10.02.2006 Referent: Bruno Heindl Dozent: Dr. Michele Sobczyk WS 2005/2006 Depression und Schizophrenie der Eltern und die Auswirkung auf deren Kinder 1. Einleitung mindestens eine halbe Million Mädchen und Jungen haben Eltern, die unter einer sehr schweren psychischen Erkrankung (schizophrene und affektive Störungen) leiden; etwa zwei Millionen im europäischen Bereich der WHO Weltweit leiden bis zu 20% der Kinder und Jugendlichen an psychischen Gesundheitsproblemen. 1.1 Begriff der Erziehungsfähigkeit (Salzgeber, 2004) Allgemeine Erziehungsfähigkeit: emotionale und körperliche Bedürfnisse eines Kindes zu erkennen, es angemessen zu versorgen und zu betreuen / Spezielle Erziehungsfähigkeit: Bedürfnisse des Kindes realitätsgerecht wahrnehmen und beantworten. Im familiengerichtlichen Verfahren : „Förderkompetenz“ der Eltern gegenüber dem Kind Verfahren gem. § 1666 BGB: Krankheit oder Unvermögen eines Elternteils medizinisch psychiatrische Sicht: bei psychiatrischer Krankheit, Alkoholismus oder sexueller Perversion -> Vor allem Depressionen, Angsterkrankungen, Panikzustände, Psychosen und Persönlichkeitsstörungen 1.2 Prävalenz: Eltern minderjähriger Kinder in psychiatrischer Behandlung BRD: mind. 300 000 Kinder, bei denen ein Elternteil an einer Schizophrenie oder einer affektiven Psychose leidet. -> alle anderen Störungsbilder von geringerem Schweregrad noch nicht erfasst. Laucht, Esser und Schmidt (1992) fanden in Deutschland bei 353 Müttern von zweijährigen Kindern 19,8 Prozent psychische Auffälligkeiten, bei den Vätern lag der Wert bei 10,4 Prozent. 1.3. Das Risiko dieser Kinder, psychisch zu erkranken ein affektiv krankes Elternteil: vierfach höheres Risiko für eine affektive Störung + deutlich erhöhtes Risiko für andere psychiatrische Störungen. 1.4 Ist es prognostisch schlechter, wenn zwei Elternteile psychisch krank sind? Wenn beide Elternteile psychotisch erkrankt sind steigt das Risiko praktisch auf das Doppelte. dreifach höheres Risiko, eine Depression zu entwickeln. 10-fach höheres Risiko bei Kindern von schizophrenen Müttern Rate allgemeiner psychopathologischer Auffälligkeiten bei Kindern psychisch kranker Eltern mit 30 bis 45 Prozent sehr hoch 2. Psychische Erkrankungen im Einzelnen Eingriff in das elterliche Sorgerecht, wenn: keine Krankheitseinsicht, Behandlungen nicht begonnen / abgebrochen, häufige Krankheitsschübe, Suizidalität gegeben, Interaktion mit dem Kind schwer gestört ist, keine Hilfen /Jugendhilfe angenommen werden, angsteinflössende Wahrnehmung (z.B. Wahn), Misshandlungen, Vernachlässigungen, starke Entwicklungsverzögerung des Kindes gegeben ist Zu den häufig die Erziehungsfähigkeit im obigen Sinne einschränkenden seelischen Störungen gehören nach Salzgeber (2004) Psychosen, Borderline-Störungen, das Münchhausen-Syndrom (pathologisches Lügen), Münchhausen-by-proxy-Syndrom, Neurosen, Persönlichkeitsstörungen, Anpassungsstörungen, Drogen- und Medikamentenabhängigkeit und Alkoholabhängigkeit. 2.1 Schizophrenie Paranoide Schizophrenie (F 20.0) Postschizophrene Depression (F20.4) Hebephrene Schizophrenie (F20.1) Schizophrenes Residuum (F20.5) Katatone Schizophrenie (F20.2) Schizophrenia simplex (F20.6) Undifferenzierte Schizophrenie (F20.3) Man unterscheidet bezüglich der Schizophrenie die Verlaufsformen akutes Auftreten, schubweiser Verlauf und schleichender Beginn. 1 2.1.1 Epidemiologie Lebzeitprävalenz : 1% Verwandten 1. Grades: o 6% für Eltern o 9 % für Geschwister, o 13% für Kinder mit einem schizophrenen Elternteil o 46% bei zwei schizophrenen Eltern 4 % aller Schizophrenien vor dem 15.Lebensjahr, 1 % vor dem 10.Lebensjahr, 10 % zwischen dem 14. und 20. Lebensjahr, 42 % zwischen 21. und 30. Lebensjahr und 75 % zwischen 20. und 40. Lebensjahr. 2.1.2 Ätiologie Neben organischen (Unausgeglichenheit dopaminerger-, glutamaterger und serotonerger Transmittersysteme) und psychogenen (z.B. individuelle Charakteristika, belastende Ereignisse, familiäre Einflüsse) Faktoren sind auch genetische Einflussfaktoren nachgewiesen. Nach Häfele (2003) haben Kinder eines schizophrenen Elternteils ein 10-fach höheres Risiko, sind beide Eltern schizophren ein 40-fach höheres Risiko, selbst an Schizophrenie zu erkranken. Manche Autoren geben sogar noch höhere Zahlen an. Erklärungsversuche zur Ätiologie der Schizophrenie bei Kindern (aus Comer, 2001) a) Familiensystemisches Modell: Double-Bind-Hypothese (Bateson, 1978) b) Modell der operanten Konditionierungsprozesse c) Vulnerabilitätsmodell 2.1.3 Leitsymptome der Schizophrenie Symptome im kognitiven und im Wahrnehmungsbereich, wie Formale Denkstörungen: Gedankenabreißen, Einschiebungen, Zerfahrenheit, Gedankenlautwerden, Gedankeneingebung, Gedankenentzug (+), Beeinflussungs- und Beziehungswahn (+), Halluzinationen (v.a. akustisch) jeder Sinnesmodalität ohne deutliche affektive Beteiligung (+), Störungen im emotionalen Bereich, wie Ausgeprägte Rückzugs- und Isolationssymptomatik (-), Affektverflachung, Affektlabilität (-), Negativismus u. Regressionen(-), Störungen der Sprache, wie Rededrang, Sprachstereotypien (+) Perseverationsneigung (+) 2.2 Depression Manische Episode (F 30) Hypomanie (F30.0) Manie ohne psychotische Symptome (F30.1) Manie mit psychotischen Symptomen (F30.2) Bipolare affektive Störung (F31) Unterteilung nach Episode, Schweregrad, Verlauf (remittierend) Depressive Episode (F32) Unterteilung nach Schweregrad +/- psychotische Symptome +/- somatische Symptome Wortneubildungen, Bedeutungsverschiebungen, (+) Störungen der Motorik, wie disharmonische Spontanbewegungen (Steifheit, Eckigkeit) (+), reduzierte Spontanbewegungen (+), katatone oder kataleptische Erscheinungsbilder (+), motorische Stereotypien, Haltungsstereotypien, (+) Störungen des Antriebs, wie deutlich verringerte Leistungsfähigkeit (-) Antriebslosigkeit: kaum vorhandene Spontaneität und Initiative (-) Anmerkungen: (+)= Positvsymptomatik; (-) = Negativsymptomatik Rezidivierende depressive Störungen (F33) Unterteilung nach Schweregrad +/- psychotische Symptome +/- somatische Symptome Verlauf remittierend Anhaltende affektive Störungen (F34) Zyklothymia (F34.0) Dysthymia (F34.) Andere affektive Störungen (F38) 2.2.1 Epidemiologie Punktprävalenz:: ca. 5-10 % (BRD) / Lebzeitprävalenz : zwischen 8 und 20%, wobei Frauen etwa doppelt so häufig betroffen sind (bei Manie und bipolarer affektiver Störung: Verhältnis in etwa 1:1). 2 Etwa 4% der 12- bis 17jährigen und 9% der 18jährigen (v.a junge Mädchen) leiden an Depressionen. Zusammenhang mit Suizid von Jugendlichen (dritthäufigste Todesursache junger Menschen) 2.2.2 Ätiologie a) Genetische Faktoren Risiko für eine affektive Störung ist zwei- bis dreimal höher, das Risiko für eine Major Depression etwa sechsmal höher als bei Kindern unauffälliger Eltern. Die Wahrscheinlichkeit für die Kinder, deren beide Eltern depressiv sind, selbst eine Depression zu entwickeln beträgt sogar 70%. b) Individuelle Faktoren und Wirkmechanismen Kinder: Alter, Geschlecht, Entwicklungsstand, Intelligenz, Temperament, Soziale Kompetenz, Bewältigungsstrategien der betroffenen Kinder. Eltern: Erkrankungsvariablen (Beginn, Schweregrad, Chronizität), Persönlichkeitsmerkmale des erkrankten/ nicht erkrankten Elternteils, Strategien der Krankheitsbewältigung. Diese Faktoren beeinflussen die Wahrscheinlichkeit eines Ausbruchs einer psychischen Erkrankung, den Verlauf und den Schweregrad der Erkrankung bei Kindern und Eltern. c) Psychosoziale Wirkfaktoren Modell zur Erklärung der psychosozialen Vermittlungsprozesse (Remschmidt & Mattejat, 1996) Die wichtigsten vermittelnden Entwicklungsbedingungen sind nach dem Modell die Krankheitsbewältigung und die Beziehungsqualität. Die Güte und der Umfang dieser beiden Faktoren bedingt dann die kindliche Entwicklung, der so genannte „outcome“ für das Kind. Kinder depressiver Eltern haben dann gute Entwicklungschancen, wenn neben den Eltern auch andere Angehörige in sinnvoller und angemessener Weise mit der Erkrankung umgehen und wenn tragfähige Beziehungen zwischen den erkrankten Eltern und den Kindern bestehen. 2.2.3 Leitsymptome der Depression Schlafstörungen, gedrückte Stimmung, Konzentrationsstörungen, Appetitstörungen, Hoffnungslosigkeit, Wahnideen und Suizidversuche. Suizidgedanken, Müdigkeit, 3. Auswirkungen der psychischen Erkrankung der Eltern auf die Kinder 3.1 Auswirkungen der elterlichen Schizophrenie reduzierte Zuwendungs- und Erziehungskapazität einer oder beider Eltern direkte Abwesenheit des erkrankten Elternteils etwa aufgrund von Krankenhausaufenthalten Wirkungen Behinderung bei der Erfüllung familiärer und Haushaltsaufgaben indirekte Wirkungen: Instabilität der ehelichen Beziehung, Ehescheidung auch generell mehr psychische Probleme und häufigere Kontakte mit sozialen Diensten niedrigerer Ausbildungs- und Einkommensstand Verzögerungen der motorischen und neurologischen Entwicklung, Aufmerksamkeitsdefizite, Probleme des Kurzzeitgedächtnisses, wobei die Instabilität der frühen Lebensumwelt der Kinder einen negativen Einfluss ausübt, Kinder im Mittel in 3 unterschiedlichen Lebensumwelten aufgewachsen. Kinder schizophrener Mütter werden mit großer Wahrscheinlichkeit von einer anderen Person als der leiblichen Mutter erzogen Übernahme von Haushaltspflichten und Verantwortung für den erkrankten Elternteil wird als Belastung erlebt. mangelnde Sprachproduktivität, außerdem produzierten sie mehr unklare und zweideutige Bezugnahmen zu zuvor erwähnten Ideen als normale Kinder. Die Konsistenz dieser Sprachabweichung war ähnlich der verwirrten schizophrenen Eltern. Aber: positive Eltern-Kind-Beziehungen als protektiver Faktor gewertet 3.2 Auswirkungen der elterlichen Depression (Canadian Paediatric Society, 2004) -> Mutterlastigkeit, d.h. die mütterliche Depression wirkt sich stärker aus als eine väterliche Depression Pränatal Inadäquate pränatale Versorgung, schlechte Ernährung, höhere Frühgeburtenrate, geringeres Geburtsgewicht, Prä-Eklampsie1 und spontane, natürliche Abtreibung des Kindes. Kleinkind Wut, protektiver Copingstil, Passivität, Absonderung und Rückzug, dysregulierte Aufmerksamkeit und Arousal, geringere kognitive Leistungsfähigkeit 1 Präeklampsie: Schwangerschaftserkrankung, bei der die Betroffene einen zu hohen Blutdruck hat und über ihren Harn zuviel Eiweiß ausscheidet. Die Folge kann Eklampsie sein, d.h. schwere Krämpfe mit lebensbedrohlichem Verlauf für das Kind. 3 Bereits explorierendes Kind Beginnen spät erwachsen und selbstständig zu werden, passiv und gleichgültig erduldend („behavioural passive noncompliance“), wenig Interaktion, kognitive Leistungsfähigkeit eingeschränkt und z.B. generell wenig Spielen und wenig kreatives Spielen. Schulkind Eingeschränkte Anpassungsfähigkeit, Affektive Störungen, Angststörungen, Störungen des Benehmens, Schulisches Aufmerksamkeitsproblem, Hyperaktivität und geringere IQ-Werte. Jugendlicher Affektive Störungen (v.a. Depression), Angststörungen, Phobien, Panikstörungen, Störungen des Benehmens, Substanzmissbrauch und Alkoholabhängigkeit, Schulisches Aufmerksamkeitsproblem, Hyperaktivität, Lernschwächen. Allgemein Depressive Mütter zeigen eine engere Bandbreite in der Affektregulation, weniger Verhaltensaktivitäten, haben weniger effektive Kontrollstrategien und zeigen eine große Feindseligkeit und Negativität in der Interaktion mit Ihrem Kind. 3.3 Auswirkungen auf die Interaktion, Fördermöglichkeiten, Bindungsstil Oyserman, Mowbray, Meares und Firminger (2000) : Zusammenfassung für Depression: Depressive Mütter zeigen weniger synchronisierte Interaktionen, die für das Entwickeln eines Kompetenzgefühls der Kinder nötig wären. ängstlich gebundene Kinder. Der negative Interaktionsstil setzt sich auch bei älteren Kindern fort, der Erziehungsstil ist auch weniger responsiv und weniger effektiv. Zusammenfassung für Schizophrenie: Schizophrene Mütter sind weniger in die Erziehung involviert, sind unsicherer und weniger fähig, ein positives Klima für ihre Kinder zu gestalten. Im Schulalter haben diese Kinder oft kognitive Defizite. Auseinanderbrechen der Familie und Konflikte, Alleinerziehungsproblematik, soziale Isolation sowie finanzielle und andere Stressoren, die mit dem Leben in Armut verbunden sind. 3.4 Weitere Auswirkungen psychischer Erkrankungen auf die Kinder unangemessenes Sexualverhalten, zwanghaftes Verhalten (Gedanken und Handlungen), aggressive Ausbrüche, Peer-Probleme und delinquentes Verhalten. gesundheitliche Belastungen (krankheitsanfälliger, gehen öfter zum Arzt, schätzen ihre körperliche Gesundheit schlechter ein als eine Kontrollgruppe) Beziehung zum Erkrankten beeinträchtigt (Streit, körperliche Übergriffe). Die Freizeit und damit auch die Möglichkeit zu entspannen, kann drastisch reduziert werden, da zusätzliche familiäre Pflichten übernommen werden müssen (im Haushalt, durch Betreuung anderer Kinder, bei der Krankenhausbetreuung). Entwickeln Ängste, dass der erkrankte Elternteil sich oder anderen, etwas antun könnte. Auch wurden Diskriminierungserfahrungen gemacht, die zur Isolation der Familien führten (Jungbauer et. al. 2001). Desorientierung, Schuldgefühle und sozialer Rückzug der Kinder. Krankheitssymptome werden nicht verstanden und können nicht eingeordnet werden. Wenn nachvollziehbare Erklärungen fehlen, glauben die Kinder häufig, dass sie an den Problemen ihrer Eltern schuld sind. Krankheit wird als Familiengeheimnis bewahrt, da das Reden über die Probleme der Familie außerhalb der Familie einem Verrat an der Familie gleichgestellt wird. Folgeprobleme sind insbesondere Betreuungsdefizite, Verantwortungsverschiebung (Parentifizierung), Abwertungserlebnisse und Loyalitätskonflikte (Jungbauer et. al. 2001). Überforderung der Eltern -> Defizit an Aufmerksamkeit und Zuwendung für die Kinder. Rollenumverteilungen, Auflösung des Generationenverhältnisses. Die Kinder übernehmen Aufgaben und Verantwortung für die erkrankten Elternteile, denen sie von ihrer Entwicklung her nicht gewachsen sind. Die eigenen Bedürfnisse treten in den Hintergrund, kleine Erwachsene Die Kinder schämen sich für den erkrankten Elternteil und schwanken zwischen Loyalität zum und Distanzierung von dem erkrankten Elternteil (Jungbauer et. al. 2001). 4