Zusammenfassung Klinische Psychologie Generalisierte Angststörung (GAS) Vorlesung und Literatur von Hoyer et al. Definition von Sorgen Nach Borkovec et al.: “A chain of thoughts and images, negatively affect-laden and relatively uncontrollable; it represents an attempt to engagae in mental problem-solving on an issue whose outcome is uncertain but contains the possibility of one or more negative outcomes.” Nach Dugas: Worry = thought activity, future-oriented, negative affect, no problem-solving Klinische Relevanz Jeder macht sich Sorgen; um zu entscheiden, ob diese Sorgen als Störung zu betrachten sind, muss überprüft werden, ob sie beeinträchtigend sind und ob es die betroffenen Personen noch schaffen, sich von der Angst zu distanzieren. Diagnostik und Klassifikation - schon bei Freud wurde die GAS als Angstneurose beschrieben (frei flottierende Angst) eigenständiges und von der Panikstörung abgegrenztes Störungsbild ab DSM-III; diagnostische Kriterien wurden seither weiter verändert ICD-10 legt viel Wert auf physiologische Begleiterscheinungen Vermeidung von Rückversicherungsverhalten DSM-IV Kriterien für Generalisierte Angststörung (GAS) A. Übermäßige Angst und Sorge (furchtsame Erwartung) bezüglich mehrerer Ereignisse oder Tätigkeiten (wie etwa Arbeit oder Schulleistungen), die während mindestens 6 Monaten an der Mehrzahl der Tage auftraten. B. Die Person hat Schwierigkeiten, die Sorgen zu kontrollieren. C. Drei der folgenden Symptome: Ruhelosigkeit, leichte Ermüdbarkeit, Reizbarkeit, Konzentrationsstörungen, Muskelspannung, Schlafstörungen D. Sorgen sind nicht auf eine andere Achse-I-Störung beschränkt (z.B. Angst, sich zu blamieren) E. Relevante Beeinträchtigung F. Symptome nicht direkt auf Drogen, medizinische Störungen, affektive oder psychotische Störungen zurückzuführen Wells (1997): „GAD should be conceptualized as essentially a disorder of worrying“ Differenzialdiagnose Sorgen spielen bei vielen anderen psychischen Erkrankungen eine Rolle. Bei der GAS sind sie allerdings das Kardinalsymptom. Typische Sorgenthemen: - Gesundheit (eigene oder nahestehende Personen) Arbeit (Jobverlust) Schule Soziale Beziehungen Finanzen Umwelt Alltägliches Weltgeschehen Thematisch sind die Sorgen von Menschen mit GAS den Sorgen gesunder Menschen sehr ähnlich. Intensität, Dauer, Kontrollierbarkeit der Sorgen und Beeinträchtigungen, die dadurch entstehen, machen den Unterschied aus. Abgrenzung zu: - Zwang: bei Zwängen werden die Ängste als Ich – dyston (fremd und nicht sinnvoll, von außen kommend) erlebt. Major Depression: ähnliche physiologische Symptome; die Angst bezieht sich bei der Depression eher auf Vergangenes, bei der GAS auf Zukünftiges. Bei der Depression sind die Gedanken eher absolut („Ich bin wertlos“) und bei der Angststörung relativ („Es könnte furchtbares geschehen“) Epidemiologie Die GAS ist eine häufige Störung. - Lebenszeitprävalenz: 3 – 5 % 12- Monats – Prävalenz 2 – 4 % Punktprävalenz 1 – 3 % - Häufiger bei Frauen 2(w) : 1(m) Hohe Inzidenz im Alter (im Gegensatz zu anderen Angststörungen) Hohe Dauer - Häufig nicht von Ärzten diagnostiziert Patienten werden „high utilizer“ von Gesundheitseinrichtungen; oft falsche Behandlungen, nur 12 % Psychotherapie Öfter Unverheiratete als Verheiratete Hohe Komorbidität, v.a. mit affektiven Störungenund anderen Angststörungen; die Beeinträchtigung ist auch bei alleiniger GAS hoch Vergleich GAS, Gesunde, soziale Phobie In Studien wurden Gesunde, soziale Phobiker und GAS- Patienten befragt. Bei GAS dauern die Sorgen wesentlich länger an, werden stärker von Angst begleitet, als weniger kontrollierbar erlebt und bringen eine höhere emotionale Beeinträchtigung mit sich als bei den beiden anderen Gruppen. Fazit (I) - Die GAS ist sehr häufig und stellt ein großes Versorgungsproblem dar. DSM – definierte Sorgen sind nicht allgegenwärtig, sondern spezifisch für GAS. Sie stellen das Kernproblem der GAS, für das die Therapie einen Lösungsansatz anbieten sollte. Ätiologie (Erklärungsmodelle) GAS kann in jedem Alter auftreten und beginnt oft schleichend. Viele berichten, sie seien schon immer ängstlich gewesen; deswegen wurde vorgeschlagen, die chronische Disposition zum Sorgen als Trait einzuführen, dessen extremste Ausprägung die GAS ist. Die volle Ausprägung der Störung entwickelt sich meist erst, wenn neue Anforderungen auf die Personen zukommen (z.B. Wohnortwechsel). Genetische Faktoren - - Man geht von einer Erblichkeitsschätzung von 31,6 % auss, wobei die genetische Komponente vermutlich nicht spezifisch für GAS, sondern für Ängste im Allgemeinen verantwortlich ist Gemeinsames Risiko mit Major Depression Anlage- Umwelt- Interaktion bestimmt, welche der Krankheiten eher ausbricht Für die GAS ist (wie immer) von einer Anlage- Umwelt- Interaktion, die zur Entstehung führt, auszugehen Neurobiologische Faktoren - Befundlage noch sehr unklar Es gibt verschiedene Hypothesen zu relevanten Transmittersystemen bei der GAS: - GABA: Reduzierte Rezeptor- Sensitivität bzw. Mangel an hemmenden Transmittern wird mit Benzodiazepinen behandelt Serotonin: Reduzierte Transmittermenge im Liquor bzw. reduzierte Rezeptorsensitivität SSRI (selektive Serotonin-Wiederaufnahme-Hemmer) Noradrenalin: reduzierte Rezeptorsensitivität: SNRI (selektive SerrotoninNorepinephrin-Wiederaufnahme-Hemmer) Erhöhte Aktivität in verschiedenen Gehirnregionen: - Frontalkortex: Sorgen Basalganglien: Anspannung Thalamus: Hypervigilanz Termporallappen: autonome Veränderung Psychologische Risikofaktoren - - Verbindung zwischen Erziehungsstil und Angststörungen (allerdings inkonsistente Befundlage); sowohl ablehnender als auch überbehütender Stil führen zu Ängsten (verschiedener Art); wurde meist in retrospektiven Studien untersucht; bei einer Beobachtungsstudie (Mütter können Kindern bei Lösungen von Aufgaben helfen oder sie machen lassen) ließ sich ein Effekt finden, der aber nur sehr kleine Varianzanteile der Angststörung erklärte Unsicher- ambivalentes Bindungsverhalten als Risikofaktor für Angststörungen Bedrohliche, negative Ereignisse wie z.B. mögliche Erkrankungen erhöhen das Risiko für eine GAS für lange Zeit (bis zu mehreren Jahren) Unsicherheitsintoleranz ist geringer Funktionsmodelle der Sorgen Zentrum der Störung sind unkontrollierbare und über das normale Maß hinausgehende Sorgen. Zwei Zentrale Merkmale, die den Unterschied zu Gesunden ausmachen: 1. Wahrnehmung von Gefahrenreizen 2. Reaktion auf potenzielle Gefahr Es zeigen sich konsistente Abweichungen in der Informationsverarbeitung (zu 1.): - Aufmerksamkeitsbias Ausrichtung der Aufmerksamkeit auf Gefahren Interpretationsbias negative Ereignisse werden wahrscheinlicher eingestuft, mehrdeutige Situationen eher als Gefahren gesehen Gedächtnisbias bedrohliche Informationen werden schneller enkodiert - Geringe Problemorientierung geringes Vertrauen in Problemlösung und geringe wahrgenommene Kontrolle Inadäquate Problemlösung längere Entscheidungsprozesse Reaktionen auf potentielle Gefahr (zu 2.): Als Reaktionen auf potentielle Gefahren machen sich Personen mit GAS Sorgen, da Sorgen für sie subjektiv positive Funktionen erfüllen. Nach Borkovec tragen Sorgen dazu bei, physiologische Erregung zu mildern und Stress zu reduzieren, indem sie bildhafte Inhalte durch verbale ersetzen. Auch alltagspsychologisch werden Sorgen als etwas gesehen, was die Chancen auf zukünftige negative Ereignisse verringert. Da meistens (mit oder ohne Sorgen) nichts Schlimmes passiert, wird dieser (Aber-) Glauben bestätigt. Sorgen sind so persistent und unkontrollierbar (keine Habituation), da nur kognitive Anteile der Furchtstruktur aktiviert werden, imaginative, physiologische und emotionale dagegen nicht. Je länger die Sorgen andauern, desto negativer werden sie erlebt. Betroffene entwickeln Metasorgen („sich Sorgen schadet mir“), versucht, sie zu unterdrücken, was oft nicht funktioniert und nur den Prozess verstärkt GAS wird aufrecht erhalten Noch einmal ähnlich auf den Folien: Vermeidungstheorie der Sorgen (Borkovec, Stöber) - Während des Sorgenprozesses ist der relative Anteil von Vorstellungen (gegenüber Kognitionen) reduziert - Während des Sorgenprozesses ist die Sprachproduktion bzw. Problemelaboration weniger konkret - Konkrete Vorstellungen lösen emotionale und somatische Angstreaktionen leichter aus als Kognitionen - Die Reduktion aversiver Angstreaktionen wirkt als negative Verstärkung der Sorgen und fördert positive Annahmen über die Sorgen Normal wäre hier, problemorientiert zu denken und nach Lösungen zu suchen. GAS-Patienten durchdenken Sorgen, Nöte und Ängste dagegen immer wieder noch schlimmer wäre es, sich die Ereignisse vorzustellen Sorgen lenken also sowohl von der Beschäftigung mit den Problemen ab als auch von konkreten Vorstellungen Vermeidungstheorie der Sorgen (Fortsetzung) (Borkovec, Stöber) -Zusätzlich: “abergläubische” Verstärkung -Aber: Habituation an die Angst kann nur erfolgen, wenn die vollständige Angstreaktion ausgelöst wird. Nicht zu habituieren, bestätigt negative Annahmen über die Sorgen. Wenn diese aktiviert sind, kommt es zu kontraproduktiven Kontrollversuchen. Für die Aufrechterhaltung wichtig: die langfristig ungünstige Wirkung von Kontrollversuchen - Gedankenunterdrückung: der zu vermeidende Gedanke wird indirekt stärker aktiviert - Rückversichern: Tendenz zur Generalisierung; der positive Effekt der Methode wird kontinuierlich geringer -Medikamente: Kompetenzerwartung sinkt (plus gesundheitliche Folgeprobleme) -Ablenkung: nur kurzfristig wirksam Spontanverlauf Unbehandelt wird die GAS meist chronisch und ist sehr langwierig; die Symptomschwere schwankt im Laufe der Zeit. Behandlung Kognitive Verhaltenstherapie gilt als erfolgreichste Behandlungsmethode; allerdings ist auch dabei der Anteil der Patienten, die wieder „voll funktionsfähig“ werden, eher gering. Sorgenexposition Personen sollen sich intensiv und imaginativ- visuell mit ihren Sorgen beschäftigen und sie dadurch verarbeiten. Dies soll eine Habituation möglich machen. 4 Bestandteile: 1. 2. 3. 4. Psychoedukation Vermittlung der grundlegenden Therapieprinzipien Konfrontationsübungen Rückfallprophylaxe Angewandte Entspannung (Erweiterung der progressiven Musklerelaxation) Sorgenepisoden sorgen für Anspannung; bei ersten Anzeichen dieser kann der Patient mit den Übungen reagieren und so verhindern, dass Anspannung und Sorgen sich gegenseitig hochschaukeln. Ja, gibt’s da nicht auch was von Beck? Doch, selbstverständlich. Kognitive Therapie (nach Beck) Der Fokus liegt hier auf den Metasorgen, die nach Beck das eigentliche Problem sind. Nur wenn Patienten z.B. denken, die Sorgen machten sie verrückt, versuchen sie sie (störungserhaltend) zu unterdrücken. Medikamentöse Therapie Wird sowieso oft gemacht, da Patienten mit Symptomen wie Schlaflosigkeit zum Hausarzt gehen und dort nichts von ihren Sorgen berichten. Wirkung haben… - klassische und moderne Antidepressiva (am besten sind SSRI, da sie bei dieser meist chronisch verlaufenden Krankheit auch über längere Zeit ohne große Nebenwirkungen und Suchtpotential verabreicht werden können) - Anxiolytika (Angstlöser) Offene Fragen - optimale Definition der Diagnosekriterien steht noch aus (Änderungen für DSM-IV absehbar) wenig Forschung zu neurobiologischen, genetischen und psychologischen Ursachen verschiedene, ähnliche Modelle Suche nach verbesserter Therapie ist auch die Suche nach einem besseren Verständnis der Krankheit