinkommen in Flandern ist Ausland geboren sind) und allochthonen Schülern deutlich höher als in den beiden anderen Regionen (sowohl Schüler als auch deren Eltern sind im Aus- (Wallonien und Brüssel). land geboren) auf der anderen Seite beobachtet Dennoch weist die soziale Struktur von Flandern werden. Hingegen weist die französische Gemein- mit jener der französischen Gemeinschaft Ähnlich- schaft im Vergleich zu den anderen Ländern nur keiten auf. Dies besagt jedenfalls der internationale einen leichten Unterschied zwischen den in Belgien Index des beruflichen Status (ISEI), welcher anhand geborenen Schülern mit ausländischer Herkunft (1. der an der PISA-Studie teilnehmenden Schülerinnen Generation; Durchschnittswert in Lesekompetenz und Schüler errechnet wurde. Dieser Index, der die 414) und den im Ausland geborenen Schülern auf Berufe auf einer Skala von 0 bis 90 einteilt, liegt in (406). Flandern bei 48 (im Vergleich zu 50 in der französi- Die von den Schülern gesprochenen Sprache hat einen Einfluss auf die Leseleistungen: Das Risiko für schen Gemeinschaft). Er ist mit jenem von Deutschland und Frankreich vergleichbar (vgl. Tabelle 1). einen allophonen Schüler (der zu Hause gewöhnlich Flandern scheint – im Vergleich zur französischen nicht französisch spricht) unter den schwächsten Gemeinschaft – als Region weniger von sozialer 25% der Leser zu sein, liegt bei 3 (das bedeutet, dass Marginalisierung gezeichnet zu sein und macht auf das Risiko drei Mal höher ist als für einen Schüler, der sozialer und kultureller Ebene insbesondere auf gewöhnlich Französisch spricht). Dies ist der höchste Grund eines schwächeren Anteils an ausländischen Wert aller Staaten, die an der Erhebung teilgenom- Bevölkerungsgruppen einen homogeneren Eindruck. men haben. Das Bildungssystem der französischen Gemeinschaft zeigt sich in Bezug auf die nationale Herkunft Ein leistungsstarkes, jedoch Ungleichheiten förderndes Bildungssystem der Schüler keineswegs gleichstellungsfördernd, und Die Ergebnisse von Flandern gehören in Lesekompe- dies trotz der Massnahmen zur positiven «Ungleich- tenz und in Mathematik zu den Besten der an PISA behandlung», die gemäss dem Modell der vorrangi- teilnehmenden Länder (Durchschnitt in Lesekompe- gen Bildungszonen in Frankreich (vgl. Teil zu Frank- tenz 532 und in Mathematik 543). Bei der naturwis- reich) eingeführt wurden. senschaftlichen Kompetenz sind die Ergebnisse von Flandern durchschnittlich. Unter Beachtung des 2.1.3 Flämische Gemeinschaft sozioökonomischen Status der Schülerinnen und Ein Gebiet, das wirtschaftlich wächst Schüler (ISEI-Index) ist festzustellen, dass die flämi- Flandern, eine Region, die traditionellerweise – mit sche Gemeinschaft genau wie die französische BFS/EDK 2003 SOZIALE INTEGRATION UND LEISTUNGSFÖRDERUNG SEITE 39 bdv_Inhalt 14.05.2003 9:40 Uhr Seite 40 LÄNDERBERICHTE Gemeinschaft eine grosse Abweichung zwischen den Ausmass (die Besten haben ein Niveau von über 626, Leistungen der Schüler am unteren Ende und den während die Schwächsten bei 550 liegen). Diese Leistungen der Schüler am oberen Ende der sozialen Unterschiede hängen in der Regel mit dem sozioö- Leiter aufweist, auch wenn diese Abweichung klei- konomischen Durchschnittsniveau der aufgenom- ner ist als jene der französischen Gemeinschaft (die menen Schülerinnen und Schüler zusammen. Differenz liegt in Flandern bei 94, während die durchschnittliche Differenz der OECD-Länder bei 82 Ein Bildungssystem, das für Immigranten der liegt). Für Flandern lässt sich dieses Resultat, wenn 1. Generation nicht sehr vorteilhaft ist man sich auf die Lesekompetenz beschränkt, einer- Der Anteil Schülerinnen und Schüler ausländischer seits durch ein sehr hohes Leistungsniveau der Schü- Herkunft ist in Flandern deutlich geringer als in der ler mit einem gehobenen sozioökonomischen Status französischen Gemeinschaft. In der Population, die erklären (sehr deutlich über jenem von Finnland und an der PISA-Studie teilgenommen hat, sind 7% der von Ländern wie der Niederlande). Zu nennen ist Schüler nicht belgischer Nationalität (davon sind 4% auch das Leistungsniveau der Schüler mit tiefem gemäss den Kriterien der PISA-Studie Schüler der 1. sozioökonomischem Status, das nahe jenem der bei- Generation – in Belgien geborene Schüler mit im den oben genannten Länder, jedoch über dem Ausland geborenen Eltern – und 3% im Ausland Gesamtdurchschnitt aller Länder liegt. geborene Schüler). Zur Erinnerung: In der französi- Das flämische Bildungssystem verzeichnet einen schen Gemeinschaft sind 18% der Schüler Ausländer hohen Leistungsgrad, führt jedoch zu einer starken (von denen 13% Schüler der 1. Generation sind), sozialen Differenzierung, während in der französi- also mehr als drei Mal mehr. Die beiden Gemein- schen Gemeinschaft Effizienz und schulische Diffe- schaften unterscheiden sich bezüglich der Herkunft renzierung nicht verknüpft sind. Dies liesse sich der aufgenommenen ausländischen Bevölkerungen. durch die Tatsache erklären, dass in Flandern ein In Flandern sind die drei häufigsten Herkunftsländer grösserer Anteil Schüler Sonderklassen besucht: Auf (Basis = Nationalität der Arbeitnehmenden) die der Primarstufe nehmen über 14% an Sonderpro- Niederlande, die Türkei und Marokko (Flandern grammen teil (Sonderklassen Typ B und C (gemäss nimmt prozentual gesehen mehr türkische Staatsan- der Klassifizierung der ISCED, 1997) im Vergleich zu gehörige auf als die französische Gemeinschaft). In 11% auf der Sekundarstufe. der französischen Gemeinschaft machen die Italiener 55% der in Wallonien niedergelassenen Ausländer Ein dezentralisiertes System ohne Regulierung aus. In Brüssel sind die Maghrebiner mit einem Anteil Im flämischen Bildungssystem besteht wie beim Sys- von 22% am stärksten vertreten, gefolgt von den tem der französischen Gemeinschaft eine Wettbe- Italienern (14.5%) und den Franzosen (13.8%). werbssituation zwischen den Bildungsnetzen, aber Die Wiederholeranteile am Ende der Primarstufe im Gegensatz zum System der französischen ist drei Mal höher bei Schülern ausländischer Her- Gemeinschaft sind hier weniger Bemühungen für kunft als bei flämischen Schülern (37.41% haben eine Regulierung zu beobachten, namentlich durch einen schulischen Rückstand von einem Jahr und Festlegung der für die verschiedenen Schuletappen 9.22% von zwei Jahren oder mehr, im Vergleich zu zu erreichenden Ziele. Im Gegenteil – die Politik zielt 11.24% der belgischen Schüler bzw. 0.49%). Das sogar darauf ab, den Schulen mehr Autonomie zu Phänomen ist im zweiten Unterrichtsjahr der Sekun- gewähren. darstufe noch ausgeprägter; dort finden sich 65.1% Grosse Unterschiede zwischen den Schulen wer- Schüler ausländischer Herkunft mit einem oder meh- den im Bereich der Lesekompetenz gemessen. Sie reren Jahren Rückstand im Vergleich zu 21.5% flä- sind insbesondere bei Sekundarschulen mit techni- mischer Schüler mit demselben Rückstand. scher und beruflicher Ausrichtung zu beobachten, Die Ergebnisse der PISA-Studie in Lesekompetenz wo Schulen mit einem durchschnittlichem Leseni- zeigen eine bedeutende Abweichung der Leistungen veau von etwa 550 zu finden sind, während andere von autochthonen Schülern und Schülern ausländi- ein Niveau von etwa 410 aufweisen (und dies beim scher Herkunft. Die autochthonen Schüler haben ein selben sozioökonomischen Durchschnittsniveau). Bei Durchschnittsniveau von 541. Das ist zusammen mit den allgemeinbildenden Schulen sind ebenfalls jenem der Niederlande das höchste aller Länder. Unterschiede zu beobachten, jedoch in kleinerem Aber im Gegensatz zu den Beobachtungen in Frank- SEITE 40 BFS/EDK 2003 SOZIALE INTEGRATION UND LEISTUNGSFÖRDERUNG bdv_Inhalt 14.05.2003 9:40 Uhr Seite 41 LÄNDERBERICHTE reich, der Schweiz, der Niederlande, Deutschland, Anteils an Migranten auf die soziale Selektivität Österreich und Schweden haben die Schüler der 1. deutlich. In den benachteiligten Ballungsgebieten, Generation (in Belgien geboren) ein tieferes Leis- wo soziale Schicht und Migrationsstatus häufig tungsniveau (Durchschnitt D=418) als die allochtho- zusammenkommen, wird auch in Deutschland ein nen (im Ausland geborenen) Schüler (D=470). Die- Kippeffekt sichtbar. Die Bedeutung des sozialen Sta- ses Phänomen kann ebenfalls in Kanada, in Austra- tus der Migranten für die Leistungen zeigt sich an lien und – weniger ausgeprägt – in Irland beobachtet den sehr guten PISA-Leistungen der Kinder immi- werden. Die immigrierten Schüler haben beim Lesen grierter Akademikerfamilien in höheren Schultypen. ein Durchschnittsniveau, das über dem Durch- Die deutschen Schulsysteme zeichnen sich durch schnittsniveau desselben Schülertyps aller europäi- eine starke Input-Orientierung aus (differenziertes schen Länder – ausgenommen Irland – liegt. Die Schulsystem, Aufsicht vor allem zur Einhaltung der Schüler der 1.Generation haben ihrerseits ein Leis- strukturellen Vorgaben, klare Regelungen der Über- tungsniveau, das mit jenem der Schüler der 1. Gene- gänge), die auf Heterogenität vor allem mit Aufglie- ration der französischen Gemeinschaft verglichen derung in verschiedene Schulungsformen reagiert. werden kann, jedoch deutlich unter jenem von Die unterschiedlichen Schulformen bieten jedoch Frankreich und Deutschland liegt. unterschiedliche akademische Entwicklungsmilieus. Das flämische Bildungssystem scheint die autoch- Die getrennt geführten Typen der Sekundarstufe I thonen und immigrierten Schüler zu bevorteilen und sowie die segregierten sonderpädagogischen Unter- die in Belgien geborenen Schüler ausländischer Her- stützungsmassnahmen bieten somit auch eine unter- kunft deutlich zu benachteiligen. Für dieses Phäno- schiedliche Intensität der Förderung. Hier gibt es in men können zwei Erklärungen angeführt werden: den Ländern unterschiedliche Traditionen, die jedoch Die erste betrifft die sozialen und kulturellen Merk- mit dem Leistungsniveau in keinem Zusammenhang male der immigrierten Schülerpopulation, die deut- stehen, jedoch möglicherweise die soziale Selektivität lich von jenen der Population der ersten Generation der Systeme beeinflusst. abweichen können (es könnte daraus geschlossen Diese Orientierung an Strukturvariablen hatte bis werden, dass die Migration innerhalb von Europa vor kurzen auch zur Folge, dass eine Überprüfung gegenwärtig stärker ist als früher, aber es muss sich der Ergebnisindikatoren in Deutschland weitgehend dabei keineswegs um ein für Flandern spezifisches fehlte; es wurden etwa keine zentralen Leistungs- Phänomen handeln). Die zweite Erklärung bezieht tests durchgeführt. sich auf die Integrationsprobleme, welche die in Bel- Dadurch, dass wichtige Bildungsentscheide gien geborenen ausländischen Schüler und ihre (Rückstellung, Repetition, Selektion beim Übertritt in Familien möglicherweise antreffen und die sich auf die Sekundarstufe I) früh erfolgen und durch die ihre schulischen Leistungen auswirken könnten. Eltern mitgestaltet werden, wirkt das deutsche Schul- Zieht man nicht die Herkunft, sondern die von system in hohem Masse sozial selektiv. den Schülern zuhause gesprochene Sprache in In Deutschland – ähnlich wie in der Schweiz – Betracht, so liegt das Risiko für einen allophonen kann eine Kumulation verschiedener ungünstiger Schüler (der zuhause nicht Niederländisch spricht), Faktoren für Migranten und sozial benachteiligte unter den schwächsten 25% der Leser zu sein, bei Familien festgestellt werden. 2.5 (das bedeutet, dass das Risiko zweieinhalb Mal höher ist als für einen Schüler, der gewöhnlich 2.2.1 Zielland europäischer Arbeitsmigration Niederländisch spricht). Der Durchschnittswert der «Deutschland ist ein Land, das einerseits ein Über- OECD-Länder beträgt 2 (die französische Gemein- mass an Zuwanderung fürchtet und doch auf lange schaft Belgiens weist einen Wert von 3 auf, den Sicht kontinuierlich ein Mindestmass an Einwande- höchsten aller OECD-Länder). rung braucht. Ohne richtungweisende, umfassende und integrale Konzeptionen aber bliebe alle Einwanderungspolitik bloss defensiv» so lauten die 2.2 Deutschland zusammenfassenden Ergebnisse des Sechsten Familienberichts (Deutsche Regierung 2000, 200). De Die in Deutschland vorhandenen Unterschiede in der facto gehört Deutschland zu den Zielländern der jün- Bevölkerungsstruktur machen die Bedeutung des geren europäischen Arbeitsmigration, dies gilt insbe- BFS/EDK 2003 SOZIALE INTEGRATION UND LEISTUNGSFÖRDERUNG SEITE 41 bdv_Inhalt 14.05.2003 9:40 Uhr Seite 42 LÄNDERBERICHTE sondere für die alten Länder der Bundesrepublik struktur, erklären (ebd., 49). Ländliche Gebiete Deutschland. Dank einem Einwanderungsüber- haben – wie auch in der Schweiz und in den anderen schuss73 wächst die Bevölkerung Deutschlands auch OECD-Ländern – einen höheren Anteil von Kindern heute noch trotz niedrigen Geburtenzahlen. Rund und Jugendlichen, die schlechtere Leistungen erbrin- zwei Drittel der einwandernden Einzelpersonen und gen. Familien stammen aus Europa; davon etwa ein Vier- Kleinräumig betrachtet, ist der Anteil der auslän- tel aus Mitgliedstaaten der Europäischen Union. Am dischen Bevölkerung in Deutschland abhängig vom höchsten ist der Anteil ausländischer Personen an der Wohnungsmarkt, den Standorten der Industrieanla- Bevölkerung in den städtischen Ballungsgebieten gen und den in vielen Grossstädten Deutschlands (Nordrhein-Westfalen, Baden-Württemberg, Hessen entstandenen ethnischen Quartiere74. Dort bilden sowie Grossraum München und Berlin), wo 60% Ausländer mit längerer Aufenthaltsdauer mit der der Ausländer und Ausländerinnen, jedoch nur 41% alteingesessenen deutschen Bevölkerung einen sta- der Deutschen wohnen sowie in den alten Bundes- bilisierenden Kern, der Netzwerke und Unterstüt- ländern. Gering ist die Ausländerdichte hingegen in zungssysteme für Zuwanderer bereithält. «Allerdings ländlichen Gebieten und in den neuen Bundeslän- nur so lange, als die ansässige deutsche Bevölkerung dern, wo nur 10% der ausländischen Bevölkerung überwiegt, es nicht zu ethnischen Auseinanderset- leben (vgl. ebd.). Diese Unterschiede zwischen zungen kommt und sie nicht mit zunehmender Ten- Anteilen der ausländischen Bevölkerung in den alten denz als «problematische Bewohner» im Wohnbe- und neuen Ländern Deutschlands zeigen sich auch in zirk wahrgenommen werden» (Deutsche Regierung der deutschen Stichprobe PISA 2000 (Baumert et al. 2000, 200). Jugendkriminalität wird nicht nur als 2002b, 56). Während unter den 15-Jährigen mit Problem unter ausländischen Jugendlichen geschil- Migrationshintergrund in den alten Bundesländern dert, sondern auch unter den jugendlichen Aussied- zwischen 14.4% (Schleswig-Holstein) und 40,7% lern, die gleichermassen Probleme mit der Sprache (Bremen) beträgt, liegt dieser in den neuen Ländern und der Schule haben und ebenfalls ein erhöhtes nur zwischen 2.9% (Thüringen) und 5.5% (Sach- Risiko vergegenwärtigen, von Alkoholismus, Dro- sen). Allerdings fehlen die neuen Länder in den genproblemen oder Kriminalität betroffen zu sein. migrations-spezifischen Auswertungen des Deut- Die in der deutschen Analyse der PISA-Ergebnis- schen Länderberichts (Baumert et al. 2002a, 85ff.), sen vorgenommene Clusterbildung von verschiede- so dass diese Unterschiede nicht näher kommentiert nen Typen von Schulen in gleichen Schulformen gibt werden können. einen Hinweis darauf, dass die Sozialstruktur der Auch weitere Unterschiede in der sozialen, wirt- Gemeinde oder Nachbarschaft, in welcher eine schaftlichen und demographischen Entwicklung der Schule angesiedelt ist, wahrscheinlich einen Einfluss neuen und alten Länder spiegeln sich in den PISA- auf die Leistungen der Schüler und Schülerinnen hat. Ergebnissen. Die neuen Länder der Bundesrepublik So hat bei tieferen Schulformen ein erhöhter Anteil Deutschland zeigen durchwegs eine geringere sozi- an Migranten einen negativen Einfluss auf die Leis- ale Selektivität, zum Teil auf tieferem Leistungsni- tungen. Diese Schulen werden eher in Ballungsge- veau als die alten Länder (vgl. Baumert et al. 2002a, bieten anzutreffen sein. Es gibt in den Ballungsgebie- 81 und 184). Der Stadtstaat Bremen zeigt die höch- ten jedoch auch eine Anzahl von Realschulen, die ste soziale Selektivität bei gleichzeitig schlechtesten erfolgreiche Kinder aus sozial besser gestellten PISA-Leistungen und dem für Deutschland höchsten Zuwandererfamilien aufnehmen, die zu einem gros- Anteil an 15-Jährigen mit Migrationshintergrund sen Teil zuhause eine andere Sprache als Deutsch (siehe oben). Die zwischen den Ländern vorhande- sprechen. Offensichtlich ist es für gute Leistungen nen Unterschiede im anteilmässigen Besuch des nicht notwendig, zuhause Deutsch zu sprechen. Gymnasiums lassen sich in Deutschland zu einem Neben den «normalen Gymnasien» (Anteil an grossen Teil über Strukturmerkmale, etwa den Grad Zuwanderer bei 8%) gibt es auch Gymnasien mit der Urbanisierung eines Landes oder dessen Sozial- hohen Migrantenanteilen (gut 20% der Schüler). 73 74 Im Jahre 1995 waren in Deutschland 765 221 Geburten (davon 99 700 mit ausländischer Nationalität) und 884 588 Todesfälle (davon 12 383 von Ausländern) zu verzeichnen. Es fanden 1 096 048 Zuwanderungen (davon 792 701 von Ausländern) und 698 113 Abwanderungen (davon 567 441 von Ausländern) statt (vgl. Deutsche Regierung 2000, 18). Ausländeranteile dort bis 40%; Angaben für alle Stadtbezirke Münchens, siehe Deutsche Regierung 2000, 67ff. SEITE 42 BFS/EDK 2003 SOZIALE INTEGRATION UND LEISTUNGSFÖRDERUNG bdv_Inhalt 14.05.2003 9:40 Uhr Seite 43 LÄNDERBERICHTE Letztere befinden sich in privilegierten Lagen und Schule hin ausgeschrieben werden, erfolgt die Ein- werden vor allem von Jugendlichen aus Akademiker- stellung aller Lehrpersonen durch das Kultusministe- familien besucht. Die Leistungen in diesen beiden rium oder einer ihr unterstellten Behörde. Nach einer Gymnasiumstypen unterscheiden sich nicht (vgl. (maximal) fünfjährigen Probezeit werden Lehrerin- Deutsches PISA-Konsortium 2001, 464). nen und Lehrer auf Lebenszeit durch diese Behörden in ein Beamtenverhältnis im Dienste des Landes 2.2.2 Administriertes Schulsystem und berufen. Entlassungen können nur unter ausserge- beamtete Lehrpersonen wöhnlichen Umständen vorgenommen werden; als Das deutsche Schulsystem orientiert sich vor allem solche gelten etwa, wenn die Lehrperson die deut- an Strukturen und der Qualität der Strukturen sowie sche Staatsangehörigkeit (oder die eines anderen anderen Inputfaktoren und hat sich bis vor kurzem Mitgliedstaates der EU) verliert oder «ohne Zustim- kaum um eine systematische und koordinierte Erfas- mung des Dienstherrn seinen Wohnsitz oder dauern- sung von Ergebnisindikatoren bemüht. Die Siche- den Aufenthalt im Ausland nimmt» (Konferenz der rung der Schul- und Lehrerqualität war somit bis Kultusminister der Länder 2002b, 199). Diese zentral anhin hauptsächlich über die Auswahl von Lehrper- gesteuerten Verfahren erschweren die Profilbildung sonen und die Sicherstellung der Voraussetzungen der Schulen und könnten zur Folge haben, dass für einen guten Unterricht gewährleistet. Den unter- Lehrpersonen in Ballungsgebieten mit hohen Antei- schiedlichen Schulungsbedürfnissen verschiedener len an Migranten ohne entsprechende Vorbereitung Schülergruppen wird durch ein differenziertes Ange- und Kenntnisse ihre Arbeit aufnehmen. bot unterschiedlichster Schulformen gerecht zu wer- Die Ausdifferenzierung des deutschen Bildungssystems zeigt sich einerseits in den verschiedenen den versucht. Die Aufsicht und Qualitätssicherung des Schulwe- Schultypen der Sekundarstufe I und andererseits im sens in Deutschland wird durch die Schulaufsichtsbe- getrennt geführten Sonderschul- und Sonderklassen- hörden (Fachaufsicht, Rechtsaufsicht und Dienstauf- wesen. In Deutschland erreichen 10% der 15-jähri- sicht75) der verschiedenen Länder wahrgenommen. gen die Kompetenzstufe 1 nicht. Diese Gruppe setzt Erst in den letzten Jahren haben die Länder weitere sich vorwiegend aus Schülerinnen und Schülern der Massnahmen zur Sicherung der schulischen Qualität Hauptschule (50%) und der Sonderschulen (34%) (Systemebene und Schulebene) ergriffen, etwa durch zusammen. Die restlichen Schülerinnen und Schüler den Einsatz standardisierter Schulleistungstests, unter Kompetenzstufe 1 verteilen sich auf integrierte externer Korrektur von Prüfungsarbeiten, fokussier- Gesamtschulen (7%); Berufsschulen (5%) und Real- ter Evaluationen sowie schulinterner Evaluationen. schulen (4%) (vgl. Deutsches PISA-Konsortium 1997 beschloss die Kultusministerkonferenz, diese 2001, 471). Die relativen Chancen des Besuchs die- Bemühungen zum Gegenstand gemeinsamer Ent- ser Schulformen stehen in engem Zusammenhang wicklung zu machen. Zu den neu eingeführten mit der Sozialschichtzugehörigkeit (ebd., 357). Die nationalen Leistungsvergleichen zählt etwa die internationalen Vorgaben der Ausschöpfungsquote Untersuchung Deutsch-Englisch-Schülerleistungen- zur Ziehung der PISA-Stichprobe von 80% auf Schü- International (DESI), die im Zeitraum 2001–2005 lerebene wurde in Deutschland mit 85% erreicht durchgeführt wird und über den Leistungsstand der Diese verteilt sich jedoch nicht regelmässig auf die Schülerinnen und Schüler der 9. Jahrgangsklasse verschiedenen Schultypen. Die Schülerinnen und berichten soll (vgl. Konferenz der Kultusminister der Schüler der verschiedenen Schulstufen beteiligten Länder 2002b, 218). sich nicht im gleicher Masse an PISA (Sonderschulen Die Mehrzahl der deutschen Lehrpersonen, insbe- für Lernbehinderte und Verhaltensauffällige: 66,2%; sondere in den alten Ländern der Bundesrepublik, ist Hauptschulen: 84,3%, Realschulen: 88.3%, Gymna- in einem Beamtenverhältnis beschäftigt; die «Verbe- sien: 92,1% Schulen mit mehreren Bildungsgängen: amtung» der Lehrpersonen in den neuen Ländern, 87%, Integrierte Gesamtschulen: 76,3%, Berufliche die vor der Wende im Angestelltenverhältnis tätig Schulen 44%; vgl. Deutsches Pisa-Konsortium 2001, waren, ist noch im Gange. Ausser bei einigen weni- 38). Die generell ungleiche Bildungsbeteiligung spie- gen Stellen, die auf das Profil einer bestimmten gelt sich somit teilweise in der PISA-Stichprobe. 75 für eine nähere Umschreibung dieser Aufgaben der Aufsichtsbehörden vgl. Konferenz der Kultusminister der Länder 2002b, 216 BFS/EDK 2003 SOZIALE INTEGRATION UND LEISTUNGSFÖRDERUNG SEITE 43 bdv_Inhalt 14.05.2003 9:40 Uhr Seite 44 LÄNDERBERICHTE 2.2.3 Frühe Bildungsentscheide und und Kanada aktiv eine gemeinsame Trägerschaft und komplexe Bildungswege Organisation der Vorschulangebote und der Schule In Deutschland sind die Leistungsunterschiede zwi- fördern. schen den Schulen wesentlich höher als die individuellen Leistungsunterschiede innerhalb Nur ein Viertel der Schüler und Schülerinnen, wel- einer che in Deutschland das PISA-Kompetenzniveau 1 bestimmten Schule. Dies weist darauf hin, dass die nicht erreichten, haben ihre Schulkarriere ohne zeit- Wahl der Schule mit sozialen Faktoren und mögli- liche Verzögerung absolviert. Gut 23% wurden cherweise auch mit der Qualität der angebotenen zurückgestellt und 5.5% haben eine Klasse wieder- Schulen in Zusammenhang steht. Die Unterschiede holt. Diese Massnahmen haben somit – mindestens zwischen den Schulen bilden also nicht – wie etwa in bis in Alter von 15 Jahren – keinen Vorteil gebracht Finnland oder Norwegen – Unterschiede in der Sozi- oder schlechte Leistungen kompensiert. Je nach alstruktur oder lokale Differenzen in der sozialen Land werden in Deutschland bereits bei der Einschu- Zusammensetzung von Wohnquartieren ab, sondern lung zwischen 5% und 14% der schulpflichtigen sind auch das Resultat eines gegliederten Schulsys- Kinder tems, das vermutlich eine soziale Segregation ver- 1997, 1). Nur nach dem ersten Schuljahr rücken alle stärkt. Bei nicht erreichten Anforderungen stehen in Kinder automatisch in die zweite Klasse vor; danach zurückgestellt (Kultusministerkonferenz Deutschland einerseits die Rückstellungen im Vor- besteht jedes Jahr die Möglichkeit, die Klasse zu schulalter, die Umschulungen respektive Klassen- wiederholen. Nach der Grundschule, welche durch wiederholungen sowie die Überweisung in sonder- die Einschulung im 6. Lebensjahr beginnt und in den pädagogische Institutionen zur Verfügung. Die meisten Ländern der Bundesrepublik 4 Jahre Wiederholeranteile etwa unterscheiden sich zwi- umfasst76, erfolgt in Deutschland die Aufteilung der schen den Ländern beträchtlich. Schüler mit Migra- Schülerschaft in die verschiedenen Schultypen der tionshintergrund sind zwar von Massnahmen wie Sekundarstufe I. Zur Regelung des Übergangs hält Zurückstellung oder Klassenwiederholungen viel die Kultusministerkonferenz fest (2000, 6): «Das häufiger betroffen, doch ist die Häufigkeit dieser Votum der abgebenden Schule wird in allen Fällen Massnahmen nicht von den jeweiligen Migrantenan- mit eingehender Beratung der Eltern verbunden. Es teilen bedingt. Vielmehr müssen sie offensichtlich als ist je nach Länderrecht Grundlage für die Entschei- Teil der Tradition des jeweiligen Bildungssystems ver- dung bzw. Entscheidungshilfe für den weiteren Bil- standen werden (Baumert et al. 2002a, 209). Die dungsgang der Schülerinnen und Schüler. Die Ent- Tatsache, dass drei der vier Länder (Baden-Württem- scheidung wird entweder von den Eltern oder von berg, Rheinland-Pfalz und Sachsen) mit den besten der Schule bzw. der Schulaufsicht getroffen.» Der Leseleistungen gleichzeitig unterdurchschnittliche Übergang wird somit von der abgebenden Schule Anteile an Wiederholern haben und dabei eine im gestaltet; sie erteilt eine Empfehlung und berät die deutschen Vergleich geringe soziale Selektivität auf- Eltern in ihrer Entscheidung bezüglich der zu wäh- weisen, legt es nahe, dass häufige Umschulungen lenden Schulform auf der Sekundarstufe I. Sowohl die soziale Selektivität eines Bildungssystems erhö- die Bildungserwartungen der Eltern als auch die Ein- hen (ebd., 184f. und 207ff.). schätzung des Leistungspotentials durch die Lehrper- Der Besuch eines Kindergartens oder anderer Bildungsinstitutionen im Vorschulbereich ist son sind jedoch in hohem Masse sozial gefärbt. in In Deutschland scheint der Entscheid zwischen Deutschland freiwillig. In der ehemaligen DDR wur- einer Zuweisung zu einer Hauptschule oder Real- den diese Einrichtungen bereits früh und durchgän- schule weniger auf die Leistung als auf die soziale gig vom Staat eingerichtet, während der Staat in der Schicht des Kindes abgestützt zu sein. Eltern sozial ehemaligen BRD solche nur schuf, wenn sich keine höherer Schichten gelingt es besser, bei gleich privaten Träger finden liessen. Der Vorrang freier schlechten Leistungen ihrer Kinder die Zuweisung zu Träger vor öffentlichen Trägern findet sich auch im einer Hauptschule zu vermeiden. Dieser Effekt gilt in Kinder- und Jugendhilfegesetz von 1990. Diese Tren- geringerem Masse auch für die anderen Schulfor- nung zwischen Kindergarten und Schule zeigt sich men. Der Einfluss des sozialen Hintergrundes auf die auch in der Schweiz, während Frankreich, Finnland Leistung verstärkt sich im Verlauf der Sekundarschul- 76 Ausnahmen bilden die Länder Berlin und Brandenburg; dort erfolgt der Übergang nach der 6. Klasse. SEITE 44 BFS/EDK 2003 SOZIALE INTEGRATION UND LEISTUNGSFÖRDERUNG bdv_Inhalt 14.05.2003 9:40 Uhr Seite 45 LÄNDERBERICHTE zeit, da die Schulformen unterschiedliche «akademi- oder des Schülers. Dies würde die Vermutung erhär- sche Entwicklungsmilieus» bieten (vgl. Deutsches ten, dass bei Zuweisungsprozessen soziale und PISA-Konsortium 2001, 359). Je früher diese Ent- schulstrukturelle Faktoren, aber vor allem auch die scheidung fällt, desto stärker basiert sie auf sozialen Erwartungen der Eltern von grosser Bedeutung sind. Faktoren und nicht auf Leistungsfaktoren. Das Land Brandenburg nimmt diese Entscheidung erst nach 2.2.4 Kumulierung ungünstiger Bedingungen für dem 6. Schuljahr vor und erzielt (auf relativ tiefem Migranten und sozial benachteiligte Familien Niveau) die geringste Leistungsstreuung bei PISA. Ob für Kinder aus sozial benachteiligten Familien mit Das schlechte Abschneiden der Schulformen mit Migrationshintergrund der Grundsatz «Jedem Kind Grundanforderungen bei PISA wird auch auf die muss – ohne Rücksicht auf Stand und Vermögen der Belastung vor allem der Hauptschule durch die häu- Eltern – der Bildungsweg offen stehen, der seiner Bil- figen Wechsel wegen Rückstufungen (15,6% aller dungsfähigkeit entspricht» (Kultusministerkonferenz Schüler) zurückgeführt (Deutsches PISA-Konsortium 2000, 4) auch für sozial und sprachlich benachtei- 2001, 476). Dieser Prozess führt gleichzeitig zu einer ligte Kinder und Jugendliche gilt, ist aufgrund der Homogenisierung des Gymnasiums und zu breiteren PISA-Ergebnisse zu bezweifeln. Sowohl fremdspra- Streuungen in den unteren Leistungsstufen, vor chige als auch deutsche Kinder aus sozial und kultu- allem der Hauptschule (vgl. ebd., 121). Die Schulfor- rell benachteiligten Familien müssen wesentlich bes- men zeigen neben unterschiedlicher Verteilung und sere Leistungen erbringen, um eine Gymnasialemp- Mittelwerte der Leseleistungen auch erhebliche fehlung zu erhalten (Deutsche Regierung 2000, 178) Überlappungen. So erreichen einige Hauptschüler und eine Klassenrepetition oder Zuweisung zu einer den Mittelwert der Gymnasiasten und umgekehrt Sonderklasse zu vermeiden. Die sekundären sozialen gibt es Gymnasiasten, die unter dem Mittelwert der Ungleichheiten, die sich bezüglich Zuweisung zu den Hauptschulen liegen; wobei die jeweilige Zugehörig- verschiedenen Schulformen zeigen, wirken offen- keit zu den Schultypen über die soziale Herkunft sichtlich bei einheimischen Familien mit tiefem Sozi- erklärt werden kann. alstatus nachhaltiger als bei zugewanderten Fami- Die in Deutschland gleichzeitig mit der PISA Tes- lien. Die Jugendlichen aus letztgenannten Familien tung erfolgte Einschätzung der Lesekompetenz der haben bei Beherrschung der Unterrichtssprache die Schülerinnen und Schüler der Hauptschulen zeigte, grösseren Chancen, ein Gymnasium zu besuchen, als dass es Lehrpersonen häufig nicht gelang, besonders deutsche Jungendliche aus ähnlichen sozialen schwache Leser zu erkennen (Deutsches PISA-Kon- Milieus (vgl. Baumert et al. 2002b, 51f.). sortium 2001, 119). Sogar von den Schülern und Obwohl ein beträchtlicher Teil (47%) der Schüler Schülerinnen unter Kompetenzniveau I wurden nur mit den schlechtesten PISA-Leistungen deutsche 11,4% als schwache Leser identifiziert oder anders Eltern haben, sind Kinder mit Migrationshintergrund gesagt: 88.6% der Schülerinnen und Schüler mit in dieser Risikogruppe überrepräsentiert. Ein im Aus- sehr schlechten Lesekompetenzen wurden von den land geborener Jugendlicher in Deutschland hat ein Lehrpersonen nicht identifiziert. Umgekehrt zeigten fast fünfmal höheres, ein in Deutschland geborener sich auch falsche Einschätzungen bei Schülern mit Jugendlicher mit einem im Ausland geborenen guten PISA-Leistungen, die von ihren Lehrpersonen Elternteil immerhin noch ein dreimal höheres Risiko, als schwache Leser identifiziert wurden. Inwieweit die Kompetenzstufe I nicht zu erreichen. Wie bereits diese Einschätzungen durch den sozialen Hinter- erwähnt, erhöht Migration das Risiko der Zurückstel- grund der jeweiligen Schüler und Schülerinnen lung und Klassenwiederholung in allen Länder der erklärt werden könnte, kann leider nicht gesagt wer- Bundesrepublik Deutschland um ein Vielfaches (Bau- den. Wenn sich jedoch diese mangelnden Diagnose- mert et al. 2002a, 207ff.). In den alten Ländern fähigkeiten auch bei Grundschullehrer zeigen würde, gehören 22% der betroffenen Jugendlichen zu den müsste davon ausgegangen werden, dass auch Zurückgestellten und rund 41% zu den Wiederho- Übertrittsentscheidungen nicht primär auf der Basis lern, während es bei den 15-jährigen mit Deutsch als von Leistungen getroffen werden, sondern aufgrund Muttersprache nur rund 7% beziehungsweise rund anderer Faktoren wie Verfügbarkeit von Plätzen in 21% sind. Zwei bis drei Mal so viele 15-jährige den aufnehmenden Schulformen, Wunsch der Eltern Migrantenkinder erreichen somit auch die ihrem und einer subjektiven Einschätzung der Schülerin Alter entsprechende Klasse nicht. BFS/EDK 2003 SOZIALE INTEGRATION UND LEISTUNGSFÖRDERUNG SEITE 45 bdv_Inhalt 14.05.2003 9:40 Uhr Seite 46 LÄNDERBERICHTE Deutschland und die Schweiz können die von keiten) bei einem mit der Schweiz vergleichbaren PISA gemessene Lesekompetenz nicht nur nach Anteil an Migranten beibehalten werden könnten, Migrationsstatus, sondern zudem auch nach der kann jedoch nicht beantwortet werden. Auch das jeweiligen Muttersprache ausweisen. Die Ergebnisse finnische Schulsystem weist eine soziale Selektivität lassen sich allerdings nur für die beiden grössten aus, die sich erst spät in der Berufswahl zeigt. Sprachgruppen (Serbisch/ Kroatisch/Bosnisch und Türkisch/Kurdisch) analysieren. In Deutschland wei- 2.3.1 Eine homogene Lesegesellschaft im Aufbruch sen die türkisch/ kurdisch-sprachigen Migranten den Finnland ist eine homogene Gesellschaft, die in den tiefsten Index bezüglich ihrer sozialen Schicht auf; in letzten Jahren den ökonomischen Rückstand auf die der Schweiz ist es die Gruppe der Migrantenfamilien anderen mitteleuropäischen Länder aufgeholt hat mit serbisch/kroatisch/bosnischer Sprache. Diese und sich trotz einer kurzen Rezession Mitte der 90er Gruppen sind gleichzeitig auch die grössten Migra- Jahren und einer relativ hohen Arbeitslosenquote in tionsgruppen der jüngsten Generation in den ent- Aufbruchstimmung befindet. Das Land blieb bis viele sprechenden Ländern. Jugendliche aus diesen Fami- Jahre nach dem zweiten Weltkrieg im Schatten des lien verfügen über schlechtere Lesekompetenzen als mächtigen Nachbars Russland respektive Sowjetu- ihre Landesgenossen in anderen Ländern (Nor- nion, obwohl es stets seine kulturelle und sprachliche wegen, Schweden), die zudem über einen höheren Unabhängigkeit zu bewahren suchte. Nach dem Kol- Sozialstatus verfügen (vgl. Deutsches PISA-Konsor- laps des Handels mit seinen östlichen Nachbarn stei- tium 2001, 397). Möglicherweise macht die Anwe- gerte Finnland nicht zuletzt dank der EU-Mitglied- senheit von grösseren Populationen der eigenen schaft (1995) das Handelsvolumen mit Westeuropa Sprachgruppe in Ballungsgebieten ein Einwande- beträchtlich. rungsland vor allem für Familien mit tieferem Sozial- Gegenwärtig wächst die inländische Bevölkerung status und schlechteren Sprachkompetenzen attrak- bei gleichzeitiger Verbesserung des Bildungsstandes. tiv. Dieser Umstand erhöht die Chance, sich auf sozi- 92.6% der finnischen Bevölkerung sprechen Fin- ale Kontakte in der eigenen Sprache und Kultur und nisch, 5.7% Schwedisch und nur 1.7% sprechen somit auf wichtige Unterstützung beim Zurechtfin- keine der beiden nationalen Sprachen. Dieser Pro- den im fremden Land verlassen zu können. Unter zentsatz entspricht dem Anteil der ausländischen diesen Umständen verringert sich allerdings auch der Bevölkerung, wobei die grösste Gruppe der Immi- Druck zur Integration und zum Erwerb der lokalen granten aus der ehemaligen Sowjetunion und jeder Sprache, vor allem wenn im betroffenen Land keine fünfte aus einem EU-Land stammt. In der finnischen aktive Immigrationspolitik betrieben wird. PISA-Stichprobe befanden sich nur 1% der Schülerschaft, die nicht eine der beiden Landessprachen als Erstsprache beherrschte. Nur 1.3% der teilnehmen- 2.3 Finnland den Jugendlichen sprachen zuhause eine andere Sprache als die Testsprache (vgl. Välijärvi et al. Die im Vergleich zu mitteleuropäischen Ländern sehr 2000). Die sehr geringe Streuung unter den Leistun- homogene Bevölkerungsstruktur Finnlands drückt gen der finnischen Jugendlichen kann auf diesem sich auch in dem sehr niedrigen Anteil an Migranten Hintergrund somit nicht ganz überraschen. aus. Unter diesen Bedingungen gelingt es dem finni- Bezüglich PISA zeigten in Finnland einige Varia- schen Schulsystem gut, unterschiedliche Lernvoraus- blen, die möglicherweise mehr kultur- als familien- setzungen in einer gemeinsamen Schule für alle bis spezifisch sind, einen grösseren Einfluss auf die Lese- ins 9. Schuljahr zu integrieren. Es erlaubt zudem kompetenzen als in den anderen OECD-Ländern. lokale Ausgestaltungsmöglichkeiten bei gleichzeitiger Hierzu gehören etwa Antworten der Jugendlichen Überprüfung der Leistungen auf nationaler Ebene. bezüglich ihrer Freude am Lesen und der Zeit, wel- Diese hohe Integrationsfähigkeit zeigt sich auch in che Jugendliche zum Vergnügen lesen. Ob dies – wie der geringen sozialen Selektivität des finnischen im finnischen Bericht erwähnt (ebd., 16) – das Ver- Schulsystems. Inwieweit die hierzu relevanten Eigen- dienst der finnischen Grundschule ist und wieweit schaften (keine Schullaufbahnentscheide vor dem 9. hier auch, wie oft angeführt, kulturelle Faktoren Schuljahr, integrativ angebotene Unterstützungs- (Stichwort Lesegesellschaft) eine Rolle spielen, lässt und Förderangebote, lokale Ausgestaltungsmöglich- sich schwer sagen. SEITE 46 BFS/EDK 2003 SOZIALE INTEGRATION UND LEISTUNGSFÖRDERUNG bdv_Inhalt 14.05.2003 9:40 Uhr Seite 47 LÄNDERBERICHTE Wie im finnischen PISA-Bericht ausgeführt, haben Das hohe Mass an Autonomie der Lehrpersonen andere Faktoren wie eben das Interesse am Lesen bei der Wahl der Unterrichtsmittel, der Festlegung einen grösseren Einfluss auf die Lesekompetenzen als des Curriculums und der Ausgestaltung der Schule der sozioökonomische Status der Herkunftsfamilie scheint den jeweils lokalen Bedürfnissen aller Kinder (vgl. ebd., 28). Obwohl die Leistungsunterschiede in besser gerecht zu werden. Zudem verfügen die Bezug auf den Sozialstatus auch in Finnland signifi- Eltern über eine freie Schulwahl, die allerdings in den kant waren, befanden sich aber die Leistungen der letzten Jahren etwas eingeschränkt wurde. Diese sozial schlechter gestellten Schülerinnen und Schüler führte vor allem in Ballungsgebieten zu grossen über dem OECD-Durchschnitt. Unterschieden zwischen den Leistungen der einzelnen Schulen. Die curricularen Freiheiten der Schulen 2.3.2 Autonome Schulhausteams: sollen in den nächsten Jahren eingeschränkt werden, Lokale Gestaltungsfreiheit und in dem die Anzahl verpflichtender Fächer erhöht nationale Vergleichsmöglichkeiten werden soll, um die wachsenden Unterschiede zwi- Die Schulpflicht in Finnland beginnt mit sieben Jah- schen den Schulen zu verkleinern. Die Wirkungen ren; allerdings besuchen 93% der Kinder eine Vor- der neunjährigen Grundschule wird in verschiedenen schule, die sehr eng an das Schulsystem angebunden Surveys regelmässig erhoben und deren Ergebnisse ist. Bis Anfangs der 90er Jahre schrieb ein nationales national als Systemindikatoren publiziert, während Curriculum die Unterrichtsinhalte relativ starr vor. die Auswertung auf der Ebene der Schule nur für Seit 1990 haben die lokalen Schulbehörden eine diese einsichtbar werden. grosse Autonomie in der Ausgestaltung der Schulen, Die Integration von behinderten Kindern wurde jedoch gleichzeitig den Auftrag, die nationalen Ziele im Rahmen der Grundschulreform diskutiert und seit zu erreichen. Die vereinfachten Abläufe und Gesetz- den 70er Jahren auch realisiert; es sollte eine Schule gebungen konzentrieren sich auf das Wesentliche, für alle Kinder geschaffen werden. Seit dem Com- versuchen dort eine nationale Kohärenz herzustellen, prehensive School Act (1983) durfte kein Kind mehr wo dies wesentlich erscheint, um das Prinzip des vom Absolvieren der Grundschule (obligatorische lebenslangen Lernens zu realisieren. Mit dieser Schulzeit) ausgeschlossen werden. Im neuen Com- Dezentralisierung setzte auch die systematische Eva- prehensive School Core Curriculum, das 1985 einge- luation des Bildungssystems ein, die ihre Anfänge führt wurde, werden Fragen der Differenzierung und bereits in den 60er und 70er Jahren nahm. Das Individualisierung erläutert sowie Hinweise auf gegenwärtige Evaluationssystem basiert auf dem sonderpädagogische Massnahmen und die Anpas- Basic Education Act (1990) für die obligatorische sung des Curriculums an die Fähigkeiten des Kindes Schulzeit. Ziel der Evaluation ist es, das Erreichen der gemacht. Die Verantwortung für die Schulung von Bildungsziele zu überprüfen, die Entwicklung des Bil- schwerbehinderten Kindern, die bis anhin von sozia- dungssystems zu unterstützen und die Bildungsmög- len Institutionen organisiert war, wurde 1997 den lichkeiten für Schülerinnen und Schüler zu verbes- Grundschulen übertragen. Aus diesem Grund nahm sern. Von den Schulträgern wird erwartet, dass sie in diesem Jahr die Anzahl der Sonderschulen zu. In eine stetige Selbstevaluation durchführen, um ihr Finnland werden laut OECD (2000) weniger als 2% Angebot zu verbessern und dass sie sich an den der Kinder in Sonderschulen unterrichtet; weitere externen Evaluationen beteiligen (für eine nähere 2% werden in anderen sonderpädagogischen Gefäs- Beschreibung vgl. Eurydice Homepage). Die Resul- sen unterrichtet und 13.9% der Schülerinnen und tate der nationalen Evaluation werden zur Weiter- Schüler erhalten im Rahmen des Grundschulbesuchs entwicklung des Schulsystems und des Curriculums zusätzliche pädagogische Unterstützung. Der inte- verwendet wie auch für die Verbesserung des Unter- grative Unterricht wird dadurch erleichtert, dass in richts und für die Absicherung der Chancengleich- finnischen Schulen nicht nur Lehrpersonal tätig ist. heit. Die neue Schulgesetzgebung von 1998 konzen- Zum Personal jeder Schule gehören neben Schullei- triert sich auf die Gleichwertigkeit und Chancen- tung, Klassenlehrern und Fachlehrkräften auch eine gleichheit und bietet eine umfassende Grundlage für Schulschwester, eine Sozialpädagogin, eine Psycho- alle Bildungsinstitutionen und Bildungsanbieter login, Heilpädagogische Förderlehrerkräfte sowie unabhängig von ihrer Organisation oder Träger- allenfalls Assistenten und Küchenpersonal für die schaft. Schulküche. BFS/EDK 2003 SOZIALE INTEGRATION UND LEISTUNGSFÖRDERUNG SEITE 47 bdv_Inhalt 14.05.2003 9:40 Uhr Seite 48 LÄNDERBERICHTE Finnische Lehrpersonen erhalten eine solide dia- scheiden können, gibt es jedoch keine eindeutigen gnostische Ausbildung, die auf die lehrerbasierte Zusammenhänge zwischen verschiedenen Schulen Erfassung und Einschätzung der Schülerinnen und und sozialem Status. Schüler vorbereitet. Da Schülerinnen und Schüler erst Nach Absolvierung der obligatorischen Schulzeit, beim Abschluss der Sekundarstufe II einer landeswei- also etwa im Alter von 16 Jahren, lassen sich die ten Prüfung unterzogen werden, legt das finnische Jugendlichen in Bezug auf ihren weiteren Bildungs- Schulsystem viel Vertrauen in die diagnostischen verlauf in drei Gruppen einteilen; eine erste Gruppe Kompetenzen der Lehrpersonen und erwartet von tritt in eine allgemeinbildende Schule ein (52%), ihnen, dass sie fehlende Kompetenzen und Fähigkei- 32% wählen eine berufsbildende Schule und eine ten bei ihren Schülerinnen und Schülern erkennen dritte Gruppe von 14% der Schüler besuchen keine können. Oft zitiert werden in diesem Zusammen- weiterführende Schule (Angaben für 1995). Diese hang auch die Ergebnisse der Adult Literacy Study, Entscheidung ist sozial gefärbt, da der Bildungsstand die für Finnland eine hohe Erwartungshaltung der des Vaters hoch mit der Wahl der Jugendlichen kor- Lehrpersonen bezüglich Lesekompetenz ihrer Schü- reliert. Während 79% der Jugendlichen, deren Vater lerinnen und Schüler feststellte. einen Hochschulabschluss hat, eine allgemeinbil- Der Gradient zwischen Schulen mit sehr guten dende Schule besuchen, sind dies bei den Kindern Resultaten und Schulen mit den schlechtesten Re- mit Vätern, die einen Sekundarschulabschluss haben, sultaten ist in Finnland sehr flach. Die 10% der noch 52% und bei denjenigen mit Vätern ohne die- besten Schulen erreichten eine durchschnittliche sen Abschluss nur 39%. Umgekehrt besuchen 20% Leistung, die 97 Punkte über den 10% der Schulen der Jugendlichen mit Vätern ohne Abschluss keine mit den schlechtesten Leistungen lag (durchschnitt- Schule mehr, während es bei Jugendlichen mit aka- licher Unterschied in OECD-Länder: 204 Punkte). demisch ausgebildeten Vätern nur 7% sind. Je höher Das hohe Mass an Autonomie der Lehrkräfte in der der Sozialstatus der Eltern ist, umso länger besuchen Wahl der Lehrmittel, der Festlegung des Curriculums finnische Jugendliche die Schule und desto grösser ist und der Gestaltung der Schule scheint sich positiv ihre Chance, eine Hochschule zu besuchen. Auch auf die Schulleistungen aller Schülerinnen und Schü- bezüglich der Wahl der Studienfächer gibt es einen ler auszuwirken. Dies entspricht auch den Resultaten klaren Zusammenhang (vgl. Havén, 1999). Bei tiefe- in anderen Ländern mit ähnlich hoher Autonomie rer Schulbildung sind die Jugendlichen einem erhöh- der Lehrerteams. Der finnische PISA-Bericht geht ten Risiko ausgesetzt, arbeitslos zu werden und auch davon aus, dass die grössere Wahlfreiheit der weniger zu verdienen. Schülerinnen und Schüler in Bezug auf einige Da eine besondere Schulung von Kindern bei Schulfächer sich positiv auf die Motivation auswirkt. weniger als 2% der Altersgruppe in Sonderschulen Dies könnte für schwächere Schüler besonders wich- stattfindet, kann davon ausgegangen werden, dass tig sein und einer frühen Schulunlust entgegen es sich hier um Kinder und Jugendliche mit biologisch wirken. verursachten Behinderungen und nicht um Kinder mit Schulschwierigkeiten oder mit sensorischen oder 2.3.3 Späte Bildungsentscheide motorischen Funktionsstörungen (bei normaler Intel- und hohe Teilnahme an höheren ligenz) handelt. Kinder und Jugendliche mit beson- Ausbildungsgängen deren pädagogischen Bedürfnissen werden in den Da in Finnland keine Bildungsentscheide getroffen Schulen ihrer Altersgruppe gefördert und haben werden müssen bis zum Abschluss der Grundschule Anrecht auf zusätzliche Unterstützung. Von finni- (9. Schuljahr), sind die Effekte bezüglich sozialer schen Lehrerinnen und Lehrern wird nicht erwartet, Schichtung weniger ausgeprägt als in Ländern, bei dass sie bei Lernproblemen oder Schulschwierigkei- denen bereits nach 4 oder 6 Schuljahren eine Auf- ten die notwendigen Anpassungen alleine vorneh- gliederung in verschiedene Schultypen stattfindet. men können. Sie werden unterstützt durch verschie- Dennoch hat der sozioökonomische Status der Eltern dene Fachpersonen (vgl. oben) im Schulhausteam. auch in Finnland einen grossen Einfluss auf den Bil- Der Finnische Board of Education geht allerdings dungsweg ihrer Kinder. Da sich sowohl die einzelnen davon aus, dass das Fördersystem, welches etwa auf Angebote in den Schulen (verschiedene Fächerwahl) 17% der Schülerschaft ausgerichtet ist, nicht allen wie auch Schulen selber (verschiedene Profile) unter- Bedarf decken kann. SEITE 48 BFS/EDK 2003 SOZIALE INTEGRATION UND LEISTUNGSFÖRDERUNG bdv_Inhalt 14.05.2003 9:40 Uhr Seite 49 LÄNDERBERICHTE 2.3.4 Ausnahmefall Migration tig aber auch die Herausforderungen auf, denen sich Der Anteil der ausländischen Bevölkerung in Finn- das französische Bildungswesen gegenüber sieht, land ist weniger als 2% und hat deshalb einen gerin- wenn es seine Politik der möglichst geringen Chan- gen Einfluss auf das finnische Schulsystem. Entspre- cenungleichheiten weiter führen will. chende Zahlen zu Bildungsbeteiligung und Bildungsabschlüssen sind aus diesem Grund kaum verfügbar. 2.4.1 Ein Land, das von grossen sozialen Alle Kinder, die kein Finnisch sprechen, müssen ent- und regionalen Unterschieden geprägt ist sprechende Kurse absolvieren, bevor sie in die Schule Frankreich, dessen BIP pro Einwohner tiefer liegt als eintreten. Der Zusammenhang zwischen Bildungser- jenes seiner wichtigsten Nachbarn (vgl. Tabelle 1), ist folg und Migration ist in Finnland vor allem deshalb geprägt von einer verhältnismässig ungleichen schwierig zu untersuchen, weil die Zuwanderung Güterverteilung in der Gesellschaft. Davon zeugt sehr gering ist. Da viele Personen weniger wegen auch das hohe Niveau des Indexes, der die Ungleich- Arbeitssuche als vielmehr als Flüchtlinge nach Finn- heit der Einkommensverteilung in der Bevölkerung land immigrieren, ist die Arbeitslosigkeit unter der misst (Eurostat-Zahlen 1999: 4.4 im Vergleich zu 3.6 ausländischen Bevölkerung dreimal so hoch (34%) für Deutschland und 4.2 für Belgien). Ausserdem wie unter der finnischen Bevölkerung (für weitere weist Frankreich im wirtschaftlichen, sozialen und Informationen vgl. Ministry of Labor, 2002). Im Jahr kulturellen Bereich grosse Unterschiede zwischen 2000 erlebte Finnland die Immigration von 16’839 den Regionen auf. Während der Periode 1990–2000 und die Emigration von 14’291 Personen. 27.5% der hat die Diskrepanz zwischen den Regionen im Bezug eingewanderten Personen besitzen eine russische, auf die Güterverteilung (Quelle: Géographie de l’é- 7.7% eine schwedische und 7.2% eine estonische cole) leicht abgenommen. Parallel dazu ist ein Staatsbürgerschaft – wobei Personen finnischer Her- «Frankreich der zwei Welten» («France à deux vites- kunft in diesen Zahlen eingeschlossen sind. 700 der ses») entstanden, einerseits mit Regionen, die einen immigrierten Personen waren Flüchtlinge; illegale Rückgang Immigration ist bisher in Finnland wenig verbreitet. Zunahme des Anteils eingeschulter Kinder verzeich- Seit den frühen 90er Jahren nimmt der Zuwachs an nen, und andererseits mit Regionen, deren Arbeitslo- ausländischer Bevölkerung ab; zum Teil wegen der senquote weiter ansteigt und die wie im Norden eine Zunahme der Einbürgerungen (4000 pro Jahr). demografische Abnahme erleben. In Frankreich hat ihrer Arbeitslosenquote und eine Auch in Finnland haben Kinder aus Familien mit die Zahl der Menschen in unsicheren Verhältnissen in Migrationshintergrund ein 3,5 mal höheres Risiko, den 90er Jahren je nach Region unterschiedlich vorzeitig die Schule zu verlassen, als finnische Kinder zugenommen. Dies vermag gewisse Schwierigkeiten, (Järvinen & Vanttaja 2001, 203f.). Allerdings betrifft die Jugendliche während ihrer schulischen Laufbahn diese nur 1000 ausländische Schülerinnen und Schü- und bei der beruflichen Eingliederung angetroffen ler; in Finnland verlassen weniger als 0.03% aller haben, zu erklären. Die Arbeitslosenquote ist von Kinder die obligatorische Schule ohne Abschluss 8.9% 1990 auf 10.1% im Jahr 2000, mit einer Spitze (Jahnukainen 2001, 247). Auch ein tieferer Sozialsta- von 12.5% 1997, angestiegen. Die Arbeitslosigkeit tus führt gegenüber dem höchsten Sozialstatus zu hat in gewissen Regionen wie der Bretagne oder einem etwa doppelt so grossen Risiko des Drop-outs. gewissen ländlichen Departementen abgenommen und dort, wo die Situation ohnehin bereits Besorgnis erregend war, noch deutlich zugenommen (im Nor- 2.4 Frankreich den und im Departement Seine-Saint-Denis, welches an Paris grenzt). Die Analyse der PISA-Ergebnisse zeigt eine – ange- Im Innern der Regionen und der Departemente sichts der grossen sozialen Differenzen in der Gesell- entstehen Zonen mit grosser Armut, wo sich lang- schaft – beachtliche Effizienz des französischen Bil- fristige Arbeitslosigkeit und soziale Probleme kumu- dungswesens beim Abbau der sozial- und kulturell lieren. Das Departement Seine-Saint-Denis im Nor- bedingten Bildungsungleichheiten. Sie unterstreicht den von Paris ist zum Sinnbild für die in gewissen die Bedeutung struktureller Massnahmen (wie z.B. Zonen des Landes verschlechterte wirtschaftliche die frühe Einschulung der Kinder, den gemeinsamen und soziale Situation geworden. Dieses Departe- Unterricht auf der Sekundarstufe I), deckt gleichzei- ment, welches das ärmste Frankreichs ist, liegt in der BFS/EDK 2003 SOZIALE INTEGRATION UND LEISTUNGSFÖRDERUNG SEITE 49 bdv_Inhalt 14.05.2003 9:40 Uhr Seite 50 LÄNDERBERICHTE Region Ile de France, die zu den reichsten der 21 Die Tatsache, dass die Politik der ZEP die vorherr- Regionen Frankreichs gehört. Die Schule kann in die- schenden Probleme nicht wirklich lösen konnte, ser Situation nicht mehr alle Probleme, mit denen sie weist auf die grosse soziale und politische Dimension konfrontiert wird (Gewalt, Jugendarbeitslosigkeit, des Problems hin. Für J. Hébrard, Autor eines vom Entwertung der Schule usw.), bewältigen, was in Bildungsministerium veranlassten und im März 2002 gewissen Fällen das neue Phänomen eines Rück- fertig gestellten Berichts über die soziale Durchmi- gangs der Schulbesuchsquote auf der Sekundarstufe schung, führen verschiedene Faktoren (Strategien II mit sich bringt. der Eltern und der lokalen Behörden) in Schulen der Die Politik der ZEP («zone d’éducation prioritaire» Peripherie der grossen Städte zu einer Konzentration – staatlich geförderte Bildungszone), die 1981 einge- von Kindern aus Familien mit grossen Schwierigkei- führt wurde, sollte eine Antwort auf diese Situation ten oder am Rande des sozialen Gefüges. Gemäss J. bringen. Ziel war eine aktive und entschlossene Poli- Hébrard «kumulieren diese Schulen in den Augen tik gegen die sozialen Ungleichheiten. Dies sollte der Familien sowie der Lehrkräfte oder sogar der durch die «Verstärkung der Bildungsmassnahmen in Schüler selber das zweifache Handicap einer als den Zonen und den sozialen Milieus, wo die Anteile weniger effizient gewerteten Ausbildung und eines der Kinder, welche eine Klasse wiederholen oder als gefährlich gewerteten Klimas». Dies erschwert umgeschult werden, am höchsten ist» geschehen. wiederum die Erhaltung einer Bildungsqualität, Durch Gewährung von zusätzlichen Mitteln für bremst die soziale Durchmischung und fördert Schulen in sozial und wirtschaftlich benachteiligten schliesslich den Segregationsprozess. Zonen sollten soziale Integration und schulischer Die Politik der staatlich geförderten Bildungszo- Erfolg erreicht werden. Die Politik der ZEP brachte nen (ZEP) konnte die Siedlungssegregation – ein nicht die erhofften positiven Auswirkungen. Die Erbe der 80er Jahre – nicht ändern und hat zu einer Wirksamkeit auf pädagogischer Ebene hat zu zahl- Stigmatisierung gewisser Wohnviertel geführt, wo reichen Analysen Anlass gegeben, die jedoch alle die Bezeichnung «ZEP» oftmals auch für zu mei- zum Ergebnis führten, dass eine schwache Auswir- dende Schulen steht. kung (manchmal sogar eine negative) auf die Leistungen der Schülerinnen und Schüler vorliegt und 2.4.2 Ein Bildungssystem mit einer relativ dass zudem grosse Unterschiede zwischen den Schu- starken sozialen Ungleichheit len bestehen (durchschnittlich eine von drei Schulen Als Land mit starken sozialen Ungleichheiten hat hat eine deutliche Verbesserung der schulischen Frankreich seit Ende der 50er Jahre seine Bildungs- Resultate aufgezeigt). Angesichts dieser Ergebnisse politik darauf ausgerichtet, die Bedingungen für eine wurde die Politik der ZEP 1999 neu ausgerichtet. Das grössere Chancengleichheit zu schaffen. Zu diesem Ziel lag darin, den schulischen Ausbildungen eine Zweck wurden drei Hauptmassnahmen ergriffen: wichtigere Stellung einzuräumen und Massnahmen Zunächst wurde eine frühzeitige Einschulung der Kin- zu entwickeln, um den benachteiligten Schulen – ins- der vorangetrieben. Die Eltern haben seit den 60er besondere bezüglich der angebotenen Optionen – Jahren die Möglichkeit, ihre Kinder ab 2 Jahren in die qualitativ unter die Arme zu greifen. Damit sollten Vorschule zu geben. Gegenwärtig werden etwa 30% die Risiken des sozialen Abstiegs gewisser Schulen der Kinder mit 2 Jahren «eingeschult» (wobei sogar der Sekundarstufe (hauptsächlich Mittelschulen und nur die Hälfte bei Schuleintritt das zweite Lebensjahr Oberschulen mit beruflicher Ausrichtung) verhindert überhaupt schon vollendet hat). Dieser Anteil ist seit werden. Diese Politik ist erst kürzlich als «Politik der 1980 stabil. Die Schulbesuchsquote variiert gemäss positiven Diskriminierung» verlängert worden, um der Herkunft der Eltern und ist insbesondere in den den Zugang der aus staatlich geförderten Bildungs- ZEP (staatlich geförderte Bildungszonen) hoch. Dort zonen stammenden Schüler zu den Lehrgängen, die liegt sie bei Kindern, die bei Schuleintritt das 2. zu den Grandes Ecoles führen (tertiäres Bildungssys- Lebensjahr vollendet haben, bei über 60%77. tem, welches der Elite vorbehalten ist), zu begünstigen. 77 Die zweite Massnahme betraf 1975 die Schaffung einer Gesamtschule («collège unique»; Sekundar- Beinahe alle Kinder von 3 bis 5 Jahren sind eingeschult. Diese Situation existiert für die 4- und 5-jährigen Kinder seit den 70er Jahren und seit 1990 ist es die Hälfte der 3-jährigen Kinder, wobei wir einer progressiven und schrittweisen Entwicklung dieser Praxis beiwohnen. SEITE 50 BFS/EDK 2003 SOZIALE INTEGRATION UND LEISTUNGSFÖRDERUNG bdv_Inhalt 14.05.2003 9:40 Uhr Seite 51 LÄNDERBERICHTE stufe I), welche den gemeinsamen Unterricht auf die Leistungsniveau der Schüler, deren Eltern den höch- gesamte obligatorische Schulzeit ausweitet. Alle sten Status haben, und dem Niveau jener Schüler, Schülerinnen und Schüler werden dabei in derselben deren Eltern den tiefsten Status haben78. Im Bereich Struktur eingeschult, die einzige Unterscheidung der Lesekompetenz liegen diese Abweichungen sehr besteht in der Sekundarstufe I durch die Wahl der nahe beim Gesamtdurchschnitt der OECD-Länder Optionen (Fremdsprachen – Deutsch, Italienisch (84 Punkte für Frankreich, im Vergleich zu 82 Punk- usw. – Theater usw.). Grundsätzlich haben die Eltern ten für die OECD-Länder). Bei der mathematischen nicht die Möglichkeit, die im Rahmen des öffent- Kompetenz sind die Abweichungen schwächer als lichen Schulwesens (wo etwa 80% der Schüler ein- jene der anderen Länder (74, im Vergleich zum geschult sind) von ihren Kindern besuchte Schule Durchschnittswert der OECD von 77), wohingegen auszuwählen, doch die Wahl einer «seltenen» bei der naturwissenschaftlichen Kompetenz die Option (wie beispielsweise Russisch), die nur durch umgekehrte Situation gemessen wurde (Durch- eine beschränkte Anzahl Schulen angeboten wird, ist schnittsniveau von 93, im Vergleich zu 87 für die häufig ein Umweg, der von gewissen Eltern genutzt OECD-Länder). Die Nachbarländer Frankreichs wird, um diese Regelung zu umgehen und Schulen weisen deutlich grössere Abweichungen auf. Die zu wählen, die mehr ihren Erwartungen entsprechen. zweite Erkenntnis liegt darin, dass die französischen Die dritte Massnahme bestand darin, einer mög- Schüler, die auf der sozialen Leiter ganz unten stehen lichst grossen Anzahl Schüler den Zugang zum Gym- (unteres Quartil auf der ISEI-Skala), im Vergleich zu nasium («lycée») zu ermöglichen. Das Ziel dabei war, den Nachbarländern bessere Lesekompetenzen auf- 80% der Schüler eines Schuljahres bis zum Abschluss weisen. der Matura bzw. der Abiturs («baccalauréat») zu Diese zwei Erkenntnisse zeigen, dass das französi- führen. Die Mitte der 80er Jahre eingeführten Mass- sche Bildungssystem dazu neigt, die sozialen nahmen haben zur Verringerung der sozialen Ungleichheiten in Bezug auf die Bildung zu verrin- Ungleichheiten beim Erlangen des Abiturs beigetra- gern, ohne jedoch sein Ziel der Chancengleichheit gen, obschon grosse Abweichungen fortbestehen vollkommen zu erreichen. Die Einschulung der Kin- (die Chancen, ein wissenschaftliches Abitur zu erlan- der ab dem Alter von zwei Jahren muss als einer der gen, bleiben für Arbeiterkinder sieben Mal kleiner als ausschlaggebenden Faktoren für diese Situation für Kinder von Kaderleuten). Das Risiko, die Sekun- angesehen werden. Verschiedene Erhebungen ha- darstufe I ohne eine Qualifikation zu verlassen, hat ben ergeben, dass diese Massnahme die Kenntnisse jedoch bei den Arbeiterkindern auch deutlich abge- der Schüler beim Eintritt in die Primarschule signifi- nommen (Quelle: Etat de l’école, édition 2002). kant verbessert, und dass dieser anfängliche Vor- Dank der Ergebnisse der PISA-Studie kann die sprung sich während der Schulzeit nicht verringert. Wirksamkeit der zur Verringerung der Ungleichhei- Die Schüler, die von einer Einschulung im Alter von ten im Bereich der Schule angewandten Mittel zwei Jahren profitiert haben, scheinen «besser aus- gemessen werden. Zunächst weisen wir darauf hin, gerüstet» als die Schüler desselben sozialen Milieus, dass die Gesamtleistungen aller französischen Schü- die mit drei Jahren eingeschult wurden. Verschiedene ler (mit einem Wert von 505 in Lesekompetenz, 517 Studien neigen jedoch dazu, den positiven Einfluss in mathematischer Kompetenz und 500 in naturwis- der Einschulung auf die Verringerung der sozialen senschaftlicher Kompetenz) leicht über dem Gesamt- Ungleichheiten zu relativieren. Für A. Mingat (1992) durchschnitt der OECD-Länder liegen. Ein weiteres hat «der Einfluss der Einschulung im Alter von zwei Merkmal der Ergebnisse der französischen Schüler Jahren bei französischen und ausländischen Kindern ist die im Vergleich zu anderen Ländern geringe einerseits und bei Arbeiterkindern und Kindern von Streuung. Kaderleuten andererseits dieselbe Intensität.» (S. Der Vergleich zwischen den individuellen Leistun- 20). Eine jüngere Studie, die vom nationalen Bil- gen der Schüler und dem sozioökonomischen Status dungsministerium anhand einer grossen Schüler- der Familien zeigt zwei Punkte auf. Der erste betrifft stichprobe durchgeführt wurde, kommt zum Schluss, die Abweichungen zwischen dem durchschnittlichen dass «die Kinder von Kaderleuten und die ausländi- 78 Auf der Basis des internationalen Indexes des beruflichen Status (ISEI), der die Berufe auf einer Skala von 0 bis 90 einteilt, und durch den Vergleich zwischen dem durchschnittlichen Leistungsniveau der 25% der Schüler, deren Eltern den tiefsten sozioökonomischen Status haben, und dem Niveau der 25% der Schüler, deren Eltern den höchsten sozioökonomischen Status haben. BFS/EDK 2003 SOZIALE INTEGRATION UND LEISTUNGSFÖRDERUNG SEITE 51 bdv_Inhalt 14.05.2003 9:40 Uhr Seite 52 LÄNDERBERICHTE schen Schüler bzw. jene mit Migrationshintergrund Schüler in derselben Struktur bleiben, das Ziel des in ihrer schulischen Laufbahn scheinbar den grössten gleichen Zugangs zur Bildung für alle erreicht wer- Nutzen aus dieser Massnahme ziehen.» Dennoch den kann. Es ist ihm jedoch misslungen, die Mecha- kann dadurch, dass auch die Schüler aus sozial nismen der Differenzierung und der sozialen Diskri- benachteiligten Milieus häufiger die Vorschule im minierung zu erkennen und zu unterbinden. Die Alter von zwei Jahren besuchen, von einem positiven Erhaltung des Prinzips der gemeinsamen Grundstufe Einfluss dieser Massnahme auf die Verminderung der erfordert jedoch besondere pädagogische Massnah- sozialen Unterschiede im Bildungswesen ausgegan- men zur Abdeckung der Bedürfnisse spezifischer gen werden. Schülergruppen. Das Fehlen von bedürfnisorientierten Kursen auf Abschliessend weisen wir darauf hin, dass das der Sekundarstufe I kann die geringere soziale Diffe- «Collège unique» den Zeitpunkt der Selektion und renzierung in den Resultaten der PISA-Studie eben- somit der sozialen Differenzierung bis zum Übertritt falls erklären. Diese Differenzierung ist dennoch vor- in die Sekundarstufe II (Gymnasium) hinauszögert.79 handen, auch wenn sie schwächer ist als in anderen Ländern. Das Modell des «Collège unique» kann 2.4.3 Leistungen der immigrierten Schülerinnen nicht allen Schülern dieselbe Ausbildung bieten, da und Schüler und «republikanische Schule» es nicht fähig ist, die Heterogenität der Schülerschaft Als traditionelles Immigrationsland weist Frankreich und die verschiedenen Auffassungen und Lernin- einen vergleichsweise geringen Anteil Schüler aus- halte der einzelnen Schulen vollkommen zu bewälti- ländischer Herkunft auf; dieser variiert gemäss den gen. Die Herausforderung des «Collège unique» ist Zahlen 1999/2000 zwischen 5.9% in der Primar- mehr und mehr umstritten, und das französische Bil- schule und 4.6% in der Sekundarschule.80 Ein Grund dungssystem ist seit mehreren Jahren von einer für diesen schwachen Anteil an immigrierten Schü- nahezu permanenten, zumeist politischen und ideo- lern liegt in der Praxis, dass sich jede auf französi- logischen Debatte gezeichnet. Inhalt dieser Debatte schem Territorium geborene Person einbürgern las- ist die allfällige Notwendigkeit, differenzierte Kurs- sen kann (ius solis). Auf Grund des «Tabus», das programme zu schaffen, um einer wachsenden über der Herkunft der in Frankreich geborenen Schü- Heterogenität der Schüler entgegenwirken zu kön- ler liegt, kann der Anteil an Immigrantenkindern nen. Angesichts der ständigen Kritik an der man- nicht klar bestimmt werden. Dank der PISA-Studie gelnden Anpassungsfähigkeit der Mittelschulen kann diese Situation nun jedoch besser beurteilt wer- gegenüber ihrer Schülerschaft wurden mehrere den: Die französische Stichprobe weist einen Anteil Reformen durchgeführt. Ziel dabei war es, Einrich- von 12% ausländischer Schüler (wovon 9.8% so tungen zur Bewältigung der Heterogenität innerhalb genannte Schüler 1. Generation sind, d.h. die in einer gemeinsamen Struktur zu schaffen (beispiels- Frankreich geboren sind und somit französische weise durch die Schaffung der «travaux dirigés» Staatsangehörige sein können) und einen Anteil von usw.). 2.2% allochthoner Schüler (im Ausland geboren) Das Modell des «Collège unique», das auf grosse auf. ideologische Resonanz gestossen ist, hat den In Funktion des Migrationshintergrunds der Schü- Anschein erweckt, dass einzig dadurch, dass alle ler zeigt PISA bei allen drei grossen Dimensionen – 79 80 Eine Studie (Duru-Bellat, 2000) zeigt, dass von den Schülern ohne schulischen Rückstand, die am Ende der Mittelschule stehen, der Anteil jener, die in die allgemeine Abteilung der höheren Schule eintreten, 77% für Kinder von Kaderleuten und Lehrkräften, gegenüber 32% für Kinder von Arbeitern beträgt. Gemäss den Daten 2000/01 steigt der Anteil Schüler mit Arbeiterherkunft von 21.1% in der allgemeinen und technologischen Oberstufe (ISCED 3A) auf 38% in der berufsbildenden Oberstufe (ISCED 3C), während der Anteil der Arbeiterkinder in der Mittelschule 30.5% beträgt. Für die Schüler, deren Eltern einen freien oder Kaderberuf ausüben und deren Anteil an der Mittelstufe 14.9% ausmacht, beträgt der Anteil entsprechend 23.5% (ISCED 3A) und 5% (ISCED 3C). Eine andere Zahl zeigt die Bedeutung dieser sozialen Differenzierung. In der Altersklasse 20–21 haben 51% der Kinder von Handarbeitern das Abitur absolviert im Vergleich zu 87% der Kinder von Kaderleuten (DEP, 1997 zitiert von Duru-Bellat, 2000). In Bezug auf den Zugang zur Universität ist zu beobachten, dass die Kinder von Kaderleuten und Freiberuflern stark übervertreten (31.2% aller Studenten) und die Arbeiterkinder stark untervertreten (10%) sind. In den kurzen technologischen Studiengängen sind die Kinder von Arbeitern und Angestellten stärker vertreten und machen 31% der IUT-Schüler (IUT = instituts universitaires technologiuqes) sowie 39% der STS-Schüler aus (sections de techniciens supérieurs). Seit 1995 haben die Anteile der Kinder von Landwirten, Handwerkern und Arbeitern je mehr als einen Punkt verloren. Auf Gymnasialstufe bzw. der Sekundarstufe II variiert er, je nach Ausrichtung: Sekundarstufe II, allgemeinbildende und technische Ausrichtung/ISCED 3A = 3.6% (Zahlen 2000/01), Sekundarstufe II berufliche Ausrichtung/ISCED 3B = 6.2%. Der Anteil ausländischer Schüler in Kursen des Typs B, d.h. für Kinder und Jugendliche mit Lernschwierigkeiten (ISCED, 1997), beträgt 7.4%. SEITE 52 BFS/EDK 2003 SOZIALE INTEGRATION UND LEISTUNGSFÖRDERUNG bdv_Inhalt 14.05.2003 9:40 Uhr Seite 53 LÄNDERBERICHTE Lesekompetenz, mathematische und der naturwis- (2002) ist das französische Bildungssystem durch senschaftliche Kompetenz – Differenzen zwischen eine Desethnisierung des schulischen Misserfolgs autochthonen Schülern und Schülern der 1. Genera- von Schülern mit Migrationshintergrund gekenn- tion einerseits (Schüler in Frankreich, Eltern im Aus- zeichnet, der vergessen macht, dass schulische Mis- land geboren) sowie zwischen autochthonen und serfolge einen beträchtlichen Anteil der eingewan- allochtonen Schülern andererseits (Schüler und Eltern derten Bevölkerung Frankreichs, hingegen nur 10% im Ausland geboren) auf. Bei der Lesekompetenz der Gesamtbevölkerung des Landes betreffen. Wei- ergibt sich eine Differenz von 78 Punkten zwischen ter ist Mc Andrew der Ansicht, dass dieses Vorgehen der mittleren Leistung der autochthonen Schüler wahrscheinlich zu einer Delegitimation jeglichen (D=512) und jener der allochtonen Schüler. Dieser Bestrebens führen wird, vom Staat oder von den Unterschied ist kleiner als in Deutschland, Belgien Schulen Rechenschaft über die schulischen Misser- und der Schweiz. Die Leistungen der 1.-Generations- folge der immigrierten Schüler zu fordern. Sodann schüler gehören zu den höchsten Europas, während vermeide es das französische Bildungssystem zu jene der allochtonen Schüler im Mittelfeld angesie- untersuchen, inwiefern die Misserfolge der immi- delt sind. Etwas weiter klafft die Schere bei der grierten Schüler oder ihre schlechten Leistungen spe- Mathematik (Differenz 82) und insbesondere bei den zifisch mit ihrem Migrationshintergrund zu tun hät- Naturwissenschaften (98) auseinander. ten, und ziehe es vor, nur jene Bedürfnisse der Was den Einfluss der zuhause von den Schülern gesprochenen Sprache auf die Leseleistungen Migranten anzugehen, die diese mit der benachteiligten autochthonen Bevölkerung teilten. betrifft, so zeigen die PISA-Ergebnisse, dass das Die PISA-Ergebnisse zeugen trotz allem jedoch Risiko für einen allophonen Schüler (der zuhause also von einer beachtlichen Effizienz des französischen nicht Französisch spricht), unter den schwächsten Bildungssystems beim Umgang mit der kulturellen, 25% der Leser zu sein, 2.3 beträgt (d.h. das Risiko ist sprachlichen und sozialen Vielfalt, auch wenn es die fast zweieinhalb mal so gross als für einen Schüler, Probleme nicht kultur- und sprachspezifisch angeht. der normalerweise zuhause Französisch spricht). Das 2.4.4 Zentralisiertes System und gleichzeitig relativ Mittel der OECD-Länder beträgt 2. Diese Ergebnisse unterstreichen, dass das Bil- grosse Autonomie der Schulen dungssystem Frankreichs punkto Migrationshinter- Das öffentliche Bildungswesen ist durch eine starke grund der Schüler weniger ungleichheitsfördernd ist Zentralisierung kombiniert mit einer relativ grossen als jenes der Nachbarländer, obwohl an den franzö- Autonomie der einzelnen Schulen gekennzeichnet. sischen Schulen nur wenige spezifische Massnah- Das Land ist in 25 Akademien aufgeteilt, die direkt men zu Gunsten der Betroffenen in Kraft sind (mit dem nationalen Bildungsministerium unterstellt sind. Ausnahme der Integrationsklassen für frisch Einge- Seit Einführung der Dezentralisierungspolitik verfü- 81 wanderte). Die ZEP-Kreise (ZEP = staatlich geför- gen die Regionen, Departemente und Gemeinden derte Bildungszonen) haben sich zum Beispiel immer über budgetäre Kompetenzen hauptsächlich bezüg- dagegen gewehrt, herkunfts- und kulturspezifisch lich Bau und Verwaltung der Schulgebäude. vorzugehen. Das französische Bildungswesen kennt Das Personalwesen (Zulassungswettbewerbe, denn auch keine spezielle interkulturelle Bildungspo- Aufstiegsmöglichkeiten usw.), die Kontrolle der Lehr- litik und Berücksichtigung der Herkunftskultur (ins- kräfte (durch Inspektoren), die Organisation der Prü- besondere Nordafrika) oder Muttersprache (insbe- fungen im 5. und 8. Schuljahr sowie die Festlegung sondere Arabisch) im Unterricht. der Lehrpläne werden auf nationaler Ebene geregelt. Die Abstützung auf das Modell der republikani- Diese extreme Zentralisierung des französischen Bil- schen Schule als soziale Bildungs- und Integrations- dungssystems wurde 1989 mit einem Gesetz deut- stätte und der Verzicht auf eine ethnisch-kulturelle lich gelockert, welches das Prinzip der «Schulautono- Herangehensweise an gewisse Realitäten hat im mie» («projets d’établissement») einführte. Danach französischen Bildungssystem zu einer Unterschät- können die Schulen auf der Primar- und Sekundar- zung der schulischen Chancenungleichheit für stufe I die pädagogischen Strategien zur Erreichung gewisse Schülerkategorien geführt. Laut Mc Andrew der nationalen Ziele selber bestimmen. Sie sind 81 Dieser Mangel an spezifischen Massnahmen hat historische (koloniale Vergangenheit Frankreichs) und ideologische (republikanisches Modell) Gründe. BFS/EDK 2003 SOZIALE INTEGRATION UND LEISTUNGSFÖRDERUNG SEITE 53 bdv_Inhalt 14.05.2003 9:40 Uhr Seite 54 LÄNDERBERICHTE dabei jedoch in ein relativ starres Regulierungssystem 2.5.1 Eine junge, multikulturelle Gesellschaft eingebunden. So evaluiert zum Beispiel die «Direc- Kanada ist ein junges Land, in dem der Anteil der tion de la programmation et du développement Bevölkerung zwischen 5 und 24 Jahren zwar nicht DPD» (deutsch in etwa «Direktion für Planung und mehr so stark, jedoch immer noch stetig zunimmt. In Entwicklung») die Leistungen der Schulen und der Provinz Alberta etwa ist jeder zweite Einwohner veröffentlicht jedes Jahr eine Rangliste der Gymna- 30 Jahre oder jünger. In Kanada gelten Englisch und sien des Landes in Funktion ihrer Baccalauréat- Französisch als die beiden offiziellen Sprachen; sie Ergebnisse. werden von 59% respektive 23% der Bevölkerung Obwohl das französische Bildungswesen relativ als Erstsprache gesprochen. Daneben verfügen 18% streng reguliert ist und es den Eltern grundsätzlich über mehrere oder über eine andere Erstsprache; nicht erlaubt, die Schule für ihre Kinder frei zu wäh- wobei die am häufigsten gesprochenen weiteren len (es bestehen jedoch Strategien, die Schule doch Sprachen regional verschieden sind (z.B. Chinesisch über die Fremdsprachenfächer zu wählen), entwi- in Vancouver (20% der Bevölkerung), Toronto, Cal- ckelt sich das Leistungsniveau der Schulen immer gary, Edmonton und Ottawa; Italienisch in Montréal; weiter auseinander (während übrigens die regiona- Deutsch in Winnipeg; vgl. Statistics Canada 2002) len Unterschiede zurückgehen). Dies führt zu einer Jährlich wandern etwa 200'000 Personen in Segregation der Schulen bezüglich ihrer «Kund- Kanada ein; von ihnen sprechen 60% der unter 18- schaft» und Ergebnisse und stellt das Prinzip der jährigen weder Englisch noch Französisch. In einigen «Schule für alle» grundsätzlich in Frage. den Provinzen (Britisch Kolumbien, Alberta, Saskatchewan, Manitoba, Ontario und Quebec) liegt der Anteil der Haushalte, in denen weder Englisch noch 2.5 Kanada Französisch gesprochen wird, zwischen 5% und 10%. Rund 95% aller Immigranten wählen entwe- Für die guten Ergebnisse der eingewanderten Bevöl- der Ontario (55%), Britisch Kolumbien (19%), Que- kerung Kanadas ist zu einem grossen Teil die aktive bec (15%) oder Alberta (6%) als ihre Destination aus Migrationspolitik Kanadas verantwortlich, die gut (Prozentangaben für 1999). In diesen Provinzen qualifizierten und englisch- oder französisch-sprachi- nimmt auch die Gesamtbevölkerung entsprechend gen Einreisewilligen den Vorzug gibt. Soziale, kultu- zu, während sie in den anderen Provinzen tendenziell relle und migrations-bedingte Benachteiligungen tre- abnimmt. ten deshalb viel seltener kombiniert auf als dies in Die meisten Migranten in Alberta (87%) lassen westeuropäischen Ländern der Fall ist. Andere, von sich in den grossen Städten nieder, etwa in Calgary der Sozialstruktur beeinflusste Unterschiede in den oder Edmonton. Von den zwischen 1990 und 1999 PISA-Leistungen (z.B. zwischen Stadt-Land) finden immigrierten Personen stieg der Anteil jener, die sich auch in Kanada. Französisch oder Englisch sprechen, von 48% auf Ein aktives Bemühen um hohe Leistungsstandards 56%. Auch der Bildungsgrad stieg in dieser Zeit; so und die Integration von Kindern mit verschiedenen etwa vergrösserte sich der Anteil der Personen mit kulturellen, sprachlichen und kognitiven Vorausset- einer nachobligatorischen Schulbildung von 43% auf zungen scheint mit der generell geringen sozialen 64%; der Anteil von Immigranten mit einem Bache- Selektivität der kanadischen Schulsysteme in Bezie- lor von 13% auf 29% und jener mit einem Master hung zu stehen. Die gute Einbettung der Schule in von 3.2% auf 8%. Diese Entwicklung ist vor allem die lokalen Begebenheiten unter Teilnahme der eine Folge der Umsetzung der Kanadischen Migra- Eltern, der Gemeinde und privater Partner erweitert tionspolitik (Immigration Act; Alberta Learning 2002, und vertieft das Verständnis der Bedürfnisse von 1ff.). Immigrieren dürfen Personen, die bereits Fami- Schülerinnen und Schülern und ermöglicht eine Pro- lienangehörige in Kanada haben, offiziell als Flücht- filbildung. linge gelten, oder aber über eine gute Schulbildung Anders als in westeuropäischen Ländern scheint nicht die soziale oder sprachliche Herkunft alleine, verfügen, für die kanadische Wirtschaft nützlich sind und potentiell neue Arbeitsplätze schaffen können. sondern vielmehr Armut, etwa in Familien mit nur Kanada kann zu den klassischen Immigrationslän- einem Elternteil, ein Risiko für den Schulerfolg zu dern gezählt werden. Allerdings sprechen viele Immi- sein. granten bereits bei ihrer Ankunft Englisch und verfü- SEITE 54 BFS/EDK 2003 SOZIALE INTEGRATION UND LEISTUNGSFÖRDERUNG bdv_Inhalt 14.05.2003 9:40 Uhr Seite 55 LÄNDERBERICHTE gen über eine gute Schulbildung, was die schulische Prince Edward Island, New Brunswick und Alberta Integration erleichtert; eine Tendenz, die durch die ausgeprägt. Diese Unterschiede hängen primär mit kanadische Einwanderungspolitik in den letzten Jah- der unterschiedlichen Situation der städtischen und ren verstärkt wurde. Eine Population, wie etwa in ländlichen Bevölkerung zusammen: durchschnitt- Alberta, die zwar neu eingewandert ist, aber zu über licher Bildungsstand der Bevölkerung, erforderlicher 60% über einen Hochschulabschluss verfügt, kann Bildungsstand, um einer Erwerbstätigkeit nachgehen mit den Arbeitsmigranten der Schweiz oder Deutsch- zu können sowie das Angebot an Arbeitsstellen. land kaum verglichen werden; sie werden signifikant Jugendliche aus ländlichen Gebieten kommen häufi- höhere Erwartungen an die Bildungserfolge ihrer ger aus sozial schlechter gestellten Familien, die Kinder stellen. Ein Indiz für den routinierten Umgang weniger Kulturgüter und Bildungsressourcen besit- mit Immigration in den kanadischen Bildungssyste- zen. Sie sprechen mit ihren Eltern weniger oft über men mag sein, dass nur im Bereich der naturwissen- kulturelle, politische oder soziale Themen und gehen schaftlichen Tests in Kanada ein kleiner negativer weniger oft an kulturelle Anlässe. In Alberta und Einfluss auf die Ergebnisse festzustellen ist, wenn die Quebec zeigten sich auch unterschiedliche Wünsche Schüler aus einem nicht französisch- oder englisch- bezüglich einer Tertiärausbildung, die vermutlich sprachigen Immigrantenhaushalt kommen. Ausdruck verschiedener Berufsbestrebungen sind. In Ontario, Manitoba, Saskatchewan, Alberta und Die Leistungsunterschiede können nicht mit den den Northwest Territories – alle mit relativ grossen Charakteristiken der Schulen (z.B. weniger Res- «aboriginal» Populationen (ursprüngliche Bevölke- sourcen) in Verbindung gebracht werden; vielmehr rung) – lag der Anteil von Jugendlichen, die keine ist es wahrscheinlich bedeutsam, dass in ländlichen High School Ausbildung absolvieren, etwa 5% höher Gegenden andere Erwerbstätigkeiten vorhanden als bei der Gruppe der anderen Jugendlichen. Diese sind als in Städten. Diese Analyse ist bedeutsam, weil Bevölkerungsgruppe ist in Bezug auf ihre Bildungs- sie aufzeigt, dass nicht nur die individuellen Erwar- chancen benachteiligt; nur 35% verfügen über eine tungen der Eltern einen Einfluss auf die Leistungen nachsekundäre Qualifikation gegenüber 52% der an- ihrer Kinder haben, sondern offensichtlich auch die deren Gruppen (Hochschulabschluss: 4% gegenüber kollektiven Erwartung der Gemeinschaft, die sich im 19%; Statistics Canada 1999, 96). Zwischen 1986 Angebot an Arbeitsstellen ausdrückt. und 1996 hat sich der Bildungsstand der kanadischen Aboriginals stark verbessert, doch ist dieses Resultat 2.5.2 Schule als Aufgabe der Gemeinschaft mit Vorsicht zu geniessen, da sich dank verstärkter Das dezentrale Schulsystem Kanadas ist durch viele Bemühungen zur Gleichstellung und einem entspre- verschiedene Partnerschaften auf nationaler oder chend grösseren Bewusstsein für diese Minoritäten regionaler Ebene (z.B. Altantic Provinces Education 1996 mehr Personen, besonders aus besser gestellten Foundation oder Western Canadian Protocol) sowie Bevölkerungsschichten, als aboriginal bezeichneten auf Gemeindeebene (Einbezug der Eltern, lokaler (vgl. Council of Ministers of Education 2001). Diese Organisationen und des privaten Sektors) gekenn- besondere gesellschaftliche Gruppe der kanadischen zeichnet. Nach der Rezession in den frühen 90er Jah- Ureinwohner scheint bezüglich Bildungserfolg sogar ren haben die meisten Provinzen mehr Ressourcen die schlechteren Chancen zu haben als fremdspra- für ihre Bildungssysteme aufgewendet und sich aktiv chige Jugendliche aus einem anderen Land. um die Qualitätsentwicklung der Schulen bemüht. Eine detailliertere Auswertung der PISA Ergeb- Curricula, Standards und Leistungsüberprüfungs- nisse erfolgte in Kanada zur Untersuchung der Leis- mechanismen werden von den Provinzen und Terri- tungsunterschiede zwischen städtischen und länd- torien selber entwickelt; zum Teil zentral oder dezen- lichen Gebieten; ein Effekt, der sich in allen Provin- tral mit den lokalen Schulbehörden oder Kommissio- zen zeigte und fast durchwegs signifikante Unter- nen. In den häufigsten Fällen wird das Curriculum schiede aufzeigte (Statistics Canada, Council of gemeinsam mit einer Kommission entwickelt, die Ministers of Education, 2002). Ländliche Gebiete, in sich aus verschiedenen Personengruppen des Bil- denen auch die kanadische Urbevölkerung lebt, sind dungsbereichs zusammensetzt. ökonomisch und sozial benachteiligt. Die schlechte- In den letzten Jahren wurden zudem verschiedene ren Leistungen der Jugendlichen in ländlichen Gebie- Projekte gestartet, in denen es um die Herstellung ten waren vor allem in Neufundland, Labrador, von Vergleichbarkeit und Standardisierung der Leis- BFS/EDK 2003 SOZIALE INTEGRATION UND LEISTUNGSFÖRDERUNG SEITE 55 bdv_Inhalt 14.05.2003 9:40 Uhr Seite 56 LÄNDERBERICHTE tungen der zwölf Bildungssysteme geht. Meistens ter Schulen mit einem besonderen Profil bezüglich sind diese durch den Rat der Bildungsminister Kana- Lehrplan erlaubte und in bestimmten Fällen auch das das (Council of Ministers of Education in Canada, Sponsoring durch Private zuliess. Ontario entschloss CMEC) initiiert, der 1967 gegründet wurde. Entspre- sich vor kurzem, die Schulwahl für Eltern im öffent- chend spielt in der Auswertung von «large-scale lichen Bereich zu vergrössern. Durch die lokale Ver- assessments» wie PISA auch der interprovinzielle ankerung – nicht nur im Schulhaus, sondern in der Vergleich stets eine grosse Rolle. Alle Provinzen Gemeinde – sind die Schulprojekte und Reformvor- beteiligen sich auch an dem nun fast durchgehend haben sehr gut akzeptiert. eingeführten Qualitätssystem; das 1989 durch CMEC eingeführte «School Achievement Indicators 2.5.3 Bemühungen zur Integration Programme (SAIP)», das in den Bereichen Lesen, leistungsschwacher Kinder Schreiben und Mathematik Leistungsmessungen Zwischen einem Drittel und der Hälfte der kanadi- ermöglicht. Diese werden sowohl für die Einzelschu- schen Kinder besuchen zwischen dem 3. und dem 6. len, wie auch für Provinzen und für den interprovin- Lebensjahr ein Vorschul- oder Kindergartenpro- ziellen Vergleich aufbereitet. Das SAIP misst die Leis- gramm, das von der lokalen Schulbehörde angebo- tungen der 13- und 16jährigen Schülerinnen und ten wird. Seit den späten 90er Jahren erhält dieser Schüler in ganz Kanada. Die erste Leistungsmessung Bereich verstärkte Aufmerksamkeit; in zahlreichen (Mathematik und Problemlösen) wurde 1993 durch- Provinzen wurden Reformprogramme umgesetzt, geführt, gefolgt von einer Testung von Lesen und um die Vorschulbildung zu stärken und die Gesund- Schreiben in 1994 und naturwissenschaftlichen heit und Lernfähigkeit der Kinder zu fördern. Kompetenzen in 1996. Ein zweiter Zyklus der Testung begann 1997 und endete 1999. Zum Teil umfasst die Elementary Education das erste bis zum sechsten, zum Teil bis zum achten Auf der Ebene der Provinz zeigte sich im Bildungs- Schuljahr (junior high). Das kanadische Schulsystem bereich tendenziell eine Zentralisierung bei gleichzei- sieht die Klassenwiederholung als Weg zur Leistungs- tig stärkerem Engagement aller lokal relevanten Part- verbesserung nicht vor. Während der Elementary ner. Evaluationen, die alle Aspekte der lokalen Schu- School werden die Kinder kontinuierlich versetzt; len überprüfen (school-focused reviews), wurden ein- leistungsschwache Schüler werden in die Folgeschul- geführt und informieren Eltern sowie andere Gemein- jahre versetzt, erhalten in der Regel aber mindestens demitglieder über die «Outcome» einer Schule – in grundlegenden Fächern Förderunterricht. unter Berücksichtigung aller Faktoren, die Schuler- Für alle Provinzen und im Folgenden näher aus- folg beeinflussen können. Aufgrund dieser Reviews geführt auch für Alberta lässt sich sagen, dass ein werden Strategien festgelegt, um gemeinsam Lern- grosser Teil der Schülerinnen und Schüler mit beson- prozesse in einer bestimmten Schule zu fördern. deren pädagogischen Bedürfnissen oder Behinderun- Durch diese Prozesse und auch dank der weiter gen in regulären Klassen oder schulnah in kleineren unten beschriebenen Zusammenarbeit vor Ort sind Gruppen von Kindern mit ähnlichen Bedürfnissen Schulen sehr gut in ihrem Umfeld verankert; die geschult werden. Es wird Wert darauf gelegt und Bedürfnisse der Gemeinde werden in die Schule ge- von den lokalen Schulbehörden gefordert, dass sie tragen, und die Schule wird von der Gemeinde ihre Angebote, Strategien und Ergebnisse der Förde- gestützt. Alle Schulen verfügen neben der lokalen rung dieser Gruppe in ihre Dreijahrespläne und Schulbehörde (school board) auch über einen aus Berichterstattung miteinbeziehen. Alberta Learning Eltern, Schulleitung, Lehrervertretern und Schülern (Ministerium für Bildung und Lernen in Alberta) ver- zusammengestellten Schulrat (vgl. School Council langt von allen lokalen Schulbehörden, dass sie eine Handbook). Die Provinz vergibt für lokale Schulpro- aktive Rolle übernehmen und mit anderen Dienst- jekte Gelder, was die gemeindenahen Initiativen von leistungen Eltern und weiteren Personengruppen (auch private zusammenarbeiten, um abzusichern, dass Kinder Geschäfte) sehr unterstützt und fördert («Partners- und Jugendliche mit besonderen Bedürfnissen und Personen in der Gemeinde hips for Education»). Zudem werden die Schulen Zugang zu allen Angeboten haben, die sie benötigen durch solche Aktivitäten eng mit ihrer Umgebung (vgl. Student Health Initative sowie Guide to Educa- verbunden. Als Reaktion auf die Forderung von tion for Students with Special Needs, ATA). Eltern wurde Alberta die erste Provinz, welche Char- SEITE 56 BFS/EDK 2003 Erst zwischen dem siebten und dem neunten SOZIALE INTEGRATION UND LEISTUNGSFÖRDERUNG bdv_Inhalt 14.05.2003 9:40 Uhr Seite 57 LÄNDERBERICHTE Schuljahr wechseln die Schüler in den Sekundarbe- erklären, dass Armut unter Kindern in dieser Provinz reich über. In den meisten Fällen existieren soge- mit Abstand am meisten verbreitet ist (26.2% nannte comprehensive high-schools, in denen unter- gegenüber Alberta mit 15.2%; vgl. Campaign schiedliche «Züge» untergebracht sind. Zunächst 2000). Armut ist nicht eindeutig mit sozialer Her- existiert eine geringe Differenzierung nach Leistung kunft, Muttersprache oder Migrationsstatus in Ver- und Interessen, die im Laufe der Folgejahre jedoch bindung zu setzten; alle Faktoren können in ver- zunimmt. Verschiedene «tracks» werden meist ab schiedenen Kombinationen eine Rolle spielen. der neunten oder zehnten Klasse unterschieden. In Wie bereits erwähnt, zählen vor allem Kinder, die der Regel existieren drei solche Züge: einer richtet in Armut leben zur Risikogruppe der Schulpopulation sich insbesondere an Schüler, die ein Studium an (Beiser et al. 2000). Es zeigt sich, dass in Bezug auf einem der Colleges oder Universitäten anstreben die kindliche Entwicklung und das Auftreten von (academic track), einer setzt eher berufsbildende Verhaltensauffälligkeiten und Gesundheitsproble- Schwerpunkte (vocational track) und einer, der soge- men die ökonomische Situation oft zentraler ist als nannte general track, nimmt die Schüler und Schüle- Erziehungsstil und Verhalten der Eltern. Der Ent- rinnen auf, bei denen aus unterschiedlichen Gründen scheid, nach Vollendung der obligatorischen Schul- eine solche Zuordnung (noch) nicht sinnvoll zeit noch freiwillig ein weiteres Jahr zu absolvieren, erscheint. Wie eine Studie aus dem Jahr 1995 fest- um den Abschluss der Secondary School zu erhalten, hält, existierten damals klare Hierarchien zwischen ist zwar teilweise auch sozial gefärbt aber vor allem den Programmen, welche die sozialen Hierarchien zu auch abhängig von der finanziellen Lage der Familie. reproduzieren drohen (Gaskell 1995). Dieses System In diesem Zusammenhang werden auch Kinder aus wurde in der Folge durch ein neues Modell von «cur- den First Nations und Inuit Gemeinschaften benach- ricula streaming» ersetzt, das die Jugendlichen lang- teiligt (vgl. Alberta Teachers’ Association 2001). samer in die verschiedenen Leistungstypen über- Analysen zum Zusammenhang mit Schulleistungen führt. In diesem Modell unterstützen ab dem siebten werden jedoch in diesem Strategiepapier nicht Schuljahr vor allem jährliche Bildungspläne die Ent- gemacht; es ist jedoch zu vermuten, dass Armut wicklung der Jugendlichen und führen dadurch zu sowohl bei Migranten als auch bei der einheimischen einer vermehrten Individualisierung; diese wird ab Bevölkerung zu Problemen in der gesellschaftlichen dem 9. Schuljahr formalisiert und führt zu einer Partizipation führt. Zuteilung in verschiedene Kurse nach Leistungsniveaus. So sollen die bis vor kurzem hohen Drop-out Raten verringert werden, die sich daraus ergaben, 2.6 Kanada – Québec dass die obligatorische Schulpflicht für schwache Schüler endete, bevor sie alle Kurseinheiten absol- Die Kombination von Dezentralisierung (Eigenstän- viert und dadurch ihren Abschluss (secondary school digkeit der «commissions scolaires»), Autonomie der diploma) erworben hatten (Kitagawa 1998). Schulen, Regulierung durch das Ministerium und Bereitstellung von pädagogischen Ressourcen für die 2.5.4 Armut als Risikofaktor für Bildungserfolg Unterrichtenden und die Schulen scheint zu einem In Kanada lebt jedes sechste Kind in Armut. Die grossen Teil das hohe Leistungsniveau des Bildungs- betroffenen Kinder sind zahlreichen Risiken ausge- systems von Québec und den geringeren Einfluss der setzt und bezüglich Gleichbehandlung und Chancen- sozialen und kulturellen Differenzierung auf die ver- gleichheit auch in der Schule bedroht (vgl. Beiser, zeichneten Resultate zu erklären. Hou, Kaspar & Noh 2000). Im Jahr 1995 waren die 15- bis 24-Jährigen am stärksten von Armut betrof- 2.6.1 Eine Provinz, die sich durch hohe fen; vor allem in den Städten. Dort leben auch Kin- Bildungsausgaben und durch gute Resultate der im Vergleich zu anderen Altersgruppen überpro- in der PISA-Studie auszeichnet portional häufig in Armut (Lee 2000). Möglicher- Québec, eine der Provinzen Kanadas, umfasst rund 7 weise ist der relativ hohe Einfluss der sozialen Her- Millionen Einwohner (7’125’580 gemäss den Zahlen kunft auf die Leseleistung in Neufundland82 damit zu der Volkszählung 2001); dies ist etwas weniger als 82 Der Unterschied zwischen den ISEI Quartilen beträgt für Neufundland 85 (Kanada 67, Schweiz 115) BFS/EDK 2003 SOZIALE INTEGRATION UND LEISTUNGSFÖRDERUNG SEITE 57 bdv_Inhalt 14.05.2003 9:40 Uhr Seite 58 LÄNDERBERICHTE ein Viertel der Gesamtbevölkerung von Kanada. Sein Abweichung zwischen den Resultaten der Schülerin- weites Territorium erstreckt sich über 1‘542‘056 km2 nen und Schüler, die am unteren Ende der sozialen (dies entspricht 15% der Gesamtfläche des Landes), Leiter stehen (25% der Schüler, deren Familien und die Bevölkerung konzentriert sich im Süden, ent- gemäss dem ISEI-Index eine sehr tiefe soziale Stel- lang des Sankt-Lorenz-Stroms. In der Region um die lung haben) und jener Schüler, die auf der sozialen Metropole Montréal ist beinahe die Hälfte der Leiter oben stehen (ein Viertel der Schüler, deren Gesamtbevölkerung der Provinz ansässig. Die Eltern den höchsten sozioökonomischen Status Arbeitslosenquote in Québec beträgt 8.6% und liegt haben) beträgt 60. Bei der mathematischen Kompe- damit über dem Landesdurchschnitt. tenz liegt die Abweichung bei 56 und steigt bei der Gemessen am BIP tätigt Québec Bildungsausga- naturwissenschaftlichen Kompetenz auf 61 an. Bei ben über dem Durchschnitt aller anderen Provinzen der Lesekompetenz ist darauf hinzuweisen, dass die zusammen (7.6 im Vergleich zu 7.0-Zahlen von Abweichung eine der geringsten der kanadischen 97/98 – «Indicateurs de l’éducation», 1998). Von Provinzen ist und dass sie sich sehr stark von den in den sieben grossen Industrienationen (Deutschland, Frankreich (84), in Deutschland (116) und in der Frankreich, Italien, Vereinigtes Königreich, Japan, Schweiz (117) gemessenen Werten unterscheidet. USA, Kanada) leistet Kanada die höchsten öffent- Die durchschnittliche Leseleistung der Schüler von lichen Bildungsausgaben. Québec, die am unteren Ende der sozialen Leiter ste- Die Resultate von Québec zeigen ein Leistungs- hen (erstes Quartil), ist mit einem Wert von 508 die niveau auf, das sehr deutlich über jenem der anderen höchste von allen Ländern (ausgenommen Finnland Länder liegt und das eine schwache Streuung zwi- und Korea) und liegt leicht über dem Durchschnitts- schen den besten und den schlechtesten Resultaten wert von Kanada als Ganzes. Am anderen Ende der zeigt. Der Leistungsdurchschnitt der Schülerinnen Skala, d.h. beim Leistungsniveau der Schüler mit und Schüler von Québec liegt auf der kombinierten gehobenem sozialem Status, findet sich Québec – Skala für Lesekompetenz über dem Durchschnitt der trotz seines hohen Wertes (D=567) – in zahlreicherer OECD-Länder (Durchschnitt D=536), aber leicht Gesellschaft wieder. unter dem Durchschnittswert von Kanada (D=534), Zieht man ausserdem nicht die Resultate der das nach Finnland das beste Resultat aufweist). Bei Schüler in Betracht, sondern jene der Schulen in der mathematischen Kompetenz ist der Leistungs- Funktion der sozialen Zusammensetzung ihrer Schü- durchschnitt der Schüler von Québec wiederum sehr lerpopulation, ist ein schwacher Zusammenhang hoch (D=550). Er liegt deutlich über dem Gesamt- zwischen dieser Dimension und der Durchschnitts- durchschnitt von Kanada (D=533) und belegt direkt leistung der Schule festzustellen. Diese liegt auf hinter Japan (D=557) den zweiten Rang. Bei der einem ähnlichen Niveau wie die Durchschnittsleis- naturwissenschaftlichen Kompetenz (D=541) ist das tung von Kanada als Ganzes. Leistungsniveau ebenfalls sehr hoch und liegt über Die Verminderung der sozialen Ungleichheiten dem Gesamtdurchschnitt von Kanada (D=529). Der scheint demnach hauptsächlich auf die guten Durch- «Ungleichheitsindex» (Verhältnis zwischen den schnittsresultate der Schüler mit einem tieferen sozi- besten 10% und den schlechtesten 10% der Leis- alen Status zurückzuführen zu sein, und das hohe tungen) liegt bei 1.57 in Lesekompetenz, bei 1.47 in Erfolgsniveau der gesamten Provinz Québec kommt mathematischer Kompetenz und bei 1.56 in natur- nicht auf Kosten bestimmter sozialer Gruppen oder wissenschaftlicher Kompetenz. In Lesen und Mathe- bestimmter Schulen zu Stande. matik gehört Québec (zusammen mit Sakatchewan Das hohe Leistungsniveau des gesamten Québec bei der Lesekompetenz) resultatmässig zu den drei sowie der – im Vergleich zu anderen Ländern – homogensten Ländern. beschränkte Einfluss der sozialen Herkunft der Schüler auf ihre Resultate sind gleichzeitig auf die ver- 2.6.2 Ein Bildungssystem, das auf sozialer Ebene gleichsweise grosse soziale Homogenität der Bevöl- wenige Unterschiede macht kerung von Québec und auf ein Bildungssystem In Bezug auf den Zusammenhang zwischen sozialer zurückzuführen, das die Selektion bis nach der obli- Herkunft und Leistungsniveau scheint das Bildungs- gatorischen Schulzeit aufschiebt und von grossen system von Québec weniger ungleichheitsfördernd Investitionen seitens des Staates profitiert. Diese als dasjenige anderer PISA-Teilnehmerländer. Der Situation lässt sich aber auch noch anders erklären, SEITE 58 BFS/EDK 2003 SOZIALE INTEGRATION UND LEISTUNGSFÖRDERUNG bdv_Inhalt 14.05.2003 9:40 Uhr Seite 59 LÄNDERBERICHTE namentlich durch die Ausbildung der Lehrkräfte und Das Bildungssystem von Québec erscheint so als die zur Förderung von Forschung und Entwicklung eines der leistungsstärksten von allen an der Studie im Bereich der Pädagogik eingesetzten Mittel. teilnehmenden Ländern und als eines der ausgeglichensten, auch wenn eine leichte Wechselbeziehung 2.6.3 Eine aktive Politik zur sozialen und zwischen gesprochener Sprache und Leistungsniveau schulischen Integration zu bestehen scheint. Diese Situation lässt sich durch Gemäss der Volkszählung 2001 beträgt der Migran- eine vergleichsweise starke soziale Homogenität der tenanteil in der Bevölkerung von Québec 9.4%, und immigrierten Bevölkerung erklären (auf Grund der 10% der Einwohner der Provinz haben eine andere eingeführten Immigrationspolitik), aber sie dürfte Muttersprache als Französisch (welches die Mutter- ihre Gründe auch in den von Québec ergriffenen sprache von 81% der Bevölkerung ist) und Englisch. Massnahmen zur Aufnahme und Integration der Bei der Schülerpopulation im Schulalter beträgt der Migrantenpopulationen haben. Migrantenanteil in Québec 22%. Die Migrationsbe- Das Bildungssystem von Québec zeichnet sich völkerung konzentriert sich in der Region um Mon- einerseits durch eine aktive Förderung des Franzö- tréal, wo 17% der Schüler und Schülerinnen ausser- sischunterrichts zur Erleichterung von Schulbetrieb halb von Kanada geboren sind (im Vergleich zu 5.2% und Kommunikation aus und andererseits durch eine in den anderen Regionen in Québec). 1998 eingeführte ehrgeizige «Politik zur schulischen Als Resultat einer selektiven Immigrationspolitik, Integration und zur interkulturellen Bildung» («poli- die auf der Grundlage von bestimmten Kriterien (Bil- tique d’intégration scolaire et d’éducation intercultu- dungsniveau usw.83) realisiert wird, stimmt das relle»). sozioökonomische Profil der Migrationsbevölkerung Die Förderung des Französischen wurde Ende der in den grossen Linien mit jenem der autochthonen 70er Jahre als Antwort darauf eingeführt, dass die Bevölkerung überein. Das Prinzip, nach 3 Aufent- Mehrheit der Migranten von Québec ihre Kinder in haltsjahren die Staatsbürgerschaft zu gewähren, anglophonen Schulen unterbrachten. Das Parlament trägt zudem zur Integration der frisch Eingewander- von Québec hat 1977 das so genannte Gesetz 101 ten in der Bevölkerung bei. verabschiedet, welches das Französische als einzige Die Resultate der PISA-Studie zeigen einen leich- Unterrichtssprache definiert und die Migranten somit ten Einfluss der von den Schülern zu Hause gespro- dazu verpflichtet, ihre Kinder in französische Schulen chenen Sprache auf das Leistungsniveau. Dies geht zu schicken. Dieses Gesetz zielte darauf ab, die lin- aus einer multiplen Regressionsanalyse hervor, die für guistische Minderheit von Québec vor einer zuneh- die Provinzen von Kanada und für verschiedene Län- menden Anglisierung der Provinz durch die Migran- der durchgeführt wurde. Ziel war dabei die Bestim- ten zu schützen. Das Gesetz sieht sowohl für mung jener familiären und sozialen Faktoren, die am Erwachsene als auch für Kinder die Bereitstellung meisten Einfluss auf die Resultate haben (nationaler verschiedener Programme zum Erlernen und Verbes- PISA-Bericht). Unter Einbezug der anderen genann- sern der französischen Sprache vor. ten Faktoren ist die zu Hause gesprochene Sprache Auf schulischer Ebene wurden verschiedene Vor- negativ mit der Lesekompetenz und der mathemati- kehrungen zur Unterstützung der Einschulung von schen Kompetenz korreliert. Von den kanadischen Migrantenkindern getroffen. Erwähnenswert ist die Provinzen wurde jedoch einzig in Québec und in ehrgeizige Öffnungspolitik gegenüber der ethnisch- zwei andere Provinzen (Manitoba und British Colum- kulturellen Vielfalt, welche ab 1978 zur Schaffung bia) eine negative Auswirkung auf die Lesekompe- von Sprachkursen der Herkunftssprache und ab tenz festgestellt. Im Vergleich mit den anderen Län- 1998 zur Einführung der oben genannten «Politik dern haben Deutschland, Schweden und die Schweiz zur schulischen Integration» geführt hat. Diese sieht schwächere Resultate für im Ausland geborene vor, dass die gesamte Lehranstalt (Unterrichtende, Schüler erzielt als jene von Québec. Frankreich und Betreuungspersonal, Direktion usw.) für Integra- Belgien haben keinen solchen Einfluss beobachtet tionsaufgaben, für Sprachstützmassnahmen, für die (ihr durchschnittliches Leistungsniveau liegt jedoch Pflege des Verhältnisses zwischen Migrantenschülern deutlich tiefer als jenes von Québec). und autochthonen Schülern sowie für die Respektie- 83 Die Hälfte der frisch Eingewanderten wird auf Basis dieser Kriterien akzeptiert. BFS/EDK 2003 SOZIALE INTEGRATION UND LEISTUNGSFÖRDERUNG SEITE 59 bdv_Inhalt 14.05.2003 9:40 Uhr Seite 60 LÄNDERBERICHTE rung der Muttersprache und der Ursprungskultur der Baumert, J., Artelt, C., Klieme, E., Neubrand, M., Migrantenschüler verantwortlich ist. Prenzel M., Schieferle, U., Schneider, W., Schümer, G., Stanat, P., Tillmann, K.-J., Weiss, M. (Hrsg.) 2.6.4 Auswirkungen der Kombination (2002b): PISA 2000 – Die Länder der Bundesrepublik zwischen Autonomie der Schulen und Deutschland im Vergleich. Zusammenfassung zen- Direktiven des Erziehungsministeriums traler Befunde. Berlin: Max-Planck-Institut für Bil- Das Bildungssystem von Québec ist stark dezentrali- dungsforschung. siert: Im öffentlichen Netz (welches die grosse Mehr- Beiser, M., Hou F., Kaspar, V., Noh, S. (2000): Chan- heit der Schülerinnen und Schüler aufnimmt) sind die ges in Poverty Status and Development Behaviours: Schulkommissionen (insgesamt 72) für die Verwal- A comparison of Immigrant and Non-Immigrant tung des Schulsystems verantwortlich. Den Schulen Children in Canada. Québec: Human Resources wird ziemlich grosse Autonomie gewährt, welche Development Canada. erst kürzlich durch die Gewährung von neuen Ver- Bussière, P., Catwright, F., Croker, R., Xin, M., Oder- antwortlichkeiten im pädagogischen, budgetären kirk, J. & Zhang, Y. (2001): Measuring up : the per- und administrativen Bereich sogar noch verstärkt formance of Canada’s youth in reading, mathematics wurde. Das Bildungssystem jedoch bleibt stark regu- and science. Ottawa: Statistics Canada. liert: Das Erziehungsministerium definiert die Leitli- Campaign 2000 (Ed.): Poverty amidst Prosperity. nien der Bildungspolitik, treibt die grossen Refor- Building a Canada for All Children. 2002 Report Card men on Child Poverty. 84 voran und übernimmt eine Kontrollfunktion (die Schulen müssen dem Ministerium darüber Council of Ministers of Education, Canada (2001): Bericht erstatten, inwiefern die zentral festgelegten The Development of Education in Canada. Internet- Ziele realisiert werden). Publikation unter http://www.cmec.ca/internatio- Wichtige Mittel (in Form von pädagogischen nal/unesco/ice46dev-ca.en.pdf. Ressourcen, Leitfäden für die Unterrichtenden, Degavre, F. & Martou, F. (1997): Efficacité de l’en- manchmal jedoch auch in Form von finanzieller seignement en Communauté française de Belgique. Unterstützung) werden den Schulen zur Verfügung Delvaux, B. (1998): L’échec scolaire en Belgique. gestellt, damit sie die durch das Ministerium European Journal of Teacher Education, 21 (2/3), beschlossenen Neuerungen durchführen können 161–198. (beispielsweise die Kampagne «Agir autrement pour Deutsche Regierung (2000): Sechster Familienbericht. la réussite des élèves du secondaire en milieu favo- Familien ausländischer Herkunft in Deutschland. Leis- risé», welche vom Ministerium kürzlich lanciert tungen – Belastungen – Herausforderungen und Stel- wurde). lungnahme der Bundesregierung. Deutscher Bundestag 14. Wahlperiode. Drucksache 14/4357. Deutsches PISA-Konsortium (Hrsg.) (2001): PISA 2.7 Literatur 2000. Basiskompetenzen von Schülerinnen und Schülern im internationalen Vergleich. Opladen: Alberta Learning (2000): Shaping the Future for Stu- Leske&Budrich. dents with Special Needs. A review of Special Educa- Duru-Bellat, M., Kiefer, A. (2000): Inequalities in tion in Alberta. Final Report, November 2000. educational opportunities in France: educational Alberta Learning (2002): Immigration to Alberta. A expansion, democratization of shifting barriers? Decade in Review. 1990–1999. Edmonton: Alberta Journal of education policy, 15 (3), 333–352. Learning. Duru-Bellat, M. (2000): Social inequalities in the Baumert, J., Artelt, C., Klieme, E., Neubrand, M., french education system: the joint effect of individual Prenzel M., Schieferle, U., Schneider, W., Tillmann, and contextual factors. Journal of education policy, K.-J., Weiss, M. (Hrsg.) (2002a): PISA 2000 – Die 15 (1), 33– 40. Länder der Bundesrepublik Deutschland im Ver- Dyotte, S. (2002): Intégration des jeunes immigrants gleich. Opladen: Leske+Budrich. et immigrantes à l’école québécoise: défis et enjeux 84 Unter den grossen Reformen, die das Ministerium in Angriff genommen hat, ist insbesondere die Revision der Lehrpläne (Einführung der neuen Pläne auf der Primarstufe ab 1998) zu nennen. SEITE 60 BFS/EDK 2003 SOZIALE INTEGRATION UND LEISTUNGSFÖRDERUNG bdv_Inhalt 14.05.2003 9:40 Uhr Seite 61 LÄNDERBERICHTE éducatifs. Ministère de l’éducation du Québec, Ren- Lafontaine, D. Baye, A., Matoul, A., Demeuse, M. & contre de travail bilatérale Québec-Flandre. Onty, I. (2001): PISA. Rapport final sur la campagne Eurydice (2002): Les chiffres clés de l’éducation en 2000 (1er cycle) en Communauté française de Belgi- Europe. Bruxelles: Commission européenne. que. Liège: Université de Liège, Faculté de psycholo- Gaskell, J. (1995): Secondary Schools in Canada: gie et des sciences de l’éducation. The National Report of the Exemplary Schools Pro- Lee, K.K. (2000): Urban Poverty in Canada. A statis- ject – Summary. Toronto: Canadian Education Asso- tical profile. Ottawa: Canadian Council on Social ciation. Development. Havén, H. (1999): Education in Finland. Statistics Mc Andrew, M. (2002): Immigration, pluralisme et and Indicators. Helsinki: Statistics Finland. éducation. In A.-G. Gagnon (dir). Québec : Etat et Hébrard, J. (2002): La mixité sociale à l’école et au société (2e édition). Montréal: Québec / Amérique. collège. Paris, Ministère de l’éducation nationale. Mingat, A. (1992): Perspective nouvelle pour la Jahnukainen, M. (2001): Two models for preventing compréhension du fonctionnement de l'école et la students with special needs from dropping out of prise de décision. Dijon, Université de Bourgogne – education in Finland. European Journal of Special IREDU. Needs Education, 16 (3), 245–258. Ministère de l’Education (1998): Indicateurs de l’é- Järvinen, T., Vanttaja, M. (2001): Young people, Edu- ducation. Québec: Direction générale des services à cation and Work: Trends and Changes in Finland in la gestion. the 1990s. Journal of Youth Studies, 4(2), 195–207. Ministère de l’éducation nationale (1997): Géogra- Kitagawa, K. (1998): Ontario’s Secondary School phie de l’école. Paris: Direction de l’évaluation et de and Apprenticeship reforms. Enhancing the public la prospective. education system. Toronto, Ontario: The Conference Ministère de l’éducation nationale (2000): L’état de Board on Canada, Case Study 10. l’école. Paris: Direction de la programmation et du Kultusministerkonferenz (1997): Empfehlungen développement. zum Schulanfang. Sekretariat der Ständigen Konfe- Ministère de l’éducation nationale (2001): Les élè- renz der Kultusminister der Länder in der Bundesre- ves de 15 ans. Premiers résultats d’une évaluation publik Deutschland. Beschluss der Kultusminister- internationale des acquises des élèves (PISA). Notes konferenz vom 24.10.1997. d’information, 1, 52, décembre. Kultusministerkonferenz (2000): Übergang von der Ministère de l’éducation nationale (2002): L’état de Grundschule in die Schulen des Sekundarbereichs I. l’école. Paris: Direction de la programmation et du Informationsunterlage des Sekretariats der Kulturs- développement. ministerkonferenz. Bonn: Sekretariat der Ständigen Ministerie van de Vlaamse Gemeenschap, Departe- Konferenz der Kultusminister der Länder in der ment Onderwijs & Universiteit Gent (2002): Wreld- Bundesrepublik Deutschland. wijd leren op 15. De eerste resultaten van PISA Kultusministerkonferenz (Hrsg.) (2002a): Schule in 2000. Gent: Universiteit Gent, Vakgroep Onderwijs- Deutschland. Zahlen, Fakten, Analysen. Analyse- kunde. band zur Dokumentation Schüler, Klassen, Lehrer Ministry of Labor (2002). Finland. OECD Sopemi. und Absolventen der Schulen. Bonn: Sekretariat der Trends in International Migration. 2001 Edition. Hel- Ständigen Konferenz der Kultusminister der Länder sinki: Ministry of Labor. in der Bundesrepublik Deutschland. OCDE (2001): Connaissances et compétences : des Kultusministerkonferenz (Hrsg.) (2002b): Das Bil- atouts pour la vie. Premiers résultats de PISA 2000. dungswesen in der Bundesrepublik Deutschland. Bruxelles: OCDE. Darstellung der Kompetenzen, Strukturen und der OCDE (2002). Analyse des politiques éducatives. bildungspolitischen Entwicklung für den Informa- Paris: OCDE. tionsaustausch mit Europa. Bonn: Sekretariat der OECD (2000): Special Needs Education. Statistics Ständigen Konferenz der Kultusminister der Länder and Indicators. Paris: OECD. in der Bundesrepublik Deutschland. OECD (2001): Lernen für das Leben. Erste Ergeb- Lafontaine, D. (2002). Au-delà des performances nisse von PISA 2000. Paris: OECD. des jeunes de 15 ans. Un système éducatif se profile. Osborn, M., Broadfoot, P., Planel, C. & Pollard, A. Le Point sur la recherche en éducation, 24. (1997): Social class, educational opportunity and BFS/EDK 2003 SOZIALE INTEGRATION UND LEISTUNGSFÖRDERUNG SEITE 61 bdv_Inhalt 14.05.2003 9:40 Uhr Seite 62 LÄNDERBERICHTE equal entiltlement : dilemmas of schooling in England Välijärvi, J., Linnakylä, P., Kupair, P., Reinikainen, P., and France. Comparative Education, 33 (3), 375– Arffman, I. (2000). The Finnish Success in PISA – and 393. some reasons behind it. Institute for Educational Statistics Canada (1999): Education Indicators in Research, University of Jyväskylä. Canada. Ottawa: Statistics Canada. UNESCO (1997). International Standard Classifica- Statistics Canada & Council of Ministers of Educa- tion of Education (ISCED). Paris: UNESCO. tion (2002): Understanding the rural – urban reading Vandenberghe, V. (1996). Functioning and regula- gap. Ottawa: Minister of Industry. tion of educational quasi-markets. Louvain-La- Statistics Canada (2002) 2001 Census: analysis Neuve: Université Catholique, IRES HYPERLINK. series. Profile of languages in Canada: English, French and many others. Ottawa: Statistics Canada. 2.8 Informationen zu den Ländern auf dem Internet Allgemein: Eurostat (europa.eu.int/comm/eurostat/) Eurydice (www.eurydice.org) International Indicators of Education Systems (nces.ed.gov/surveys/international/ines/) PISA Homepage (www.pisa.oecd.org) Belgien: Ministère de la Communauté française de Belgique (www.cfwb.be) Institut national de statistique (www.statbel.fgov.be) Agers (administration générale de l’enseignement et de la recherche scientifique) (www.agers.cfwb.be) Ministère de l’éducation de la Communauté flamande de Belgique (www.ond.vlaanderen.be) Finnland: Trends in international Migration 2001 Edition for Finland (www.mol.fi/migration/finrep2001.pdf) Ministry of Education (www.minedu.fi/minedu/index.html) Statistics Finland (www.stat.fi/index_en.html) Frankreich: Ministère de l’éducation nationale français (www.education.gouv.fr) Base de données du Ministère de l’éducation (www.men.fr) Deutschland: Bildungswesen in der Bundesrepublik Deutschland (www.kmk.org/dossier/dossierinhalt.htm) Grund- und Strukturdaten (www.bmbf.de/pub/GuS2001_ges_dt.pdf) Kultusministerkonferenz (www.kmk.org/index1.shtml) PISA 2000 Ergebnisse (www.mpib-berlin.mpg.de/pisa/PISA_E_Zusammenfassung2.pdf) Kultusministerkonferenz (Statistische Analysen) www.kmk.org/statist/analyseband.pdf Kanada: Alberta Learning (www.learning.gov.ab.ca/) Alberta Teachers’ Association (www.teachers.ab.ca/) Campaign 2000 (www.campaign2000.ca/) Council of Ministers of Education Canada/Conseil des ministres de l’éducation du Canada (www.cmec.ca/) Ministère de l’éducation du Québec (www.meq.gouv.qc.ca) Statistics Canada (www.statcan.ca) SEITE 62 BFS/EDK 2003 SOZIALE INTEGRATION UND LEISTUNGSFÖRDERUNG bdv_Inhalt 14.05.2003 9:40 Uhr Seite 63 3 Schlussfolgerungen 3.1 Hoher Anteil an Migranten/innen entscheidend in der Schweiz wie auch Deutschland als Zielländer der europäischen Arbeitsmigration gelten können. Letzteres behindert den Integrationserfolg, weil sowohl das Ziel- Der Anteil von Kindern und Jugendlichen mit Migra- land als auch die Migranten/innen häufig fälschli- tionshintergrund ist in der Schweiz grösser als in allen cherweise davon ausgehen, dass es sich nur um eine hier untersuchten Ländern. Aufgrund der Analysen temporäre Migration handelt. Selbstverständnis und kann geschlossen werden, dass allein diese Tatsache sozialer Hintergrund der eingewanderten Bevölke- die Chancengleichheit für die betroffenen Kinder rung in Kanada und der Schweiz sind somit verschie- und Jugendlichen gefährdet, wenn keine besonderen den. Die Schulen sehen sich einer grundsätzlich Anstrengungen unternommen werden. Um dieses anderen ausländischen Schülerpopulation gegen- Resultat richtig interpretieren zu können, müssen über. Zudem sind die kanadischen Schulen auf die allerdings die Umstände, unter denen ein hoher Förderung und Integration der betroffenen Kinder Anteil von Migranten/innen die soziale Differenzie- und Jugendlichen besser vorbereitet. rung eines Bildungssystems verstärkt, näher beleuch- Die nordischen Länder und vor allem Finnland tet werden. Der Vergleich der Immigrations- und sind nicht in gleichem Masse von der europäischen Integrationspolitik der verschiedenen Länder kann Arbeitsmigration betroffen wie die zentral- und darüber Aufschluss geben. westeuropäischen Länder. Auch heute noch ist Finn- Der französischen Teil Belgiens mit seinem über land kulturell und sprachlich sehr homogen und dem OECD-Durchschnitt liegenden Anteil an fremd- weist einen Ausländeranteil auf, welcher in der sprachigen Schülerinnen und Schüler zeigt eine sehr Schweiz bereits in den 50er Jahren um ein Dreifaches hohe Selektivität bezüglich der Nationalität. Von übertroffen wurde. Für viele, mit der Migration ver- erhöhtem Risiko, sehr schlechte Leistungen zu bundene Fragestellungen kann ein Vergleich mit erbringen, sind alle ausländischen Schülerinnen und Finnland somit keine Antworten liefern. Schüler betroffen, unabhängig davon, ob sie in Bel- Gegenwärtig zeichnet sich in Deutschland hin- gien geboren wurden oder nicht. Dieser Umstand sichtlich der Ausländerpolitik eine Wende ab. Es zeigt die schwerwiegenden Probleme der sozialen wird vermehrt versucht, «Zuwanderung zu gestalten Integration in der französischen Gemeinschaft Bel- und Integration zu fördern» (Kommission Zuwande- giens auf, die zu einer verschärften schulischen und rung 2001, 11). Die dort geforderten Massnahmen sozialen Segregation führen. im schulischen Bereich sind sicher auch für die Kanadische Schulen in grossen Städten verfügen Schweiz zu prüfen (ebd. 217); jedoch verfügt über einen annähernd gleich hohen Anteil an Deutschland noch über keine entsprechenden Erfah- Migranten/innen wie die Schweizer Schulen. Ihre rungen. Situation unterscheidet sich jedoch einerseits Obwohl Frankreich ausser speziellen Empfangs- dadurch, dass Kanada durch seine aktiv verfolgte klassen für neu immigrierte Schülerinnen und Schü- Migrationspolitik vor allem gut qualifizierte und ler keine besonderen schulischen Massnahmen für bereits des Englischen oder Französischen mächtige Migranten kennt, scheint die Politik der ZEP (zones Ausländer einwandern lässt und andererseits eine d’éducation prioritaire) eine gewisse Wirkung zum klare Integrationspolitik bei Wertschätzung der Her- Ausgleich der Benachteiligung in Schulen mit hohen kunftssprache und -kultur verfolgt (vgl. Québec). In Anteilen ausländischer Kinder und Jugendlichen zu Kanada immigrieren Personen, die sich im Zielland haben. Es scheint, dass in Frankreich auch junge dauerhaft niederlassen wollen, während die Schweiz Migranten und Migrantinnen von den Massnahmen BFS/EDK 2003 SOZIALE INTEGRATION UND LEISTUNGSFÖRDERUNG SEITE 63 bdv_Inhalt 14.05.2003 9:40 Uhr Seite 64 SCHLUSSFOLGERUNGEN zur Sicherung der Chancengleichheit, insbesondere in ihrem Sinne zu beeinflussen. Jugendliche aus so- im Vorschulbereich profitieren können. zial tiefer gestellten Familien werden deshalb bei der Für das schweizerische Schulsystem stellt die hohe Konzentration von Arbeitsmigranten/innen somit Selektion tendenziell eher in tiefere Schultypen und in Schulen mit unvorteilhaftem Umfeld eingeteilt. eine besondere Herausforderung in Bezug auf die Die Schweiz sieht sich also einem verschärften Integration und Leistungsförderung der Kinder aus Selektivitätsproblem gegenüber. Die Forschung zeigt: den betroffenen Familien dar. Ab einem bestimmten wenn man es vermeiden kann, dass mehrere Nach- Anteil an Migranten/innen kann sich die Integration teile kumuliert auf bestimmte Schüler/innen zutreffen, speziell von fremdsprachigen Kindern nicht ein- dann sind die einzelnen Nachteile besser verkraftbar. fach über die Nachbarschaft oder die Mitschüler voll- Auch Deutschland ist von diesen Problemen mit ziehen, sondern erfordert spezifische Massnahmen. Mehrfachbenachteiligungen betroffen. In Deutsch- Es zeigt sich, dass in Schulen mit Anteilen von land zeigt sich der Kumulationseffekt etwa darin, über 40% fremdsprachiger Schüler auch bei Schwei- dass insbesondere bei den tieferen Schultypen der zer Kindern eine Leistungsminderung festzustellen Sekundarstufe I ein höherer Ausländeranteil einen ist. Der Kippeffekt in stark belasteten Schulen lässt signifikant negativen Einfluss auf die Leistungen hat. sich immer wieder feststellen, allerdings liegen die In Kanada treten die oben genannten Benachtei- Ursachen hierzu noch weitgehend im Dunkeln (vgl. ligungen seltener kumuliert auf: Kinder mit Migra- 1.4.3). tionshintergrund sprechen oft bereits Englisch oder Französisch und kommen häufiger als in Deutsch- 3.2 Kinder und Jugendliche in der Schweiz land oder in der Schweiz aus Familien mit hohem betroffen durch mehrfache Benachteiligungen Sozialstatus. Zahlreiche Migranten/innen leben Die Gruppe von Jugendlichen, die unter sogenann- bereits seit vielen Jahren in Kanada und die Tatsache, ten Mehrfachbenachteiligungen leiden, ist in der dass sie ihre Kultur und Sprache weiterhin pflegen, Schweiz grösser als in den Vergleichsländern, welche ist keineswegs Ausdruck der fehlenden Integration in bezüglich der sozialen Selektivität besser abgeschnit- einer multikulturellen Gesellschaft. Ein Risikofaktor ten haben. Mehrfach benachteiligt sind zum Beispiel im Hinblick auf Schulerfolg und Chancengleichheit Jugendliche, welche die Unterrichtssprache nicht scheint in Kanada jedoch die Armut zu sein. Gerade beherrschen, aus einer sozial tiefgestellten Familie alleinerziehende Elternteile haben oft zwar eine gute stammen, welche zu wenig finanzielle und zeitliche Ausbildung, müssen aber dennoch in Armut leben. Ressourcen für das Kind aufbringen kann, sowie in Ebenfalls von Armut betroffen sind die in den länd- einem unvorteilhaften Umfeld der Schule zur Schule lichen Gebieten lebenden Ureinwohner Kanadas. gehen. Die besonders hohe Konzentration solcher Immigrierte Familien sind hingegen nicht schwerge- Jugendlichen in der Schweiz hat verschiedene Ursa- wichtig von diesem Problem betroffen, was die Zahl chen. Sozial tiefergestellte Eltern sind in der Schweiz der Kinder mit Mehrfachbenachteiligungen senkt. oft zusätzlich «bildungsferner», als dies in anderen In Frankreich zeigt sich die Wirkung einer Politik Ländern der Fall ist. Dazu kommt, dass Schüler/ zur Verhinderung sozialer Benachteiligung, die nicht innen mit unvorteilhaften Startbedingungen häufig nur mit zusätzlichen Ressourcen beim einzelnen Kind in den Schulen gruppiert sind. Dafür mitverantwort- ansetzt, sondern flächendeckend bessere Vorausset- lich ist auch das hierarchisch gegliederte Schul- zungen für die Chancengleichheit zu schaffen ver- system mit einer frühen Erstselektion. Bei diesem sucht (ZEP). Gleichzeitig wird auch deutlich, dass die Übertritt spielen die Eltern (und die Lehrpersonen) ausschliessliche Berücksichtigung der sozialen Di- eine grosse Rolle. Diese Regelung wird von den mension von Schulproblemen (Verhinderung von Betroffenen grundsätzlich als positiv erlebt, hat aber Gewalt, Sicherstellen des Unterrichtsbesuchs, Teil- ihre Tücken. Das Kind soll zwar aufgrund einer nahme am Schulleben) für die Leistungsförderung Gesamtbeurteilung – also explizit nicht nur auf- nicht genügen kann. grund der Leistungen – in den richtigen Typus der Oberstufe überführt werden, aber für bildungsnahe 3.3 Späte Einschulung und frühe Selektion und sozial besser gestellte Eltern ist es jedoch begünstigt soziale Differenzierung im Alter besonders in solch komplexen Bildungssystemen von 15 Jahren einfacher, die für ihr Kind wichtigen Entscheidungen Die empirischen Ländervergleiche haben gezeigt, SEITE 64 BFS/EDK 2003 SOZIALE INTEGRATION UND LEISTUNGSFÖRDERUNG bdv_Inhalt 14.05.2003 9:40 Uhr Seite 65 SCHLUSSFOLGERUNGEN dass eine frühe erste Selektion die Selektivität von Die frühe Selektion scheint somit einer der wich- Bildungssystemen begünstigt. Eine späte Selektion in tigsten Faktoren für die soziale hohe Differenzierung verschiedene Ausbildungs- und Schultypen scheint der Schulleistungen in der Schweiz, in Belgien und in eine geringere soziale Abhängigkeit der Leistungen Deutschland zu sein. In der Schweiz zeigt sich (im Alter von 15 Jahren) zur Folge zu haben. Dies zudem, dass sich die sozialen Ungleichheiten bei der hängt möglicherweise damit zusammen, dass schwä- Wahl der Lehrstellen weiter negativ auswirken (Pro- chere und auch sozial benachteiligte Kinder und jekt Tree, vgl. 1.5). Diese Tatsache verdeutlicht die Jugendliche länger vom gemeinsamen Unterricht Konsequenzen der Diskriminierung bei der ersten profitieren können. Mit einer frühen Selektion erhält Selektion nach Abschluss der Primarschule. die Schule weniger Zeit, um die primäre Benachteili- Aus diesen Zusammenhängen, die bei Schüler/ gung der Kinder durch eine lange gemeinsame innen im Alter von 15 Jahren gefunden werden, kann Sozialisierung in der Schule auszugleichen. Ausser- allerdings nicht unmittelbar abgeleitet werden, dass dem wirken auch bei der Übertrittsentscheidung soziale Ungleichheit und Ungerechtigkeit bei der frü- selbst soziale Faktoren mit, die dazu führen, dass hen schulischen Selektion zwangsläufig zu sozialer Schülerinnen und Schüler nicht nur gemäss ihres Benachteiligung oder sozialem Ausschluss führen Leistungspotenzials in verschiedene Schultypen ein- muss oder dass umgekehrt eine späte Selektion in geteilt werden. Die Übertrittsentscheidungen sind jedem Fall als wirksame Prävention gegen diese Pro- in der Schweiz stark beeinflusst durch die Eltern und zesse betrachtet werden kann. In Finnland zum Bei- die Lehrpersonen und dabei werden die Entschei- spiel findet die auch dort sehr stark sozial gefärbte dungen unabhängig von der Leistungsfähigkeit des Selektion erst bei der Aufnahme in die Tertiärausbil- Kindes durch den sozialen Status der Eltern beein- dungen statt. Zudem haben (die sehr wenigen) Kin- flusst. der aus Familien mit Migrationshintergrund ein 3.5 Diese sekundären Ungleichheiten sind sowohl in mal höheres Risiko, vorzeitig die Schule zu verlassen, Deutschland als auch in der Schweiz ausgeprägt zu als dies bei finnischen Kindern der Fall ist (Järvinen & beobachten. Vanttaja 2001). Auch die im Vergleich mit Deutsch- Eine längere gemeinsame Schulzeit könnte nun land und der Schweiz relativ hohen Anteile von aber nicht nur durch eine spätere Selektion, sondern Jugendarbeitslosigkeit sowohl in Finnland als auch in auch durch eine früher einsetzende gemeinsame Kanada und Frankreich könnten als eine spät einset- Betreuung und Schulung sowie durch gemeinsam zende soziale Selektivität betrachtet werden. durchlebte Ganztagesstrukturen erreicht werden. Eine solche Praxis wird, zusammen mit einer späten ersten Selektion und erleichtertem Zugang zu den Lycées, in Frankreich verfolgt (siehe 3.5). Diese 3.4 Wirkung früher Förderung und Unterstützungsmassnahmen Massnahmen scheinen die soziale Selektivität des französischen Schulsystems verringert zu haben. Die Wirkung früher Förderung ist ohne Langzeitstu- In Finnland erfolgt die erste Selektion sehr spät, dien schlecht belegbar. Einige Studien aus Frankreich nämlich nach Abschluss des 9. Schuljahres. Durch scheinen jedoch darauf hinzuweisen, dass eine sol- besondere Kurse auf Sekundarstufe II sollen Leis- che die Chancengleichheit verbessern kann. tungsdefizite soweit wettgemacht werden, dass alle Unterstützungs- und Fördermassnahmen sind nur Jugendlichen grundsätzlich Zugang zu einer Tertiär- in dem Sinne integrativ, wenn sie von allen sozialen ausbildung haben. In der Realität findet dann die Gruppen einer Gesellschaft gleich stark in Anspruch sozial abhängige Selektion aber beim Zutritt an die genommen werden. Dies gilt nicht nur für die ver- Universitäten statt. Da diese nach dem PISA – Testal- schiedenen Angebote auf der Sekundarstufe I, son- ter stattfindet, ist sie aber nicht Gegenstand dieser dern auch für besondere Stütz- und Fördermassnah- Untersuchung. men in der Vorschulzeit. Um nicht wiederum die Kanada, das sich wie Finnland durch einen hohen sozialen Unterschiede zu verstärken, müssten diese Anteil an Schülerinnen und Schülern in Tertiärausbil- Massnahmen obligatorisch sein und dürften nicht dungen auszeichnet, kennt ein ähnliches Kurssystem, durch geographische Segregation oder eine unglei- das die Bildungsentscheide, die teils nach der 6. teils che Mittelzuweisung zu den Institutionen unter- nach der 8. Klasse erfolgen, abfedern soll. miniert werden. Zudem müssten diese Massnahmen BFS/EDK 2003 SOZIALE INTEGRATION UND LEISTUNGSFÖRDERUNG SEITE 65 bdv_Inhalt 14.05.2003 9:40 Uhr Seite 66 SCHLUSSFOLGERUNGEN im vorschulischen Bereich und in den ersten Schul- andere schulische Entscheidungen wie etwa die Ent- jahren den veränderten Arbeitsmarktbedürfnissen scheidung zur Rückstellung bei der Einschulung oder der Frauen entgegenkommen und eine zeitlich län- zur Wiederholung von Klassen. Da auch diese Ent- gere Phase des Tages abdecken, so dass eine scheidungen durch soziale Faktoren mitbestimmt Erwerbstätigkeit möglich wird. sind, ist die Gefahr gross, dass nicht allein das objek- Die vor allem in der Schweiz und in Deutschland tive Leistungspotential ausschlaggebend ist, sondern angebotenen separativen Unterstützungsmassnah- sowohl die Einschätzung der Lehrperson, als auch die men sowohl im Vorschulbereich (z.B. Sprachheilkin- Erwartungen der Eltern und der allgemeine Leis- dergärten) als auch während der Schulzeit (Sonder- tungsstand der Klasse. klassen, Stütz- und Fördermassnahmen) werden in Schulsysteme wie diejenigen von Finnland oder dem Masse von Kindern als sozial und sprachlich Frankreich, die relativ spät selektionieren, kennen benachteiligten Familien in Anspruch genommen, in auch keine Verzögerungen der Schullaufbahn durch dem sie von sozial besser gestellten Familien gemie- späte Einschulung oder Klassenwiederholung. In der den werden. Diese Entwicklung zeigt sich vor allem Schweiz und in Deutschland wird diese Praxis aber in den Schweizer Sonderklassen und wird sich ver- durchaus angewendet. In diesem Zusammenhang mutlich mit zunehmender Integration schwerer sind die leider nur in Deutschland durchgeführten behinderter Kinder auch im Sonderschulbereich zei- Studien zu den Lehrereinschätzungen der Lesefähig- gen. Stütz- und Fördersysteme, die nur beim einzel- keiten ihrer Schülerinnen und Schüler relevant. Die nen Kind ansetzen, ohne den Bedarf der ganzen dort festgestellten Probleme bei der sicheren Identi- Schule oder Klasse zu berücksichtigen, wirken zudem fizierung sehr schwacher Leser sind sehr bedenklich, diskriminierend, da Kinder bei gleichem Förderbedarf vor allem wenn die in diesem Zusammenhang ge- in Klassen mit einem guten Leistungsstand identifi- machten Fehleinschätzungen weitreichende Konse- ziert werden, jedoch nicht in schlechten Klassen. quenzen für die Schullaufbahn des betroffenen Kin- Weiter berichten Studien aus den USA (McLaughlin des oder Jugendlichen haben. Da die entsprechenden & Owings, 1993) und Grossbritannien (Sacker, Daten jedoch für die anderen Länder nicht verfügbar Schoon & Bartley, 2001) übereinstimmend, dass sind, kann nicht mit Sicherheit festgestellt werden, Regionen und Schulen mit höherem Leistungsniveau dass etwa finnische oder kanadische Lehrpersonen mehr Gelder für unterstützende Massnahmen ausge- tatsächlich aufgrund ihrer Ausbildung und der inten- ben als jene Schulen, die dies von dem dort eher tie- siven Arbeit an den lokal erarbeiten, aber national fen Leistungsniveau her eigentlich tun müssten. vergleichbaren Curricula und Standards eine sicherere Wiederum spielen hier auch die Erwartungen der Einschätzung des Leistungspotentials des einzelnen Eltern und Lehrpersonen eine grosse Rolle. Bei gleich Kindes – unabhängig von der gerade vorhandenen schlechten Leistungen haben Kinder aus höheren Zusammensetzung der Klasse – machen können. Die Sozialschichten und ohne Migrationshintergrund Orientierung an der Norm statt an Standards oder eine grössere Chance, eine zusätzliche von den Inhalten von nationalen Leistungstests würde vor Eltern gewünschte Förderung zu erhalten. allem dort problematisch, wo die Zusammensetzung Einen ganz anderen Weg verfolgen Kanada und der Klasse nicht der Normalverteilung der Gesamt- Finnland, die bei Schulschwierigkeiten keine Mög- schülerschaft entspricht. Lehrpersonen scheinen lichkeiten der Segregation bieten, sondern eine auch in gegliederten Schultypen mit einer relativ schulhausnahe und am Regelunterricht orientierte grossen Homogenität trotz allen Besonderheiten der Förderung anbieten. Klasse und Gemeinde von einer Normalverteilung auszugehen, wenn sie sich nicht an klar definierten Leistungszielen und Standards orientieren können. 3.5 Einfluss der Lehrperson Wie bereits unter 3.3 und 3.4 erwähnt, ist der Einfluss der Lehrperson bei der Leistungseinschätzung 3.6 Autonomie und Steuerung in Bildungssystemen und der Selektion in verschiedene Schultypen sowie bei der Zuweisung zu Stütz- und Fördermassnahmen Freie Schulwahl, also die Autonomie der Eltern bei beträchtlich. Dies gilt im gleichen Masse auch für der Auswahl der Schule für ihr Kind, kann unter SEITE 66 BFS/EDK 2003 SOZIALE INTEGRATION UND LEISTUNGSFÖRDERUNG bdv_Inhalt 14.05.2003 9:40 Uhr Seite 67 SCHLUSSFOLGERUNGEN Umständen die Segregation und somit die soziale 3.7 Literatur Differenzierung der schulischen Leistungen verschärfen. Dies tritt vor allem auf, wenn bei grossen Qua- Järvinen, T., Vanttaja, M. (2001) Young People, Edu- litätsunterschieden in den Schulen der Zugang zu cation and Work: Trends and Changes in Finland in den Schulen nicht für alle Eltern gleich leicht ist. Dies the 1990s. Journal of Youth Studies, 4 (2), 195–207. zeigt sich vor allem in Belgien und neuerdings in Kommission Zuwanderung (2001). Zuwanderung geringeren Masse auch in Finnland. Das Beispiel von gestalten – Integration fördern. Bericht der Unab- Belgien zeigt auf, dass freie Schulwahl zu grossen hängigen Kommission «Zuwanderung». Berlin: Leistungsunterschieden aufgrund sozialer Wirkun- Bundesministerium des Innern. gen führen kann. Die Unterschiede zwischen den McLaughlin, M., Owings, M. (1993). Relationships Schulen werden dort zusätzlich verstärkt, wo keine among States’ Fiscal and Demographic Data and the zentral durchgeführten Leistungstests angeordnet Implementation of P.L. 94–142. Exceptional Chil- sind. dren, 59 (3), 247–261. Wo freie Schulwahl nicht offiziell erlaubt ist, wird Sacker, A., Schoon, I., Bartley, M. (2001). Source of sie oft durch die Wohnortswahl vor allem der sozial bias in special needs provision in mainstream primary besser gestellten Familien praktiziert. Eine solche schools: evidence from two British cohort studies. Schulwahl über die Wohnortsentscheide kann European Journal of Special Needs Education, 16 (3), ebenso segregierend wirken; in der Schweiz ist es 259–276. fraglich, ob diese nicht sogar stärker wirkt als eine wirkliche freie Schulwahl (bspw. innerhalb des öffentlichen Schulsystems) dies täte, weil die Wohnortswahl definitiver und schärfer sozial trennend sein kann als eine Schulwahl innerhalb des öffentlichen Bildungssystems. Um Schulen zu lebendigen Einheiten gemeinsamer pädagogischer Arbeit werden zu lassen, brauchen diese Gestaltungsfreiraum und Lehrpersonen, die diesen Gestaltungsfreiraum gemeinsam nutzen können. Zentrale Verfahren der Lehrerbeamtung und deren Zuweisung zu einzelnen Schulen, wie dies in Deutschland der Fall ist, laufen einer Profilbildung und gemeinsamer Schulentwicklungsarbeit entgegen. Sie basieren auf dem Verständnis, dass jede Lehrperson für jede freie Stelle gleichermassen geeignet ist und nicht auf der Idee, dass in einem Schulhausteam eine Person mit einem bestimmten Profil benötigt wird. Gut funktionierende Schulsysteme wie etwa diejenigen in Kanada oder Finnland kombinieren eine Teilautonomie immer mit einer Intensivierung zentraler Leistungstest. Bereits die TIMSS Forschung hat die leistungssteigernde Wirkung von zentralen Leistungstests gezeigt. Leider sind jedoch keine Studien bekannt, welche etwas über deren Wirkung auf die soziale Differenzierung aussagen. In den PISA Daten können wir keinen Einfluss der zentralen Leistungstests auf die soziale Selektivität der Schulsysteme feststellen. Dieser Zusammenhang müsste aber vertiefter untersucht werden. BFS/EDK 2003 SOZIALE INTEGRATION UND LEISTUNGSFÖRDERUNG SEITE 67 bdv_Inhalt 14.05.2003 9:40 Uhr Seite 68 bdv_Inhalt 14.05.2003 9:40 Uhr Seite 69 4 Empfehlungen Die nachfolgenden Empfehlungen beziehen sich vor dern und Jugendlichen ohne zusätzliche Massnah- allem auf das Schulsystem. Die Ergebnisse dieser Stu- men nicht in der Lage, die dadurch entstehenden die weisen allerdings deutlich darauf hin, dass aus- Benachteiligungen auszugleichen. Hier sind gezielte schliesslich bildungspolitische Massnahmen diese Interventionen zur Unterstützung dieser Schulen komplexen sozialen und gesellschaftlichen Probleme notwendig, die sowohl auf den Niveau der gesamten nicht nachhaltig verändern können. Neben den hier Schule (z.B. QUIMS-Projekt in Zürich) als auch bei erläuterten Empfehlungen müssten somit auch den Schülerinnen und Schülern ansetzen. Diese soll- andere Bereiche der Politik neu ausgerichtet und ten nicht nur allgemein eine soziale Integration (vgl. definiert werden, wenn die soziale Ungleichheit im Frankreich), sondern auch spezifisch die sprachlichen Bildungswesen gesenkt werden soll. Unter diesen Fähigkeiten fördern. Dabei ist die negative Etikettie- anderen Politikbereichen sind für die Schweiz rung der betroffenen Schulen und Jugendlichen zu besonders entscheidend: Steuer- und Finanzpolitik, meiden und eine klare Profilbildung und diesbezügli- Sozialpolitik allgemein, Migrationspolitik und Ar- che Kompetenzentwicklung der Lehrpersonen anzu- beitsmarktpolitik. streben. Nur so wird die Attraktivität dieser Schulen Erfolgreiche Initiativen in Nordamerika verweisen auf Strategien, die alle betroffenen Regierungsstellen und -ebenen sowie private Organisationen und eine auch für sozial besser gestellte Familien erhalten und eine weitere Selektion verhindert. Die Integrationsbemühungen in Quartieren mit breitere Öffentlichkeit zu einer gemeinsamen Vorge- sehr hohem Migrationsanteil können sich jedoch hensweise verpflichten. Für die Umsetzung von nicht nur auf schulische Massnahmen beschränken. Empfehlungen wird deshalb nahegelegt, dass bei der Es müssen verstärkt auch Integrationsmassnahmen Ausarbeitung des Massnahmekatalogs einerseits für die Eltern vorgeschlagen und umgesetzt wer- Bund und Kantone eng zusammenarbeiten, anderer- den; teilweise sind solche Versuche ja schon im seits aber auch innerhalb einer Regierungsebene Gange. zwischen den Departementen eine gemeinsame, Andererseits müssten hier auch Veränderungen integrierte Strategie verfolgt wird. Soziale Gerechtig- der schweizerischen Migrationspolitik geprüft wer- keit im Bildungswesen ist nicht nur Aufgabe der den. Bereits sehr früh führte etwa Kanada ein Punk- Erziehungs- oder Bildungsdirektoren. tesystem ein, das bei der Auswahl von Migranten/ innen helfen sollte, die kulturell vom Gastland nicht zu weit entfernt sind und sich voraussichtlich leicht 4.1 Notwendige besondere Massnahmen bei hohem Anteil an Migranten integrieren lassen (z.B. Kenntnis der französischen oder englischen Sprache; hohe Schulbildung). Ob ein solches Punktesystem erwünscht und welche Zu- Für das schweizerische Schulsystem stellt die hohe wanderungsmodelle für die Schweiz politisch Konzentration von Arbeitsmigranten/innen eine umsetzbar sind, muss breit diskutiert werden. Von besondere Herausforderung in Bezug auf die Inte- grosser Bedeutung werden auch vermehrte Anstren- gration und Leistungsförderung dar. Die Analyse hat gungen zur Erstförderung erwachsener Immigranten gezeigt, dass in Schulen mit Anteilen von über 40% sein und eine bessere Nutzung der zentralen Bedeu- fremdsprachiger Schüler auch bei Schweizer Kindern tung der Familie für den Integrationsprozess sein. eine Leistungsminderung festzustellen ist. Deutschland hat zu diesen Aspekten bereits einige Zahlreiche Schulen sind wegen ihres hohen Anteils an fremdsprachigen und benachteiligten Kin- BFS/EDK 2003 Reformen eingeleitet, deren genauere Untersuchung sich lohnen würde (vgl. Angenendt 2002). SOZIALE INTEGRATION UND LEISTUNGSFÖRDERUNG SEITE 69 bdv_Inhalt 14.05.2003 9:40 Uhr Seite 70 EMPFEHLUNGEN 4.2 Soziale Durchmischung ausschliesslich bei Migranten/innen, sondern auch bei Schweizer Eltern mit sozial benachteiligtem Einen wesentlichen Beitrag zur Konzentration von Hintergrund bedacht werden. Der Einfluss der sozia- Jugendlichen mit Migrationshintergrund in bestimm- len Herkunft liesse sich möglicherweise einerseits ten Schulen leistet die Wohnortswahl von sozial gut mildern, in dem über kompensierende Massnahmen gestellten Eltern. Obwohl in der Schweiz keine freie wie frühe Einschulung, Tageskindergärten oder Auf- Schulwahl möglich ist, wird sie von einem sozial pri- gabenhilfe korrigiert wird, oder andererseits, indem vilegierten Teil der Bevölkerung über Wohnortsent- Massnahmen ergriffen werden, welche die für die scheide praktiziert. Grosse Unterschiede in der Schule relevante Betreuung im jeweiligen Elternhaus Besteuerung zwischen den Gemeinden der Schweiz verbessern. In diesem Zusammenhang könnte auch fördern die so entstehende soziale «Entmischung». eine aktivere Politik betrieben werden, um die Auch der soziale Wohnungsbau muss in diesem Bedeutung und den Wert von Bildung den bildungs- Zusammenhang kritisch betrachtet werden; er för- fernen Familien und Jugendlichen näher zu bringen. dert unter Umständen eine Art «Gettoisierung» von Das Leistungspotential sozial und sprachlich sozial benachteiligten und immigrierten Familien. benachteiliger Kinder wird insbesondere bei einer Eine freie Schulwahl innerhalb eines geografisch Schulung in segregativ geführten Kursen und Klassen begrenzten Raumes und innerhalb des öffentlichen nicht genügend gefördert. Vor allem dort, wo Ange- Schulsystems wäre gegebenenfalls zu überdenken bote und Massnahmen von sozial besser gestellten (siehe auch unter 5.1.). Familien gemieden werden, wirken diese nicht mehr integrativ. Integriert angebotenen Massnahmen nahe am Unterricht sollten deshalb den Vorzug 4.3 Leistungspotential sozial und sprachlich benachteiligter Schülerinnen und Schüler gegeben werden. Zentral durchgeführte Leistungsmessungen können für Lehrpersonen eine wichtige Ergänzung und Korrektur ihrer durch die Zusammensetzung der Bezüglich Leistungsfähigkeit und -potential wird die Klasse gefärbten Wahrnehmung sein. Sie ermög- Gruppe der sozial und sprachlich benachteiligten lichen der Lehrperson einen realistischen Vergleich Schülerinnen und Schüler oft unterschätzt. Es zeigte mit der Gesamtpopulation aller Kinder in einem sich in diesem Zusammenhang beispielsweise in Land. Sie sind zudem auch eine Voraussetzung dafür, Deutschland, dass die dynamische, unsichere Situa- dass sich Schulautonomie nicht noch zusätzlich ver- tion von Kindern aus Familien mit Migrationshinter- schärfend auf Leistungsunterschiede auswirkt. grund oft besser für eine Veränderung der sozialen Lage genutzt werden kann als dies bei einheimischen Kindern aus bildungsferneren Familien der Fall ist. Hier ist deshalb möglicherweise ein grosses Leis- 4.4 Überprüfung von Selektionsentscheiden auf soziale Selektivität tungspotential vorhanden, das nicht ausgeschöpft wird. Eine vertiefte Analyse dieser Dynamiken und Der Selektionsentscheid am Ende der Primarstufe ist der Unterschiede zwischen einheimischen und zuge- in der Schweiz aus zwei Gründen problematisch. Die wanderten Familien wäre sinnvoll. erste Problematik betrifft den Übertrittsentscheid Die Umsetzung des Leistungspotentials ist in selbst, die zweite den Zeitpunkt des Übertritts. hohem Masse von der Beherrschung der örtlichen Die pädagogisch begründeten Überführungsmo- Sprache abhängig. Eine aktive Unterstützung des delle, die vor allem auf einer Gesamteinschätzung Erwerbs dieser muss deshalb während der gesamten der abgebenden Lehrperson und dem Wunsch der Schulzeit erfolgen (vgl. auch EDK 2000). Entspre- Eltern beruhen, verstärken die Wirkung der sozialen chend muss auch die Fähigkeit der Lehrpersonen, Faktoren zulasten der Bedeutung des eigentlichen dieses Potential richtig einzuschätzen, gefördert und Leistungspotentials. Es besteht ein Bedarf nach Ver- sichergestellt werden. änderung der Selektionsmechanismen. Es sollten Zur Ausschöpfung dieses Leistungspotentials sozial neutralere Verfahren gewählt werden, bei- müssen verstärkt auch die Eltern in die Massnahmen spielsweise dadurch, dass man den abnehmenden miteinbezogen werden. Dies sollte nicht wie bisher Schulen wieder mehr Gewicht beimisst. Auch eine SEITE 70 BFS/EDK 2003 SOZIALE INTEGRATION UND LEISTUNGSFÖRDERUNG bdv_Inhalt 14.05.2003 9:40 Uhr Seite 71 EMPFEHLUNGEN zusätzliche Abstützung auf Leistungsmessungen integrationsfördernd, als sie flächendeckend einge- oder eine Orientierung an allgemeinen Standards führt und von allen Kindern besucht werden. Gelingt wären denkbar. Es ist zu überprüfen, wie sich solche es nicht, diese Angebote auch für sozial besser ge- Modelle kurz- und mittelfristig auf die weiteren Bil- stellte Familien attraktiv zu gestalten oder wird der dungs- und Berufschancen der Jugendlichen auswir- Besuch nicht als obligatorisch erklärt, werden sie ken. Der Zusammenhang mit sozialem Ausschluss im möglicherweise weitere soziale Ungleichheiten gene- Erwachsenenalter ist nicht erwiesen, sollte jedoch rieren. ebenfalls geprüft werden. Der Zeitpunkt des Übertritts ist in der Schweiz relativ früh gewählt worden. Nun hat sich im Ländervergleich gezeigt, dass dieser Faktor die soziale Selekti- 4.6 Verbesserung der Datenlage und des Kenntnisstandes vität verstärkt. Allenfalls müsste deshalb die Hierarchisierung des Bildungswesens auf der Volksschul- Viele der vermuteten Zusammenhänge lassen sich stufe überdacht und dieses durchlässiger gestaltet letztlich nicht beweisen oder in allen Einzelheiten werden, damit die Selektionsentscheide mit 12 Jahren erfassen. Dies betrifft insbesondere die Wirkung frü- nicht die ganze weitere Bildungslaufbahn bestimmen. her Unterstützungsmassnahmen oder die Bedeutung Die frühe Selektion verstärkt auch die durch die geo- sozialer Differenzierung im Alter von 15 Jahren für graphische Wohnsituation entstehenden Diskrimi- spätere Prozesse des sozialen Ausschlusses und nierungen. Kinder, die weit weg von höheren Schu- gesellschaftlichen Benachteiligung im Erwachsenen- len (Untergymnasien, Gymnasien, etc.) wohnen, alter. Hierzu braucht es systematische Längsschnitt- besuchen diese Schulen nachweislich mit einer gerin- und Kohortenstudien. geren Wahrscheinlichkeit als andere Kinder. Teilweise Vor allem jedoch braucht es mehr Informationen kann dies einfach mit der geographischen Distanz zur Interaktion zwischen Eltern und Kindern, zwi- begründet werden. Im Zusammenhang damit sind schen Eltern und Lehrpersonen sowie unter Kindern aber auch andere Erwartungshaltungen der Eltern in der gleichen Schule. Über welche Prozesse sich und der Lehrer zu beobachten, die den Nichtbesuch soziale Ungleichheiten in der Schule entwickeln, kann höherer Schulen eher als normal empfinden. Es soll- heute nicht abschliessend beantwortet werden. Diese ten also auch gezielt Massnahmen ergriffen werden, Studie hat gezeigt, dass die Gestaltung des Übertritts die solche Benachteiligungen auffangen. in die Oberstufe zu diesen Prozessen gezählt werden kann; um weitere zu identifizieren bedarf es jedoch zusätzlicher Informationen und Untersuchungen. 4.5 Überprüfung der Einführung flächendeckender Massnahmen Insbesondere aufgrund der in den Statistiken fehlenden Erhebung der Stütz- und Fördersysteme, die in der Schweiz überproportional von fremdsprachi- Um die Wirkung familiärer Benachteiligung aufzu- gen und ausländischen Kindern beansprucht werden, fangen, sind frühe Kontexte der gemeinsamen För- ist es nicht möglich, die Wirkung dieser Angebote derung aller Kinder aus den unterschiedlichsten sozi- auf die Prozesse des sozialen Ausschlusses zu unter- alen und kulturellen Zusammenhängen bedeutsam. suchen. Je früher Kinder von und miteinander lernen und interagieren können, umso mehr können die Benachteiligungen im Elternhaus ausgeglichen werden. 4.7 Literatur Die Einführung von Tagesstrukturen und Möglichkeiten der ausserschulischen Betreuung sind für Angenendt, S. (2002): Einwanderungspolitik und eine bessere soziale Integration empfehlenswert. Einwanderungsgesetzgebung Auch hier sollen sich eingeführte Massnahmen gut 2000–2001. In K.J. Bade & R. Münz, Migrationsre- ergänzen und mit Angeboten anderer Träger (Sozial- port 2002. Fakten – Analysen – Perspektiven. Frank- oder Fürsorgedepartement, private Angebote) gut furt/New York: Campus. vernetzt werden. Eine enge Anbindung an schulische EDK (2000): Ausbildung und Integration von fremd- Angebote ist wünschbar. sprachigen Jugendlichen auf der Sekundarstufe II. Diese Massnahmen sind jedoch nur in dem Masse BFS/EDK 2003 in Deutschland Dossier 59. Bern: EDK. SOZIALE INTEGRATION UND LEISTUNGSFÖRDERUNG SEITE 71 bdv_Inhalt 14.05.2003 9:40 Uhr Seite 72 5 Anhänge 5.1 Anhang A SEITE 72 BFS/EDK 2003 SOZIALE INTEGRATION UND LEISTUNGSFÖRDERUNG 6.6% Arbeitslosenquote BFS/EDK 2003 SOZIALE INTEGRATION UND LEISTUNGSFÖRDERUNG ISCED 3C : 13%) ISCED 3B : 50% - (ISCED 3A : 19% - 82% 4.4% 5.9% 19.3% um 1.7% Abnahme 2.7% 27’500 7’169 41’293 km2 Schweiz * Quellen: OECD (2002): Society at a glance. ISCED 3C : 37%) *: Daten 1998 / **: Daten 1999 ISCED 3B : 58%) ISCED 3B : 10% - ISCED 3C : 19% ISCED 3C kurz : 11%) Sekundarstufe II (ISCED 3A :33% - 84% 91% 3.7% 5.6% 8.9% um 0.1% Abnahme 8.1% 23’600 82’028 357’000 km2 (ISCED 3A : 49% - 4.4% 6.2% 5.6%** um 1.6% Abnahme 10.1% 21’900 58’817 543'965 km2 Deutschland 87% 3.6% 5.8% 1.8% um 5.7% Abnahme 9.9% 22’800 5’154 337’032 km2 Frankreich (ISCED 3A : 87%) 3.8% (ISCED 3A : 60% - ––– 3.5% 6.6% 9.4% 8.4% 5.5% um 2.6% um 2.8% Abnahme 6.9% 27'993* am Ende der Abschlussquote stufe I und II** Primarstufe, Sekundar- in Prozent des BIP. (öffentlich und privat) Schulausgaben in Prozent des BIP ** (öffentlich und privat) Schulausgaben Bevölkerung Anteil ausländische wicklung 1995–2000) Arbeitslosenquote (Ent- Jahre) Abnahme 24’300 BIP pro Einwohner** 30’221 9'203'210 km2 Finnland 9:40 Uhr (Bevölkerung 15–64 10’213 30'515 km2 Bevölkerung (in 1000)* Oberfläche Kanada 14.05.2003 Belgien Tabelle 1 Wichtigste statistische Angaben (Zahlen 2000) bdv_Inhalt Seite 73 ANHÄNGE SEITE 73 SEITE 74 BFS/EDK 2003 SOZIALE INTEGRATION UND LEISTUNGSFÖRDERUNG Tertiärstufe (5A: theoretisch – 5B: technisch, praktisch Sekundarschule II (ISCED 2) Universitäten B/fr: 3 Abteilungen (berufl. Aurichtung ab l 8) B/fl: 4 Abteilungen Abteilungen Sekundarstufe 1 (ISCED 2) 6 Jahre Dauer Sekundarschule I (ISCED 2) B/fr: bis 13 Jahre B/fl: bis 14 Jahre 12 Jahre Erste Selektion/Wahl der zukünftigen Schulstufe Gemeinsamer Unterricht 6 Jahre Dauer Primarschule (ISCED 1) 2,5 Jahre Kanada Gymnasium und Universitäten ––– Quebec: bis 16 Jahre 5 Jahre 16 Jahre 6 Jahre 3 oder 4 Jahre Quebec: 4 Jahre 6 (oder 7) – 16 (17) Jahre Quebec: 6–16 Jahre Finnland Frankreich Universitäten, IUT, univ. Kurzusbildungen, berufl. Ausrichtung, Grandes écoles Beruflich + allgemein bildend ––– Bis 15 Jahre (Ende der Mittelschule) 4 Jahre 15 Jahre 5 Jahre 2 Jahre 6–16 Jahre Universitäten und Höhere Berufsbildung Beruflich + allgemein bildend Im Allgemeinen 3 Abteilungen: Hauptschule – Realschule und Gymnasium (Unterstufe) 6 Jahre 10 Jahre (12 Jahre in Berlin und Brandenburg) Mehrheitlich 4 Jahre 6 Jahre (Mehrheit der Länder) 6–18 Jahre Deutschland ISCED: Internationale Standardklassifikation des Bildungswesens Einzig auf universitärer Ebene ––– Bis 16 Jahre Keine Unterscheidung zwischen CITE 1 und CITE 2: 9 Jahre gesamthaft 16 Jahre Keine Unterscheidung zwischen CITE 1 und CITE 2: 9 Jahre gesamthaft 3 Jahre 7–17 Jahre (später oder früher, je nach Erfüllung des Programms) 9:40 Uhr Beginn Vorschule (ISCED 0) Belgien 6 – 18 Jahre (ab 15 Jahren, Teilzeit-Unterricht) 14.05.2003 Obligatorische Schulzeit Tabelle 2 Elemente zum Vergleich der Bildungssysteme bdv_Inhalt Seite 74 ANHÄNGE BFS/EDK 2003 3.4% 4.9% 2.8 % allochthone Schüler (im Ausland geboren) % Schüler, die zuhause öfter eine andere Sprache als die Testsprache sprechen Gesteigerte Wahrscheinlichkeit für Schüler, die zuhause nicht die Testsprache sprechen, sich bei der Lesekompetenz im unteren Quartil zu befinden SOZIALE INTEGRATION UND LEISTUNGSFÖRDERUNG 22% 1.6 9.4% 9.8% 10.8% 79.5% 52.8 22 0% ––– 1.3% 1.0% 0.2% 98.7% 50.0 8 13 9% 2.3 4.0% 2.2% 9.8 88.0% 48.3 ––– ––– Frankreich 30% 2.9 7.9% 10.1% 5.1% 84.8% 48.9 66 8 Deutschland 2% 2.8 13.6% 11.4% 9.3% 79.3% 49.2 32 12 Schweiz * in Punkten ausgedrückte Leistungen mit einer Steigerung um eine halbe Standardabweichung, OCDE (2002). Analyse des politiques d’éducation. B/fr. :44% B/nl: 18% 8.6% % Schüler 1. Generation (im Land geboren, deren Eltern im Ausland geboren sind) % 15-jährige Schüler, die berufsvorbereitende Ausbildungsgänge besuchen 88% % autochthone Schüler 49.0 B/fr : 50 B/fl : 48 56 Einfluss der sozioökonomischen Situation der Schule auf das Leistungsniveau in Lesekompetenz* 14 Finnland 9:40 Uhr Sozioprofessioneller Status der Eltern (ISEI) 7 Einfluss der sozioökonomischen Situation der Schüler auf ihre Leistungen in Lesekompetenz* Kanada 14.05.2003 Belgien Tabelle 3 Indikatoren und Daten zu PISA (Datenbank PISA 2000) bdv_Inhalt Seite 75 ANHÄNGE SEITE 75 bdv_Inhalt 14.05.2003 9:40 Uhr Seite 76 ANHÄNGE 5.2 Anhang B Tabelle 1: Sechs-Länder Modell mit Interaktionstermen, abhängige Variable Leseleistung (logarithmiert) Merkmale Koeffizient SE Konstante Bildungsnähe Bildungsnähe * B Bildungsnähe * C Bildungsnähe * CH Bildungsnähe * D Bildungsnähe * F ISEI ISEI * B ISEI * C ISEI * CH ISEI * D ISEI * F Anzahl Geschwister (quadriert) Anzahl Geschwister (quadriert) * B Anzahl Geschwister (quadriert) * C Anzahl Geschwister (quadriert) * CH Anzahl Geschwister (quadriert) * D Anzahl Geschwister (quadriert) * F Beschäftigungsgrad der Eltern Spricht nicht die Testsprache Spricht nicht die Testsprache * B Spricht nicht die Testsprache * C Spricht nicht die Testsprache * CH Spricht nicht die Testsprache * D Spricht nicht die Testsprache * F Alleinerziehende Eltern «Gemischte» Eltern Übrige Familienverhältnisse Eltern sind im Ausland geboren Eltern sind im Ausland geboren * B Eltern sind im Ausland geboren * C Eltern sind im Ausland geboren * CH Eltern sind im Ausland geboren * D Eltern sind im Ausland geboren * F Kind im Ausland geboren Kind im Ausland geboren * B Kind im Ausland geboren * C Kind im Ausland geboren * CH Kind im Ausland geboren * D Kind im Ausland geboren *F Mädchen Bildung des Vaters Bildung der Mutter Belgien Deutschland Frankreich Kanada Schweiz 6.2323 0.4066** 0.2356** 0.1390** 0.2996** 0.3107** 0.3528** 0.0007** 0.0008** 0.0007** 0.0009** 0.0008** 0.0005* -0.0011** -0.0026** -0.0000 -0.0011 -0.0020** -0.0005 0.0356** -0.0922** 0.0132** 0.0432* 0.0212 -0.0072 0.0627** -0.0117* -0.0184** -0.0542** -0.0696 -0.0520 0.0796 0.0235 0.0708 0.0525 -0.0016 0.0188 0.0202 -0.0440 -0.0573 0.0237 0.0554 0.0015 0.0066** -0.0505** -0.0819** -0.0533** -0.0557** -0.0891** 0.0114 0.0285 0.0434 0.0328 0.0445 0.0459 0.0413 0.0002 0.0002 0.0002 0.0002 0.0002 0.0002 0.0003 -0.0026 -0.0000 -0.0007 -0.0007 -0.0005 0.0061 0.0112 0.0128 0.0126 0.0152 -0.0072 0.0191 0.0041 0.0048 0.0102 0.0403 0.0423 0.0406 0.0418 0.0450 0.0416 0.0118 0.0265 0.0232 0.0251 0.0319 0.0281 0.0026 0.0013 0.0013 0.0132 0.0149 0.0123 0.0102 0.0143 R2 F (48, 46085) N 0.3081 191.39 46 134 Quelle: eigene Berechnungen; Datenquelle: Internationale Datenbank PISA 2000, OECD Das Referenzland ist jeweils Finnland. B=Belgien, C=Kanada, CH=Schweiz, D=Deutschland, F=Frankreich. SE: Standardfehler des Regressionskoeffizienten *: p ≤ .05 **: p ≤ .001 SEITE 76 BFS/EDK 2003 SOZIALE INTEGRATION UND LEISTUNGSFÖRDERUNG bdv_Inhalt 14.05.2003 9:40 Uhr Seite 77 ANHÄNGE Tabelle 2: Mehrebenenmodell I: Effekte auf das Leistungsniveau Merkmale (fixe Effekte) Effektgrössen Leistungsniveau Länder Koeffizient Basiswert BIP pro Kopf Relative Ausgaben Primarstufe 510.5347** 3.5410 0.0024* 0.0008 -1.2651 Alter bei erster Selektion Soziale Herkunft (Durchschnitt) Anteil Schüler/innen mit immigrierten Eltern N SE 0.7764 0.0981 1.6487 20.6697 18.1213 -43.9146 73.5675 20 R 2 0.06 Quelle: eigene Berechnungen; Datenquelle: Internationale Datenbank PISA 2000, OECD Die Prädiktoren der ersten Ebene sind um den group mean, diejenigen der zweiten Ebene um den grand mean zentriert. Die Referenzgruppe ist ein Land mit durchschnittlichen Werten bei allen Prädiktoren zweiter Ebene. Koeffizient: unstandardisierter Regressionskoeffizient SE: Standardfehler des Regressionskoeffizienten *: p ≤ .05 **: p ≤ .001 Tabelle 3: Mehrebenenmodell I: Effekte auf die soziale Selektivität Merkmale (fixe Effekte) Effektgrössen Index der sozialen Herkunft Koeffizient SE Basiswert 41.0842** 0.8964 BIP pro Kopf -0.0002 0.0002 Relative Ausgaben Primarstufe -0.8354* 0.2121 Alter bei erster Selektion -1.0649* 0.3396 Soziale Herkunft (Durchschnitt) 1.9278 4.5322 Anteil Schüler/innen mit immigrierten Eltern 62.1589* 14.9955 N 20 R2 0.60 Quelle: eigene Berechnungen; Datenquelle: Internationale Datenbank PISA 2000, OECD Die Prädiktoren der ersten Ebene sind um den group mean, diejenigen der zweiten Ebene sind um den grand mean zentriert. Die Referenzgruppe ist ein Land mit durchschnittlichen Werten bei allen Prädiktoren zweiter Ebene. Koeffizient: unstandardisierter Regressionskoeffizient SE: Standardfehler des Regressionskoeffizienten *: p ≤ .05 **: p ≤ .001 BFS/EDK 2003 SOZIALE INTEGRATION UND LEISTUNGSFÖRDERUNG SEITE 77 bdv_Inhalt 14.05.2003 9:40 Uhr Seite 78 ANHÄNGE Tabelle 4: OLS Schätzung der Leseleistung und ordered probit zur Berechnung der Wahrscheinlichkeit einer höheren Schulstufe anzugehören mit geschätzter Lesefähigkeit OLS (Abhängige Koeffizient Variable: Leseleistung) Ordered Probit (Abhängige Koeffizient Koeffizient Variable: Schulstufe) Ganze Schweiz Deutschschweiz -0.01** -0.01** ISEI 0.76** ISEI Beschäftigungsgrad Eltern 9.92* Beschäftigungsgrad Eltern 1.44** Bildungsnähe der Eltern Bildung der Eltern 0.08 -0.15** 0.08 -0.20** Bildungsnähe der Eltern 27.47** Alleinerziehend 0.06 0.06 Alleinerziehend -7.72* Gemischte Familie 0.15** 0.20** Gemischte Familie -9.25* Andere Familienstruktur 0.09 0.06 0.09 0.18** Andere Familienstruktur -29.03** Immigrant Nicht Unterrichtssprache -49.35** Anzahl Geschwister Anzahl Geschwister -7.01** Rangfolge Geschwister 4.82** 0.03* 0.09 Rangfolge Geschwister -0.03* 0.03* Mädchen -0.02 Mädchen 20.13** Westschweiz 0.51** Westschweiz -2.70 Tessin 0.39** Tessin -16.45** N Angepasstes R2 Lesefähigkeit (aus OLS) -0.02 -0.01** -0.01** 6863 6739 4898 0.27 0.07 0.10 Quelle: eigene Berechnungen; Datenquelle: OECD-BFS/EDK PISA Datenbank (national), 2001 *, ** gleich Signifikanz Niveau 5 und 1%. Die höchste Schulstufe hat den Wert 1, die tiefste Schulstufe den Wert 4. Dementsprechend sind negative Vorzeichen bei den Koeffizienten in der ordered probit Schätzung als höhere Wahrscheinlichkeit einer höheren Schulstufe anzugehören zu interpretieren und umgekehrt. SEITE 78 BFS/EDK 2003 SOZIALE INTEGRATION UND LEISTUNGSFÖRDERUNG bdv_Inhalt 14.05.2003 9:40 Uhr Seite 79 ANHÄNGE Tabelle 5: Mehrebenenmodell II: Effekte auf das Leistungsniveau Merkmale (fixe Effekte) Effektgrössen Leistungsniveau Länder Koeffizient SE 505.2667*** 4.6117 Basiswert Soziale Herkunft (Durchschnitt der Schule) Schultyp (Niveau) 32.6192*** 7.4811 1.7780*** 0.1817 5 bis 10 Prozent fremdsprachiger Schüler/innen -0.1727 5.9529 10 bis 15 Prozent fremdsprachiger Schüler/innen 0.8056 5.0581 15 bis 20 Prozent fremdsprachiger Schüler/innen -9.7169 6.8824 20 bis 30 Prozent fremdsprachiger Schüler/innen -13.2015** 5.9080 30 bis 40 Prozent fremdsprachiger Schüler/innen -17.1277* 9.0413 Über 40 Prozent fremdsprachiger Schüler/innen -42.1821*** 7.3691 Schule in der französischsprachigen Schweiz -1.7773 4.3349 Schule in der italienischsprachigen Schweiz -7.4430 6.2277 N 201 R 2 0.87 Quelle: eigene Berechnungen; Datenquelle: OECD-BFS/EDK PISA Datenbank (national), 2001 Die Prädiktoren der ersten Ebene sind um den group mean zentriert. Auf der zweiten Ebene sind die Prädiktoren «durchschnittliche. soziale Herkunft» und «Schultyp» um den grand mean zentriert. Die Referenzgruppe ist eine Schule in der Deutschschweiz mit 0 bis 5 Prozent fremdsprachigen Schüler/innen, einer durchschnittlichen sozialen Zusammensetzung und einem durchschnittlichen Schultyp (Niveau). Koeffizient: unstandardisierter Regressionskoeffizient SE: Standardfehler des Regressionskoeffizienten *: p ≤ .10 **: p ≤ .05 ***: p ≤ .001 BFS/EDK 2003 SOZIALE INTEGRATION UND LEISTUNGSFÖRDERUNG SEITE 79 bdv_Inhalt 14.05.2003 9:40 Uhr Seite 80 In der Reihe Bildungsmonitoring bisher erschienen Für das Leben gerüstet? Die Grundkompetenzen der Lehrplan und Leistungen Thematischer Bericht der Jugendlichen – Kurzfassung des nationalen Berich- Erhebung PISA 2000 / Urs Moser & Simone Berwe- tes PISA 2000 / Urs Moser. BFS/EDK: Neuchâtel ger. BFS/EDK: Neuchâtel 2003. 100S. Bestellnr. 573- 2001. 30 S. gratis. Bestellnr. 473-0000. E-Dokument 0000. ISBN-ISSN: 3-303-15288-8. E-Dokument unter www.pisa.admin.ch. unter www.pisa.admin.ch. Préparés pour la vie? Les compétences de base des Les compétences en littératie Rapport thématique jeunes – Synthèse du rapport national PISA 2000 / de l’enquête PISA 2000 / Anne-Marie Broi [et al.]. Urs Moser. OFS/CDIP: Neuchâtel 2001. 30 p. gra- OFS/CDIP: Neuchâtel 2003. 144p. No de com- tuit. No de commande: 474-0000. Document élec- mande: 574-0000. ISBN-ISSN: 3-303-15289-6. tronique sous www.pisa.admin.ch. Document électronique sous www.pisa.admin.ch. Pronti per la vita? Le competenze di base dei gio- Die besten Ausbildungssysteme vani – Sintesi del rapporto nazionale PISA 2000 / Bericht der Erhebung PISA 2000 / Sabine Larcher & Thematischer Urs Moser. UST/CDPE: Neuchâtel 2001. 30 p. Jürgen Oellkers. BFS/EDK: Neuchâtel 2003. 52S. gratis. Numero di ordinazione 475-0000. Il Docu- Bestellnr. 575-0000. ISBN-ISSN: 3-303-15290-X. E- mento è disponibile all’indirizzo internet www.pisa. Dokument unter www.pisa.admin.ch. admin.ch. Bildungswunsch und Wirklichkeit Prepared for Life? Basis Competencies of Young Bericht der Erhebung PISA 2000 / Thomas Meyer, People – A Synthesis of the National PISA 2000 Barbara E. Stalder, Monika Matter. BFS/EDK: report / Urs Moser. BFS/EDK: Neuchâtel 2001. 30 p. Neuchâtel 2003. 68S. Bestellnr. 577-0000. ISBN- free. Order number 476-0000. www.pisa.admin.ch. ISSN: 3-303-15292-6. E-Dokument unter www.pisa. Für das Leben gerüstet? Grundkompetenzen der admin.ch. Jugendlichen – Nationaler Bericht der Erhebung PISA 2000: Synthese und Empfehlungen / Ernst PISA 2000 / Claudia Zahner [et al.]. BFS/EDK: Buschor, Heinz Gilomen, Huguette McCluskey. Neuchâtel 2002. 179 S. Bestellnr. 470-0000. ISBN- BFS/EDK: Neuchâtel 2003. 35S. Bestellnr. 578-0000. ISSN: 3-303-15243-8. E-Dokument unter www.pisa. ISBN-ISSN: 3-303-15293-4. E-Dokument unter admin.ch. www.pisa.admin.ch Préparés pour la vie ? Les compétences de base des PISA 2000: Synthèse et recommandations / Ernst Thematischer jeunes – Rapport national de l'enquête PISA 2000 / Buschor, Heinz Gilomen, Huguette McCluskey. Claudia Zahner [et al.]. OFS/CDIP: Neuchâtel 2002. OFS/CDIP: Neuchâtel 2003. 35p. No de commande: 174 p. No de commande: 471-0000. ISBN-ISSN: 579-0000. ISBN-ISSN: 3-303-15294-2. Document 3-303-15244-6. Document électronique sous www. électronique sous www.pisa.admin.ch. pisa.admin.ch. Bern, St. Gallen, Zürich: Für das Leben gerüstet? Die Grundkompetenzen der Jugendlichen – Kantonaler Bericht der Erhebung PISA 2000 / Erich Ramseier [et al.]. BFS /EDK: Neuchâtel 2002. 114 S. Bestellnr.: 523-0000. ISBN-ISSN: 3-303-15264-0. E-Dokument unter www.pisa.admin.ch. SEITE 80 BFS/EDK 2003 SOZIALE INTEGRATION UND LEISTUNGSFÖRDERUNG