Studienzusammenfassung Studie: Phenotypes within sensory modulation dysfunktion von Katherine James, Lucy Jane Miller, Roseann Schaaf, Darci M. Nielsen, Sarah A. Schoen , 2011 veröffentlicht in: Comprehensive Psychiatry 52 (2011) 715-724 Zusammenfassung von Ingrid Löffler-Idel 1. Was ist das Problem und was ist dazu bisher bekannt? Ergotherapeuten haben sich seit 1960, als Dr. Jean Ayres ihre ersten Artikel schrieb, mit der Gültigkeit der Diagnose „sensorische Verarbeitungsstörung“ (sensory processing Disorder , SPD, früher „sensorisch integrative Dysfunktion“) befasst. Miller et al. entwickelten eine neue Nosologie, um Forschern eine gezielte Auswahl von homogenen Untersuchungsgruppen zu ermöglichen und die spezifische Diskussion bezogen auf Theorie, Diagnose und Intervention von sensorischen Verarbeitungsstörungen zu fördern. Die neue Nosologie differenziert drei Formen der sensorischen Verarbeitungsstörung: sensorische Modulationsstörungen (sensory modulation Disorder, SMD), sensorische Diskriminationsstörung (sensory discrimination disorder, SDD) und sensorisch basierte Motorikstörung (sensory- based motor disorder, SMBD) mit verschiedenen Subtypen. Die Studie befasst sich mit der diagnostischen Spezifität der sensorischen Modulationsstörungen, SMD. Personen mit einer sensorische Modulationsstörung haben Schwierigkeiten, auf alltägliche sensorische Informationen, auf die sich die meisten Menschen problemlos einstellen können, emotional, motorisch oder bezogen auf die Aufmerksamkeit angemessen zu reagieren. Diese Störungen können in einem oder mehreren der sieben sensorischen Systeme auftreten, die Symptome können sich in Über- oder Unterreaktivität oder sensorischer Suche zeigen und in ihrer Ausprägung von mild bis schwer sein. Gerade wegen der Heterogenität dieses Krankheitsbildes ist es für Untersuchung und Intervention unbedingt wichtig herauszufinden, ob eine Klassifikation der Symptome in verschiedene Subtypen möglich ist. Dazu gibt es bereits verschiedene Erklärungsmodelle. Ayres selbst beschrieb ein SMD-Muster, welches sie taktile Defensivität nannte. Dunn fand durch eine Faktorenanalyse des Verhaltens mittels ihres Elternfragebogens vier Klassifikationen: Reizsuche (sensation seeking), geringe Registrierung (low registration), Vermeidung sensorischer Reize (sensory avoiding) und Empfindlichkeit auf sensorische Reize (sensory sensitivity). Miller et al. wiederum unterteilten die SMD in drei Muster: Sensorische Überreaktivität (Sensory Overresponsivity, SOR), Sensorische Unterreaktivität (Sensory Unterresponsivity, SUR) und sensorische Suche, Bedürfnis (Sensory Seeking, Craving, SS). Alle diese Modelle zeigen eine sogenannte „face validity“, also eine gewisse Plausibilität, aber es bedarf noch empirischer Forschung, um die Variabilität von Kindern mit SMD zu klären und zu ermitteln, ob es natürliche Grenzen zwischen einzelnen Subtypen gibt. 2. Was wurde in der Studie untersucht? In dieser Studie wurde die Clusteranalyse genutzt, um Verhaltensweisen bei Kindern mit SMD zu untersuchen. Dabei gingen die Forscher von der Hypothese aus, dass sich SMD in bedeutsame Subtypen (SOR, SUR, SS) auf der Grundlage von spezifischen Verhaltensmerkmalen gruppieren, bezogen auf Aufmerksamkeit, Emotion und Empfindung, so wie es in der klinischen Literatur beschrieben ist. 3. Wer wurde untersucht? Kinder aus dem „Occupational Therapy Department am The Children’s Hospital in Denver, CO,“ mit der klinischen Diagnose SMD. Die Kinder wurden an die Ergotherapie von Ärzten, Lehrern und Eltern aufgrund von aggressivem Verhalten oder Rückzugsverhalten, sensorischen oder motorischen Problemen, Unaufmerksamkeit oder Impulsivität und anderen Verhaltensweisen, die die Alltagsaktivitäten störten, überwiesen. Die Identifizierung der Störung wurde begründet auf einem allgemeinen klinischen Eindruck nach 2-3 Stunden umfassender ET- Evaluation mit einem erfahrenden Kliniker. Diese stützte sich auf die Interpretation von Ergebnissen des SIPT, standardisierten klinischen Beobachtungen in ergotherapeutischem „Turnen“ [Anmerkung des Verfassers: vermutlich gezielte Beobachtungen nach Ayres] und einem detaillierten Anamnesegespräch mit den Eltern, bezogen auf die sensorische und medizinische Geschichte des Kindes und dessen allgemeine Einwicklungsgeschichte. Spezifische Symptome der SMD wurden mit der „SMD Behavior During Testing Checklist“ ermittelt, welche von der untersuchenden ET vervollständigt wurden und deren Ergebnisse den globalen klinischen Eindruck unterstützten. 143 Kinder wurden mit signifikanten Symptomen der SMD identifiziert, 44 Kinder wurden wegen anderer Diagnosen ausgeschlossen, z.B. Cerebralparese, Autismus Spektrum Störung, fragiles xSyndrom, Torettesyndrom, Alkoholfetalsyndrom, oder signifikante kognitive Störungen. Fünf weitere Kinder wurden ausgeschlossen, da die Eltern der Studienbeteiligung nicht zustimmten. 94 Kinder nahmen an der Studie teil, 61 Jungen und 33 Mädchen insgesamt, in den Altersgruppen 4-7: 33Jungen/19 Mädchen; 7-10 : 24 J/12M; 10-14: 4J.2M. 4. Wie wurde die Studie durchgeführt? Ein Elternteil jedes Kindes führte 4 standardisierte Fragebögen aus: 1. „Short sensory profile“ = misst mit 38 Items das Verhalten in Verbindung mit Antworten auf sensorische Reize. Eltern schätzen dabei ihre Wahrnehmung der Häufigkeit des Verhaltens als Antwort auf verschiedene sensorische Stimuli mittels einer Skala von 1(immer)-5 (nie) ein. 2. „Child Behavior Checklist“ (418 Jahre): 118 Items evaluieren die Wahrnehmung der Eltern von der emotionalen- und Verhaltenskompetenz ihrer Kinder. Jedes Item wird auf seine Richtigkeit in den letzten 6 Monaten bewertet, von 0= trifft nicht zu bis 2 (trifft sehr oder oft zu). 3. „ADDD-H Comprehensive Teacher’s Rating Scale“ = evaluiert aufgrund der Einschätzung der Eltern die Aufmerksamkeit und Hyperaktivität auf einer 5 Punkte Scala mit 24 Items, die in vier Faktoren eingeteilt ist, davon wurden bei dieser Studie drei verwendet: Hyperaktivität, soziale Fähigkeiten und Aufmerksamkeit. 4. „Leiter International Performance Scale-Revised: Parent Rating Scale“= untersucht die Wahrnehmung der Eltern über die emotionalen- und Aufmerksamkeitsfähigkeiten des Kindes mit zweit zusammenfassenden Subtests: kognitive/soziale Funktionen und emotionale Regulation. 4.1. Datenanalyse: 5. Was haben die Forscher herausgefunden? Es wurden zwei Subtypen der SMD durch die Clusteranalyse ermittelt: Subtyp 1 Subtyp 2 Mehr Hyperaktivität, weniger Bewegungsempfindlichkeit (movement sensitivity) Mehr Bewegungsempfindlichkeit, weniger Hyperaktivität Wenig Energie/Schwäche (low energy/weak behavior) Unaufmerksamkeit (inattention) Unnormale Suche nach sensorischen Informationen (sensory seeking) Impulsives, teilweise aggressives und „straffälliges“ Verhalten (externalizing, e.g. delinquent,aggressive) Eher Rückzugsverhalten (emotionally withdrawal) Meist Probleme im Sozialverhalten und im Anpassungsverhalten (impaired cognitive/social behavior and inadaptive) In der untersuchten Gruppe von Kindern zeigten 75% den ersten Subtyp. Die charakteristischen Verhaltensweisen beschrieben den SMD-Subtyp genannt „Sensory seeking/craving, SS“. Die Items, die auf „sensory seeking“ im „Short sensory Profile“ hinweisen, überschneiden sich zu einem hohen Grad mit den Items in dem „Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders“, das ADHD beschreibt, besonders die Items, die Aufmerksamkeit und Impulsivität beschreiben. Die Suche nach sensorischen Informationen kann fälschlich als Hyperaktivität interpretiert werden, wie die Forscher herausfanden. Während im klinischen Setting Kinder mit „SS“ durch sensorisch-basierte Aktivitäten[ Anmerkung: hier wird nicht genau erläutert, welche Aktivitäten genau gemacht wurden] ruhiger wurden, profitierten Kinder mit ADHS nicht von diesen Informationen, sondern wurden eher noch desorganisierter.[ Anmerkung: es gibt keine genauen Angaben dazu, wie die Autoren zu diesen Aussagen kommen] Die Forscher haben ebenfalls beobachtet, dass Kinder mit ADHD im Gegensatz zu Kindern mit „SS“ von Medikation mit Stimulanzien profitieren. Sie vermuten daher, dass bei diesen Kindern andere neurologische Mechanismen wirksam sind. Den zweiten Subtyp zeigten 25% der untersuchten Gruppe von Kindern. Dieser beschreibt einen anderen Subtyp der SMD, die „Sensory unterresponsivity, SUR“ In der untersuchten Gruppe trat der dritte Subtyp, der von Miller und Kollegen beschrieben wurde, „sensory overresponsive, SOR“ nicht als eigenständiger Subtyp auf, aber Verhaltensweisen, die diesem Subtyp zugeordnet werden, z.B. überempfindlich auf Berührung, visuelle, akustische, Geschmacks und Geruchsinformationen) traten in beiden Clustern auf, beispielsweise taktile, visuell/auditive und geschmackliche Empfindlichkeiten. Die Ergebnisse der Studie stimmen nicht mit dem Modell von Dunn überein, die die Theorie entwickelt hat, dass „Sensory Seeker“ eine hohe Reizschwelle haben, um sensorische Informationen aufnehmen zu können und dadurch eine aktive Strategie zur Selbstregulation nutzen. Die „Sensory Seeker“ in dieser Studie hatten keine Probleme im Untertest „niedrige Energie/Schwäche“, sie scheinen also keine Unterresponsivität im propriozeptiven oder vestibulären System zu haben. Auch andere Theorien, die annahmen, dass Über- und Unterreaktivität ein Kontinuum seien, ließen sich nicht bestätigen. Einige der Kinder des zweiten Subtypes zeigten, dass sensorische Unterreaktivität und Bewegungsüberreaktivität in einer Gruppe von Kindern gleichzeitig vorhanden sein konnten. Royeen und Lane nahmen an, dass manche Personen sowohl Unterreaktitvität als auch Überreaktivität in einem sensorischen Bereich zeigen. Aufgrund der Beschaffenheit des Fragebogens „short sensory Profile“ der Unterreaktivität nur in einem Untertest misst, bleiben hier Unklarheiten bestehen. Insgesamt empfehlen die Forscher, weitere Studien durchzuführen um unter anderem folgende Fragen zu klären: 1. Kann es in einem sensorischen Bereich sowohl Über- als auch Unterreaktivität geben? 2. Hat eine große Gruppe von Kindern mit ADHD komorbid auch SMD? 3. Gibt es biologische „Marker“ von SMD, wäre z.B. die Hautleitfähigkeit ein brauchbarer biologischer Marker, der Personen mit SOR und SS von anderen Subtypen und klinischen Diagnosen differenzieren könnte? Weiterhin halten es die Forscher für wichtig, Methoden zu entwickeln, die sensorische Unterreaktivität untersuchen, da die bestehenden Elternfragebögen den Focus mehr auf die SOR und die SS- Symptome legen. 6. Was sind die Stärken und Schwächen der Studie? Die ausgewählte Gruppe der Patienten ist zwar mit 94 Personen recht groß, aber nicht repräsentativ, da alle Personen an eine bestimmte Klinik überwiesen wurden, und daher die Personen nur aus einem bestimmten Einzugsbereich kamen. Außerdem basierten die Daten ausschließlich auf Aussagen der Eltern. Um die Ergebnisse zu bestätigen, wären Tests oder physiologische Messungen nützlich. 7. Welche Bedeutung hat die Studie für die Praxis? Für Ergotherapeuten mit der Weiterbildung in sensorischer Integrationstherapie ist diese Studie vor allem in diagnostischer Hinsicht interessant: sie untermauert einerseits teilweise die Einteilung der Modulationsstörungen von Miller (zumindest bezogen auf die Typen SUR und SS, die SOR wurde allerdings nicht als eigenständiger Subtyp gefunden) und ermöglicht durch die Beschreibung der Subtypen für den Praktiker eine leichtere Zuordnung zu einem Subtyp. Andererseits weisen die Forscher nochmals darauf hin, dass SMD und ADHS ähnliche Erscheinungsbilder aufweisen. Sie ermutigen zu einer genauen Diagnose und erläutern kurz (allerdings ohne genaue Angaben, wie sie zu diesen Aussagen über die Wirksamkeit sensorischbasierter Aktivitäten und Medikamentengabe gekommen sind), wo es im praktischen Therapiesetting Hinweise gibt, die für die eine oder andere Diagnose sprechen. Da die ausgewählte Gruppe der Probanden nicht repräsentativ ist, bleibt allerdings abzuwarten, ob sich die Ergebnisse dieser Studie auch in späteren Studien bestätigen.