heel - institut - Weiterbildung

Werbung
JOCHEN KRUKENBERG, Göttingen
November 1991
Referat
HYSTERIE
I.
Einleitung und Intention
II.
Begriff, Geschichte und Epidemiologie der Hysterie
1.
Die Geschichte des Begriffs „Hysterie“
2.
Die Geschichte des Symptoms und Epidemiologie
III.
Hysterie
1.
Persönlichkeitsbild nach F. Riemann
2.
Symptomatik
2.1
Körperliche Funktionsstörungen (Konversionssymptome)
2.1.1
Der klassische Anfall
2.1.2
Hyperventilationstetanie
2.1.3
Ausfälle und Dysfunktionen der Motorik
2.1.4
Ausfälle und Dysfunktionen des Sensoriums
2.1.5
Verschieden körperliche Erscheinungsformen
2.2
Bewußtseinstörungen und dissoziative Phänomene
2.2.1
Gedächtnisstörungen und Angstphänomene
2.3
Sexuelle Störungen
3.
Psychogenese und Dynamik
3.1
Teilmechanismen
3.2
Krankheitsgewinn
4.
Therapie
IV.
Literatur
Einleitung und Intention
Die Motivation ist durch meine berufliche Tätigkeit entstanden, in der ich oft mit
psychosomatischen Beschwerden unterschiedlicher und häufig ungeklärter Ursache
bzw. mit Symptomen, bei denen eine Konversion (Verschiebung psychischer Inhalte
auf die somatische Ebene) relativ offensichtlich zu sein scheint konfrontiert werde.
Interessant ist für mich die Frage wie sich Hysterie-Begriff verändert hat und welche
Bedeutung ihm heute in der Praxis zukommen kann.
In meiner Darstellung beziehe ich mich auf die von Stavros Mentzos 1980 bzw. 1982
erschienenen Bücher „Hysterie“ (1986) und „Neurotische Konfliktverarbeitung“
(1990). Zur Darstellungsstrukturierung der Symptomatik vor allem auf die „Einführung
in die Neurosenlehre und Psychosomatische Medizin“ von Hoffmann und Hochapfel
(1979/1982) sowie zur Beschreibung des Persönlichkeitsbildes auf Fritz Riemanns
„Grundformen der Angst“ (1989).
II. Begriff, Geschichte und Epidemiologie der Hysterie
1. Der Begriff wird umgangssprachlich häufig diskriminierend und synonym im Sinne
von „unecht, theatralisch und übertrieben“ benutzt, ist aber auch in diesem
Zusammenhang historisch gewachsen und hat sich trotz aller gegenläufigen
Bestrebungen gehalten.
Ursprünglich kommt das Wort aus dem altgriechischen (Hystra = Gebärmutter) und
wurde im 13. bis 14. Jh. vor unserer Zeitrechnung geprägt. Schon hier fand eine
Ettiketierung statt, mit der die Symptomatik auf das Weibliche festgelegt wurde. In
der altägyptischen Medizin wird das Phänomen der „wandernden Gebärmutter“
beschrieben, die für die Entstehung von Störungen verantwortlich gewesen sei, die
auch heute noch als hysterisch bezeichnet würden (vgl. Mentzos, 1991, S. 22).
Im Mittelalter galt die Hysterie als „Besessenheit“ (Berührung durch den Teufel /
Hexen). Viele der beschriebenen Phänomene beinhalten das, was im heutigen
Hysteriekonzept als „Bewusstseinsspaltungen“ bzw. dissoziative Phänomene
bezeichnet werden.
Nach dem Mittelalter wurde die Hysterie auch als gynäkologische Erkrankung in
Folge sexueller Abstinenz diagnostiziert und befindet sich damit in Kongruenz zur
altertümlichen Sichtweise, als Ergebnis der Triebunterdrückung.
Später, im 18.-19. Jh., und hier vor allen Dingen von dem Freud-Lehrer Charcot,
wurde die Hysterie als vererbte, neurologische Erkrankung betrachtet. Die
Behandlung der Patienten erfolgte mittels der Hypnose, und zwar v.a. hysterische
Lähmungen, die nach Traumen entstanden waren und im Zustand der Hypnose
(Somnabulismus) reproduziert wurde. Der verdrängte Affekt wurde wieder belebt und
durch Katharsis folgte die Auflösung der Symptomatik (Mentzos, 1991, S.26).
Breuer und Sigmund Freud entwickelten auf Grundlage der breuerischen Studie über
die Patientin Anna O. (1881-1882) und eigener klinischer Beobachtungen ein
Konzept, wonach psychische Traumen in einen hypnoiden Zustand abgespalten und
nicht abreagiert werden, sondern stattdessen pathogene Reminiszenzen entstehen,
die das Symptom direkt oder symbolisch erzeugen. (ebenda., S. 26).
Freud erweiterte den Bezugsrahmen und ging davon aus, daß diese pathogenen
Vorstellungen peinlich waren, so, wie man sie nicht erlebt haben möchte und durch
diese Abwehr erst pathogen werden! Freud verfolgte damit zunächst ein
energetisches Modell: die Erregungssumme der Vorstellungen wird in körperliche
Innervationen umgesetzt (konvertiert), d.h., daß energetische Modell Konversion war
mit der symbolischen Funktion verknüpft (ebenda., 1991, S. 27). Dieses Modell hat
Freud später aufgegeben, wurde von anderen Vertretern der PA aber weitergeführt
und verfeinert (ebenda., 1990, S. 28)
2. Die Geschichte des Symptoms und Epidemiologie
Die „klassischen“ hysterischen körperlichen und psychischen Funktionsstörungen
(grobe hysterische Lähmungen, Blindheit, Taubheit, Ohnmachtsanfälle, sog.
„Weltkriegszittern“, rhythmische Krampfbewegungen, arc de cercle) (vgl. Mentzos
1991, S. 20) wurden im Verlauf dieses Jahrhunderts selten und sind fast nur noch im
Mittelmeerraum anzutreffen. Möglicherweise sind diese Ausdruckformen zu
durchsichtig geworden, um sie unverstellt zu präsentieren und haben sich daher den
Weg der somatischen Regression gesucht: z.B. kann aus der Zitterei ein Ulcus
geworden sein, Kreislaufstörungen, Erschöpfungs- und Angstzustände,
Nervenzusammenbrüche und appellative Suizidversuche sind an ihre Stelle getreten.
Hysterische Phänomene entsprechen unbewussten, „tendenziösen“ Inszenierungen,
deren abgewandelte Formen Menzos (1986, S. 21) mit der unterschiedlichen Form
des Theaters des ausgehenden 18. Jh. und den Theaterinszenierungen der
Gegenwart vergleicht (Inszenierungen statt Szenen), in dem Sinn, daß eine
Neuanordnung des hysterischen Potentials stattgefunden hat.
Zur Epidemiologie lässt sich mit Hoffmann/Hochapfel (1982, S. 136) lediglich soviel
sicher sagen, daß es keine verlässlichen Angaben über die objektive Häufigkeit des
Vorkommens gibt, sondern daß es sich wahrscheinlich um die am meisten
fehldiagnostizierte Erkrankung handele und sich die Vielzahl der Patienten in der
Inneren Medizin, der Neurologie und der Gynäkologie auffinden lassen werden
(ebenda., S. 136).
Die diagnostischen Probleme bringen Hoffmann und Hochapfel (ebenda., S. 136) in
Anlehnung an andere Autoren mit dem Satz aus der alten französischen Psychiatrie
auf den Punkt: „La Hysterie imite toutes les maladies!“
Daß die Diagnose bei Frauen häufiger als bei Männern gestellt würde, führen die
genannten Autoren zwei Gründe an:
„a) Unser traditionelles Bild von Weiblichkeit - Schwäche, Hilflosigkeit, Emotionalität
und anderes - gestattet offenbar Frauen sehr viel mehr, dieses Krankheitsbild zu
entwickeln als Männern, die groß, stark und gesund sein müssen; b) Ärzte sind
überwiegend Männer, die offenbar die Diagnose am eigenen Geschlecht nur ungern
stellen…. Frauen gegenüber, insbesondere wenn sie sich kokettierend oder
verführerisch verhalten besteht eine große Bereitwilligkeit…., ein Bild aus dem
hysterischen Formenkreis zu diagnostizieren.“ (Ders., S. 136)
III. Hysterie
1. Persönlichkeitsbild nach F. Riemann
In seiner idealtypischen Beschreibung charakterisiert Riemann (1989, S. 156ff.) die
hysterische Persönlichkeit als eine nach Veränderung drängende, die Festlegung
scheuende, den Moment nach dem Motto „Carpe diem“ genießende Person:
„Für sie soll alles relativ, lebendig und farbig bleiben - nur die Gegenwart, der
Augenblick ist wichtig….“ (Ders., 1989, S. 156).
Die Freiheit von Gesetzmäßigkeiten beschreibt Riemann (1989, S. 157) als Freiheit
„von etwas“ und eben nicht in dem Sinn, „frei für etwas“ sein zu können.
Die Realität wird großzügig behandelt: Menschen mit hysterischer Struktur neigen
zur Bagatellisierung, stellen die Realität in Frage, versuchen sie zu sprengen oder
sich ihr zu entziehen. Die dadurch kreierte Scheinfreiheit, in der immer eine Hintertür
offen steht, bezeichnet Riemann (1989, S. 158) als „unwirkliche Wirklichkeit“. Der
Preis sei, sich mit der „wirklichen Wirklichkeit“ nicht mehr auszukennen, die Kluft
zwischen diesen beiden „Welten“ beständig zu vergrößern. Bedürfnisspannungen
können nur schwer oder gar nicht ertragen werden, d.h.u.U., Wünsche müssen ohne
Rücksicht auf die Folgen (Motto: Nach mir die Sintflut) möglichst schnell befriedigt
werden, mit der Tendenz, sich durch „Umdichtung und Verfälschung“ den (realen)
Konsequenzen entziehen zu wollen. Riemann (1989, S. 160) zitiert in diesem
Zusammenhang Nietzsche mit den Worten:
„´Das habe ich getan´, sagt meine Gedächtnis, `das kann ich nicht getan haben´sagt mein Stolz und bleibt unerbittlich. Endlich gibt das Gedächtnis nach.“
Die Liebe dient dem Selbstzweck, der Steigerung des Selbstwertgefühls, als
intensives, grenzüberschreitendes Erleben der ICH-Weitung, der über sich selbst
hinauswachsenden Erlebnisintensität: Der Hysteriker braucht den Partner als Spiegel
seiner Liebenswürdigkeit und seines Charmes.
Die Aggression beschreibt Riemann (1989, S. 171) als elastisch, spontan, oft
unüberlegt und im Gegensatz zum zwanghaften Typus weniger nachtragend: „Sie
reicht von allen Graden impulsiver Äußerungen bis zur Willkür, ist weniger sach- als
personenbezogen. Im Dienst der Steigerung der Selbstwertgefühle äußern sich
Aggressionen auch als Geltungsdrang, Selbstglorifizierung bis zur Hochstapelei und
extremen Reizbarkeit bei narzisstischen Kränkungen. Charakteristische Mittel seien
außerdem die „Überrumpelung“ und die „Intrige“.
2. Symptomatik
2.1 Körperliche Funktionsstörungen (Konversionssymptome)
2.1.1 Der klassische Anfall
Der klassische hysterische Anfall, der „arc de cercle“ ist vom epileptischen Anfall
abzugrenzen. Bei arc de cercle bäumt sich der Patient nach hinten, der Nacken wird
ins Kissen gebohrt, der Rumpf überstreckt. Im Gegensatz zum epileptischen sind
beim hysterischen Anfall z.B. die Pupillenreaktion erhalten und es gibt keinen
Zungenbiß (Hoffmann/Hochapfel, 1987, S. 1377f.).
Wilhelm Reich hat dem arc de cerle als Ausdruck abgewehrter, unbewusster
sexueller Phantasien den Bewegungen entgegengesetzt verlaufenden
Orgasmusreflex gegenübergestellt.
Der klassische Anfall ist nur noch selten, aufgrund seines expressiven Gehalts
zumeist in den Ländern Süd-Ost-Europas vorzufinden. Anfallsartige Erkrankungen,
bei denen eine hysterische Ätiologie gesichert erscheint; gleichen meistens
neurologischen Erkrankungen, z.B. Abscencen, psychomotorische Anfälle mit
ticartigen motorischen Entladungen.
2.1.2 Hyperventilationstetanie
Ein eher häufiges Krankheitsbild ist die Hyperventilationstetanie (Hechelatmung): ein
anfallsartiges Geschehen, bei dem die massiv verstärkte Atmung tetanieförmige
Krämpfe (Pfötchenstellung der Hände) bewirkt. Dieses Phänomen wird auch als
körperliches Angstäquivalent bezeichnet, während der Betroffene keine bewusste
Angst verspürt (Hoffmann/Hochapfel, 1989, S. 139f).
2.1.3 Ausfälle und Dysfunktionen der Motorik
In der typischen Form werden schlaffe Lähmungen appellativ vorgetragen, ohne das
ein neurologisches Substrat vorhanden wäre (ebenda., S. 140):
„Manchmal werden die Patienten durch die von ihnen beherrschten Angehörigen
jahrelang….im Bett gepflegt. Sekundär kommt es dann zu entsprechenden Atrophien
der Muskulatur und Versteifung der Gelenke.“
„La belle indifference“ nannte die französische Psychiatrie die Haltung der Patienten
gegenüber dem Symptom, als Ausdruck primären Krankheitsgewinns.
2.1.4 Ausfälle und Dysfunktionen des Sensoriums
Psychogene Blindheit und Taubheit als klassische Ausfälle sind zwar selten
geworden, häufiger dagegen kommen sensible Dysfunktionen vor, insbesondere
Parästhesien (Missempfindungen) und Hysthäsien (herabgesetzte Sensibilität)
(ebenda., S. 142).
Im Gegensatz zu tatsächlichen neurologischen Erkrankungen entspricht das
Empfinden nur der Vorstellung von der Nervenversorgung, d.h. wie sie in der
Vorstellung sein soll, nicht aber wie sie real ist.
2.1.5 Verschiedene körperliche Erscheinungsformen
Sowohl Mentzos (1990, S. 154;1991, S. 141), als auch Hoffmann/Hochapfel (1989,
S. 144) beschreiben weitere hysterische Phänomene dieses Formenbereiches
wodurch deutlich wird, daß die Hysterie quasi alle möglichen Krankheitsbilder
annehmen kann, z.B. Kloßgefühl im Hals . Schwindelzustände, Sehstörungen,
Atembehinderungen, Hör- und Sprachgangstörungen, bis zur
Scheinschwangerschaft.
2.2. Bewußtseinsstörungen von dissoziative Phänomene
Unter „dissoziativen Phänomenen“ versteht Mentzos (1990, S. 155)
„…psychische Funktionsstörungen….wie abgegrenzte Erinnerungslücken für
bestimmte Zeitabschnitte (Amnesien), Bewusstseinsstörungen, wie psychogene
Dämmerzustände, hysterische Ich-Spaltungen, hysterische Pseudo-Halluzinationen
etc..“
Die Bandbreite reicht laut Hoffmann/Hochapfel (1989, S. 144) von „spielerischen
Phänomenen, die ich der Beschreibung Riemanns zuordnen würde, bis hin zu
schwersten Bewusstseinsveränderungen (multiple Persönlichkeit). Dieses
Unwirklichkeitserleben entspricht der Vermeidung des Erlebens der unerträglichen
Wirklichkeit, einer Realitätsverleugnung:
„Es wird versucht, das Problem mit Nichtwissen zu lösen….Dummheit macht
glücklich.“ (Dies., 1989, S. 145)
Nach diesem Motto spricht sich der hysterische Neurotiker vor seinen inneren und
äußeren Richtern frei.
2.2.1 Gedächtnisstörungen und Angstphänomene
Bei den Gedächtnisstörungen wird die qualvolle Vergangenheit zwar verdrängt, dies
heißt aber nicht, daß die Inhalte nicht wahrgenommen würden, sondern daß lediglich
die Verfügbarkeit versperrt ist (Dies., 1989, S. 145).
Der Vollständigkeitshalber soll hier erwähnt werden, daß auch Angstphänomene und
Phobien innerhalb des hysterischen Syndroms eine Rolle spielen können. Freud
nannte die Phobie auch Angsthysterie, weil er beide Erkrankungen auf den ÖdipusKomplex zurückführte. (Dies., 1989, S. 146)
2.3 Sexuelle Störungen
Bei keiner anderen Neuroseform spielen sexuelle Konflikte eine so tragende Rolle
wie bei der Hysterie und den Phobien. Hoffmann und Hochapfel (1989, S146) gehen
davon aus, daß das Sexualleben bei allen Hysterikern massiv gestört sei und nennen
als mögliche Formen: Anorgasmie von der Frigidität und Impotenz über eine
generelle Interessenlosigkeit an der Sexualität bis hin zur Kombination zwischen
sexueller Lust mit starken aggressiven und Angst-Affekten, Schmerzen beim
Geschlechtsverkehr (Dyspareunie).
Vermehrte Sexualität (Pan-Sexualität, Erotomanie, Nymphomanie) meint ein
verstärktes sexuelles Agieren, was nicht mit einem verstärkten erotischen Bedürfnis
gleichzusetzen ist, wenn sich ein Mensch sexuell provokativ verhält: An die Stelle der
Befriedigung an Intensität, tritt dann eine Befriedigung an der Quantität.
Die Partnerbeziehungen sind oft unbefriedigend, mit häufigen Szenen durchsetzt, in
denen als problematisch erkannten Arrangements wieder hergestellt werden und
ragen den Charakter einer „sado-masochistischen Kampfehe“ vom Typ „Wer hat
Angst vor Virginia Woolf“ (Vgl. Dies., S. 147).
Der Hysteriker sucht meistens einen zwanghaft-depressiven Gegenpart. Der
Hysteriker bedarf zwar der ihm gebotenen Sicherheit und Verlässlichkeit ist aber
auch von der Biederkeit seines Partners enttäuscht. Der eher introvertierte
Zwanghaft-Depressive ist von der aufregenden Extravertiertheit seines Partners
fasziniert, kann aber nicht verstehen, daß Affären und Szenen der Preis für das
Zusammenleben sein soll (Dies., 1989, S. 148).
3. Psychogenese und Dynamik
Mentzos schlägt eine Neufassung des Hysterie-Begriffs vor. In der Psychogenese
seien nicht nur die ödipale, sondern auch prägenitale Fixierungen beobachtete und
beschrieben worden: Reich und andere hätten bereits orale bzw. narzisstische
Konflikte aufgezeigt (vgl. Mentzos, 1991, S. 69f.) Mentzos (1991, S. 75 f.) zieht es
daher vor von einem hysterischen Modus der Konfliktlösung zu sprechen:
„Der Betreffende versetzt sich innerlich (dem Erleben nach) und äußerlich (dem
Erscheinungsbild nach) in einen Zustand, der ihn sich selbst quasi anders erleben
und in den Augen der umgebenden Personen anders, als er ist, erscheinen lässt.
Er versetzt sich in einen Zustand, in dem die eigenen Körperfunktionen und / oder
psychischen Funktionen und / oder Charaktereigenschaften in einer solchen Weise
erlebt werden und erscheinen, daß schließlich eine (angeblich) andere, eine quasi
veränderte Selbstrepräsentanz resultiert…sie bezweckt ausgesprochen und
zielgerichtet die neurotische Entlastung von einem intrapsychischen Konflikt. Sie
kann auch als eine unbewußte tendenziöse Inszenierung mit dem genannten „Ziel“
verstanden werden.“
Mentzos (1991, S. 76) beschreibt diesen Vorgang mit Tucholsky:
„Was war das eben?“ fragte die Jungfrau erstaunt und sie bekam ihr erstes Kind!“
Das spezifisch hysterische daran ist, daß dem äußeren und inneren Zuschauer
gegenüber die Illusion von sich selbst (als Jungfrau) erhalten bleiben soll. Übertragen
auf den Bereich körperlicher Symptome soll hierdurch der primäre und sekundäre
Krankheitsgewinn erzielt werden. Das Hysterische beginnt demnach dort, wo das
expressive Verhalten und die emotional geladene Szene nicht der natürliche
Ausdruck des momentanen Erlebens sind, sondern wo umgekehrt dieses Verhalten
aktiviert und eine Szene inszeniert wird, als ob ein solches Verhalten vorläge:
„Man könnte sagen, es handle sich um eine passagere inszenierte Änderung der
Selbstrepräsentanz.“ (Mentzos, 1990, S. 157)
Hoffmann und Hochapfel (1987, S148f.) gehen davon aus, daß neben
Entwicklungsschäden, Traumen und Verlusterlebnissen und Vorstellungen (im
Gegensatz zum Zwangsneurotiker, bei dem die Vorstellungen bewusst sind) häufig
sexueller Inhalte oder welcher, die im Zusammenhang mit ödipalen Konflikten
stehen.
Mentzos (1190, S.158) begrenzt den (neurotische verfestigten) Grundkonflikt, der mit
Hilfe des hysterischen Modus verarbeitet wird nicht nur auf die Reaktivierung ödipaler
Konflikte im Erwachsenenalter, sondern,
„…daß bei fast jedem Patienten mit hysterischer Symptomatik und/oder hysterischem
Charakter auch Konflikte aus der oralen Phase (unvollständige Symbioseablösung
und allen anderen nicht konstruktiv verarbeiteten Trennungen) sowie auch eine
narzisstische (Selbst-)Problematik (strukturelle Mängel im Bereich der Regulation
des Selbstwertgefühls) vorhanden und oft sogar dominierend sind.“ (Mentzos, 1990,
S.158)
3.1 Teilmechanismen
Den kognitiven Stil des Hysterikers beschreibt Mentzos (1191, S.58) als nebelhaft,
impressionistisch, technik- und faktenfeindlich. Problemlösungen werden erraten und
nicht herausgefunden, die Wissbegierde ist gegenüber realen Gegebenheiten
gehemmt, logische Diskrepanzen sind diesen Menschen gleichgültig.
Der symbolische Gehalt von Äußerungen und Szenen wird dagegen „blitzartig
dechiffriert“ was zu einer verstärkten Abwehr führt (vgl. Mentzos 1991,S.59).
Der Einsatz starker Affektinszenierung im Sinne einer
Emotionalisierung/Dramatisierung stellt den Versuch dar, die kognitive Einsicht zu
beeinträchtigen oder durch den Einsatz von Gegenemotionen die gefürchteten
Emotionen abzudrängen (vgl. Mentzos, 1991, S. 60). Dieses muß nicht
„zwangsläufig“ laut, grell oder heftig geschehen und dem o.g. Zweck dienen: Es kann
genauso gut durch betontes Schweigen oder Affektlosigkeit inszeniert werden und
kann auch Ersatz für ein Ich-Defizit sein (Gefühlsleere).
Eine wesentliche Rolle spielt die Identifikation. Sie kann sich zur Wunscherfüllung
oder auch zur Angstvermeidung bilden. Die sog. „normale Identifikation“, kann als
Stabilisierung und Orientierung gebender Entwicklungsmechanismus gesehen
werden. Im Rahmen der neurotischen Pseudolösung wird sie aber als pathologischer
Abwehrmechanismus eingesetzt und dadurch zum Faktor neurotischer
Symptombildung:
„Hysteriker haben eine profuse Identifizierungsneigung. Identifikation ist die
Grundlage von einfühlender Begabung, Sensibiliät, schauspielerischer Fähigkeit
einerseits; andererseits werden…durch Identifikation Krankheitsmuster perfekt
übernommen… Auf Identifikation geht auch die Suggestibilität des hysterischen
Patienten zurück. (Hoffmann/Hochapfel, 1987 S. 149).
Die Identifikation kann als Verlustkompensation einer geliebten Person dienen, öfter
jedoch ist es der Wunsch oder die Tendenz, sich in die Lage einer anderen Person
zu versetzen, indem das Verhalten übernommen wird.
Der impressionistische kognitive Stil, die Emotionalisierung und der
Identifikationsmechanismus dienen dem Hauptabwehrmodus, der Verdrängung bzw.
Verleugnung.
Das spezifische an der hysterischen Verdrängung als Resultat verschiedener
Teilmechanismen ist die Dissoziation. Viele Vorgänge bleiben „eigenartig getrennt“
und es gibt einen „agierenden“ und einen „beobachtenden Ich-Anteil, der „wider
„besseres Wissen“, wie hypnotisiert der Inszenierung tatenlos zusieht (vgl. Mentzos,
1991, S. 66)
Der hysterische Modus der Konfliktverarbeitung zielt auf eine „Quasi-Verdrängung“
der Selbstrepräsentanzen (vgl. Ders.,S. 115).
In der Form der Konfliktverarbeitung unterscheidet Mentzos in pseudo-progressive
und pseudo-regressive Charaktere.
Pseudo-regressive Züge sind gekennzeichnet durch Inszenierungen der Schwäche,
Naivität und Hilflosigkeit:
„Für diese Formen gilt der Satz: „Die Schwäche des Hysterikers ist seine Stärke“…
Sie wird als Alibi, als Schutz gegen Schuld- und Schamgefühle eingesetzt.“ (Ders., S.
54f)
Bei den pseudo-progressiven Formen wird ein Bild der Stärke, Überlegenheit des
Gefühlsreichtums präsentiert, das in der Realität nicht existent ist (Don Juanismus).
3.2 Krankheitsgewinn
Der primäre Krankheitsgewinn besteht darin, daß
- einer Not Ausdruck gegeben werden kann, ohne Schuld- oder Schamgefühle
entwickeln zu müssen (z.B. Zittersyndrom im Ersten Weltkrieg als Ausdruck
der Lebensangst, ohne die „Feigheit“ zugeben zu müssen);
- Triebbefriedigung ohne Reue oder Strafe stattfinden kann (z.B. Ohnmacht
einer Patientin bei der Ansprache sexueller Themen, als Ausdruck sich im
phantasierten Geschlechtsverkehr verlieren zu können);
- ein narzisstischer Gewinn durch die unbewußte Veränderung der
Selbstrepräsentanz besteht (Don Juanismus);
- eine innere Leere durch das Hineinsteigern in angebliche Affekte gefüllt
werden kann (vgl. Mentzos 1991, S. 82ff.)
Der sekundäre Krankheitsgewinn ist in der vermehrten Zuwendung, Schonung und
Versorgung, vor allem bei den pseudo-regressiven Formen zu sehen (vgl. Ders., S.
85f.).
Ein weiterer Aspekt ist die indirekte Abfuhr von Frustrationsaggressionen in Form der
„Rache“ (vgl. Ders., S. 86 f.). So kann beispielweise sexuell kokettes Verhalten bei
gleichzeitiger Abwehr des Zuspruchs einen narzisstischen Gewinn bedeuten, durch
die Abwehr aber die Aggression entladen werden.
4. Therapie
Unabhängig von der Präferenz die Mentzos (1991, S. 106ff.) als psychoanalytisch
orientierter Autor der Psychoanalyse einräumt, sollen hier einige für die Therapie
typische Merkmale genannt werden, von denen ich denke, daß sie auch für die
Gestalt-Therapie von Bedeutung sind.
Die Beziehung zwischen „Behandler“ und Klient ist oft durch Agieren des Klienten
gekennzeichnet: der Therapeut kann unbewusst in ein Spiel aus z.B. erotischer
Verführung, fordernd-infantilem Verhalten einerseits und Verärgerung und
Ablehnungung andererseits hineingezogen werden.
Ziel der Behandlung sollte nach Mentzos (ebenda., S. 106) neben der
Bewusstmachung der verdrängten Anteile des intrapsychischen Konfliktes, eine
gefühlsmäßige Wiederbelebung in der Übertragungssituation und dadurch die
Möglichkeit freien Fortentwicklung und Nachreifung der Persönlichkeit sein.
Durch die Erschwernis der oben beschriebenen hysterischen Abwehrmechanismen
sollte der Therapeut darauf achten Distanz zu wahren, um nicht zum mitagieren
verleitet zu werden und den Kern des Widerstandes erkennen zu können: Die
Schwierigkeit sei, das Kaschierte verstehen zu können, ohne das Dargestellte
einfach zu akzeptieren und sich zu weit zurück zu ziehen.
IV. Literatur
Hoffmann, Sven; Gerd Hochapfel
Einführung in die Neurosenlehre und
psychosomatische Medizin, Stuttgart
usw., 1987,
Mentzos, Stavros
Hysterie - Zur Psychodynamik unbewusster
Inszenierungen, Frankfurt/M. …1991
Ders.
Neurotische Konfliktverarbeitung,
Frankfurt/M. 1990
Riemann, Fritz
Grundformen der Angst,
München, 1989
Herunterladen