Der Europäische Gerichtshof als Motor der sozialen Integration der

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Schulte, Europäische Sozialpolitik - Auf dem Weg zur Sozialunion?
ropäische (= EG·)Sozialpolitik, wie sie sich aufgrund des "Weißbuchs" zur Eu·
ropäischen Sozialpolitik36) abzeichnet,37) einen Prozeß einleiten wird, den man, in
Entsprechung zur "Wirtschafts· und Währungsunion" und zur "Politischen Union"
auf Gemeinschaftsebene und im Vergleich zur "Sozialunion" im Verlaufe des deut·
schen Vereinigungsprozesses - als "Sozialunion" wird qualifizieren können. 38) Zu
Recht hat vielmehr Horst Sanmann kürzlich wie folgt formuliert: "Es gehört erheb·
lieh mehr Sozialpolitik auf die europäische Ebene, als die Befürworter einer wettbe·
werbswirtschaftlichen Lösung zugestehen wollen und erheblich weniger als die Ver·
fechter einer Sozialunionfordern. "39) Wir gehen nicht einer gewußten, gewollten und
geplanten Sozialunion entgegen, werden aber erleben, daß die allmählich "schlei·
chende" Europäisierung der Politik bereiche auch die Sozialpolitik in immer stärke·
rem Maße erfassen wird.
36) Europäische Kommission, Europäische Sozialpolitik. Ein zukunftsweisendcr Weg für die Union. Wcißbuch [KOM (94) 333 vom 27. Juli 1994]. Luxemburg 1994.
37) Vgl. statt vieler dazu jüngst zusammenfassend Berie, H., Quo vadis Europäische Sozialpolitik?, in: Klcinhenz, E. (Hg.), Soziale Ausgestaltung der Marktwirtschaft. Festschrift zum 65. Geburtstag für Heinz Lampert, Berlin 1995, S. 409 ff.
38) Von "Sozialunion" sprechen ..nach Maastricht" hingegen Koenig. Ch .. Die Europäische Sozialunion als
Bcwährungsproblem der supranationalen Gerichtsbarkeit. in: Europarecht (EuR) 1994.S.175 ff., 181, und
Koenig, Ch.lP~chst~jn, M., Die Europäische Union. Der Vertrag von Maastricht, Tübingen 1995, S. 149 Cf.
(bereits oben Fn. 13)
J~ Vgl. Sanmann, H., Sozialpolitik im ProzcB der Vereinigung Europas, in: Seifert, G. (Hg.) Vereinigtcs Europa und nationale Vielfalt - Ein Gegensatz? Göuingcn 1994. S. 107 fr., 126 (zit. nach B~rje. op. eit. (Fn.
37) S. 426.
Sieveking, Der EuGH als Motor der sozialen Integration der Gemeinschaft
Der Europäische Gerichtshof als Motor der sozialen
Integration der Gemeinschaft
Von Priv.·Doz. Dr. Klaus Sieveking, Bremen
"Es verdient, hervorgehoben zu werden, daß es eine neuartige, nach wie vor einzig.
artige Verpflichtung ist, die im Völkerrecht und in den internationalen Beziehungen
keine Parallele findet, daß sich souveräne Staaten im vorhinein und ohne weitere
Bedingungen den bindenden Entscheidungen einer so weitreichenden unabhängi·
gen Rechtsprechungsgewalt über die Rechtmäßigkeit ihres Handeins unterwerfen.
Die Bedeutung dieser Unterwerfung als praktischer Ausdruck des Glaubens in die
Herrschaft des Rechts kann kaum überschätzt werden."
Lord Mackay of Clashfern I)
l. Einleitung
Zwei jüngere Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofes (EuGH) zu sozial·
politischen Fragen haben eine große Resonanz in der Öffentlichkeit gehabt und er·
neut die bedeutende sozialpolitische und ·rechtliche Rolle des europäischen Ver·
fassungsgerichts zu Bewußtsein gebracht: In seinem Urteil vom 17. Oktober 1995 hat
der EuGH die bei der Beförderung von Beamten eingeführte qualifikationsbezo·
gene Entscheidungsquote ohne Härteklausel nach § 4 des Bremer LandesgleichsteI.
lungsgesetzes für unvereinbar mit der EG·Gleichbehandlungsrichtlinie 76f2071
EWG erklärt.2) Mit seiner Entscheidung vom 14. Dezember 1995 hat der EuGH den
Ausschluß geringfügiger Beschäftigungen von der Sozialversicherung nicht als eu·
roparechtswidrig qualifiziert. 3) Die Kritik an der Entscheidung zum Bremischen
FrauengIeichstellungsgesetz richtet sich u. a. dagegen, daß der EuGH das EG-Recht
hier auch zurückhaltend zugunsten einer soziokulturell eigenständigen Entwicklung
einzelner Mitgliedstaaten in der Geschlechterfrage hätte interpretieren können. 4 )
Bei der Frage der Sozialversicherungspflicht von 580-DM·Jobs (heute: 610 DM) be·
fand der Gerichtshof, daß es dem jeweiligen Gesetzgeber eines EU·Mitgliedstaats
gestattet sei, durch die Versicherungsfreiheit dieser Beschäftigungen ein sozialpoli.
tisches Ziel zu erreichen, das mit der Diskriminierung aufgrund des Geschlechts
I) Die Mitgliedstaatcn der Gemeinschaft und der Gerichtshof. in: 1952-1992. Vierzigjähriges Bestehen des
Gerichtshofes der Europäischen Gemeinschaften, Luxemburg 1992. 27, 28.
2) EuGH. Rs C450193-KalankelFreie Hansestadt Bremen, Urteil vom 17. 10. 1995, Europäische Zeitschrift
für Wirtschaftsrecht (EuZW)I995, 762 mit Anmerkung Loritz; Informationsdienst Europäisches Arbeitsund Sozialrecht (EuroAS) 1995, 183 mit Anmerkung von Di~baIIlSchj~k.
3) EuGH, RsC-317/93 (Noltc) und C-444/93 (Megner/Scheffel). Urteile vom 14.12.1995, EuZW 1995, TIbzw.
75.
4) S. RaQSch, Der EuGH zur Frauenquotc. Kritische Justiz 1995, 493.
186
187
Sieveking, Der EuGH als Motor der sozialen Integration der Gemeinschaft
nichts zu tun habe. Die beiden Judikate verdeutlichen, wie unterschiedlich im Einzelfall das in Art. 3 b EGV niedergelegte Subsidiaritätsprinzip in der Auslegung des
Gerichtshofs zum Tragen kommt.
Der EuGH hat im Laufe seiner nunmehr 43jährigen Geschichte allein zum Bereich
der sozialen Sicherheit der Wanderarbeitnehmeii) in über 300 Entscheidungen die
Entwicklung des europäischen Sozialrechts geprägt. In welcher Weise damit der Sozialraum der Gemeinschaft konstituiert und die gesellschaftliche Integration gefördert wurde , sollen die folgenden Bemerkungen veranschaulichen. Angesichts des in
den letzten Jahren entbrannten Streits über die Rechtsprechung des EuGH zum Arbeits- und Sozialrecht6) gilt es, sich des maßgeblichen Beitrags des EuGH für die soziale Integration zu vergewissern.
Das Thema erfordert, Aufgabe und Funktion des Richterrechts in der Gemeinschaft
einerseits und sozialpolitische und sozialrechtliche Gehalte des Gemeinschaftsrechts
andererseits näher zu charakterisieren. Im Verlauf der folgenden Überlegungen sollen anhand von Beispielsfällen Dimensionen der Einwirkung des Gerichtshofs auf
die Konstituierung des Sozialraumes der EU veranschaulicht werden.
Der Sozialraum der EU ist bevölkerungspolitisch betrachtet ein ethnisch und kulturell vielfältig durchmischtes Gebiet. 1993 lebten in der Zwölfergemeinschaft 347 Millionen Bürger, davon 16 Mio. (gut 4,4%) außerhalb ihres Heimatlandes - davon
knapp 5 Mio. Unionsbürger als Wanderarbeitnehmer?) Ca. 11 Mio. Bürger haben
keine Staatsangehörigkeit eines der 12 Mitgliedstaaten. In der Gemeinschaft der 15
Mitgliedstaaten mit ca. 373 Mio. Einwohnern bestehen ähnliche Proportionen. Innerhalb des EWR leben 95,7% der Bevölkerung in dem Land, dessen Staatsangehörigkeit sie besitzen, d.h. 4,3%, also rund 16 Mio. sind Ausländer. Sowohl im
EWR als auch in der (alten) EG waren zwei von drei "Fremden" Nicht-EWR-Bürger bzw. nicht EU-Bürger.
5} Vgl. B. Schulte, Einführung in die Entwicklung des Europäischen Sozialrechts unter besonderer Berücksichtigung des Gerichtshofes der Europäischen Gemeinschaften. in: Schweizerische Zeitschrift für Sozialversicherung und Berufliche Vorsorge 1994,241 f. (253). Siehe auch die früher jährlichen. nunmehr alle
zwei Jahre erscheinenden Berichte von B. Schulte, Das Sozialrecht in der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs 1994 und 1995. Jahrbuch des Sozial rechts der Gegenwart Band 18 (1996). 471 und seine
Berichte in früheren Bänden des Ja hrbuchs des Sozialrechts der Gegenwart - jeweils auch mit zahlreichen
Literaturhinweisen.
6) Vgl. E. Eichenhofer/M. Zu/ecg (Hrsg.). Die Rechtsprechungdcs Europäischen Gerichtshofs zum Arbeitsund So?ialreeh! im Streit. Köln 1995 (Schriftenreihe der Europäischen Rechtsakademie Trier; Bd. 9). Die
folgenden Ausführungen sind auch durch diesc Schrift angeregt und nehmen auf die dort veröffentlichten
Beiträge Bezug - ohne den Charakter einer eigenständigen Rezension. Zur Konstituierung eines europäi.
schen Sozialraums durch rechtliche Regulierungen siehe G. RessIT. Stein, Europäischer Sozialraum. Sa·
den·Baden 1995.
7) Siehe: Die demographische Lage in der Europäischen Union. Bericht 1994. KOM (94) 595 endg. vom
13.12.1994; .. Kaum genutzte FreizUgigkeit in der EU". NZZ vom 6.1. 1995; Eurostat Jahrbuch 1995. Eu·
ropa im Blick der Statistik 1983-1993. Luxemburg 1995. Sozialportrait Europas. Hrsg. Eurostat. Luxem·
burg 1995.
188
Sicveking. Der EuGH als Motor der sozialen Integration der Gemeinschaft
Il. Rechtlicher Rahmen sozialer Integration
Der Vertrag über die Europäische Gemeinschaft - also das "Primäre Gemeinschaftsrecht" - nimmt an verschiedenen Stellen Bezug auf die Bedeutung der sozialen Integration: bereits Art. 2 EGV weist der Gemeinschaft u. a. die Aufgabe zu, "ein
hohes Beschäftigungsniveau, ein hohes Maß an sozialem Schutz, die Hebung der Lebenshaltung und der Lebensqualität, den wirtschaftlichen und sozialen Zusammenhalt und die Solidarität zwischen den Mitgliedstaaten zu fördern". Die Tätigkeit der
Gemeinschaft umfaßt u. a. eine Sozialpolitik mit einem Europäischen Sozialfonds,
die Stärkung des wirtschaftlichen und sozialen Zusammenhalts, einen Beitrag zur
Erreichung eines hohen Gesundheitsschutzniveaus sowie einen Beitrag zu einer
qualitativ hochstehenden allgemeinen und beruflichen Bildung.8) Maßnahmen der
sog. "negativen Integration", d. h. insbesondere die Beseitigung von Freizügigkeitshemmnissen, verfolgt die Gemeinschaft maßgeblich durch ihre Rechtsetzung "auf
dem Gebiet der sozialen Sicherheit für die Herstellung der Freizügigkeit der Arbeitnehmer". Dementsprechend hat die Gemeinschaft auf der Grundlage von
Art. 51 EGV ein Rechtssystem eingeführt, welches aus- und einwandernden Arbeitnehmern und den anspruchsberechtigten Angehörigen folgendes sichert:
a) Die Zusammenrechnung aller nach den verschiedenen innerstaatlichen Rechtsvorschriften berücksichtigten Zeiten für den Erwerb und die Aufrechterhaltung
des Leistungsanspruchs sowie für die Berechnung der Leistungen;
b) Die Zahlung der Leistungen an Personen, die in den Hoheitsgebieten der Mitgliedstaaten wohnen.
Dieses System wurde mit den Verordnungen der EWG Nr. 3 und 4/58 begründet, die
durch die bis heute geltenden Verordnungen/EWG Nr. 1408n1 und Nr. 574n2 abgelöst wurden. Hinzu kommt die VerordnunglEWG Nr.1612168 über die Freizügigkeit der Arbeitnehmer innerhalb der Gemeinschaft. Diese Verordnungen, die zugleich für die Familienangehörigen der Arbeitnehmer gelten, machen den Kernbestand des europäischen Sozialrechts aus. Ergänzend ist auf Art. 119 EGV hinzuweisen, der den Grundsatz des gleichen Entgelts für Männer und Frauen bei gleicher
Arbeit formuliert. Weitergehende sozialpolitische Aktionsmöglichkeiten der Gemeinschaft durch Maßnahmen im Bereich der sog. "positiven Integration" lassen
sich im Ansatz in den Vorschriften des Titels VIII EGV über Sozialpolitik, allgemeine und berufliche Bildung und Jugend finden. Mit der Errichtung des Europäischen Sozialfonds (Art. 123 EGV) soll innerhalb der Gemeinschaft die berufliche
Verwendbarkeit und die örtliche und berufliche Mobilität der Arbeitskräfte gefördert sowie die Anpassung an die industriellen Wandlungsprozesse und an Veränderungen der Produktionssysteme insbesondere durch berufliche Bildung und Umschulung erleichtert werden. Der EuGH hatte beispielsweise über die finanzwirksamen Entscheidungen in bezug auf bildungspolitische Förderungsprogramme zu ent-
8} vgl. Art. 3 i. j. o. P EGV.
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Sieveking, Der EuGH als Motor der sozialen Integ ration der Gemeinschaft
Sieveking, D e r EuGH als Motor der sozialen Integration der Gemeinschaft
scheiden~, so daß man mit gute~ Recht von einer sozialen Integration auch im Bildungsbereich sprechen kann.l~ Begrenzte Förderungsmaßnahmen kann die Gemeinschaft aufgrund veränderter Vorschriften nach dem Maastrichter Unionsvertrag im Bereich der allgemeinen und beruflichen Bildung und Jugend (Art. 126 und
127 EGV) sowie des Gesundheitsschutzes (Art. 129 EGV) beschließen.
mitgliedstaatlichem und europäischem R echt auf einer Tagung der Europäischen
Rechtsakademie in Trier 1994 ausführlich nachgezeichnet. 14) Die Kritik wurde vornehmlich aus den Bereichen der Politik 1S ), der Rechtsprechung16) und der Wirtschaft 17) vorgetragen. Auch die Wissenschaft hat sich dieses Themas vor allem unter dem Aspekt der Wechselwirkungen zwischen europäischem und nationalem Sozialrecht angenommen.18)
Die folgenden Ausführungen beschränken sich auf den Bereich sozialer Integration;
auf ihn bezieht sich die Rechtsprechung des EuGH im Bereich des Rechts der sozialen Sicherheit. Damit sind vor allem die Judikate aus dem Bereich des Europäischen Sozialrechts gemeint, die sich auf die Auslegung des primären und sekundären
Gemeinschaftsrechts im Bereich der Freizügigkeit und der sozialen Sicherheit der
Wanderarbeitnehmer beziehen. ll ) Fragen der Sozialpolitik und der wohlfahrtsstaatlichen Perspektiven der Europäischen Union 12), einschließlich der daraus erwachsenden Bedeutung für die soziale Integration in der Gemeinschaft müssen im
folgenden außer Betracht bleiben.
IIl. Der EuGH als Rechtsprechungsinstanz
1986 stellte der ehemalige Richter am EuGH Everling fest. daß das Richterrecht im
Gemeinschaftsrecht seinen festen Platz habe. Es sei ein wesentlicher Faktor für die
Sicherung des Bestandes und die Fortentwicklung der Gemeinschaft. 13) Anfang der
neunziger Jahre geriet der Gerichtshof zunehmend in das Schußfeld maßgeblich aus
Deutschland stammender Kritik. Schulte hat die Konflikte im Verhältnis zwischen
'1) Vgl. die Rechtsachen Rs 242187 ( KommissionIRat), EuG H Slg. 1989 1425 ff.: Rs 56188 (G roßbritan-
I~
11)
I: )
13)
nienlRat), EuGH Slg. 1989,1615 ff.: verb. Rs. C51/89, C·9OI89 und C-94f89, EuGH Slg. 1991. 2757 rr. Diese
zu den Programmen ERASMUS, PETRA, und COMEIT 11 ergangenen Entscheidungen des EuGH sind
nä her analysiert bei H.·}. Blanke, Europa auf dem Weg zu einer Bildungs· und Kulturgemeinschaft. München 1994, 33.: G. Schink, Kompetenzerweiterung im Handlungssystem der Europäischen Gemeinschaft:
Eigendynamik und _Policy Entreprcneurs~. Baden-Baden 1993, 72.: allge mein: K. Sievtking, Bildung im
Europäischen Gemeinschaftsrecht, in: Kritische Vieneljahresschrift fUr Gesetzgebung und Rechtswissen·
schaft 1990, 344: K. Schleicher (Hrsg.). Zukunft der Bildung in E uropa, Dannstadt 1993.
Vgl. K. Sitveking, Europäisierung der Bildungspolitik?, in: Zeitschrift für Ausländerrecht und Ausländerpolitik 1987, 99.
Vgl. hierzu stall vieler: K. Klang, Soziale Sicherheit und FreizUgigkeit im EWG-Vertrag, Baden·Baden
1986; B. Willms, Soziale Sicherung durch europäische Integration, Baden-Baden 1990: M. A. Dauses
(Hrsg.), Handbuch des EG-Wirtschaftsrechts, München, 1993, D. II: B. Schulte, Sozialrecht, in: K. O. Len~,
EG-Handbuch, Recht im Binnenmarkt, HerneIBeriin 1994.2. Aufl., 407. Umfassend den. Europäisches
Sozialrecht als Gegenstand rechtswissenschaftlicher Forschung, in: ZUkunftsperspcktiven des Europäi·
schen Sozialrechts (Hrsg. B. v. Mayde/VB. Schulte). Berlin 1996, 45. Siehe auch die Beiträge in: B.
SchultdW. Mäder (Hgg.), Die Regierungskonferenz Maastricht 11. Perspektiven für die Sozialgemeinschaft, Bo nn 1996. Allgemein: R. Schulu, Das internationale Sozialreeht der Bundesrepublik Deutschland,
Bade n-Baden 1988; E. Eichenho/er, Internationales Sozialrecht. München 1994.
Vgl. S. Leib/ried, Wohlfahrtsstaatliche Perspektiven der Europäischen Union: Auf dem Wege zu positiver
Souveränitätsverfleehtung?, in: M. }achten[uchs/B. Kohler·Koch (Hrsg.). Europäische Integration, Opladen 1996,455: G. Vobruba, Sozialpolitik im inszenierten E urokorporatismus, Zeitschrift für Sozialrcfonn
(ZSR) 1995.1: S. Leib/ried/P. Pierson (ed.). European Social Policy. Between Fragmentation and Integration, Washington. D.C. 1995.
Vgl. U. Everling, Rechtsvereinheitlichung dureh Richterreeht in de r Europäischen Gemeinschaft. Rabels
Zeitschrift. Bd. 50 (1986),193 (231).
190
Eine differenzierte Betrachtung hat Eichenhofer vorgeschlagen, der die Sorge der
deutschen Sozialleistungsträger und der Politiker vor zusätzlichen und ungerechtfertigten Lasten auf einen maßgeblichen Interessenkonflikt zurückführt: Die die
Wanderarbeitnehmer beschäftigenden Staaten wollten Sozialleistungen nur bei
Aufenthalt der Wanderarbeitnehmer und ihrer Familien im Staatsgebiet erbringen.
Hingegen begegneten sie einer Leistungspflicht bei Aufenthalt des Berechtigten
oder bei Verwirklichung anspruchsbegrundender Voraussetzungen in anderen Mitgliedstaaten mit Vorbehalten. l~ Die Vorwürfe, denen sich der EuGH durch eine angeblich .,politisch zu ambitiöse Rechtsprechung"~ ausgesetzt sieht, gehen sogar soweit, ihn als Ersatzgesetzgeber zu kennzeichnen. Das Spannungsfeld zwischen
Rechtsauslegung. Rechtsgestaltung und Rechtsetzung21 ) , in dem der EuGH offenbar steht, wirft grundSätzliche Fragen seiner Rechtsstellung auf. Es ist deshalb ein
genauerer Blick auf die dem EuGH vom Gemeinschaftsrecht zugeordnete Rechtsstellung erforderlich.
Die rechtsprechende Gewalt der Europäischen Gemeinschaften im institutionellen
Sinn wird zentral durch den Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften und das
ihm beigeordnete Gericht erster Instanz der EG ausgeübt. Nach Art. 164 EGV sichert der Gerichtshof "die Wahrung des Rechts bei der Auslegung und Anwendung
dieses Vertrags". Die Entscheidung. die letzte Verantwortung für die "Wahrung des
Rechts" in der GemeinschaftlUnion in die Hände einer unabhängigen permanenten
I~)
1')
I~
I')
18)
I~
~
11)
Vgl. B. Schulte, Ko nfliktfelder im Verhältnis zwischen mitgliedslaallichem und europäischem Recht. in: Ei·
chtnho/trlZulteg (Hrsg.) Fn. 6,11, mit ausführlichen Nachweisen.
So die zahlreichen Beiträge des Mitarbeiters beim BMA P. Clever, z. B.: Rechtsprechung des EuGH im
Sozialbereich auf de m Prüfstand. in: Sozialer Fortschriu 1992. 1. und zahlreichen weiteren Beitr'.igen, vgl.
die Nachweise bei Schullt, Fn. 5. 259.
Z. B. seitens des (damaligen) Präsidenten des Bundessozialgerichts, vgl. H. Reiter, Rechtsfonbildung oder
Rechtsschöpfung? Die G renzen der Rechtsprechu ng im Sozialraum E uropa, in: Zeitschrift fü r Sozialhilfe
und SozialgcsclZbuch 1993, 57.
So z. B. W. Erasmy, De r EuGH konterkariert nationales Arbeitsrecht, in: Arbeitgeber 1992, 856 und 1005
und 1993, 64.
B. Schulte / H. F. Zacher (Hrsg.), Wechsclwirkungcn zwischen dem Europäischen Sozialrecht und dem Sozialrecht der Bundesrepublik Deutschland, Be rlin 1991; Europäisches Sozialreeht, Bundestagung des
Deutschen Sozialrechl$verbandes e. V. vom 9.-11. Oktober 1991 in Duisburg, Wiesbaden 1992 (Schriftenreihe des Deutschen Sozialrechtsverbandes SDSRV 36). Zur Ro lle der Wissenschaft allgemein siehe 8.
Schulte, Europäisches Sozialrecht als Gegenstand der reehtswissenschafllichen Forschung. in: v. MaydelUSchulre, Fn.ll. 45-110; zuletzt F. Maschmann, Europäisches Sozialrecht und Sozialgeriehl$barkeit. Die
Sozialgerichtsbarkeit 1995. 584.
Vgl. E. Eichenho/er, Die Rolle des Europäischen Gerichtshofes bei der Entwicklung des Europäischen Sozialrechts, in: Die Sozialgerichtsbarkeit 1992, 573 ff. (573).
Vgl. P. Clever, Dem EuG H auf die Finge r geschaut, EG·Magazin 5/1993, 26 rr. (29).
Vgl. K. -D. Borchardt, De r Gerichtshof der EG als E rsalZgcsclZgcbcr?, in: EichenhoferlZuleeg, Fn. 6,
S. 53 ff.
191
Sieveking, Der EuGH als Motor der sozialen Integration der Gemeinschaft
Sieveking, D er EuGH als Motor der sozialen Integration der Gemeinschaft
Gerichtsinstanz mit obligatorischer Jurisdiktion zu legen, war von fundamentaler
Tragweite für den Integrationsprozeß. Denn damit wurden Begriffe und Nonnansätze der Gemeinschaftsrechtsordnung justiziabel gemacht. Für das Phänomen
der rechtlichen Einbindung des Integrationsprozesses und seiner Unterordnung unter normative Zielsetzungen prägte Hallstein, der erste Präsident der Europäischen
Kommission , den Begriff der Rechtsgemeinschaft. 22)
den Arbeitnehmern ein subjektives Recht auf Zahlung eines Konkursausfallgeldes
aus den Mitteln der zu schaffenden Garantieeinrichtung einzuräumen, diesem Recht
aber die unmittelbare Anwendbarkeit, d. h. seine Geltendmachung auch vor den nationalen Gerichten, versagt bleiben mußte, weil es in Folge fehlender Umsetzung
dieser Richtlinie an der Schaffung der Garantieeinrichtung und damit an der Bestimmung des Schuldners für die zu leistenden Zahlungen des Konkursausfallgeldes
fehlte. Der EuGH hat in seinem Urteil entschieden, daß sich der italienische Staat
wegen fehlender Umsetzung der Richtlinie gegenüber den betroffenen Arbeitnehmern schadensersatzpflichtig gemacht hat. Obwohl diese Ersatzpflicht im Gemeinschaftsrecht nicht ausdrücklich vorgesehen ist, ist sie nach Auffassung des EuGH untrennbarer Bestandteil der Gemeinschaftsrechtsordnung, da deren volle Wirksamkeit beeinträchtigt und der Schutz der durch sie begründeten Rechte gemindert
wäre, wenn die Gemeinschaftsbürger nicht die Möglichkeit hätten. für den Fall, daß
ihre Rechte durch gemeinschaftsrechtswidriges Handeln der Mitgliedstaaten verletzt werden, eine Entschädigung zu erlangen.28) Die Entscheidung des EuGH, die
nicht unumstritten ist,~ dokumentiert in eindrucksvoller Weise die rechtsschöpferische Tätigkeit des EuGH und die damit verbundene Anerkennung sozialer
Rechte 'O)
Der EuGH ist Kontrollorgan der politischen Gemeinschaftsorgane sowie der mitgliedstaatlichen Stellen, die Gemeinschaftsrecht vollziehen, und zugleich Individualschutzinstanz der grundlegenden Rechte und Freiheiten der Gemeinschaftsbürger. Diese Doppelfunktion findet ihren Ausdruck in den unterschiedlichen Verfahrensarten, insbesondere dem Vertragsverletzungsverfahren und dem Vorabentscheidungsverfahren. Die rechtliche Kontrolle der vom Rat geschaffenen Rechtssätze am Maßstab des Rechts mußte sich der EuGH wegen des auf Gemeinschaftsebene nur unvollkommen und lückenhaft bestehenden Rechts teilweise selbst
erarbeiten, er mußte also Recht schöpfen.23 ) Sofern es um die inhaltliche Ausgestaltung der Rechtssätze geht, wird deren Sinngehalt festgelegt, der von den Grundnormen der Gemeinschaftsrechtsordnung gefordert wird. Insoweit wird der EuGH
rechtsfortbildend tätig. Diese generelle Befugnis des EuGH zu Rechtsschöpfung
und Rechtsfortbildung wurde auch vom BVerfG anerkannt. 24) Wenn der Gesetzgeber keine hinreichende inhaltliche Ausgestaltung des auf Gemeinschaftsebene geschaffenen Rechts vornimmt, gerät der EuGH in Gefahr, seinen Auftrag, die Wahrung des Rechts zu sichern, zu mißachten, sofern sich ihm bei zur Entscheidung anstehenden Rechtsstreitigkeiten entsprechende Lücken ergeben. 2S)
Besonders deutlich wurde das Spannungsverhältnis zwischen Rechtsschöpfung und
Rechtsfortbildung in einem Rechtsstreit zweier italienischer Arbeitnehmer, Francovic und Bonifaci, der dem Urteil des EuGH vom 19. 11. 1991 zugrunde liegt.26) Die
italienischen Arbeitnehmer verklagten den italienischen Staat, der die Richtlinie der
Gemeinschaft Nr. 80/987fEWG vom 20. 10. 1980 zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über den Schutz der Arbeitnehmer bei Zahlungsunfähigkeit des Arbeitgebers27 ) nicht pflichtgemäß umgesetzt hat. Nach der Richtlinie
sollen Arbeitnehmer bei Zahlungsunfähigkeit ihres Arbeitgebers für eine bestimmte Zeit Zahlungsansprüche gegen eine Garantieeinrichtung wegen entgangenen Entgelts erhalten. Mit ihrer Vorlageentscheidung an den EuGH wollten die italienischen Richter wissen, ob aus der Richtlinie subjektive Rechte heIVorgehen und
- falls nicht - ob ein Schadensersatzanspruch gegen den italienischen Staat besteht.
Der EuGH stand hier vor dem Problem, daß diese Richtlinie zwar darauf abzielte,
n) Vgl. W. Hallstein, Dic Europäischc Gcmeinschaft, 5. Au" .• DüsscldorflWicn 1979. 51.; M. Zult!t!& Die Europäische Gemeinschaft als Rcchtsgemeinschaft. in: Neue Juristische Wochenschrift (NJW) 1994.545.
2:1) So zu Rccht Borchardt, Fn. 21. 54.
2<1) Vgl. Bcschluß des Zweiten Senats vom 8. 4. 1987, BVcrfGE 75. 223, 243.
lS) So U. Evcrling, Die Bedeutung des Gerichtshofes der Europäischen Gemeinschaften für die Entwicklung
und DurehseLZung des Gemeinsehaftsrechts, in: D er Beitrag des Rechts zum europäischen Einigungspro..
zeß (Forschungsbericht Nr. 32 der Konrad-Adcnauer-Stiftung) 1984, 117 (119).
16) EuGH Rs. C-6 und 9190 (Francovic und Bonifazi). Sig. 1991. 1-5357.5403.
27) ABlEG 1980L283n.3.
192
Das Urteil in der Rechtssache Francovic und Bonifaci verdeutlicht darüber hinaus
Aspekte, die mit der systematischen Stellung und der Rolle des EuGH verbunden
sind:
Das Gemeinschaftsrecht als eigene Rechtsordnung gilt neben der nationalen
Rechtsordnung im Bereich der Mitgliedstaaten. Alle Organe der Mitgliedstaaten,
namentlich die Gerichte sind verpflichtet, das Europäische Gemeinschaftsrecht
ohne Einschränkung anzuwenden. Bei Kollisionen gebührt dem Gemeinschaftsrecht sogar der Vorrang vor mitgliedstaatlichem Recht.)I)
"">
In dem Urteil vom 5. 3. 1996 - ve rb. Rs. C-46 und 4&'93 - Brasserie du Pecheur bzw. Factortame Ltd ..
EuZW 1996. 205. hat dcr EuGH die Grundsätze fOr die Staatshaftung innerhalb der EU präzisiert. Es mUSsen drei Voraussetzungen erfüllt sein: 1. Das EU-Recht muß dcm einzelnen bestimmte Rechte verliehen
haben; 2. Der Mitgliedstaat muß offenkundig und erheblich gegen das Gemeinschaftsrecht verstoßen haben: 3. dcm Bürger bzw. dem Unternehmen ist dadurch ein Schaden entstanden. Diese Rechtsprechung
wurde in mehreren Entscheidungen fortentwickelt. zuletzt EuGH. Urteil vom 8. 10. 1996 - Rs C-178194DilIcnhofer u. a .. EuZW 1996. 654. Siehe auch K.-D. Borchorde, EuroAS-Stichwort: Die Haftung der Mitgliedstaaten für Verletzungen des Gemeinschaftsrechts. EuroAS 1996. 63.
2') Einwände vor allem bei F. Ossenbiihl, Der gemeinschaftsrechtliche $taatshaftungsanspruch. Dcutsches
Verwaltungsblatt (DVB!.) 1992,993; W. Dün:.er-Vcrnonoti, Unzulässige Rechtsfortbildung des Europäischen Gerichtshofs. Recht der Internationalen Wirtschaft 1992.733.737; V. N~'sler, Richterrecht wandelt
EG-Richtlinien. Recht der Internationalen Wirtschaft 1993. 206. Überwiegend zustim mend dagegen:
Borchorde, Fn. 21. 60; K. Hoilbronner, Staatshaftung bei säumiger Umsetzung von EG-Richtlinien. Juristen Zeitung 1992, 284; S. U. Pit!per, Mitgliedstaatliehe Haftung für die Nichtbeachtung von Gemeinschaftsrecht. NJW 1992.2454; H.-I. Prit!ß, Die Haftung der EG Mitgliedstaaten bei Verstößen gegen das
Gemeinschaftsrecht. Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht (NVwZ) 1993, 118: R. Streint., Staatshaftung
für Verletzungen primären Gemeinschaftsrechtsdurch die Bundesrepublik Deutschland. EuZW 1993. 599.
~ In diesem Sinne auch M. Zuleeg. Die Rolle der rechtsprechenden Gewalt in der europaischen Integration.
Juristen Zeitung (JZ) 1994, I; ders .. Der Schutz sozialer Rechte in der Rechtsordnung der Europäischen
Gemeinschaft. Zeitschrift für Europäische Grundrechte 1992.329.
31) Zum Verhältnis von Gemeinschartsrecht und nationalem Recht siehe: U. Everling. Zum Vorrang des EGRechts vor nationalem Recht. DVBI. 1985, 1201. B. Beutler, in: B. BeutlerIR. Sieber!J. PipkornlJ. Streil, Die
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Sieveking. Der EuGH als Motor der sozialen Integration der Gemeinschaft
Die nationalen Gerichte sind bei Fragen der Auslegung des Gemeinschaftsrechts
zwar nicht vorlagepflichtig (Art. 177 Abs. 2 EGV), sie dürfen allerdings auch nicht
einen Rechtsakt der Gemeinschaft für ungültig erklären. Der EuGH spricht den nationalen Gerichten eine Verwerfungsbefugnis ab. Halten sie einen für die Entscheidung der Rechtssache erheblichen Rechtsakt der Gemeinschaft für ungültig, besteht
allerdings eine Vorlagepfllicht an den EuGH. Art. 177 Abs. 3 EGV zwingt alle mitgliedstaatlichen Gerichte, Fragen der Gültigkeit und der Auslegung dem EuGH vorzulegen. Auch das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) betrachtet den EuGH im
Vorabentscheidungsverfahren als gesetzlichen Richter i. S. v. Art. 101 Abs. 1 Satz 2
GG. In seinem Urteil zum Maastrichter Unionsvertrag hat das BVerfG einschränkend erklärt, daß eine vertragserweiternde Auslegung von Befugnisnormen für
Deutschland keine Bindungswirkung entfalten würde. 32) Dessen ungeachtet wird es
dem EuGH33 ) vorbehalten bleiben, einem Rechtsakt der Gemeinschaft die Gültigkeit abzusprechen. 34)
Nach diesen wenigen Hinweisen auf die institutionellen und rechtsmethodischen
Besonderheiten der Stellung des EuGH sind nunmehr ausgewählte Judikate des Gerichtshofs anzusprechen, die Beispiele für die Konstituierung des sozialen Integrationsraumes der Gemeinschaft markieren.
Der EuGH hat in seiner Rechtsprechung von Beginn an die Bedeutung der Arbeitnehmerfreizügigkeit als eine der Grundlagen der Gemeinschaft zum maßgeblichen
Anknüpfungspunkt seiner integrationsfreundlichen Rechtsprechung gemacht. Von
ihm aus sind status- und leistungsbezogene Integrationsschübe ausgegangen, die
nicht nur Gesetzesänderungen auf der Ebene der EG, sondern auch zahlreiche Anpassungen an das Europäische Gemeinschaftsrecht auf nationaler Ebene bewirkt
haben. Die Frage, für welche Personen und für welche Zwecke Freizügigkeit innerhalb der Gemeinschaft in Anspruch genommen werden kann, spielt für die Frage der
sozialen Integration eine ebenso große Rolle wie die Frage, in welchem Ausmaß soziale Leistungen bei Inanspruchnahme der Freizügigkeit gewährt werden. Im folgenden wird deshalb nach der Rolle des EuGH hinsichtlich der Statusintegration einerseits und der Leistungsintegration andererseits unterschieden.
Europäische Union. Rechtsordnung und Politik. 4. Aufl. Baden-Baden 1993. 94 ff.; S. Zuleeg-Feuerhahn,
EuroAS-Stichwort: Gemeinschaftsrecht und Grundgesctz, EuroAS 4/1994, 4.
32) BVerfGE 89.155.188.
33) Ausführlich: M. A. Dauses, Die Rolle des Europäischen Gerichtshofes als Verfassungsgericht der Europäischen Union, in: Integration 1994,215.; ders., Empfiehlt es sich, das System des Rechtsschutzes und
der Gerichtsbarkeit in der Europäischen Gemeinschaft, insbesondere die Aufgaben der Gemeinschaftsgerichte und dcr nationalen Gerichte weiterzuentwickeln?, Gutachten zum 60. Deutschen Juristcntag.
MUnstcr 1994, D 56.
:w) So zu Recht C. Tomuschat, Die Europäische Union untcr der Aufsicht des BVerfG. Zeitschrift !Ur Europäische Grundrcchte 1993,489,494; Zu/eeg, Fn. 30, JZ 1994, 1 (3).
194
Sieveking. Der EuGH als Motor der sozialen Integration der Gemeinschaft
w. Status-Integration
Die Entscheidungen des EuGH zur Personenverkehrsfreiheit, also zum Anwendungsbereich des Freizügigkeitsrechts sind kaum noch überschaubar.35 ) Die folgenden Hinweise beschränken sich auf einige zentrale Aspekte der durch Entscheidungen des EuGH bewirkten Integrationsschübe im Bereich der Freizügigkeit. Im Zentrum steht dabei die Konkretisierung der Bedeutung des Begriffs des Arbeitnehmers
i. S. d. Art. 48 EGV. Als wesentliches Merkmal der Tätigkeit im Lohn- oder Gehaltsverhältnis hat der EuGH drei Kriterien herausgestellt: Der Arbeitnehmer erbringt Leistungen für einen anderen; er untersteht dabei dessen Weisungen; er erhält als Gegenleistung eine Vergütung. 36) Es muß sich immer um ein Arbeitsverhältnis mit Berührung zu einem anderen Mitgliedstaat handeln. In der Rechtssache
Levin hat der Gerichtshof anerkannt, daß auch Teilzeitarbeit - im vorliegenden Fall
eine Wochenarbeitszeit von 12 Stunden - die Arbeitnehmereigenschaft i. S. d.
Art. 48 ff. EGV erfülle und zwar selbst dann, wenn das daraus erzielte Einkommen
unter dem in der betreffenden Branche garantierten Mindesteinkommen (Existenzminimum) liegt. 37) Auch Personen, die in einem bezahlten Beschäftigungsverhältnis
ihre Ausbildung erhalten, fallen unter die Arbeitnehmerfreizügigkeit.
Besondere Bedeutung hat der Fall einer Engländerin erhalten, die sich in BadenWürttemberg vergeblich um Zulassung als Studienreferendarin beworben hatte.
Der EuGH hat ihre Arbeitnehmereigenschaft damit begründet, daß sie während eines wesentlichen Teils des Vorbereitungsdienstes schon Unterricht erteilen
38
müsse. ) Schüler und Studenten sind unter bestimmten Voraussetzungen nach
früherer Berufstätigkeit weiterhin als Arbeitnehmer anzusehen und können sich zur
39
Förderung ) ihrer Studien auf Art. 7 Abs. 2 der VerordnunglEWG NT. 1612/68 berufen.
Zu der Frage, ob Studenten ein Freizügigkeitsrecht genießen bzw. gleichberechtigten Zugang zu Bildungseinrichtungen in anderen Mitgliedstaaten haben, hat der
EuGH ein wegweisendes Urteil in der Rechtssache Gravier gefälIt. 40) Diesem lag
der Fall zugrunde, daß von der französischen Staatsangehörigen Fran~oise Gravier,
die an der Academie Royale Des Beaux Arts Lüttich die Fachrichtung Comic Strip
studieren wollte, eine Studiengebühr verlangt wurde, die von belgischen Staatsangehörigen nicht verlangt wird. Mit dieser Gebühr wollte Belgien auch solche Familien an den Kosten des belgischen Bildungssystems beteiligen, die keine Steuern in
Belgien zahlen. Als sich Frau Gravier weigerte, die ihr auferlegten Studiengebühren
3') Eine systematische Darstellungjetzt bei G. Brinkmann, Aufenthaltsrecht der Ausländer aus EG-Staaten,
in: B. Huber, Handbuch des Ausländer- und Asylrechts, München (Stand: 1.8.1996). III SystDarst.
;)6) EuGH Rs. 66185, Sig. 1986 2121- L1wrie-Blum. Nach dem Urteil vom 15. 12. 1995 _ Rs. C-415/93 _ Bos.
man, Slg. 1995, I - 4921. werden zu den Tätigkeiten auch sportliche Aktivitäten gezählt, sofern ein Arbeitsvertrag vorliege.
31 EuGH Rs. 53/81, Slg. 1982, 1035 _ Levin.
lS) EuGH Rs. 66185, Sig. 1986,2121- Lawrie-Blum. Nach dem Urteil vom 15. 12. 1995 _ Rs
~ Zur Ausbildungsförderung siehe K. Sieveking, Europäische Dimensionen der sozialen Sicherheit (VI):
Ausbildungsförderung, EuroAS 1996,44.
~ EuGH Rs. 293183, Sig. 1985.593 - Gravier.
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Sieveking. Der EuGH als Motor der sozialen Integration der Gemeinschaft
Sieveking, Der EuGH als Motor der sozialen Integration der Gemeinschaft
aus Diskriminierungsgründen zu bezahlen, wurde ihr die Einschreibung verweigert,
so daß ihre Aufenthaltserlaubnis nicht verlängert werden konnte. Aufgrund des vom
angerufenen belgischen Gericht eingeleiteten Vorabentscheidungsersuchens entschied der EuGH, daß der Zugang zum und die Teilnahme am Unterricht im Bildungswesen und in der Lehrlingsausbildung nicht außerhalb des Gemeinschaftsrechts stünde, und daß die Erhebung einer Studiengebühr nur von Studenten aus anderen Mitgliedstaaten, nicht aber von inländischen Studenten, eine Diskriminierung
aus Gründen der Staatsangehörigkeit darstelle. Nicht zuletzt als Folge dieser Entscheidung hat der Rat 1990 neben anderen Richtlinien auch die Richtlinie über das
Aufenthaltsrecht der Studenten erlassen, die aufgrund des EuGH-Urteils41 ) 1993
durch eine neue Richtlinie ersetzt wurde. 42)
teil Bonsignore45) ging es um die Rechtfertigung einer Ausweisungsentscheidung eines vom Jugendschöffengericht wegen fahrlässiger Tötung und unerlaubten Waffenbesitzes für schuldig befundendenen Jugendlichen. Man hatte jedoch von der
Verhängung einer Strafe abgesehen, da der Angeklagte durch die Folgen der Tat
mehr, als eine Strafe es vermocht hätte, getroffen war. Dieser hatte beim unvorsichtigen Hantieren mit einer Pistole seinen jüngeren Bruder tödlich verletzt. Die gleichwohl von der Kölner Stadtverwaltung verfügte Ausweisung hielt der EuGH nicht
mit Gemeinschaftsrecht vereinbar, da von dem Kläger keine gegenwärtige Gefahr
mehr ausgehe und generalpräventive GesiChtspunkte zur Rechtfertigung der Ausweisung nicht herangezogen werden dürften. Insgesamt macht die Rechtsprechung
deutlich, daß - im Gegensatz zum allgemeinen Ausländerrecht - gegenüber Staatsangehörigen anderer Mitgliedstaaten der Gemeinschaft eine aktuelle, tatsächliche
und hinreichend schwerwiegende Gefährdung der öffentlichen Ordnung vorliegen
muß.
Weitreichende Konsequenzen hat die Rechtsprechung des EuGH im Bereich des
Zugangs zu Stellen in der öffentlichen Verwaltung nach Art. 48 Abs. 4 EGV gehabt.
Nach dieser Vorschrift finden die Freizügigkeitsregeln keine Anwendung auf die
BeSChäftigung in der Öffentlichen Verwaltung. Entgegen der Tendenz in den Mitgliedstaaten, den Begriff der "Öffentlichen Verwaltung" als eine Verweisung auf das
nationale Recht verstehen zu wollen, hat der EuGH schon früh eine gemeinschaftseinheitliche Auslegung und Anwendung von Art. 48 Abs. 4 EGV verlangt. Im
Hinblick auf die Bedeutung der Freizügigkeit für die Integration hat der EuGH den
Ausnahmebereich dieser Regelung eng gefaßt und nach gemeinschaftlichen Kriterien bestimmt. In der Rechtssache Sotgiu43 ) und Kommission gegen den belgisehen
Staat44 ) hat der EuGH nach funktionellen Gesichtspunkten darauf abgestellt, daß
nur solche Stellen aus dem Anwendungsbereich ausgenommen sind, die eine unmittelbare oder mittelbare Teilnahme an der Ausübung hoheitlicher Befugnisse und
an der Wahrnehmung solcher Aufgaben mit sich bringen, die auf die Wahrung der
allgemeinen Belange des Staates gerichtet sind.
Reiches Anschauungsmaterial zur Frage der sozialen Integration liefert die Rechtsprechung des EuGH zu den Grenzen der Freizügigkeit unter dem Vorbehalt der aus
Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit und Gesundheit gerechtfertigten Beschränkungen nach Art. 48 Abs. 3 EGV. Hier liegt ein breites Feld für die Aufrechterhaltung nationalstaatlicher Ordnungsvorstellungen, gerade wenn man an die Behandlung der straffällig gewordenen Bürger denkt. Der EuGH hat im Konflikt zwischen dem Schutz der mitgÜedstaatlichen öffentlichen Ordnung und dem Recht auf
Freizügigkeit Beschränkungen dieses Freizügigkeitsrechts nur in eng umgrenzten
Ausnahmefällen gerechtfertigt. Als Beispiel seien die Straffälligen genannt: Im Ur-
41) EuGH Rs. C-295/90, Sig. 1992,4193 - PariamentIRat.
42) Richtlinie 93/%/EWG des Rates vom 29.10.1993 über das Aufenthaltsreeht der Studenlen, Amtsblatt EG
Nr. L 317 vom 18. 12. 1993. S. 59.
43) EuGH Rs. 152n3, Slg.1974. 153 - Sotgiu.
-44) EuGH Rs. 149n9, Sig. 1980,3881 und Sig. 1982, 1845 - KommissionIBe1gicn: Sig. 1986,2121, Rs. 66/85Lawrie·BJum; Sig. 1987.2625. Rs. 225185 - KommissionlItalien. dazu allgemein: H. Eschmann, Die Frei·
zügigkeit der EG-Bürger und der Zugang zur öffentlichen Verwaltung, Baden-Baden 1992. Siehe jetzt auch
EuGH. Urteil vom 2. 7. 1996- Rs C-473193 - KommissionlGr. Luxemburg, EuroAS 1996, 132.
196
In der Bouchereau-Entscheidung46) ging es um einen in Großbritannien als Arbeitnehmer beschäftigten französischen Staatsangehörigen, der wiederholt im Besitz
von Drogen angetroffen und zunächst zu einer Bewährungsstrafe verurteilt worden
war. In einem während der Bewährungszeit anhängiggewordenen weiteren Verfahren wegen des gleichen Delikts hatte der englische Richter darüber zu befinden, ob
eine nach dem Recht des Vereinigten Königreichs vorgesehene Ausweisungsempfehlung zu geben war. Nach der Rechtsprechung des EuGH setzt eine Berufung auf
den Begriff der öffentlichen Ordnung voraus, daß außer der Störung, die jede Gesetzesverletzung darstelle, eine tatsächliche und hinreichend schwere Gefährdung
vorliegen müsse, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berühre. In der Rechtssache Bouchereau überließ es der EuGH dem staatlichen Gericht, diese Wertung im
konkreten Falle selbst vorzunehmen. Im Falle der niederländischen Staatsangehörigen van Duyn hielt es der Gerichtshof für gerechtfertigt, daß ihr die Einreise nach
Großbritannien versagt wurde, wo sie eine Tätigkeit als Sekretärin bei einer Einrichtung der Church of Scientology anzutreten beabsichtigte. 47) Es liegt in der Linie
der Rechtsprechung des EuGH, in den Fällen, in denen es um die moralische Bewertung von Verhaltensweisen geht, Maßnahmen gegenüber Angehörigen eines anderen Mitgliedstaates nur dann zu rechtfertigen, wenn der das Verhalten im Einzelfall beurteilende Staat gegenüber dem gleichen Verhalten, das von eigenen Staatsangehörigen ausgeht, entsprechende Zwangsmaßnahmen vorsieht. 48)
Zu den Sozialhiljeempjängern gibt es bislang keine Entscheidung des EuGH, nach
der allein wegen des Sozialhilfebezugs eine Ausweisung erfolgen dürfte. In diesem
Zusammenhang ist festzustellen, daß die Integration durch Freizügigkeit nach dem
Erlaß der sog. Freizügigkeitsrichtlinien von 1990 betreffend die Rentner, StudentInnen und sonstigen BürgerInnen -lediglich zwei Einschränkungen unterworfen ist:
-'..'I) Rs. 67n4, Sig. 1975.297 - Bonsignore. Allgemein zur Ausweisung von Unionsbürgern G. Brinkmann, Beendigung des Aufenthahes von EG-Bürgem. in: K. Barwig u. a .. Ausweisung im demokratischen Rechtsstaat, Baden·Baden 1996, 155.
~ EuGH Rs. 30177. Sig. 1977, 1999 - Boucherau.
"") EuGH Rs. 41n4. Slg. 1974, 2337 - van Duyn.
~) EuGH-vcrbundene Rs. 115 und 126181, Sig. 1982, 1665 - Adoui und Comuaille.
197
,
Sicvcking, D cr EuGH als Motor der sozialen Integration de r Gemeinschaft
dem Nachweis von ausreichendem Lebensunterhalt und Krankenversicherungsschutz. Vor dem Hintergrund des in der gesamten Gemeinschaft bestehenden Problems der hohen Arbeitslosigkeit interessiert in diesem Zusammenhang auch das
Urteil des EuGH in der Rechtssache Antonissen_ Danach dürfen sich Arbeitslose,
die sich zum Zwecke der Arbeitsuche in einen anderen Mitgliedstaat begeben, dort
länger als ein halbes Jahr nur dann aufhalten, wenn sie eine konkrete Aussicht auf
Beschäftigung nachweisen können_ 49 )
Der Status von Familienangehörigen ist - sofern sie nicht selbst Arbeitnehmer sind
- von de r Arbeitnehmereigenschaft der Ehegatten oder Eltern abhängig_ Für getrennt lebende Eheleute besteht das Aufenthaltsrecht des Ehegatten des freizügigkeitsberechtigten Arbeitnehmers bis zur rechtskräftigen Scheidung oder Nichtigerklärung der Ehe.") Nach Art. 10 der VerordnunglEWG Nr. 1612/68 dürfen Ehegatten ungeachtet ihrer Staatsangehörigkeit bei dem Arbeitnehmer Wohnung nehmen.
Voraussetzung ist, daß der Arbeitnehmer für seine Familie über eine Wohnung verfügt, die in dem Gebiet, in dem er beschäftigt ist, dem für die inländischen Arbeitnehmer geltenden normalen Anforderungen entspricht. Zu dieser Frage kam es zu
einem Vertragsverletzungsverfahren der Kommission gegen die Bundesrepublik
Deutschland, weil zahlreiche Ausländerbehörden bei der Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis-EG nach § 7 des AufenthGIEWG genauso wie bei der erstmaligen
Erteilung den Nachweis einer angemessenen Wohnung forderten. Dazu entschied
der EuGH, daß das Fehlen e iner angemessenen Wohnung später, etwa bei der Geburt oder der Volljährigkeit eines Kindes oder auch bei Wohnungswechsel nicht zur
Versagung der Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis-EG oder zu deren naChträglicher zeitlicher Beschränkung führen darf.SI) Der deutsche Gesetzgeber mußte § 7
AufenthGIEWG, der Anlaß für diese Entscheidung war und vom EuGH insoweit
für gemeinschaftsrechtswidrig erklärt wurde, durch Hinzufügen eines neuen Abs. 10
ergänzen.
A uch Kinder von Wanderarbeitnehmern dürfen bis zu ihre m 21. Lebensjahr Wohnung beim freizügigkeits berechtigten Arbeitnehmer nehmen. Ihnen wird die Teilnahme am allgemeinen Unterricht sowie an der Lehrlings- und Berufsausbildung garantiert. 52) Der EuGH hatte bereits mit Urteil vom 13. 11. 1900s3) den in Art. 12 der
Freizügigkeitsverordnung niedergelegten Teilnahmeanspruch nicht nur auf die Zulassungsbedingungen, sondern auch auf die allgemeinen Maßnahmen, die die Teilnahme am Unterricht erleichtern sollen, bezogen. Der EuGH hat daraus einen Anspruch auf gleiChberechtigte Inanspruchnahme von Beihilfen, die zur D eckung der
Ausbildungskosten und des Lebensunterhalts dienen, abgeleitet.
4') Vgl. EuGH Rs. C-292/89. Slg. 1991. 1-745 - Antonissen. Zur Bedeutung der So7ialhilfe im Europäischen
Gemeinschaftsrecht kann im vorliegenden Zusammenhang nicht Stcllung genommen werden. Sichc dazu
B. Schulte, Grundsicherung- Sozialhilfe. in: Europäisches Sozialrecht. Fn. 18. 199.
~ Vgl. EuGH Rs. 267/83, Slg. 1985,567 - Diata. Zum gleichberechtigten Nachzugsrecht eines ausländischen
ständigen Lebensgefährten siehc EuGH. Rs. 59/85. Sig. 1986, 1283 - Recd.
$1) EuGH Rs. 249/86. Slg. 1989, 1263 - KommissionIDeutschland.
'~ Vgl. Art. 10, 12 VO/EWG Nr. 1612168.
lJ) Rs. C-308J89, Slg. 1990, I-4185·Di Lco.
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Sieveking, D er EuG H als M o tor der soziale n Integrat ion der Gemeinschaft
In einer neueren Entscheidung des EuGH vom 4. 5. 1995 54) hat der EuGH Art. 12
dahingehend ausgelegt, daß weder die Altersgrenze noch das Erfordernis einer Unterhaltsgewährung den Begriff des Kindes einschränken könnten. Ein seit seinem
zweiten Lebensjahr in Deutschland lebender Belgier, der wegen des Todes seines
Vaters eine Halbwaisenrente bezieht und keinen Unterhalt von seiner Mutter erhält,
hatte zunächst in Deutschland die Hochschulreife erworben und das Studium der
Biologie aufgenommen. Zur Fortsetzung seines Studiums im Vereinigten Königreich beantragte er Ausbildungsförderung. Dieser Antrag wurde abgelehnt. Erst
eine Vorlageentscheidung des Bundesverwaltungsgerichts gab dem EuGH G elegenheit, diese seit langem umstrittene Frage im Sinne einer Statusklärung und Statusverbesserung eines Kindes eines Wanderarbeitnehmers herbeizuführen.
Eine besondere Relevanz hat in den letzten Jahren der Status von Drittstaatsangehörigen erhalten. Von den 1992SS ) in der EG insgesamt lebenden Drittstaatsangehörigen kommt ein Teil aus Staaten, mit denen die EG Assoziationsverträge abgeschlossen hat. Von den EG-Staaten haben Deutschland mit ca. 41 % (davon 1,9
Mio. Türken) und Frankreich mit ca. 22% (1,63 Mio. Afrikaner, vor allem Algerier
und Marokkaner) die größten Anteile von Nicht-EWR-BürgernS6). Ende 1991 lebten in Belgien ca_ 227 000, in Dänemark ca. 30000, Ende 1993 in Italien ca. 98000
und in den Niederlanden 377 ()()() Staatsangehörige aus AssoziationsstaatenS7)_
Ungeachtet der fehlenden Kompetenzen der EG bezüglich der Rechtsstellung von
Drittstaatsangehörigen kam es 1987 zu einem Urteil des Europäischen Gerichtshofs,
dem eine Klage mehrerer Mitgliedstaaten, u. a. der Bundesrepublik Deutschland,
gegen die Kommission der EG zugrunde liegt. Die Staaten wendeten sich gegen die
Entscheidung der Kommissionss) zur Einführung eines Mitteilungs- und Abstimmungsverfahrens über die Wanderungspolitik gegenüber Drittländern; nach Ansicht der Kläger gehörte dieser Aufgabenbereich ausschließlich in die Zuständigkeit
der Mitgliedstaaten. Der EuGH entschied, daß u_a_ der Bereich der Entscheidung
der Kommission, der sich auf Fragen der kulturellen Eingliederung der Arbeitnehmer aus Drittländern und ihrer Familienangehörigen beziehe, nichtig sei. Im übrigen wurden die Klagen abgewiesen und festgestellt, daß die Wanderungspolitik insoweit zu den sozialen Frage n im Sinne von Art. 118 EWGV gehöre, als sie die Lage
der Arbeitnehmer aus Drittländern im Zusammenhang mit deren Einfluß auf den
Arbeitsmarkt in der Gemeinschaft und auf die Arbeitsbedingungen betrifft_5~
$4) E uG H. Rs. C-7/94-Gaal, Slg. 1995, 1 -1031.
55) Nach Ausku nft von Eurostat Jun i 1994. Siehc auch: Fr:auc n und MäDne r in de r Europäischcn Union. Ein
statistisches Portrait, Luxemburg 1995. Vgl. auch ~Eurostat - im Zahlenlabyrinth der Europäischen
U Dion NZZ 31. 12. 1994.
$6) Vgl. Eurostat: Schnellbcrichtc. Bevölkerung und soziale Bedingungen. Heft 7/1994, S. 4.
~ Zablen aus: Ausländerinnen und Ausländer in e uropäischen Staaten. Mitteilungen der Beauftragte n der
Bundesregierung für die Belange der Ausländer, August 1994. S. 54 H.
~ En tscheidung der Kommission vom 8. 7.1985 (851381fEWG).
5') EuGH. verbundene Rs. 281, 283. 284, 285 und 2fnnS, 51g. 1987. 3203 - Bundesrepublilc Deutschland u. a.
gege n Kommission. Die Kommission wiederholte unter Berücksichtigung der Auffassung des EuGH die
Entscheidung übcrein Mitteilungs. und Abstimm ungsverfahren, vgl. ABlEG Nr. ll83 vom 14. 7. 1988.
M
•
199
Sieveking. D er EuGH als Motor de r soziale n Integration der Gemeinschaft
Mit dem durch die Einheitliche Europäische Akte zum Ziel gestellten Vorhaben eines einheitlichen Binnenmarktes erhielt die Frage nach der Freizügigkeit der Drittstaatsangehörigen innerhalb der Gemeinschaft und damit auch die nach der Gemeinschaftskompetenz bezüglich der Regelung der Rechtsstellung der Drittstaatsangehörigen eine neue Aktualität. Eine gewisse Änderung hat der Maastrichter
Unionsvertrag gebracht, dessen Art. 100c EGV Entscheidungen des Rates über eine
gemeinsame Visapolitik vorsieht. Im übrigen werden Fragen der Asylpolitik, der
Einwanderungspolitik und der Politik gegenüber den Staatsangehörigen dritter Länder als Angelegenheiten von gemeinsamem Interesse betrachtet, die im Rahmen der
Zusammenarbeit im Bereich Justiz und Inneres - der "dritten Säule" des Unionsvertrages - behandelt werden.~ Auf dieser Grundlage hat inzwischen der Rat "Justiz und Inneres" der Europäischen Union u. a. den für die Integration im schulischen Bereich wichtigen Beschluß über Reiseerleichterungen für Schüler aus Drittstaaten mit Wohnsitz in einem Mitgliedstaat gefaßt.61 )
Maßgeblichen Einfluß hat der EuGH auf die Rechtsstellung von türkischen Staatsangehörigen genommen. Dem ersten richtungsweisenden Urteil des EuGH von 1987
in der Rechtssache Demirellag ein Fall des Familiennachzugs zugrunde. Die Ehefrau eines seit längerem in der Bundesrepublik Deutschland befindlichen türkischen
Arbeitnehmers war zunächst zu Besuchszwecken eingereist, dann aber geblieben,
und hatte um Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nachgesucht. Die für den EuGH
zu entscheidende Frage ging dahin, ob die im Assoziationsabkommen EWGITürkei
und im Zusatzprotokoll erwähnte Freizügigkeit nach dem Ablauf der Umsetzungsfristen am I.Dezember 1986 nunmehr einen subjektiven Anspruch von Individuen
begründe und ob hiervon auch der Familiennachzug erlaßt sei. Der EuGH entschied
zunächst eindeutig zugunsten seiner eigenen Prüfungskompetenz. Materiell-rechtlich hält er eine gemeinschaftsrechtliche Vorschrift, also auch Vorschriften des Assoziationsrechts EWGITürkei nur dann für unmittelbar anwendbar, wenn sie unter
Berücksichtigung ihres Wortlauts und im Hinblick auf den Sinn und Zweck des Abkommens eine klare und eindeutige Verpflichtung enthält, deren Erfüllung und deren Wirkungen nicht vom Erlaß eines weiteren Aktes abhängen.62) Für Regeln des
Assoziationsabkommens und des Zusatzprotokolls hat er diese Rechtsqualität allerdings verneint.
Der EuGH hat diese Rechtsprechung in den fol genden Jahren in Bezug auf Rechtspositionen nach dem Assoziationsratsbeschluß Nr. 1180 weiter konkretisiert. Insbesondere in den Urteilen in den Rechtssachen Sevince63) und Kus 64) hat der EuGH
durch die Entscheidungen über den Zusammenhang von Arbeits- und Aufenthaltserlaubnis nach dem Assoziationsratsbeschluß Nr. 1180 die Rechtspositionen der
Sievekin g. Der EuGH als Motor de r soziale n Integration de r Gemeinschaft
Türken ausgefonnt. Nach der Entscheidung in der Rechtssache Eroglu6S) haben türkische Kinder, deren Eltern legal in einem Mitgliedstaat der Europäischen Union
beschäftigt sind, ein Recht auf eine eigene Arbeitserlaubnis. Voraussetzung ist allerdings, daß sie in einem EU-Mitgliedstaat eine Berufsausbildung abgeschlossen
haben und sich nachweislich um eine Arbeitsstelle bewerben.
Auf der Grundlage des in einzelnen Kooperationsabkommen zwischen der EWG
und den Anrainerstaaten des Mittelmeeres niedergelegten Gleichbehandlungsgrundsatzes hat der EuGH zur weiteren Festigung der Rechtsstellung von Drittstaatangehörigen aus den A ssoziationsabkommenslandern in der EG beigetragen. Im Urteil des EuGH vom 31. 1. 1991 in der Rechtssache Kziber (6 ) ging es um die Frage, ob
Frau Kziber als marokkanischer Staatsangehöriger die Gewährung von Arbeitslosenunterstützung nach belgischem Recht verwehrt werden dürfe. Sie ist Tochter eines in Belgien im Ruhestand lebenden Marokkaners, der dort als Arbeitnehmer beschäftigt gewesen ist. Unter Berufung auf seine Rechtsprechung in der Rechtssache
Demirel hat der EuGH Art. 41 des Kooperationsabkommens EWG-Marokko für
unmittelbar anwendbar erklärt und damit Frau Kziber einen gleichberechtigten Anspruch auf das nach belgischem Recht vorgesehene Überbrückungsgeld für junge
Arbeitsuchende eingeräumt. Auf der gleichen Linie liegt die Gewährung einer Behindertenbeihilfe für den Sohn eines in Belgien beschäftigten marokkanischen
Staatsangehörigen67 ) und die Gewähr einer Zusatzhilfe zu einer Witwenrente einer
Algerierin, deren Mann sein gesamtes Berufsleben in Frankreich verbracht hat.68)
Die auch in diesen Urteilen des Gerichtshofs deutlich werdende Stärkung der
Rechtsposition von in der Gemeinschaft lebenden Drittstaatsangehörigen hat zur
Frage geführt, ob man nunmehr von "drittstaatsangehörigen Unionsbürgern" sprechen müßte.~ Insgesamt kann festgestellt werden, daß mit der Stärkung der Rechtsposition von Drittstaatsangehörigen aus Assoziationsstaaten maßgebliche Schritte
zu deren Integration in die Gesellschaften der Mitgliedstaaten der EG gemacht worden sind. 70)
611) EuGH Rs. C-355J93. Sig. 1994.1-5113. Siehe ausführlich R. Gutmann, Die Assoziationsfreizügigkeit türkischer Staatsangehöriger. Baden·Baden 1996.
~ Rs. C1819O. Sig. 1991. 199.
6) Vgl. EuGH. Urteil vom 20. 4. 1994. Rs. C-58193 - Yousfi - 1994. 1-1353; siehe auch das Urteil des EuGH
vom 3.10.1996 - Rs C-126195 - Hallonzi-Choho. EuroAS 1996. 186.
611) Vgl. EuGH. Rs. C103194. Urteil vom 5. 4. 1995 - Krid. Sig. 1995. I - 719. Zur Frage der Anwendbarkeit
der Koordinationsregeln der VO/EWG Nr. 1408f71auf Türken nach dem Assoziationsratsbeschluß Nr.
3180 siehe K. Sj~v~kjng. Die Anwe nd ung des Assoziationsratsbeschlusses Nr. 3180 auf türkische Staatsangehörige in Deutschland, in: H. Licht~lIbugiG. LinntdH. GümTÜkcü (Hrsg.). Gastarbeiter - Einwanderer
- Bürger? Baden-Baden 1996.
D3Zujetzt das Urteil des EuGH vom 10. 9.1996, Rs. C-WI94 - Taflau
Met u. 3.. EuroAS 1996. 168.
~ Vgl. A. Nachbaur, T ürkische Arbeitnehmer in der EU - Drittstaatsangehörige Unionsbürger? Die E roglu-Entscheidung des E uG H. NVwZ 1995. 344.
~ Ausführlich: K. Sj~..,~killg, Die RechtsteIlung von Drittstaatsangehörigen nach Assoziationsreeht. Zeitschrift für Ausländisches und Internationales Arbeits- und Sozialrecht (ZIAS) 1995, 227. Im Zusammenhang mit der sog. Maastricht lI-Diskussion wird über eine Regelung bezüglich der Rechtspositionen von
Drittstaatsangehörigen nachgedacht. vgl. D. B. Willn, Staatsangehörige von Driuländem in der Europäischen Union. Das Recht auf Gleichbehandlung. London. November 1995.
n.
~ Siehe näheres in Art. K E UV.
61) Siehe dazu K. Sjev~kjflg, Reiseerleiehterungen für Schüler. Recht der Jugend und des Bildungswesens 1995.
331.
~) Vgl. EuGH Rs. 12186. Sig. 1987. 3719 - Demirel.
63) EuGH Rs. C-I92f89. Sig. 1990. 3463 - Sevince.
601) EuGH Rs. C-237/91. Sig. 1m. I-6781-Kus.
200
201
Sieveking. Der EuGH als Motor der sozialen Integration der Gemeinschaft
V. Leistungs-Integration
Mit dem Begriff Leistungs-Integration sollen im Folgenden Aspekte der sozialen Sicherung angesprochen werden, mit denen der Europäische Gerichtshof die Auslegung des primären und sekundären Gemeinschaftsrechts maßgeblich geprägt hat. Es
geht dabei vor allem um die sozialrechtliche Anerkennung von Beitragszeiten der
Arbeitnehmer in unterschiedlichen Mitgliedstaaten, die Gleichstellung von Tatbeständen innerhalb der Gemeinschaft, den Leistungsexport sowie die Bedeutung des
Grundsatzes der Nichtdiskriminierung im Sozialbereich. Unter dem Gesichtspunkt
der Integration sind die gewandelte Bedeutung des Territorialitätsprinzips im Rahmen des europäischen koordinierenden Sozialrechts einerseits und die Diskriminierungs- und Behinderungsverbote im Europäischen Arbeits- und Sozialrecht andererseits anzusprechen.
1. Zur Bedeutung des Territorialitätsprinzips
Die auf der Grundlage von Art. 51 EGV erlassenen VerordnungenlEWG Nr.
140Snl und Nr. 574n2 koordinieren die Sozialrechtsordnungen der Mitgliedstaaten
bei der Inanspruchnahme der Freizügigkeit von Wanderarbeitnehmern. Dieses
"freizügigkeitsspezifische Sozialrecht"71) hannonisiert zugleich das Internationale
Sozialrecht der Mitgliedstaaten insofern, als das autonome sowie das auf zwei- oder
mehrseitigen Sozialversicherungsabkommen beruhende internationale Sozialrecht
der Mitgliedstaaten im Verhältnis der Mitgliedstaaten untereinander durch ein einheitliches europäisches Recht ersetzt wird. 72 ) Das Europäische Sozialrecht verbietet
zwischen Angehörigen der EG-Staaten sozialrechtliche Differenzierungen aufgrund
der Staatsangehörigkeit; es sichert und organisiert die Erbringung sozialrechtlicher
Dienst-, Sach- und Geldleistungen, falls sich der nach dem Recht eines Mitgliedstaates Berechtigte in einem anderen Mitgliedstaat aufhält; es ordnet die Zusammenrechnung von Zeiten an, von denen die Entstehung eines Sozialleistungsanspruchs abhängt, und regelt die Berechnung dieser Ansprüche, falls ein Berechtigter in das sozialrechtliche System mehrerer Mitgliedstaaten nacheinander einbezogen war; schließlich sieht das Gemeinschaftsrecht die Berücksichtigung von den in
anderen Mitgliedstaaten lebenden Familienangehörigen bei der Bestimmung familienabhängiger Leistungen nach dem Recht eines Mitgliedstaates vor und regelt
auch die Zusammenarbeit von Sozialverwaltungen der einzelnen Mitgliedstaaten.
Integrative Wirkungen haben diese Regelungen vor allem deshalb, weil sie das Territorialitätsprinzip, wonach staatliche Hoheitsgewalt nur innerhalb des eigenen
Staatsgebietes ausgeübt werden darf, teilweise durchbrechen.73 )
Zu diesem Begriff R. Schu leT, Das Internationale Sozialrecht der Bundesrepublik Deutschland. Baden-Ba.
den 1988.
72) Ausführlich dazu: E. EichenhofeT, Internationales Sozialreeht. München 1994: ders., Die Rolle des Europäischen Gerichtshofes bei der Entwicklung des Europäischen Sozialreehts. Die $ozialgeriehtsbarkeit
1992.573: deTs., Das Sozialrecht in der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshof _ Zur Genealogie
der Thematisierung des Sozialrechts durch den EuGH. ZcS-Arbeitspapier Nr. 9/%. Universität Bremen.
?3) Hierzu und zum Folgenden siehe P. Altmeit:r, Europäisches koordinierendes Sozialrecht _ Ende des Territorialitätsprinzips? in: Eichenho[eriZuJeeg (Hrsg.). Fn. 6. 71. Allgemein: Nomos Kommentar zum Eu71)
202
Sieveking. Der EuGH als Motor der sozialen Integration der Gemeinschaft
Nach dem Territorialitätsprinzip bleibt es dem nationalen Gesetzgeber überlassen,
selbst zu bestimmen, ob und in welchem Umfang Leistungen außerhalb des eigenen
Staatsgebietes erbracht werden. Für die Leistungsbegründung und Leistungsbestimmung im Inland werden nur solche Sachverhalte und nonnativen Tatbestände
berücksichtigt, auf die das eigene Recht Anwendung findet - es fehlt somit an einer
Äquivalenz von Auslandssachverhalten. Nun gibt es zahlreiche Durchbrechungen
des Territorialitätsprinzips schon auf nationaler Ebene z. B. durch die Prinzipien der
Einstrahlung und Ausstrahlung (§§ 4 und 5 SGB IV). Im Rahmen eines einheitlichen
Binnenmarktes bedarf es bei Aufrechterhaltung unterschiedlicher Systeme der sozialen Sicherung spezifischer Koordinierungen durch das europäische Sozialrecht,
das ein einheitliches europäisches Kollisionsrecht, den Gleichbehandlungsgrundsatz, die Wahrung erworbener Ansprüche und die Sicherstellung von Anwartschaften garantiert.
Bezüglich der Anwendbarkeit nationaler Rechtsvorschriften stellte sich z. B. in der
Rechtssache Perenboom74) die Frage, ob jemand, der in Deutschland arbeitet und in
den Niederlanden wohnt, für sein in Deutschland er.lieltes und mit deutschen Sozialversicherungsbeiträgen belegtes Einkommen auch Beiträge zur niederländischen Sozialversicherung entrichten müsse. Unter Hinweis auf den Titel lIder VerordnunglEWG Nr. 140Snl, wonach einheitlich das Beschäftigungsland-Prinzip als
entscheidender Anknüpfungspunkt anzusehen ist, verneinte der EuGH die Zahlung
von Beiträgen zur niederländischen Sozialversicherung. In einer jüngeren Entscheidung hat der EuGH hervorgehoben, daß es im Falle der Entsendung von Arbeitnehmern in einen Drittstaat bei der Bestimmung des Sozialrechtsstatuts auf das
Recht des Beschäftigungstaates ankomme. So gilt für einen in den Niederlanden
wohnhaften Arbeitnehmer, der von einem in Deutschland ansässigen Unternehmen
nach Thailand zur Arbeitsausübung entsandt wurde, deutsches Recht. 75 )
Besondere Bedeutung hat die Durchbrechung des Territorialitätsprinzips im Falle
der Zahlung von Alters-, Hinterbliebenen- und Invaliditätsrenten. In der Rechtssache Petroni ging es um die Frage, ob es einem Mitgliedstaat gestattet sei, Ansprüche
auf InvaIiditäts-, Alters- oder Hinterbliebenenrente, die in bestimmter Höhe unter
ausschließlicher Berücksichtigung des Rechtes eines Mitgliedstaates begründet waren, zu kürzen, weil der Berechtigte außerdem vergleichbare Ansprüche nach dem
Recht eines anderen Mitgliedstaats habe. Der EuGH hat diese Frage verneint. Der
Zweck der Art. 48-51 EWGV würde verfehlt, wenn die Arbeitnehmer, die von
ihrem Recht auf Freizügigkeit Gebrauch gemacht haben, Vergünstigungen der sozialen Sicherheit verlören, die ihnen jedenfalls die Rechtsnonnen eines anderen Mitgliedstaates sichern.76) Diese am Ziel der Freizügigkeit orientierte Rechtsprechung
ropäischen Sozialreeht. Baden-Baden 1994. Zur Frage des koordinierenden Sozialrechts der EG siehe das
Schwerpunktheft 3192 der Zeitschrift Soziales Europa, Die s07iale Sicherheit der Personen. die innerhalb
der Gemeinschaft zu- und abwandern.
74) EuGH Rs. 102176. Slg. 1977.815 - Perenboom.
") EuGH Rs. C-60193. Slg. 1994. 1·2991 - Alderwereid. Siehe auch R. Corndissen, Die Entsendung von Ar·
beitnehmern innerhalb der Europäischen Gemeinschaft und die soziale Sicherheit. Recht der Arbeit 1996,
329
76) EuGH Rs. 24nS. Sig. 1975. 1149 _ Petroni.
203
Sieveking, Der EuGH als Motor der sozialen Integration der Gemeinschaft
ist - wegen ihrer sozialpolitischen Folgen einer behaupteten "Überversorgung der
Wanderarbeitnehmer" - nicht unwidersprochen geblieben.n )
Um die Gleichstellung von Tatbeständen und eine ebenso auf Art. 51 EGV gestützte
Rechtsfortbildung ging es in den beiden Rechtssachen Ghatto78) und Bronzino79 ) .
Hier war zu entscheiden, ob ein in Deutschland beschäftigter Arbeitnehmer deut~
sches Kindergeld auch für seine arbeitslosen, in Italien lebenden Kinder erhalten
kann. Nach § 2 Abs. 4 BKGG a. F. konnten Kinder zwischen dem 18. und 21. Le~
bensjahr im Falle der Arbeitslosigkeit nur dann berücksichtigt werden, wenn die Ar~
beitslosigkeit in Deutschland bestanden hat. Der Gerichtshof entschied gegen den
Wortlaut des BKGG, daß auch eine in einem anderen Mitgliedstaat bestehende Arbeitslosigkeit von Jugendlichen den Anspruch der Eltern auf Zahlung von Kinder~
geld rechtfertige. Würden diese Kinder nicht berücksichtigt, wäre der Gebrauch der
Freizügigkeit mit sozialrechtlichen Nachteilen verbunden. Bei dieser staatlich ge~
währten Sozialleistung gebiete der Grundsatz der Gleichbehandlung von Wander~
arbeitnehmern und ortsansässigen Arbeitnehmern, daß für sie deutsches Kindergeld
auch bei Arbeitslosigkeit der Kinder in einem anderen Mitgliedstaat gewährt werde.
Diese Urteile haben eine wichtige Bedeutung für die Gleichstellung von Tatbeständen, die sowohl im eigenen wie auch in einem anderen Mitgliedstaat erfüllt werden. so)
Die Gleichstellung normativer Tatbestandsmerkmale gilt nicht nur für materiellrechtliche Ansprüche, sondern auch für verfahrensbezogene Verwaltungsentscheidungen. Eine ebenso plausible wie höchst umstrittene Entscheidung des EuGH in
der inwischen berühmt-berüchtigt gewordenen Rechtssache Palettalil ) hat dies verdeutlicht. Diese Entscheidung soll deshalb näher angesprochen werden, weil der
EuGH hier - neben vielen anderen Entscheidungen82) - zum Begriff der "sozialen
Sicherheit" i. S. von Art. 4 VOfEWG Nr. 1408nl in besonders anschaulicher Weise
Stellung genommen hat: Die in Deutschland als Wanderarbeitnehmerfamilie lebende Familie Paletta (Eltern und zwei Kinder) verbrachte ihren Urlaub in Italien.
Am Ende ihres Urlaubs übersandten sämtliche Familienangehörigen ihrer Firma
Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen, die von einem am Urlaubsort ansässigen Arzt
ausgestellt wurden, die aber von ihrem Arbeitgeber mangels Beweiswert nicht anerkannt wurden mit der Folge, daß dieser die Lohnfortzahlung verweigerte. Der
77) z. B. R. Schuler. Fn. 70, 336, 535.
78) EuGH Rs. C-I2188. Slg. 1990. 557 _ Gatto.
79) EuGH, Rs 22818S, Sig. 1990,531- BrOn7ino.
~ Zur Bedeutung der Urteile siehe K. Hailbronner, Die soziale Dimension der EG-FreizOgigkeit _ Gleichbehandlung und Territorialprinzip, EuZW 1991, 171; K. Sieveking, Erweiterte sozialstaatliehe Funktionen
durch das Freizügigkeitskonzept der EG, in: G. Winter (Hrsg.), Die Europäischen Gemeinschaften und das
Öffentliche, ZERP-Diskussionspapier 7191, 45 m. w. N.
Rs. C-4519O, Slg., 1992. I - 3423 _ Paletta. Siehe auch das dieser Entscheidung
vorangegangene Urteil vom 12. 3. 1987 in der Rs. 22186, Slg. 1339 - Rindone.
!12) Hinzuweisen ist insbesondere auf Entscheidung zur italienischen Sozialrente: EuGH, Urteil vom 5. 5. 1983
Rs 139/82, Slg.I983, 1427 - Piscitello. Zum Ganzen ausführlich: B. Schulte, Die Judikatur des Europäischen
Gerichtshofs zur Abgrenzung des sachlichen Anwendungsbereichs der Verordnung (EWG) Nr. 1408171 im
Hinblick auf sozialhilfeähnliche Leistungen, Gutachten im Auftrag des Bundesministeriums für Familie
und Senioren. Bonn Mai 1994.
81) EuGH, Urteil vom 3. 6. 1992.
204
Sieveking, Der EuGH als Motor der sozialen Integration der Gemeinschaft
EuGH entschied, daß die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall eine soziale Leistung
bei Krankheit im Sinne von Art. 4 VOfEWG Nr. 1408nl ist, und daß der Arbeitgeber (hier als zuständiger Träger) nach Art. 18 Abs.I-4 VOfEWG Nr. 574nz in
tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht an die getroffenen ärztlichen Feststellungen
über Eintritt und Dauer der Krankheit gebunden ist, sofern er nicht die betreffende
Person durch einen Arzt seiner Wahl untersuchen läßt.
Die Kritik an dieser Entscheidung ist immer noch nicht verstummt: das Bundesarbeitsgericht hat in der gleichen Sache dem EuGH erneut Fragen zur Entscheidung
vorgelegt.83 ) Integrationspolitisch mag man die Entscheidung als Ausdruck einer
auf EG-Ebene internationalisierten MIßbrauchsdebatte ansehen, juristisch kann
man dem EuGH keinen durchgreifenden Vorwurf machen. 84)
2. Zur Bedeutung des Diskriminierungsverbots
Die Bedeutung des Diskriminierungsverbots, das in der VOfEWG NT. 1612/68 näher
umschrieben wird, kann hier nicht in der ganzen Breite seines Anwendungsspektrums behandelt werden. Es kann hier auch nicht im einzelnen der Rechtsprechung
des EuGH im Bereich des Lohngleichstellungsgebots von Männern und Frauen und
der rechtsfortbildenden Rechtsprechung des EuGH im Bereich der unmittelbaren
und mittelbaren Diskriminierung nachgegangen werden. Dieses Feld wäre einer eigenständigen BetraChtung unter dem Gesichtspunkt sozialer Integration wert. Bieback hat die Dimensionen dieser Thematik jüngst eindrucksvoll ausgelotet und den
Zusammenhang von freizügigkeitsbezogenen und geschlechtsspezifischen Diskriminierungstatbeständen auch in der Deutung des EuGH herausgearbeitet. 8S) Gerade
die grundrechtsbezogenen Ausformungen sozialer Gleichstellung im Arbeitsleben
seitens des EuGH verdienen hervorgehoben zu werden. Erwähnt werden sollen hier
lediglich Beispiele unter dem Aspekt des Zugangs zu Sozialleistungssystemen in
Verbindung mit den Marktfreiheiten einerseits und zu Art. 119 EGV in seiner Verwirklichung der sozialen Ziele der Gemeinschaft andererseits.
2.1. Zugang zum Sozialleistungssystem
Rechtlicher Anknüpfungspunkt für die gleichberechtigte Inanspruchnahme von
Leistungen des Wohnlandes ist Art. 7 Abs. Z VOfEWG Nr. 1612168, der den Wanderarbeitnehmern - ergänzend zum Gleichbehandlungsanspruch bezüglich der Beschäftigungs- und Arbeitsbedingungen - im Beschäftigungsland auch die gleichen
tO) SAG, Beschluß vom 27. 4.1994, EuZW 1994. 574.
801) So zu Recht z. B. Altmeier, Fn. 72. Text-Fn. 3. Es war zu erwarten, daß der EuGH in der sog. Paletta HEntscheidung seine vorangegangenen Urteile (siehe Fn. 81) bestätigte, vgl. EuGH, Urteil vom 2. 5. 1996.
Hg. 1996, 1-2357, Rs. C-206194 - Paletta.
ss) Vgl. K.-J. Bieback, Diskriminierungs- und Behinderungsverbote im europäischen Arbeits- und Sozialrecht, in: EidlenhoferlZuleeg (Hrsg.). Fn. 6. 103. Siehe statt vieler die "klassische Schrift" von K. BertclsmtlnniH. Pfarr, Diskriminierung im Erwerbsleben. Baden-Baden 1989. Allgemein zum Diskriminierungsverbot U. M.Gassner, Dimensionen des allgemeinen Diskriminierungsverbots im Europäischen Sozialrecht. Vierteljahresschrift filr Sozialrecht 1995, 255.
205
Sieveking. Der EuGH als Motor der sozialen Integration der Gemeinschaft
Sieveking. Der EuGH als Motor der sozialen Integration der Gemeinschaft
sozialen und steuerlichen Vergünstigungen wie den inländischen Arbeitnehmern
verspricht. Der EuGH hat im Laufe der Jahre in extensiver Auslegung des Art. 7
Abs. 2 zu den Vergünstigungen z. B. Fahrpreisermäßigungen, Darlehen für kinderreiche Familien, Leistungen der Sozialhilfe und Leistungen der allgemeinen und beruflichen Bildungsförderung gezählt. Der EuGH hält die Grundfreiheit der Freizügigkeit für gefährdet, wenn den Wanderarbeitnehmern Vergünstigungen vorenthalten würden, die der Bevölkerung des Wohnlandes offenstünden.
Inanspruchnahme einer Betriebsrente einen Verstoß gegen den Gleichbehandlungsgrundsatz des Art. 119 EGV gesehen. Wegen der finanziellen Folgen, die dieses Urteil haben mußte, kam es sogar zu einer speziellen Protokollerklärung im
Maastrichter Unionsvertrag90) . Inzwischen haben weitere Urteile des EuGH die
wirtschaftlichen, insbesondere die versicherungsmathematischen Konsequenzen bezüglich des nach der Barber-Entscheidung geltenden Verbots der Aufrechterhaltung unterschiedlicher Altersgrenzen klargestellt.91 )
Eine besondere Verbindung von Marktfreiheit und Diskriminierungsverbot lag dem
Fall in der Rechtssache Cowan86) zugrunde. Der Brite Cowan war als Tourist in der
Pariser Untergrundbahn Opfer einer Gewalttat geworden. Ein Opferentschädigungsanspruch nach französischem Recht wurde Cowan versagt, da es an der vom
französichen Recht geforderten Verbürgung der Gegenseitigkeit mit Großbritannien fehlte. Der EuGH gelangte hier über die von Herrn Cowan als Tourist praktizierte Inanspruchnahme der Dienstleistungsfreiheit zur Anwendung des allgemeinen Diskriminierungsverbots des Art. 7 EWGV (heute Art. 6 EGV). Es gehöre zur
Dienstleistungsfreiheit, als Tourist Leistungen in einem anderen Mitgliedstaat in
Anspruch nehmen zu können und bei der Ausübung dieser Freiheit genauso geschützt zu sein wie die Bürger dieses Mitgliedstaates. Dieses Urteil des EuGH hat
eine Reihe von Gesetzgebungsaktivitäten in den Mitgliedstaaten, vor allem bei der
Novellierung des bundesdeutschen Opferentschädigungsgesetzes87) in Gang gebracht.
2.2 Diskriminierungsverbot wegen des Geschlechts
Zur Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung von Mann und Frau
verfolgt der EuGH in seiner Rechtsprechung zu Art. 119 EGV wirtschaftliche und
soziale Zwecke. Aus Art. 119 EGV leitet der EuGH sogar Rechte für Personen ab.
Seit dem Urteil in der Rechtssache Defrenne III vom 15. Juni 197888) ist allgemein
anerkannt, daß dem Recht aus Art. 119 EGV die Qualität eines Grundrechts zukommt. Dieses Recht im Einzelfall also durchsetzen zu können, hat gerade unter sozialintegrativen Gesichtspunkten große Bedeutung.
Ein ebenso umstrittenes wie wirtschaftlich folgenreiches Urteil fällte der EuGH in
der Rechtssache Barber89), bei dem es um die Bestimmung unterschiedlicher Altersgrenzen bei der Inanspruchnahme von Leistungen des Arbeitgebers im Rahmen
der betrieblichen Altersversorgung geht. Herr Barber wollte ebenso früh wie
Frauen, nämlich schon mit 60 Jahren in den Genuß der Betriebsrente gelangen. Der
EuGH hat das bejaht und in der unterschiedlichen Festlegung der Möglichkeiten zur
EuGH. Urteil v. 2. 2.1989. Rs.1861S7 - Cowan. Slg.1989, 195:dazuS. Hackspiel, Opferentschädigung und
europäisches Gemeinschaftsrecht, N1W 1989. 2166.
!:17) Siehe auch die vorangegangenen KJarstcllungen seitens der Bundesregierung; Rundschreiben des Bundesministers für Arbeit und SO'.cialordnung vom 10. 3. 1988. Informationsbrief Ausländerrecht 1989.297
mit Anmerkung von Rittstieg. Ausführlich: M. Sehn, Anspruch des Ausländers auf Gewahopferentschädigung. Zentralb!au für Sozialversicherung. Sozialhilfe und Versorgung 1993, 289 und 321 m. w. N.
~ EuGH, Rs. 149m. $Ig. 1978, 1365 - •. Defrenne III".
~ EuGH. Urteil vom 17.5.1990. Rs. C-262JS8. Slg. 1990. 1-1883 - Barber.
VI. Schlußbemerkung
Zuleeg kommt in seiner Untersuchung über "Die Europäische Gemeinschaft auf
dem Weg zu einer Sozialgemeinschaft"92) zum Ergebnis, daß der Weg zu einer echten Sozialgemeinschaft noch sehr weit ist. Dem ist zuzustimmen. Vor dem Hintergrund der bisherigen Entwicklung ist der Beitrag des EuGH zur sozialen Integration
allerdings nicht hoch genug einzuschätzen. Er hat mit seinen Urteilen das Bewußtsein für Diskriminierungen erheblich geschärft und die nationalen Gesetzgeber und
Verwaltungsstäbe wie auch die Bürger ganz allgemein zu mehr Achtung vor der Gemeinschaftsrechtsordnung veranlaßt. Unübersehbar sind Wechselwirkungen zwischen der europäischen und den nationalen Rechtsordnungen der einzelnen Mitgliedstaaten. Der EuGH hat vor allem Einfluß auf die Gleichbehandlung der Wanderarbeitnehmer und ihrer Familien in den Aufnahmestaaten genommen und für einen begrenzten Personenkreis eine Art Modell einer praktizierten Solidargesellschaft konstituiert.
Die Grenzen des Nationalstaates sind durchbrochen, die wirtschaftlichen Prozesse
sind ohnehin weitgehend internationalisiert - nicht nur europaweit. Die für die soziale Integration wichtigen Bereiche sozialer Sicherung und kultureller Identität lassen sich nicht in gleicher Weise wie wirtschaftliche Prinzipien vereinheitlichen. Die
Judikate des EuGH bringen zu Bewußtsein, wie SChwierig Solidarität zwischen unterschiedlichen Gesellschaften mit ihren je eigenen sozialen Sicherungssystemen
und deren Organisation und Finanzierung ist. Angleichungen dieser Systeme mögen
durch wirtschaftliche Prozesse und mittelbar auch durch Judikate des EuGH be·
wirkt werden. Entscheidend bleibt dafür aber die Politik und der europäische Gesetzgeber.
Die sozialen Dimensionen des Raumes der Europäischen Union sind noch lange
nicht ausgemessen. Dies wird und muß eine Aufgabe der zukünftigen Sozialpolitik
sein. Dem EuGH sind als Rechtsprechungsorgan Grenzen gesetzt, um darauf Einfluß zu nehmen. Die eingangs erwähnte jüngste Entscheidung in Sachen Frauengleichstellung deutet darauf hin, daß das Gericht seine Rolle weniger "dynamisch"
111»
206
111) Siehe die ProtokollerkJärung Nr. 2 zum EUV; ..Protokoll zu Art. 119 des Vertrages zur Gründung der Europäischen Gemeinschaften".
91) Vgl. dazu K.-D. Borchardt, EuroAS-Stichwort: Praktische Konscquenzen der EuGH-Rechtsprechung zur
betrieblichen Altersversorgung, EuroAS 1111994. 5 unter Würdigung der neuesten EuGH-ludikatc.
92) Zeitschrift für Sozialhilfe/Sozialgesetzbuch 1990.561 und 618.
207
Evers. Freie Wohlfahrtspflege und Europäische Integration
Evers. Freie Wohlfahrtspflege und Europäische Integration
als bisher versteht.9J ) Es ist vielleicht eine der wichtigsten Funktionen des EuGH,
daß er aufgrund seiner ihm zugewiesenen institutionellen Stellung für die gesamte
Gesellschaft in der Europäischen Union ein ständiger Mahner für einen gerechteren
Umgang mit dem und mit den Fremden ist. Darin erweist sich zugleich seine motorische Funktion für die Herstellung von mehr Gerechtigkeit im Zusammenleben von
Menschen unterschiedlicher kultureller Herkunft.
Daß dieser ,.Dritte Sektor" sich in den einzelnen Staaten und Regionen Europas
sehr unterschiedlich darstellt, liegt auf der Hand. Einigungsprozesse und Integrationseffekte sind dabei nicht so sehr das Werk transnationaler politischer Institutionen, sondern sie ergeben sich zunächst einmal aus der Intensivierung von internationalem Austausch und Kommunikation auf wirtschaftlicher und gesellschaftlicher
Ebene. Interessengruppen, Betroffene und Entscheidungsträger argumentieren immer mehr im Bezugsrahmen Europa. Wenn es z. B. darum geht, Sparprogramme im
Bereich sozialstaatlicher Leistungen zu verhandeln, ist die Frage, ob andere europäische EU Länder ähnliches geplant oder bereits umgesetzt haben, ein wichtiges
Argument. Vieles - z. B. die Zahl einschlägiger Artikel in der entsprechenden Fachund Verbandspresse - spricht dafür, daß auch im Bereich freier Träger und ihrer
Verbände Vorgänge in anderen Ländern eine immer größere Rolle spielen.
'Il) Neuen Zündstoff hat allerdings die Entscheidung des EuGH zur Bedeutung des Erziehungsgeldes gebracht. vgl. Urteil vom 10. 10. 1996. NJW 1997.43. Eichenhofu sieht in seiner kritischen Wiirdigung des
Urteils die These von Kritikern der EuGH-Rechtsprcchung bestätigt. der EuGH erlege dem deutschen S0zialstaat ungerechtfertigte Soziallasten auf. vgl. E. Eichenhofu. Erziehungsgeld als Familienleistung? •
EuZW 1996. 716. Die arbeits· und familienpolitische Bedeutung des Urteils ist wohl in der versteckten Erkenntnis zu sehen. daß die durch Sozialleistungen dokumentierte Solidarität im Sozialraum Europa tendenzieU durch neu zu konstituierende Konstruktionsprinzipien des Familienlastenausgleichs entwickelt
und ausge{ormt werden mUßte. Ansätze hierzu bei E. Eichenhofef (Hrsg.). Reform des Europäischen kc>ordinierenden Sozialrechts. Köln u. a.I993. Weiterführende Überlegungen bei R. Schuiu, Internationales
Sozialrecht und nationale sozialpolitische Handlungsspielräume. Das Beispiel der Europäischen Union
und der internationalen Arbeitsorganisation. in: W. SchmähllH. Rische (Hrsg.). lnternationalisierung von
Wirtschaft und Politik - Handlungsspielräume der nationalen Sozialpolitik. Baden-Baden 1995. 103.
Freie Wohlfahrtspflege und Europäische Integration.
Der "Dritte Sektor" im geeinten Europa
von Prof Dr. Adalbert Evers, Gießen/Frankfurt a. M. *)
1. Vorbemerkung
Wenn in diesem Beitrag von europäischer Integration die Rede ist, dann werden
Prozesse in der Europäischen Union den Bezugsrahmen bilden. SChwieriger als
diese einfache Festlegung ist schon eine Definition dessen, was man in Deutschland
als "Freie Wohlfahrtspflege" und in der internationalen Diskussion als "Dritten Sektor" bezeichnet. Im folgenden soll unter diesen Begriffen jener zivilgesellschaftliche
Teilbereich von Organisationen und ihren Verbänden verstanden werden, die insofern einen besonderen dritten Sektor bilden, als sie jenseits der Vertretung spezifischer Anliegen, Werte und Interessen auch selbst Träger von Dienstleistungsangeboten und Einrichtungen sind und als solche neben dem ersten und zweiten Sektor
von Markt und Staat "freie Träger" und Anbieter (Evers 1995).
*) Für eine Durchsicht des ManUSkripts und kritische Hinweise danke ich Frau Ute Müller (Mitarbeiterin im
Sekretariat der Sozialdemokratischen Parteien im Europäischen Parlament). Für den Inhalt bleibe ich allein verantwortlich.
208
Im folgenden sollen jedoch nur Integrationsaspekte thematisiert werden, die vom
Handeln zentraler Institutionen der Europäischen Union (EU) in Brussel ausgehen.
Dementsprechend lauten unsere Fragen: Welche Art von Diskurs zum "Dritten Sektor" bildet sich auf der EU-Ebene heraus? Welche praktischen Handlungsansätze
existieren in diesem Rahmen? Wo und in welcher Weise beruhren sie - insbesondere die deutschen - freie Träger und deren Verbände?
Bei der Behandlung dieser Fragen ist vor allem zu berücksichtigen, daß die EU nur
in einem Teilgebiet des weiten Spektrums nationaler öffentlicher Politiken eigene
Politikkonzepte und Interventionen entwickelt hat - in der Wirtschaftspolitik und
damit zusammenhängend in der Technologie-, Arbeitsmarkt- und Beschäftigungspolitik. Historisch haben wirtschaftspolitische Erfordernisse bestimmt, was an sozialpolitischer Initiative als nötig erachtet wurde (Henningsen 1992), und der wirtschaftspolitische Diskurs hat daruber hinaus auch das Verständnis von sozialpolitischen Problemen und Aufgaben geprägt (Däubler 1989; LeibfriedlPierson 1996).
Das gilt auch im Hinblick auf die Rolle des sog. Dritten Sektors, der - wenn auch in
unterschiedlichem Maße - in allen EU Ländern als sozialpolitischer Akteur und Träger von Einrichtungen und Diensten eine Rolle spielt. Daraus läßt sich bereits jene
Grundaussage ableiten, die nun weiter illustriert und ausgeführt werden soll: Freie
Träger und ihre Verbände werden ähnlich oder vielleicht noch deutlicher als in der
deutschen Diskussion als Dienstleistungsanbieter begriffen, für die man sich vor allem im Kontext jener sozialpolitischen Aufgabenbereiche interessiert, die direkt mit
Fragen von Wirtschaft und Beschäftigung assoziiert sind. In diesem Rahmen sind sie
für EU-Programme Ansprechpartner unter anderen. Verbände als Repräsentanten
"freier" vor Ort operierender Träger oder auch als sozialpolitische Anwälte- und
Vertretungsorganisationen sind in diesem Rahmen bislang kaum gefragt. Die
schlichte Tatsache, daß in der gesamten EU sehr unterschiedliche Organisationen
oft gar nicht mehr an "Brussel" vorbei agieren können, ergibt dabei einen simplen,
aber nachhaltigen Integrationseffekt. Auf diese Weise erfassen EU-Politiken jedoch
nur einen Teil dessen, was sich heute an Vorstellungen und Hoffnungen an Organisationen im "Dritten Sektor« knüpft und sich in jenen Konzepten wiederfindet, die
ganz allgemein in der Politik, aber auch speziell in der Sozialpolitik kollektive gesellschaftliche Handlungskompetenz gegenüber der Ausweitung von Markt und
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