Skriptum zur Vordiplomsprüfung Entwicklungspsychologie Institut für Psychologie der Universität Freiburg Stand Wintersemester 2003/04 Vorläufige Version Zum Geleit Liebe Benutzerin, lieber Benutzer! Im Wintersemester 2003/04 haben sich einige Menschen zusammengetan und jeweils ein Kapitel Vordiplomsliteratur Entwicklungspsychologie zusammengefasst. Die Idee dieses Skripts ist, dass es von Semester zu Semester aktualisiert, weiterentwickelt, überarbeitet und verbessert wird. Die Erfahrung mit dem Bio-Fachschaftsskript hat gezeigt, das man nach einer Prüfung (bzw. wenn man mit dem Lernen fertig ist) wesentlich besser weiß, was in eine Zusammenfassung gehört und was nicht. Dieses Wissen sollte nach jedem Prüfungssemester in eine Neufassung des Skripts fließen. Das Prinzip ist also ein solidarisches. Das ist selten geworden und darum umso wichtiger. Der Rahmen ist fertig – das Skript sollte nie fertig werden. Die Zusammenfassenden waren Lena Grau, Lea Gutz, Nicola Steltzer, Laura Pielmaier, Peter Bär, Jasmin Karius, Sebastian Nitzschke und Benjamin Fauth. Viele fertige Zusammenfassungen haben wir im Internet gefunden. Gutes gab es zum Beispiel von der Fachschaft Psychologie der Uni Bamberg. Außerdem haben wir viel von einer Freiburger Lerngruppe aus dem WS 99/00 (Peter Behrend u.a.) übernommen. Dank ihnen allen im Namen aller Studierenden. Update Kapitel 8 (zu finden ganz am Ende des Skripts) im WS 05/06, danke an Robert Ripfl! Viel Erfolg beim Lernen. Lasst Euch nie unterkriegen! Sebastian Nitzschke und Benjamin Fauth Kontakt: [email protected] und [email protected]. 2 Inhaltsverzeichnis Fragen, Konzepte, Perspektiven ..............................................................................8 Entwicklung durch Anlage- oder Umwelteinflüsse? ..................................................... 8 Erbanlagen und Entwicklungsumwelt ................................................................................ 8 Nachweis der Bedeutung von Erbanlagen.......................................................................... 9 Weitere Modellvorstellungen für die Erklärung von Entwicklung ...............................14 Reifung ............................................................................................................................. 14 Reifestand ......................................................................................................................... 15 Sensible Perioden ............................................................................................................. 15 Entwicklung als sukzessive Konstruktion ........................................................................ 16 Entwicklung durch Erziehung und Sozialisation ............................................................. 16 Entwicklungsaufgaben und kritische Lebensereignisse ................................................... 18 Piaget - die Theorie der kognitiven Stadien ..........................................................22 Allgemeiner Überblick über die Theorie ......................................................................... 22 Die Stadien ....................................................................................................................... 23 Gedächtnis ........................................................................................................................ 27 Mechanismen der Entwicklung: ....................................................................................... 27 Organisation und Adaptation (funktionale Invarianten) .................................................. 27 Piagets Standpunkt zu grundlegenden Fragen ................................................................. 29 Metatheoretische Klassifikation ....................................................................................... 30 Kritik ................................................................................................................................ 30 Wygotskis Theorie und die Kontexttheoretiker ....................................................33 Einleitung ......................................................................................................................... 33 Biographischer Abriss ...................................................................................................... 33 Allgemeiner Überblick über die Theorie ......................................................................... 34 Der Einfluß psychologischer Werkzeuge einer Kultur auf das Denken .......................... 37 Beispiele für Wygotskische und Kontextualistische Forschung ...................................... 38 Mechanismen der Entwicklung ........................................................................................ 39 Standpunkte der Theorie zu grundlegenden Fragen in der Entwicklung ......................... 40 Metatheoretische Klassifikation ....................................................................................... 41 Kritik der Theorie ............................................................................................................. 41 Die Theorie der Informationsverarbeitung ............................................................44 Historische Entwicklung der Theorie ............................................................................... 44 Allgemeiner Überblick über die Theorie: ........................................................................ 44 Die wichtigsten entwicklungspsychologischen Forschungsrichtungen ........................... 46 Mechanismen der Entwicklung ........................................................................................ 49 Der Standpunkt des Informationsverarbeitungsansatzes zu grundlegenden Fragen der Entwicklung ..................................................................................................................... 50 Metatheoretische Klassifikation ....................................................................................... 51 Kritik der Theorie ............................................................................................................. 51 Psychoanalytische Ansätze....................................................................................53 Sigmund Freud ...............................................................................................................53 Biographischer Abriss ...................................................................................................... 53 Allgemeiner Überblick über die Theorie ......................................................................... 53 3 Die einzelnen Phasen ....................................................................................................... 57 Mechanismen der Entwicklung ........................................................................................ 58 Freuds Standpunkt zu grundlegenden Fragen der Entwicklung ....................................... 58 Metatheoretische Klassifikation ....................................................................................... 59 Kritik der Theorie ............................................................................................................. 59 Erikson ............................................................................................................................60 Biographischer Abriss ...................................................................................................... 60 Allgemeiner Überblick über die Theorie ......................................................................... 60 Die einzelnen Phasen ....................................................................................................... 62 Mechanismen der Entwicklung ........................................................................................ 63 Eriksons Standpunkt zu grundlegenden Fragen der Entwicklung.................................... 63 Metatheoretische Klassifikation ....................................................................................... 63 Kritik der Theorie ............................................................................................................. 64 Biologische Grundlagen der Entwicklung.............................................................65 Evolutionspsychologie der Entwicklung ......................................................................65 Allgemeine Prinzipien der Evolutionspsychologie .......................................................... 65 Verhaltensatavismen ........................................................................................................ 66 Entwicklung der sexuellen Orientierung .......................................................................... 66 Bedingungen und Konsequenzen väterlicher Fürsorge .................................................... 67 Entwicklungsgenetik ......................................................................................................68 Allgemeine Prinzipien der Entwicklungsgenetik ............................................................. 68 Genetischer Einfluss auf Persönlichkeitsunterschiede ..................................................... 68 Schätzungen des genetischen Einflusses .......................................................................... 69 Kovariation und Interaktion von genetischen und Umweltunterschieden ....................... 69 Sprachentwicklung..................................................................................................71 Sprache und Spracherwerbsaufgabe ............................................................................71 Komponenten der Sprache: Was muss das Kind erwerben? ............................................ 71 Spracherwerbsaufgabe: Fragen und ungelöste Probleme ................................................. 73 Die wichtigsten Meilensteine der Sprachentwicklung .................................................73 Phonologisch-prosodische Entwicklung .......................................................................... 73 Drei Hauptschritte in der lexikalischen Entwicklung ...................................................... 75 Von den Wörtern zur Satzproduktion .............................................................................. 77 Der Weg zur pragmatischen Kompetenz.......................................................................... 79 Das Erklärungsproblem .................................................................................................80 Voraussetzungen und Bedingungen für einen erfolgreichen Spracherwerb .............82 Spracherwerb als biologisch fundierter, eigenständiger Phänomenbereich ..................... 82 Kognitive Voraussetzungen des Spracherwerbs: Wirkungen und Rückwirkungen ......... 83 Sozial-kognitive Voraussetzungen des Spracherwerbs .................................................... 84 Sozial-kommunikative Voraussetzungen des Spracherwerbs: Sprachangebot und sprachliche Interaktionen ................................................................................................. 85 Entwicklung begrifflichen Wissens .......................................................................88 Begriffliche Repräsentationen .......................................................................................88 Merkmalsbasierte Ansätze ............................................................................................... 88 Theoriebasierte Ansätze ................................................................................................... 88 Repräsentationale Entwicklung .....................................................................................88 Kategorisierung im Säuglingsalter ................................................................................... 88 Entwicklung begrifflicher Repräsentationen .................................................................... 89 4 Wissensentwicklung in den grundlegenden Domänen ...............................................89 Theoretische Ansätze ....................................................................................................... 89 Intuitive Physik: Basales Wissen ..................................................................................... 89 Entwicklung physikalischen Wissens: Begrifflicher Wandel .......................................... 90 Intuitive Alltagspsychologie (theory of mind) ................................................................. 90 Intuitive Biologie .............................................................................................................. 92 Metabegriffliches Wissen ...............................................................................................92 Moralische Entwicklung und moralische Sozialisation .......................................94 Moralphilosophische Konzepte .....................................................................................94 Psychologische Moralforschung...................................................................................94 Die Internalisierung moralischer Normen .....................................................................95 Normvermittlung und Konditionierung ........................................................................... 95 Normvermittlung durch Identifikation und Beobachtung ................................................ 95 Normvermittlung durch familiäre Sozialisation ............................................................... 96 Normvermittlung durch Peergruppen ............................................................................... 96 Entwicklung des Denkens über Moral...........................................................................97 Piagets Theorie: von der Heteronomie zur Autonomie .................................................... 97 Neuere Forschung zu Piagets Themen ............................................................................. 97 Von der egozentrischen zur universalistischen Begründung normativer Urteile ............. 98 Moralisches Denken und moralisches Handeln .........................................................100 Moralisches Wissen vs. moralische Motivation ............................................................. 100 Performanzfaktoren und moralisches Handeln .............................................................. 100 Konsistenz als Indikator für die integrierende Funktion des Selbst ............................... 100 Die Funktion des moralischen Selbst ............................................................................. 102 Vorgeburt und frühe Kindheit...............................................................................103 Perspektiven auf die frühe Entwicklungszeit .............................................................103 Soziokulturelle und familiäre Rahmenbedingungen ..................................................103 Vorgeburtliche Entwicklung ........................................................................................103 Entwicklung des ZNS..................................................................................................... 103 Motorische Entwicklung des Fötus ................................................................................ 104 Geschlechtsdifferenzierung des Fötus ............................................................................ 104 Vorgeburtliche Risiken .................................................................................................. 104 Frühgeburt ...................................................................................................................... 104 Modellvorstellungen über vorgeburtliche Entwicklungsfaktoren .................................. 105 Prognosen aufgrund der vorgeburtlichen Entwicklung .................................................. 105 Die Neugeborenenzeit ..................................................................................................105 Veränderungen in der Geburtspraxis.............................................................................. 106 Zwei psychologische Fragen zur Geburt ........................................................................ 106 Psychologische Kompetenzen und Bedürfnisse des Neugeborenen .............................. 106 Modellvorstellungen über den Entwicklungswandel in den ersten Lebensmonaten und besondere Vulnerabilität ................................................................................................ 109 Der kompetente Säugling (ca. 4-12 Monate) ...............................................................109 Körperliche und motorische Veränderungen ................................................................. 110 Neurologische und kognitive Veränderungen ................................................................ 110 Lernen, Informationsverarbeitung und Gedächtnis im ersten Lebensjahr ..................... 111 Objektpermanenz ........................................................................................................... 112 Das Weltbild des Säuglings ............................................................................................ 113 5 Sozialverhalten und Emotionen ..................................................................................... 114 Elternverhalten ............................................................................................................... 116 Das Kleinkind im zweiten Lebensjahr .........................................................................116 Laufenlernen als Problemlösen und Entwicklungsaufgabe............................................ 117 Bindung und Bindungsqualität ....................................................................................... 117 Trotzverhalten ................................................................................................................ 119 Die Entdeckung des Ich im Spiegel und Anfänge der sozialen Kognition .................... 119 Sozialisationsbereitschaft ............................................................................................... 120 Wie wichtig ist die frühe Kindheit für die weitere Persönlichkeitsentwicklung? .......... 120 Jugendalter ............................................................................................................121 Konzepte, Theorien, Thematiken .................................................................................121 Jugend - zur Konstruktion einer Lebensphase ............................................................... 121 Adoleszenz im Wandel entwicklungspsychologischer Forschung ................................ 122 Theorien der Adoleszenz ................................................................................................ 122 Entwicklungsaufgaben im Jugendalter ........................................................................... 126 Kognitive Entwicklung .................................................................................................127 Körperliche und Psychosexuelle Entwicklung ...........................................................129 Körperwachstum und Motorik ....................................................................................... 129 Geschlechtsreifung (biosexuelle Entwicklung) .............................................................. 129 Das Körperselbstbild bei Jugendlichen .......................................................................... 130 Sexuelle Orientierung und Sexualverhalten ................................................................... 131 Identität: das zentrale Thema des Jugendalters ........................................................134 Zum Begriff der Identität ............................................................................................... 134 Identitätsentwicklung: Voller Tumulte oder ruhiges kontinuierliches Wachstum? ....... 135 Die Struktur der Identität und ihre Veränderung im Jugendalter ................................... 135 Identität zwischen Widerspruch und Stimmigkeit ......................................................... 138 Suizid im Jugendalter ..................................................................................................... 140 Der Jugendliche im Spannungsfeld verschiedener Umwelten..................................141 Die Familie als Umwelt .................................................................................................. 142 Die Gleichaltrigen .......................................................................................................... 144 Frühes Erwachsenenalter .....................................................................................148 Erwachsenenalter und Alter .................................................................................149 Entwicklung im Erwachsenenalter ..............................................................................149 Die generelle Architektur des Lebensverlaufs ............................................................... 149 Veränderung der relativen Ressourcenallokation .......................................................... 150 Selektive Optimierung mit Kompensation ..................................................................... 150 Intellektuelle Entwicklung im mittleren und höheren Erwachsenenalter .................151 Zweikomponentenmodelle der intellektuellen Entwicklung .......................................... 151 Relative Stabilität intellektueller Leistungen über die Lebensspanne ........................... 153 Heritabilität..................................................................................................................... 154 Fähigkeitsstruktur ........................................................................................................... 155 Historische und ontogenetische Plastizität ..................................................................... 155 Determinanten der mechanischen Entwicklung im Erwachsenenalter .......................... 158 Das Dilemma behavioralen Alterns aus neurokognitiver Sicht ..................................... 159 Die Entwicklung von Selbst und Persönlichkeit im Erwachsenenalter ....................161 Forschungsstrategien im Bereich von Selbst und Persönlichkeit ................................... 161 Persönlichkeit im Erwachsenalter .................................................................................. 162 6 Selbstkonzeptionen und Selbst-regulative Prozesse....................................................... 163 Familienentwicklung .............................................................................................166 Die familienpsychologische Perspektive von Familienentwicklung .........................166 Theoretische Aspekte einer Psychologie der Familienentwicklung .........................166 Familiensystemtheorie ................................................................................................... 166 Familienentwicklungstheorie ......................................................................................... 167 Familienstresstheorie ...................................................................................................... 167 Integratives Systemmodell der Familienentwicklung .................................................... 167 Entwicklung von Familienbeziehungen ......................................................................168 Entwicklung von Paarbeziehungen ............................................................................... 168 Entwicklung von Eltern-Kind-Beziehungen .................................................................. 169 Beziehungen zwischen Beziehungen..........................................................................171 Intergenerationale Transmission von Eltern-Kind-Beziehungen ................................... 171 Beziehungen zwischen dem Paar- und dem Eltern-Kind-Subsystem ............................ 171 Entwicklung durch Intervention in Paar- und Familiensystemen .............................171 Entwicklungsförderliche Stärkung von Paarbeziehungen .............................................. 172 Entwicklungsförderliche Stärkung von Elternkompetenzen .......................................... 172 Familiäre Entwicklungsintervention als Public Health Aufgabe ................................... 172 7 Grundlegung Fragen, Konzepte, Perspektiven (Leo Montada) Entwicklung durch Anlage- oder Umwelteinflüsse? Erbanlagen und Entwicklungsumwelt Es gibt keine E ohne Erbanlagen, deren Gesamtheit als Genom / Genotyp bezeichnet wird; Erbanlagen brauchen für ihre E eine geeignete Umwelt in allen Lebensphasen. Heute noch Kontroverse, ob den individuellen Erbanlagen oder den individuell erfahrenen Umwelteinflüssen mehr Gewicht bei der E des Phänotypus des Menschen mit seinen Fähigkeiten, Motivationen, Merkmalen und Störungen. Phänotyp (= Erscheinungsbild / Summe aller Merkmale eines Lebewesens, welches durch Anlage und Umwelt geprägt wird) Genotyp (= Gesamtheit des Erbgutes; legt grob den Phänotyp fest) Würde nur Vererbung E determinieren, könnte man nur versuchen Erbschädigungen zu Bekämpfen und bei der Umwelt müssten u.a. Familien- oder Bildungspolitik beeinflusst werden. Empirische Forschung sollte Antworten auf die folgenden Fragen geben. Fragen Welche interindividuellen Unterschiede im Genom und in der Umwelt sind bei Herausbildung phänotypischer Unterschiede bedeutsam (und nicht Gewicht der zusammenwirkenden Faktoren Anlage und Umwelt)? Erfassung der Unterschiede: Forschung bei Genetik / Verhaltensgenetik oder Verhaltens-, Sozial-, Öko-, Kulturwissenschaften. Frage nach Anlage- und Umwelteinflüssen oder dem Zusammenwirken von beiden ist nicht global, sondern spezifisch für einzelne Merkmale zu beantworten. Man kann nicht von einem psychologischen Merkmal auf andere generalisieren. Störungen können sich z.B. bei genetischen Dispositionen in dem Umfeld universell auswirken, durch „günstige“ Umwelt ausgeglichen oder Ausprägung kann in vielen genotypischen Varianten durch Entwicklungsumwelt bestimmt werden. Objektive und subjektive Umwelt Objektiv identische oder ähnliche Umwelten wirken unterschiedlich oder haben unterschiedliche Bedeutung je nach Genom und bereits entwickeltem Phänotyp. Interaktion zwischen Individuum und Umwelt, in der jede Situation unterschiedlich wahrgenommen und bewertet wird und unterschiedlich auf Umwelt eingewirkt wird. Deshalb ist Qualität zwischen objektiven Beschreibungen von Entwicklungskontexten und den individuell wahrgenommenen Umwelten zu klären. Umgekehrt können objektiv unterschiedliche Entwicklungskontexte gleich sein für die Herausbildung von z.B. Merkmalen. 8 Das Konzept der spezies-normalen Umwelt Kulturspezifika werden während der Sozialisation gelernt. Verhaltensgenetik: unterscheidet E, die normal ist für eine Spezies und E, die normal ist für eine Kultur. Alle genetisch normalen Kinder lernen Sprache, Grundwissen, Werte/Normen, Fertigkeiten einer Kultur, wenn sie in einer für die Spezies Mensch normalen kulturellen Umwelt aufwachsen. Das, was Kinder lernen, ist phänotypisch unterschiedlich, aber funktional im jeweiligen materiellen, sozialen und kulturellen Kontext äquivalent (=vollwertiger Ersatz). Was also ein spezies-normales Genom und eine spezies-normale Umwelt ist, umfasst große Spannbreiten, von denen die Varianz individueller Ausprägungen des Phänotyps abhängt. Letzteres unterscheidet zwischen Erfolg oder Misserfolg in einer Kultur. Unterschiede sind in dem, was die Verhaltensgenetiker spezies-normal nennen, zentraler Forschungsgegenstand der Psychologie. Nachweis der Bedeutung von Erbanlagen Die erbliche Basis art- und rassetypischer Merkmale, der Geschlechtszugehörigkeit und einiger pathologischer Phänomene ist unbestritten. Die Träger der Erbanlagen heißen Allele, die beim Menschen in 23 Chromosomenpaare, an denen sich je ein Allel von Vater und Mutter befinden, heißen Gene. Mehrere Möglichkeiten des Nachweises von Vererbungseinflüssen sind zu unterscheiden. Chromosomale Besonderheiten Geschlechtszugehörigkeit wird durch 23. Chromosomenpaar determiniert (Mann hat XY -> unterschiedliche Paarlinge und Frau XX -> homologe Paarlinge). Es kann ein enger Zusammenhang zwischen phänotypischem Merkmal und chromosomaler Auffälligkeit gegeben sein: häufigste Chromosomenanomalie ist Trisomie 21 (das 21. Chromosom hat 3 statt 2 homologe Paarlinge), die zum Down-Syndrom führt und mit körperliche Auffälligkeiten, mongoloidem Gesichtsschnitt, geistiger Behinderung, verminderter Lebenserwartung und Fortpflanzungsunfähigkeit einhergeht. Passung in ein Erbgangsmodell Erbeinflüsse sind auch nachzuweisen, wenn ein Merkmal / Krankheit in aufeinanderfolgenden Generationen bezüglich Aussehen und Auftreten einem bekannten Ergangsmodell entspricht. Mendel’sche Gesetze beruhen auf einfachen Erbgangsmodellen, in denen jeweils ein Gen die Ausprägung bestimmt. Bei diskreten (klar abgrenzbaren) Merkmalen kann der Erbgang in der Generationsfolge leicht verfolgt werden, wenn die phänotypische Ausprägung durch ein einzelnes Gen determiniert ist. Krankheit Phenylketonurie: Eiweißstoffwechselstörung aufgrund eines Enzymdefektes, dessen Synthese durch ein Gen kontrolliert wird. Das Enzym wandelt normalerweise Eiweiß Phenylalanin um. Hier ist es –wenn keine spezielle Diät eingehalten wird- im Körper hochkonzentriert, was zu geistigen Schäden, durch ZNS-Schädigung, führt. Die meisten Merkmale, wie Haarfarbe und Größe, werden durch mehrere Gene determiniert. Es kann, bei multigener Vererbung, wie auch bei dem Beispiel mit einem Gen, das anlagemäßige familiäre Risiko aus der Auftretenshäufigkeit in der Verwandtschaft geschätzt werden. Bei in kontinuierlichen Abstufungen vorkommenden Merkmalen wie Aggressivität oder Intelligenz wird ein zusammenwirken vieler unabhängig voneinander vererbter Gene / Gengruppen angenommen (polygene Vererbung). Dabei kann sich das gleiche Gen unter 9 dem Einfluss anderer Gene (Modifikation) verschieden auswirken. Durch eine Erbgangsanalyse kann man in diesen Fällen den Anlageeinfluss nicht nachweisen, sondern durch Reinzüchtung oder populationsgenetische Analysemethoden. Reinzüchtung und Wahl ähnlicher Partner Reinzüchtung einer kontinuierlich abgestuften Variablen, wie Aggressivität, in aufeinanderfolgenden Generationen wird es bei anlagebedingten Merkmalen geben, wenn Individuen mit extrem phänotypischen Ausprägungen jeweils ähnliche Partner wählen. Wird die phänotypische Varianz der Nachkommen durch selektive Partnerwahl geringer, ist Erbeinfluss nachgewiesen, sofern Vermittlung der Merkmale durch „Sozialisation“ ausgeschlossen werden kann. Beispiel: Kreuzung einer aggressiven mit einer friedlichen Hunderasse oder Partnerwahl in Bezug auf Intelligenz -> häufig finden sich Partner ähnlicher Intelligenz und somit haben auch die Nachkommen ähnlichen IQ, wenn dies über mehrere Generationen der Fall war (bei erstmaliger Aktion ist die Wahrscheinlichkeit ähnlicher Intelligenz geringer). Populationsgenetische Analysen Mit populationsgenetischen Methoden versucht man, die in einer Population gegebenen phänotypischen Unterschiede auf Anlage- und / oder Umweltunterschiede zurückzuführen. In einer Population gibt es: phänotypische Unterschiede und Ähnlichkeiten zwischen den Individuen unterschiedliche Anlageähnlichkeiten Verwandtschaftsgrad zu erschließen ist zwischen unterschiedliche Umweltähnlichkeit zwischen Umweltbeschreibungen zu erschließen ist Personen, Personen, die die aus aus ihrem geeigneten Beispiele: musikalische Begabung bleibt ohne Angebot / Förderung unentdeckt, mittlerer IQ kann durch schwache Begabung mit optimalem Milieu und umgekehrt zustande kommen. Die Auflösung dieser Verwirrung von Anlage- und Umweltähnlichkeiten ist das methodische Problem der Populationsgenetik. In Familiensituation kann man nicht unabhängig schätzen, ob ein Merkmal durch Erziehungsumwelt oder Vererbung entstanden ist. Deshalb sind Zwillings- und Adoptivkinderforschung von Bedeutung. Zwillingsuntersuchungen Eineiige Zwillinge (EZ) sind anlagemäßig identisch; phänotypische Unterschiede müssen also auf andere als auf Anlagefaktoren zurückgeführt werden; bei allen anderen Verwandtschaftsgraden ist dies nicht der Fall. Zweieiige Zwillinge (ZZ) sind anlagemäßig nicht ähnlicher als normale Geschwister, aber sie teilen als gleichaltrige mehr an Kontext und Erfahrungen. Dennoch wurden bei gemeinsam aufwachsenden ZZ geringere Ähnlichkeiten als bei altersungleichen Geschwistern und getrennt aufwachsenden ZZ beobachtet, was mit Bemühung um Identität durch Abgrenzung voneinander erklärt wird. Also ist im Durchschnitt die phänotypische Ähnlichkeit umso größer, je enger der Verwandtschaftsgrad ist (bei Eltern und Kindern größer als bei Großeltern und Enkeln). 10 Leben in derselben Familie bedeutet nicht zwingend, dass Umwelt identisch ist, da Geschwister ungleich behandelt werden oder sie das Familienleben unterschiedlich wahrnehmen. EZ-Paare sind ähnlicher als ZZ-Paare Umwelt ist für EZ ähnlicher als für ZZ, da EZ mehr Zeit miteinander verbringen, häufiger dieselben Freunde und Interessen haben, schwieriger zu unterscheiden sind und daher ähnlicher behandelt werden als ZZ. Getrennt aufwachsende Zwillinge Auch bei getrennt aufgewachsenen Zwillingen sind EZ ähnlicher als ZZ. Dies gilt für Intelligenz und viele Persönlichkeitsmerkmale, wie Ängstlichkeit und Impulsivität. Zum Beispiel Intelligenz: getrennt aufgewachsene EZ haben höhere IQ-Ähnlichkeit als gemeinsam aufgewachsene ZZ und Geschwister; auch getrennte Geschwister haben Ähnlichkeit, während Adoptivkinder und ihre nicht verwandten „Geschwister“, die in dergleichen Umwelt aufgewachsen sind, keine IQ-Ähnlichkeit aufweisen -> ein größerer Anteil an der Varianz phänotypischer Unterschiede aufgrund von Erbgut als Umweltunterschieden während der E (siehe Tabelle 1.1, Seite 27). Ein Maß für Erblichkeit Populationsgenetische Analysen machen Aussagen über Erblichkeit eines phänotypischen Merkmals. Erblichkeit (E²) ist definiert als Anteil an Gesamtvarianz eines phänotypischen Merkmals in der Population, der auf Anlageunterschiede in dieser Population zurückzuführen ist. E² = (rEZ – rZZ) : (1 – rZZ) -> Korrelationen (Zusammenhänge) zwischen EZ und ZZ, die in derselben Umwelt aufgewachsen sind. Werte aus Tabelle 1.1 eingesetzt -> E² = .77 für Intelligenz. Erblichkeitswerte für Schulleistungen liegen deutlich darunter; bei Persönlichkeitsmerkmalen liegt der Erblichkeitskoeffizient zwischen .40 und .50. Untersuchungen in Adoptivfamilien Überzufällige Ähnlichkeiten zwischen Adoptiveltern und adoptierten Kindern können –sofern sie nicht verwandt sind– nur aus zwei Quellen stammen: einer differentiellen Auswahl oder selektiven Platzierung bei Adoptionen, z.B., dass Kinder mit höher eingeschätzter Intelligenz in gebildetere Adoptivfamilien vermittelt werden der Sozialisation der adoptierten Kinder durch die Adoptiveltern (→ Prozess der stetigen Anpassung des Adoptivkindes an Normen / typische Verhaltensweisen der Adoptivfamilie) bzw. in den von diesen gestalteten Entwicklungskontexten. Überzufällige Korrelation zwischen den biologischen Eltern und ihren frühzeitig adoptierten Kindern ist –falls selektive Platzierung ausgeschlossen werden kann- nur auf Anlageähnlichkeiten zurückzuführen. Beispiel Intelligenz: Munzinger (1975) untersuchte 17 Adoptivkinderuntersuchungen qualitativ. Ergebnisse: Mittlerer IQ der Adoptiveltern korreliert mit r = .19 deutlich geringer als die entsprechenden Werte der biologischen Mütter und der Adoptivkinder mit r = .34. Dieser Wert liegt auch deutlich unter der Korrelation des mittleren IQ biologischer Eltern mit dem IQ ihrer bei Ihnen lebender Kinder mit r = .58 -> Beleg für Anlageeinfluss! Zusätzlicher Beleg dafür: Vorhersage des IQs des Kindes verbessert anhand IQ-Mittelwertes (wegen Unterschieden zwischen den Eltern) der biologischen Eltern als anhand der Adoptiveltern. Kritik: Häufig fehlen Informationen über den biologischen Vater; Vergleichbarkeit der biologischen- und Adoptiveltern fraglich, da biologische Mütter durchschnittlich 10 Jahre 11 jünger mit weniger gefestigtem Bildungsstand. Qualität der Informationen der biologische Eltern geringer als die der Adoptiveltern. Veränderung des Erblichkeitskoeffizienten mit dem Lebensalter Erblichkeitskoeffizienten sind über Kinder und Jugend nicht invariant, sondern werden mit zunehmenden Alter höher. Das spricht dafür, dass sich genetische Ähnlichkeiten und Unterschiede nach der Vorschulperiode immer deutlicher manifestieren (vgl. „Unter der Lupe“ Seite 30). 3 Arten der Passung zwischen Anlage und Umwelt Plomins Typologie der Anlage-Umwelt-Korrelation (oder –Passung) bietet Erklärungsmöglichkeit für die sich im Alter ändernden Korrelationen zwischen Eltern-KindPaaren oder Geschwisterpaaren, was sich weder mit einer Anlage- noch mit einer Umwelttheorie erklären lässt. Plomin unterscheidet (1977) die 3 folgenden Arten der Passung zwischen Anlage und Umwelt. Passive Genom-Umwelt-Passung Eltern teilen mit Kindern einen Teil des Genoms, welches zu bestimmten Gestaltungen des Lebens (z.B. Interessen, Motive) der Eltern führt, was wiederum einen Teil der Lebensumwelt der Kinder ausmacht (Angebote, Anforderungen z.B.). Diese Umweltgestaltung kann dem Genom des Kindes entsprechen oder nicht. Wenn nun z.B. ein Musikangebot dem Genom des Kindes entspricht, liegt eine passive Genom-UmweltPassung (G-U-P) vor, aber das Angebot des Elterhauses kann stark beeinflussend sein. Evokative Genom-Umwelt-Passung Evokative (oder reaktive) Passung liegt vor, wenn ein Kind Angebote oder Anforderungen erhält, die ausgelöst sind durch sein Genom. So sucht z.B. das sportlich begabte Kind mehr Gelegenheiten zu sportlicher Betätigung als das sportuninteressierte Kind. Das gilt im Durchschnitt und in Einzelfällen kann die Umwelt unresponsiv gegenüber dem Genom bleiben oder dieses durchkreuzen. Aktive Genom-Umwelt-Passung Aktive Passung liegt vor, wenn das Kind seinem Genom entsprechend seine Umwelt aktiv aufsucht und mitgestaltet. Z.B. aktive Wahl von Freunden und Interessensgebieten. Im günstigsten Fall entsprechen die Entwicklungsziele der Eltern den Präferenzen der Kinder. Passive, evokative und aktive Genom-Umwelt-Passung fallen hier zusammen. Fehlende Passung liegt vor, wenn die Eltern die Entwicklungspotentiale der Kinder verkennen, weniger ausgeprägte Potentiale fördern und keine ausreichenden Entwicklungsgelegenheiten bieten. Somit wird ein deprivierendes familiäres Umfeld gestaltet. Der vorherrschende Passungstypus ändert sich mit dem Lebensalter Scarr und Weinberg (1983) denken, dass sich Bedeutung der 3 Arten der G-U-P übers Lebensalter ändert: Passive G-U-P verliert mit steigendem Lebensalter an Bedeutung, da Kinder Evokativ (bleibt gleich) und aktiv (steigt) mehr Einfluss nehmen. Mit dieser Theorie lässt sich die Veränderung des Erblichkeitskoeffizienten mit dem Alter interpretieren. Passive Kovariation ist in biologischen Familien wegen Genetik wahrscheinlicher als in Adoptivfamilien; man kann also in jedem Lebensalter höhere Umwelt-Intelligenz-Korrelationen in biologischen Familien erwarten. Nicht Genom passende Anforderungen werden bei passiver G-U-P trotzdem Wirkung zeigen. Dadurch können milieubedingt vorübergehend höhere Ähnlichkeiten zwischen Adoptiveltern und –kindern erzeugt werden, als auf der Basis der Genom-Ähnlichkeit zu erwarten wäre. Je mehr die 12 evokativen und aktiven Arten an Bedeutung gewinnen, Anlageähnlichkeit in der phänotypischen Ähnlichkeit durch. Aktive Passung erfordert Wahlmöglichkeiten desto mehr setzt sich Je eingeschränkter Angebot / Wahlmöglichkeiten sind, umso geringer aktive, dem Genom entsprechende Gestaltung der Umwelt. Im Durchschnitt werden EZ, auch wenn sie getrennt aufwachsen, einander sehr ähnlich, da sie aus einem breiten Angebot das „Geno-typische“ aktiv auswählen. Das gilt nicht, wenn extrem unterschiedliche Milieus und extreme Einschränkung der „Wahlmöglichkeiten“. Fazit: Die vorgestellten Daten deuten darauf hin, dass vor allem in den ersten Lebensjahren genetische Unterschiede durch Milieuunterschiede überlagert werden können. Mit wachsender Selbstbestimmung setzen sich die Anlageunterschiede stärker durch. Das Genom ist somit als ein Entwicklungsagens (agens = Ursache / Triebkraft) anzusehen, das ständig und selbsttätig wirksam ist. Die Interpretation populationsgenetischer Analysen Ist das Merkmal Intelligenz stärker durch Anlage als durch Umwelt determiniert? Kann man nicht so sagen, da populationsgenetische Analysen begrenzt generalisierbar sind. Sie beschreiben nur die Verhältnisse in einer untersuchten Population und können nichts dazu sagen wie die Verhältnisse auch sein könnten, da in jeder Population nur bestimmte Anlageund Umweltunterschiede mit bestimmten Häufigkeiten realisiert sind. In der Summe zeigen die bisherigen populationsgenetischen Untersuchungen, dass bei der gegebenen Varianz der Anlagen und der Entwicklungsumwelten ein größerer Teil der Varianz der phänotypischen interindividuellen Unterschiede in der Population auf genetische Unterschiede zurückzuführen ist als auf identifizierte Umweltunterschiede. Demnach wurde die Erblichkeit der Intelligenz in den untersuchten Populationen auf mindestens .50 der phänotypischen Varianz geschätzt. Vorsicht! Varianzanteile sind keine Merkmalsanteile! Aus dem Varianzanteil der Intelligenz in einer untersuchten Population, der auf Anlageunterschiede zurückzuführen ist, darf keinesfalls auf den „Anteil“ von Erbeinflüssen bei der Ausbildung des Merkmals bei einzelnen Personen geschlossen werden (eine einzelne Messung hat keine Varianz). Erblichkeit beschreibt den relativen Einfluss der Anlagen in der Populationsvarianz des fraglichen Merkmals. Vorsicht! Ein hoher Erblichkeitskoeffizient bedeutet nicht Determination durch Anlagen! Was beim Individuum / Population durch Förderung erreicht oder durch Anregungsdeprivation verhindert werden kann, ist nicht allein aus dem Erblichkeitskoeffizienten abzuleiten. Er sagt über die Möglichkeiten der Umwelteinwirkungen nichts aus, solange er nicht in Bezug gesetzt wird zum Ausmaß und zur Häufigkeit gegebener Umweltdifferenzen und realisierter Umweltveränderungen in der untersuchten Population. Die Adoption von Kindern aus sozial schwachem Milieu in Mittelschichtfamilien stellt eine dauerhaft angelegte Förderung dar und führt im Durchschnitt zum dauerhaften Anstieg des IQ der adoptierten Kinder, auch wenn interindividuelle Unterschiede zwischen den adoptierten Kindern dadurch nicht aufgehoben werden und enger mit den Unterschieden zwischen den biologischen Eltern als zwischen den Adoptiveltern kovariieren. 13 Insgesamt zeigen populationsgenetische Studien, dass Anlageunterschiede bedeutsam für die differentielle E von Merkmalen sind; man kann also nicht alle Menschen mit gleichem Aufwand zu gleichen Entwicklungsergebnissen führen. Gefährlich sind unkritischer Milieuoptimismus als auch unberechtigter Milieupessimismus. Man muss Anlageunterschiede als Entwicklungsgegebenheiten ernst nehmen, ohne sie vorschnell als deterministisch (bedingend) anzusehen. Genom ist bei vielen Merkmalen über das ganze Leben eine wirksame Triebkraft offenbar. Erblichkeit erklärt bei einem Merkmal nicht die gesamte Varianz und die nicht durch Erblichkeit aufgeklärte Varianz hat also nichtgenetische Quellen, die noch weniger gut identifiziert sind. Man denkt an Umwelteinflüsse, die aber identifiziert und für einzelne Fähigkeiten / Merkmale / Störungen gesondert nachgewiesen werden müssen. Richtige Fragen stellen Anne Anastasi (1958): es gibt viele Wege des Zusammenwirkens von Anlage und Umwelt, die man erkunden sollte (und nicht nach Einflussanteilen fragen). Umwelt kann fördernd, behindernd oder kompensierend auf genotypische Potentiale und Dispositionen wirken. Einige Auswirkungen von Anlagen werden erst durch Bewertung der Umwelt produziert: Schönheitsideal ist kulturell geprägt, wie auch z.B. Idealvorstellungen von Eigenschaften. Diese kulturellen Bewertungen steuern Angebote und Anforderungen, die mehr oder weniger zu den individuellen genetischen Potentialen oder Dispositionen passen und beeinflussen Selbstwert, Sozialstatus und Lebenschancen der Individuen (z.B. wurden körperlichen Merkmalen Charakterzüge zugeordnet -> Stigmatisierung -> Auswirkungen auf zukünftige E). Koaktionen zwischen Anlage und Umwelt sind sicher vielfältig und Aufgabe entwicklungspsychologischer Forschung ist die Art des Zusammenwirkens zu erkunden. Weitere Modellvorstellungen für die Erklärung von Entwicklung EP soll klären, warum es zu Veränderungen, zu Stabilitäten kommt und warum es diesbezüglich inter- und intraindividuelle Unterschiede gibt. Bedingungen können intern (in der Person liegend) und/oder extern (in der sozialen Umwelt liegend) sein und können additiv wirken oder interagieren. Modellvorstellungen folgen nun: Reifung Reifung wird in Biologie als gengesteuerte Entfaltung biologischer Strukturen bezeichnet, die spezifische innere und äußere Entwicklungskontexte voraussetzt. In EP wird Reifung auf beobachtbare Veränderungen zurückgeführt, wenn diese universell in einer Altersperiode und ohne Lernen auftreten (z.B. können alle gesunden Kinder um 12./13. Monat laufen); ist also Prozess, wenn Erwerbungen nicht auf Erfahrung, Übung, Erziehung, Sozialisation oder gedankliche Erkenntnisgewinnung zurückgeführt werden können. Sind diese Faktoren auszuschließen spricht man von Reifung. Fehlende Erfahrungsmöglichkeiten Erkenntnisse über Ausschaltung von Erfahrungs- und Lernmöglichkeiten müssen aus Tierexperimenten oder extrem deprivierten und isolierten Lebensbiographien gewonnen werden. Wolfskinder sind hierfür ein Beispiel. Sie wachsen ohne menschliche Kontakte auf. Genie war 13 Jahre isoliert, wurde dann „entdeckt“, aus Ihrer Familie herausgeholt und von 14 Wissenschaftlern „erforscht“. Sie konnte nicht sprechen, erlernte zwar rasch einen Wortschatz, aber ohne differenzierte Syntaktik und Morphologie. Es gibt häufig spezifische Erfahrungsdeprivationen: Welche Auswirkungen haben Blindheit oder motorische Beeinträchtigungen auf die geistige E? Kann man sie kompensieren? Auswirkungen sind jeweils hinsichtlich des Ausmaßes und der Reversibilität, der aktuellen und langfristigen Effekte zu beurteilen. Z.B. Taubgeboren entwickeln Zeichensprache mit strukturellen Entsprechungen zur Sprachentwicklung gesunder Kinder, was für eine Reifungshypothese spricht. Reifestand Das Konzept Reifestand („readiness for learning“) beinhaltet, dass ein bestimmter Entwicklungsstand gegeben sein muss, damit Erfahrungen auf fruchtbaren Boden fallen oder damit effizient geübt werden kann. Vorraussetzungen für den Erwerb (z.B. Fahrradfahren, lesen) scheinen erst mit einem bestimmten Entwicklungs- oder Reifestand gegeben. Kulturabhängig auch: Kinder lernen hier mit 6 lesen, obwohl sie schon mit 3 bis 4 Jahren dazu in der Lage sind. Überforderung bei noch nicht erreichtem Reifestand führt zum Nichterwerb. Sensible Perioden Sensible Periode in Embryologie = Entwicklungsabschnitte, in denen bestimmte Organe und Funktionen ausgebildet werden: Zellsysteme erlangen hier ihre Struktur und pathogene Einflüsse (wie Unterernährung der Mutter oder Gifte) schädigen besonders die in der Entstehung befindlichen Organe. Prägung Konrad Lorenz (1935) definiert Prägung als einen verhaltensmäßig gleichartigen Fall, da Graugänse in einer bestimmten Entwicklungsphase auf ein sich bewegendes Objekt (Mutter, Holzente, Mensch) geprägt werden und diesem nachfolgen. In der Entwicklungspsychologie werden sensible Perioden als Entwicklungsabschnitte definiert, in denen – im Vergleich zu vorangehenden und nachfolgenden Perioden – spezifische Erfahrungen maximale positive oder negative Wirkungen haben. Es handelt sich also um Perioden erhöhter Umwelteinflüsse unterm Einfluss spezifischer Bedingungen (Art, Dauer, Intensität, Person, Kontext). Der empirische Existenznachweis einer sensiblen Periode setzt voraus, dass 1. potentielle Einflussfaktoren gemessen werden können, 2. diese Faktoren an vergleichbaren Gruppen in vergleichbaren Ausprägungen untersucht sind, 3. ihre Wirkungen objektiv erfasst werden, 4. diese Wirkungen langfristig beobachtet werden und 5. die Schwierigkeit oder Unwirksamkeit von Versuchen, die in der sensiblen Periode entstandenen Anordnungen zu ändern, nachgewiesen wird. Experimente aus ethischen Gründen kaum möglich; wie Hospitalisierung von Spitz (1945; Kinder wurden nur gefüttert und hygienisch versorgt ohne Zuwendung zu erhalten und 15 starben früher) -> nur bei extremer Deprivation ist mit nachhaltigen Schädigungen, von z.B. Sozial- oder Persönlichkeitsentwicklung, zu rechnen. Beginn und Ende einer sensiblen Phase Beginn einer sensiblen Phase wird wie bei Reifestandshypothesen durch Erwerb von Erfahrungsvoraussetzungen erklärt. Warum sind nach ihrem Ende die gleichen Erfahrungen weniger wirksam? Kindheit = besonders sensible Phase, in der ungünstige Erfahrungen traumatisch (nach)wirken. So kann fehlende Unterscheidung zwischen Realität und Traumwelt Ängste hervorrufen, die sich Stabilisieren (in der Realität) und deshalb schwer wieder abzulegen sind. Diese selbststabilisierende Funktion kommt auch Interaktionsmustern zu -> Interaktion mit Bezugsperson führt zu Ver- oder Misstrauen, was sich durch ihre Wirkung auf andere selbst stabilisiert. Entwicklung als sukzessive Konstruktion Stadienabfolgen müssen nicht auf Reifung zurückzuführen werden. Alternativerklärung ist der sukzessive Aufbau, der beinhaltet, dass jedes Stadium auf dem vorausgehenden aufbaut, es voraussetzt und eine Voraussetzung für das nächsthöhere ist -> Strukturanalysen zeigen Notwendigkeit dieser Ordnung. E ist nicht eine beliebige, sondern sachlich wie logisch geordnete Folge von Konstruktionsschritten. Beispiel: Erwerb aufeinander aufbauender Begriffe, in denen die entwicklungsmäßig früheren in den späteren enthalten sind und diese komplexer werden. Selbstkonstruktion Piaget beschreibt den unsystematischen, nicht didaktisch angeleiteten Aufbauprozess als Selbstkonstruktion. Er hat 2 Grundannahmen: der sich entwickelnde Mensch erkundet und strukturiert aktiv seine Umwelt, sucht nach Informationen und verarbeitet diese, stellt nach der Maßgabe des jeweils erreichten Entwicklungsstandes Fragen, er braucht nicht motiviert zu werden, da seine Erkenntnismöglichkeiten nach Erprobung und Anwendung drängen (4 Jahre altes Kind, das „Warum-Frage“ entdeckt hat nervt Umwelt mit ständigem „Warum?“) und Erkenntnisfortschritt erfolgt in Sequenzen von einfachen zu komplexen, leistungsfähigeren Strukturen, Motor der E sind Probleme und Widersprüche, die sich aus der Anwendung der einfacheren Strukturen ergeben, ihre Lösung bedeutet Aufbau einer komplexeren Struktur. Entwicklung durch Erziehung und Sozialisation Sozialisation ist all das, was ein Mensch aus einer anderen Epoche lernen müsste, um in unserer Kultur zu leben: Sprache, Symbole, Regeln des Verhaltens in unterschiedlichen Situationen, Funktionen von Geräten, Wirtschaft, Moden... Sozialisation erfolgt durch Anleitung und Anforderung, Information und Belehrung, durch Beobachtung und Nachahmung von Vorbildern, durch Strafen und Belohnung usw. Die Familie, Schule, Beruf, Gruppe der Freunde, Medien sind an diesen Prozessen beteiligt. Lebenslanges Lernen Dieses Lernen ist nie zuende, da sich Gesellschaft und Kultur immer wandeln. Gesellschaft ist pluralistisch bezüglich Werten, dynamisch, da u.a. Wissenschaft, Künste und Sprache sich ständig wandeln, offen gegenüber Einflüssen und Neuerungen: z.B. gehen alte Berufe 16 und neue kommen hinzu. Sozialisation bedeutet also lebenslanges Lernen auf vielen Gebieten. Entwicklungspsychologische Sozialisationsforschung Perspektive wird entwicklungspsychologisch, wenn Auswirkungen von Sozialisationseinflüssen in verschiedenen Altersgruppen vergleichend untersucht werden. Dabei ist eine Wechselwirkung zwischen Sozialisationseinflüssen und dem Entwicklungsstand immer als Hypothese in Betracht zu ziehen. Differentielle Entwicklungen Neben generellen altersgebundenen Entwicklungstrends sind differentielle und individuelle Entwicklungen zu beachten: Sozialisationseinflüsse interagieren mit den bereits herausgebildeten individuellen Eigenschaften, Motiven usw. und ihren individuellen Entwicklungskontexten. Langfristige Sozialisationseffekte Sozialisationsforschung hat Entwicklungsperspektive, wenn Folgen von Sozialisationseinflüssen langfristig untersucht werden, gerade betreffend (In)Stabilität der Wirkungen von Sozialisationserfahrungen. E von Kritikfähigkeit Erziehung und Sozialisation vermitteln Wissen, Normen usw. und sollen auch emanzipatorisch fördernd wirken, was zu einer kritischen Auseinandersetzung mit den Gegebenheiten motivieren und befähigen. Ziel sollte E einer persönlichen Identität sein, was aber mit Spannungen bezüglich gesellschaftlicher Vorgaben einhergeht. Interaktion und retroaktive Sozialisation Eltern und Kinder beeinflussen sich wechselseitig und ein Beispiel hierfür ist die retroaktive Sozialisation. Kinder z.B. stellen ihre Eltern vor viele Entwicklungsaufgaben, die Veränderungen das Alltags mit sich bringen. Durch ihre Existenz, Eigenarten, Entwicklungsfortschritte und –probleme nehmen Kinder Einfluss auf Eltern bezüglich derer Entwicklungsmöglichkeiten, Lebensziele usw. Child effect Forschung In der „Child effect“-Forschung sind Anpassungen der Eltern untersucht worden. Rheingold (1969) beschrieb, dass Babys durch Weinen, Lächeln, Unmut und Behagen Eltern steuern, ohne das dieses bewusste Handlungen wären. So verlangen auch Freizeit, Krankheiten, Schwächen und Autonomieansprüche der Kinder Anpassungsleistungen der Eltern. Kinder vermitteln Wissen und Einstellungen Kinder und Heranwachsende vermitteln Eltern auch Fertigkeiten und Wissen, beeinflussen deren Wandel an Ansichten (z.B. über Personen, Politik) und Normen. Beispielsweise Thema Ausgeherlaubnis konfrontiert Eltern mit „abweichenden“ Ansichten und Wertungen. So geht es oft um Privilegien, Aufhebung von Verboten und mehr Freiheiten von den Eltern. Pauls und Johann (1984) trugen Methoden zusammen, die Kinder zur Beeinflussung ihrer Eltern verwenden: konstruktiv-aktive Steuerung (logisches Argumentieren; Kompromissaushandlungen) Vorwürfe und oppositionelle Steuerung (Drohen; Trotzen) Steuerung durch Bestrafung (Nerven; unangenehmes Verhalten in Öffentlichkeit) Steuerung durch Ignorieren, passiv-resignative Steuerung (demonstrative Hilf- und Machtlosigkeit) 17 Steuerung durch Schmusen und Schmeicheln Verlangen einer Begründung von Vorschriften führt zur Reflexion und eventueller Revision der Eltern Entwicklungsaufgaben und kritische Lebensereignisse In der Literatur werden Entwicklungsaufgaben und kritische Lebensereignisse unterschieden. Ersteres ist eher altersnormiert (bedeutet, dass Mehrheit der Population mit denselben Aufgaben in einer bestimmten Periode des Lebens konfrontiert wird) während letzteres unvorhersehbar ist und nur in Ausnahmefällen größere Teile der Population betreffen (wie Krieg, Naturkatastrophen). Diesen Kategorien gemeinsam ist, dass sie Probleme und nicht selten Krisen verursachen. Krisen, Risiken und Chancen Probleme, Krisen und belastende Ereignisse haben in der EP immer eine Rolle gespielt, allerdings mehr in der Erklärung von Entwicklungsstörungen als in der Erklärung positiver Entwicklungsverläufe. Beispielsweise Freud (1920): traumatische Erfahrungen der Kindheit > E von Neurosen später. Kritische Lebensereignisse wie Krankheiten, Unfälle, Geburt eines Kindes schaffen Probleme und bringen Verluste mit sich -> Umstellung von Lebensplänen und Handlungsroutinen. Krise = Person ist nicht fähig ein Problem zu lösen und ist gleichzeitig durch das Problem emotional belastet. Krisen und belastende Ereignisse können auch positive Auswirkungen haben, wenn die Betroffenen Lösungen finden und die Verluste bewältigen. Es sind Herausforderungen, deren Meisterung Gewinne an Kompetenz und somit Selbstvertrauen bedeutet und zu neuen Einsichten und Wertorientierungen führen. Altersnormierte Krisen und Aufgaben In organismischen Modellen der E wird angenommen, dass Probleme aus universellen Reifungs- und Entwicklungsveränderungen innerhalb des Organismus resultieren, die neue Erfahrungsmöglichkeiten, neue Interaktionen und somit neue Probleme erzeugen. Beispiele: Freuds (1930) Sequenz der psychosexuellen E und Konflikte in Kindheit und Adoleszenz (Ende des Jugendalters) oder Eriksons (1973) Theorie der Persönlichkeitsentwicklung, welche 8 Hauptstadien während des Lebens mit ihren Krisen unterscheidet, die unbewältigt zu Persönlichkeitsstörungen führen (z.B. Generativität vs. Stagnation (mittleres Erwachsenenalter) → bedeutet, dass das Ziel Förderung der nächsten Generation ist (=Generativität) und wenn dies fehlt führt das u.a. zur Stagnation). Entwicklungsaufgaben Im Unterschied hierzu stehen dialektische, interaktionale und transaktionale Modelle der E. Grundannahme ist, dass sich das entwickelnde Subjekt und der jeweilige Lebenskontext zur Entstehung und Lösung von Problemen und Krisen beitragen. Zwischen Subjekten und zwischen Entwicklungskontexten gibt es große Unterschiede und beide sind im ständigen Prozess des Wandels -> keine universelle Sequenz von Problemen und –lösungen. Havighurst (1948) strukturierte den Lebenslauf als eine Folge von Problemen, die er Entwicklungsaufgaben nennt. Mit seiner dialektischen Position verbindet er biologische, soziologische und psychologische Perspektiven. Viele Entwicklungsaufgaben sind für jede Lebensperiode spezifiziert worden, deren Bewältigung E erfordert, wie z. B. Ertragen einer Trennung von Betreuungspersonen oder Bewältigung des Verlustes sozialer Rollen im Alter > Leben = Abfolge von z.T. geschlechtsspezifischer Entwicklungsaufgaben. 18 Normative und deskriptive Aspekte Entwicklungsaufgaben sind Mischungen normativer und deskriptiver Elemente. Gesellschaftliche Festlegung einer Aufgabe ist immer normativ und Bestimmung von Altersgrenzen für Entwicklungsaufgaben hat empirische Basis: Pubertät und Menopause sind biologisch determiniert; Festlegung von Altersgrenzen für Ehe z.B. ist sozial bestimmt. Grad der normativen Verpflichtung variiert: Schulpflicht = Muss in unserer Kultur, Ehegründung = weniger verpflichtende Normen. Entwicklungsziele Entwicklungsaufgaben gliedern Lebenslauf und geben Entwicklungs- und Sozialisationsziele vor. Einige Entwicklungsaufgaben sind voraussehbar und deshalb ist angemessenen Vorbereitung möglich (z.B. Schuleintritt, Sexualität, Berufsbeginn, Auszug des letzten Kindes). Entwicklungsaufgaben sind allerdings nicht ausschließlich vorgegeben, da sie individuell interpretiert und bewertet werden und man persönliche Ziele und Projekte hat. Quellen für Entwicklungsaufgaben Havighurst konzeptualisierte Lebenslaufes: 3 Quellen für Entwicklungsaufgaben während des 1. biologische Veränderungen innerhalb des Organismus wie Pubertät und Menopause 2. Aufgaben, die durch die Gesellschaft, etwa in Bildung und Beruf gestellt werden 3. Werte, Strebungen und Ziele des sich entwickelnden Individuums selbst. Zur Erfüllung dieser Aufgaben sind individuelle Potentiale und individuelle und soziale Ressourcen und Gelegenheiten von Bedeutung. Beispiel sozialer Aufstieg hängt von vielen Faktoren ab: biologische wie geistige und physische Gesundheit, soziale wie Berufsbestrebungen der Herkunftsfamilie und des Partners, psychologische wie individuelle Fähigkeiten, gesellschaftliche wie Stellenmarkt und soziale Privilegierungen, kulturellen wie der generellen Wertschätzung sozialen Aufstiegs. So können Chancen für optimale E zwischen Geburtskohorten, Familien und Individuen beträchtlich variieren. Diese Sicht entspricht modernen Konzeptionen der menschlichen E und die Konzeptionen beinhalten, dass die E differentielle und individuelle Verläufe nimmt. Kritische Lebensereignisse Kritische Lebensereignisse wie Scheidung, Arbeitslosigkeit oder Tod sind nicht-normative Einschnitte im Lebenslauf. Diese Ereignisse erzeugen Probleme und Verluste, die als Herausforderung / Chance für positive E oder als Risiken für Fehlanpassungen / Störungen wirken. Folgen kritischer Lebensereignisse Um die Folgen kritischer Lebensereignisse zu erfassen, wurde eine Vielzahl von Kriterien entwickelt. In der klinisch-psychologischen Perspektive stand das Risiko psychopathologischer oder psychosomatischer Störungen im Vordergrund. Negative Emotionen (z.B. starke Angst nach traumatischen Erfahrungen), Hilflosigkeit, Verluste an Selbstwertgefühl sind zu beobachten. Andauernde Effekte dieser Art werden als Indikatoren beeinträchtigender seelischer Gesundheit oder als Indikatoren für Persönlichkeitsstörungen gewertet. Andererseits sind positive E durch eine Problembewältigung zu erwarten (z.B. Anstieg des Selbstwertes, neue Problemlösungsstrategien). 19 Langfristige pathogene Effekte kritischer Lebensereignisse sind weniger häufig als erwartet (10%) -> zeigt, dass Menschen kritische Lebensereignisse meistern. Dies wurde z.B. nachgewiesen für Tod nahestehender Personen, schwere Verletzungen und Krankheiten. Die Rolle subjektiver Bewertungen Entscheidend sind nicht die Ereignisse und ihre objektiven Folgen, sondern die subjektiven Bewertungen -> Tod des Ehemannes kann Verlust oder Befreiung bedeuten. Wenn viele durch ein Ereignis ähnlich betroffen sind, wie etwa Krieg oder Katastrophen, ist die Erfahrung eine andere, als wenn man einzeln betroffen ist. Hier wird „Warum-Ich-Frage“ nicht gestellt. Auch ist Altersperiode in der ein Ereignis eintritt von Belang: altersgemäße Schwangerschaft wird z.B. als normal angesehen, während wenn es „unzeitig“ ist zu Vorwürfen kommt. Bei Bewertung und Verarbeitung der Ereignisse spielen Ansichten über Verantwortlichkeiten eine große Rolle. Schwerer Unfall: Wer wird verantwortlich gemacht? Gott, Schicksal, andere Person oder Opfer selber. Erleben die Bertoffenen nun Ärger über sich, andere oder Schicksal, dann stellen diese Gefühle zusätzliche Belastungen dar. Eine fatalistische Grundhaltung (Schicksalsergebenheit) kann hilfreich sein, die belastenden Emotionen Empörung und Bitterkeit zu vermeiden. Bewältigungs- und Meisterungsmöglichkeiten Menschen, die ihr Schicksal selbst kontrollieren möchten, sind verunsichert, wenn sie Schicksal oder Zufall verantwortlich machen, da sie unkontrollierbar sind. So müssen sie sich selbst eine Mitverantwortung zuschreiben, um nicht hilfloses Opfer zu sein. Wichtige Bewältigungsstrategie ist Suche nach Sinn der Verluste. Zufall ist sinnlos. Menschen suchen und finden oft Sinn, indem sie rechtfertigen, weshalb sie sich auf Risiken eingelassen haben. Versöhnung mit Schicksal, wenn sie auf resultierende Gewinne schauen. Sinn in: Problemmeisterung, Unterstützung im sozialen Umfeld oder neue Erkenntnisse was wirklich wichtig im Leben ist. Erfolgreiche Suche nach Sinn hilft, belastende Gefühle zu bewältigen; auch positive Illusionen über Zukunft, positive Vergleiche mit anderen, denen es noch schlechter geht, „es hätte noch schlimmer kommen können“ dämpfen diese Gefühle. Damit sind belastende Gefühle bewältigt, aber Problem noch nicht gelöst. Konstruktive Problemlösung wird als ideale Strategie der Bewältigung angesehen aber in vielen Fällen ist es besser, Verluste und Einbußen hinzunehmen, die Lebensprioritäten so zu reorganisieren, dass sie zu den eigenen Kapazitäten, Ressourcen und Möglichkeiten passen. Weitere wichtige Anpassungsstrategie besteht in Gestaltung des Selbstbildes, welches verschiedene Überzeugungssysteme beinhaltet, wer man ist, sein möchte, sein könnte, sein will. Markus und Nurius (1986) sprachen von multiplen Selbstbildern, was Optionen für Wahl eines Selbstbildes eröffnet, wenn veränderte Lebensumstände bewältigt werden sollen, die dem bisherigen Selbstbild nicht entsprechen. Folgerungen für die Entwicklungsberatung Entwicklungsperspektive = rasche Behebung des Problems durch konsequente soziale Unterstützung oder Senkung der Anforderungen und neue Strategien entwickeln, die helfen zukünftige Probleme zu meistern. Erfahrung, eine Krise selbst bewältigt zu haben, stärkt Selbstvertrauen. Aufbau verschiedener Bewältigungsstrategien wirkt im Sinne einer Stressimmunisierung. Der Lebenslauf kann auch als eine Sequenz von Problemen verstanden werden und jedes Problem ist Herausforderung und Gelegenheit, neue Einsichten und Kompetenzen zu entwickeln oder neue Wahlen zu treffen. 20 Zusammenfassung von Anonym 21 Theoretische Ansätze Piaget - die Theorie der kognitiven Stadien Jean Piaget (09.08.1896 - 16.09.1980) Allgemeiner Überblick über die Theorie Genetische Erkenntnistheorie Erkenntnistheoretische Fragen können nur beantwortet werden, wenn man die Entwicklung („genetisch“ hier im Sinne von Epigenese) des Wissenserwerbs untersucht. Piaget untersucht hier vor allem wie sich das Denken in den Kategorien der traditionellen Erkenntnistheorie entwickelt: Zeit, Raum, Kausalität und Quantität. Er gilt als experimenteller Erkenntnistheoretiker. Piagets Erkenntnistheorie: Wissen ist kein Zustand, sondern ein Prozess (eine Beziehung zwischen dem Wissenden und dem Gewussten); der Wissenserwerb ist aktiv, das Wissen wird in gewissem Sinn „konstruiert“ und ist damit subjektiv gefärbt. Aktiv Wissen erwerben bedeutet auch, dass Kinder lernen, indem sie auf etwas einwirken. Biologischer Ansatz Piaget entlehnt zwei Konzepte aus der Biologie: 1. Genau so, wie Organismen sich biologisch an die Umwelt anpassen, so passen auch Menschen ihre psychischen Funktionen ihrer Umwelt an. Intelligenz ist also das Ergebnis der Anpassung (Adaptation, diese ist universal) der Psyche an die Umwelt. 2. Die Entwicklung der Kognition gleicht der embryonalen Entwicklung. Piaget bezeichnete seine Theorie auch als „geistige Embryologie“. Solche Begriffe und auch im Folgenden beschriebene wie Adaptation, Organisation, Struktur, Äquilibration, Assimilation, Akkomodation sind nur als Analogien aufzufassen, nicht als Beschreibung der Physiologie des Denkens. Strukturalistischer Ansatz Die Vielfalt der Denkprozesse ist das Ergebnis einer kompliziert strukturierten Anordnung einiger weniger elementarer geistiger Operationen. Interessant sind also die Zusammenhänge, die zwischen diesen einfachen Operationen bestehen und wie sich diese im Laufe der Entwicklung verändern. Das Denken baut sowohl bei älteren als auch bei jüngeren Kindern auf dieselben Elemente auf, jedoch besteht bei älteren Kindern eine weitaus differenziertere und vielfältigere Struktur dieser. Der Ansatz der Entwicklungsstadien Künste und umstrittenste Behauptung Piagets: Die kognitive Entwicklung vollzieht sich in Stadien. Ein Stadium ist ein Zeitabschnitt, in dem das Denken und das Verhalten eines Kindes eine spezifische geistige Grundstruktur widerspiegelt. Man kann sich die Stadien als Aufeinanderfolge von Ebenen der Anpassung vorstellen. Ein Stadium ist ein strukturiertes Ganzes in einem Zustand des Gleichgewichts: In den einzelnen Stadien verändern sich die Strukturen des Denkens. Dadurch ergibt sich in jedem Stadium ein grundlegend verschiedenes Weltbild. Die strukturellen Veränderungen von Stadium zu Stadium sind qualitativ, nicht quantitativ. Am Ende jedes Stadiums 22 befinden sich die kognitiven Strukturen in einem ausgeglichenen Zustand („Äquilibration“, s.u.). Jedes Stadium geht aus dem vorangegangenen Stadium hervor, integriert und transformiert es und bereitet das Nachfolgende vor (hier Gegensatz zu Freud: Regression in ein früheres Stadium nicht möglich, weil dieses gar nicht mehr existent ist). Die Stadien bilden eine invariante Sequenz, d.h. alle Stadien werden in der festen Reihenfolge durchlaufen. Die Stadien sind universell, gilt für alle Menschen, lediglich Tempo kann unterschiedlich sein Jedes Stadium schreitet voran vom Werden zum Sein: Eine anfängliche Periode der Vorbereitung leitet jedes Stadium ein, eine abschließende Periode der Vervollkommnung schließt sie ab. Methodologie Im Wesentlichen wandte Piaget 3 Methoden an: 1. Die einfache Verhaltensbeobachtung, die auch für das 2. klinische Gespräch (einer kettenartigen verbalen Interaktion zwischen Versuchsleiter und Kind) und für die 3. Anwendung kleinerer Experimente (durch Manipulation von Objekten) bedeutsam war. Die Erkenntnisse aus diesen Beobachtungen abstrahierte er stark, so dass der Zusammenhang zwischen Piagets Beobachtungsprotokollen und seiner postulierten Theorie z.T. nur schwer nachvollziehbar ist. Die Stadien Charakteristik der Stadien: (Dieser Abschnitt folgt eigentlich auf die Darstellung der sensumotor. Phase, ist hier aber vorangestellt, weil diese Kriterien für alle Stadien gelten.) Erkenntnisgewinn geschieht über das Erkennen von Objekteigenschaften und über die Beziehung zwischen diesen. Kognitive Strukturen werden zunehmend straffer organisiert. Schemata werden koordiniert und auf neue Situationen angewandt. Das Verhalten von Kindern wird zunehmend intentional. Das Selbst differenziert sich allmählich in Abgrenzung von der Umwelt (Identität). Das sensumotorische Stadium (0-2 J.) Angeborene Reflexe werden schrittweise den Erfordernissen der Umwelt angepasst und differenziert. Es zeigt sich die Tendenz des menschlichen Denkens sich zu strukturieren und an die Umwelt anzupassen. 6 Stufen, in denen sich das sensumotorische Denksystem aufbaut: Reflexmodifikation (0-1 M.) Das Kind passt die angeborenen Reflexe in kleinen Schritten leicht unterschiedlichen Umweltgegebenheiten an. Z.B. wird der Saugreflex bei verschiedenen zu saugenden Gegenständen etwas anders ausgeführt. Verhaltensweisen wie das Saugen können spontan produziert werden. Aus dem Saugreflex (angeboren) wird das Saugschema (verstärkte, generalisierte und differenzierte Verhaltensweise, die mit Reflex begann). Aber diese Verhaltensweisen können nur eingeschränkt als Schemata bezeichnet werden, weil die Reflexe noch kaum modifiziert sind. 23 Primäre Zirkulärreaktionen (1-4 M.) Zirkulärreaktion = Verhalten, das ständig wiederholt und dadurch zirkulär wird. Wenn ein Kind bei der Ausübung eines Schemas ein interessantes Ergebnis feststellt, so wird es versuchen dieses Ergebnis erneut hervorzubringen, indem es die Verhaltensweise wiederholt. Es bildet sich eine Gewohnheit aus. In dieser Stufe interessiert sich das Kind nur für Auswirkungen auf den eigenen Körper (Beispiele: Daumenlutschen, Spiel mit der eigenen Stimme), deshalb der Name „primäre“ ZR. Sekundäre Zirkulärreaktionen (4-8 M.) Wiederholte Verhaltensabläufe, deren Auswirkungen auf die Umwelt nun für das Kind interessant werden. War bisher das Schütteln der Rassel interessant, weil das Kind sich dabei bewegt, ist es nun interessant, weil die Rassel sich bewegt und Geräusche macht. Wenn ZRs generalisiert sind, dann nennt sie Piaget: „Vorgehensweisen, die dazu dienen, interessante Erscheinungen andauern zu lassen.“ Das „motorische Erkennen“ ist eine reduzierte, vereinfachte Version des ursprünglichen Verhaltens, d.h. ein Kind muss eine gewohnte Handlung nicht mehr ausführen, sondern begnügt sich damit, sie nur anzudeuten. Ab dieser Stufe werden bisher isolierte Schemata kombiniert (z.B. Blick- und Greifbewegungen). Diese Koordination der Schemata setzt sich in den folgenden Stufen fort, die kognitiven Strukturen werden somit zunehmend komplexer strukturiert. Koordination der sekundären Verhaltensschemata (8-12 M.) Hier entwickeln sich Planung und Intentionalität. Nun unterscheiden Kinder zwischen Mittel und Zweck. Bisher zeigte das Kind aus „Funktionslust“ irgendein Verhalten, das zufällig irgendein interessantes Ergebnis hervorbringt; nun werden in einer bestimmten Situation erworbene Zirkulärreaktionen auf neue Situationen angewandt mit dem Ziel, das in der damaligen Situation aufgetretene Ereignis auch in der neuen Situation hervorzurufen. Ist ein bestimmtes Schema in einer neuen Situation erfolglos, so setzt das Kind nun Schemata ein, die es in einer mitunter gänzlich unähnlichen Situation erworben hat, um an sein Ziel zu gelangen. Nicht nur Verhaltensschemata, sondern auch der Einsatz von Gegenständen als Mittel führen zum Ziel. Dennoch ist das kindliche Verhalten ein Versuch-und-IrrtumVerhalten. Tertiäre Zirkulärreaktionen (12-18 M.) Das Kind (als Wissenschaftler) variiert absichtlich seine Handlungen, um zu erforschen, welche unterschiedlichen Konsequenzen dies hat. Bälle werden aus unterschiedlichen Höhen fallengelassen oder mit verschieden großer Kraft auf den Boden geworfen. Neue Mittel werden hier nicht durch Kombination von Schemata erreicht (das kann das Kind bereits), sondern durch systematische Variation dieser Schemata. Das Mittel-ZweckVerhalten wird durch absichtliche Versuch-und-Irrtum-Exploration erweitert. Die Erfindung neuer Mittel durch geistige Kombination (18-24 M.) Diese Stufe schließt das erste Stadium ab und leitet das präoperative ein. Das Denken wird immer mehr verinnerlicht. Das Kind kann Objekte geistig abbilden (Verwendung mentaler Symbole) und ist somit in der Lage, das Experimentieren der vorigen Stufe vor seinem geistigen Auge durchzuführen, um die meistversprechende Alternative dann auch tatsächlich auszuführen. Ein in der Vorstellung repräsentiertes Phänomen kann später erinnert werden. Eines der wichtigsten Konzepte, das im ersten Stadium erworben wird ist die Objektpermanenz (Es gibt eine von den Handlungen des Kindes unabhängige Realität). 24 Das präoperative Stadium (2-7 J.) In diesem Stadium übertragen Kinder ihre Konzepte auf die mentale Repräsentation und damit auf eine höher organisierte Struktur. Das Kind ist in der Lage, ein Objekt durch ein anderes zu ersetzen (semiotische Funktion: ein Signifikant – Worte, Gesten… bezeichnet ein Signifikat). Es gibt zwei Arten von Signifikanten: Symbole (haben gewisse Ähnlichkeiten zum Objekt) und Zeichen (bezeichnen ein Objekt, weil die Kultur es diesem Objekt zugeordnet hat, z.B. Namen und Bezeichnungen). Sprache ist also eine Sammlung von Signifikanten, und erst die Fähigkeit, die willkürlichen Bezeichnungen den passenden Objekten zuzuordnen, ermöglicht den Gebrauch von Sprache. Das repräsentative Denken ist schneller und flexibler als das sensumotorische. Nach Piaget geht das repräsentative Denken dem Sprechen voraus. Rückwirkend kann die Sprache wiederum die kognitive Entwicklung fördern, indem sie z.B. die Aufmerksamkeit von Kindern auf neue Objekte lenkt oder abstrakte Informationen vermittelt. Das Kind ist in diesem Stadium aber noch nicht in der Lage reversible, „konkrete“ geistige Operationen durchzuführen. Geprägt ist das präoperative Stadium von folgenden Merkmalen: 1. Egozentrismus: (meint hier nicht Selbstsucht) Das Kind neigt dazu, die Welt nur aus der eigenen Perspektive zu sehen. Es ist nicht in der Lage zu begreifen, dass andere Personen die Welt aus anderen Blickwinkeln betrachten, und dass anderen Personen eventuell Wissen fehlt, das zum Verständnis der in dieser Phase so häufigen Sätze wie: „Er hat mich damit geschlagen“ notwendig ist. Das Kind geht davon aus, dass der Gesprächspartner die gleiche Perspektive hat wie das Kind selbst, dass er also weiß, wer „er“ und was „damit“ ist. Dennoch denken Kinder immerhin schon weniger egozentristisch als im sesumotorischen Stadium als sie noch nicht zwischen dem eigenen Handeln und den Eigenschaften von Objekten unterscheiden konnten. 2. Rigidität des Denkens: Das Denken ist starr, Kinder richten die Aufmerksamkeit nur auf eine herausragende Dimension eines Objekts (Zentrierung), wie z.B. den Wasserspiegel in einem schmalen Gefäß. Darum scheitern Kinder in diesem Stadium an den „Umschüttaufgaben“ (Aufgabe zur Invarianz der Mengen), da sie die Dimensionen „Durchmesser des Gefäßes“ und „Höhe des Gefäßes“ und „Höhe des Wasserspiegels“ nicht integrieren können, um auf die kompensierenden Funktionen dieser Variablen zu kommen. Außerdem richten präoperative Kinder ihre Aufmerksamkeit eher auf Zustände als auf Transformationen, so dass sie den Akt des Umschüttens von einem ins andere Glas ignorieren und somit die Paradoxie des Schlusses, es wäre mehr Wasser geworden, nicht erkennen. Auch die fehlende Reversibilität zeichnet Kinder in diesem Stadium aus: sie können einen beobachteten Vorgang nicht in Gedanken umkehren, so dass sie nicht erkennen, dass das Wasser im schmaleren Gefäß, wenn es ins breitere Gefäß zurückgeschüttet wird, dort wieder den gleichen Wasserstand erreicht, den es zuvor dort hatte. 3. Prä-logisches Schlußfolgern: (hierzu: Piaget führte mit Kindern Interviews zu ihren Weltansichten durch, z.B. „Wie hat die Sonne angefangen?“) Kinder schließen vom Besonderen auf Besonderes. Sie ahnen, dass eine Tatsache eine Ursache haben muss, aber ihre Versuche, diese zu erklären scheitern noch an dem vorherrschenden Egozentrismus. Es schneit, damit ich im Schnee spielen kann, und die Sonne fing zu scheinen an, weil sie wusste, dass das Leben begonnen hatte. Dinge werden also oft personifiziert, nur lose verknüpft und noch nicht logisch in Beziehung zueinander gesetzt. 4. Begrenzte soziale Kognition: Für Piaget gelten die aufgezeigten Denkprozesse gleichermaßen für physikalische und soziale Objekte und Phänomene. Bei Schuldsprüchen spielt beispielsweise der angerichtete Schaden eine größere Rolle als die dahinterstehende Intention. Interne Variablen einer Person werden noch ignoriert. 25 Zu den Errungenschaften dieses Stadiums gehören: (diese bereiten den Übergang zur mentalen Reversibilität im konkret-operationalen Stadium vor) Funktion: Je-(mehr/weniger/größer/...)-desto-Beziehungen werden zwar erahnt, aber nicht in vollem quantitativen Ausmaß erkannt. Regulierung: Dies ist ein teilweise dezentrierter geistiger Akt. Kinder sind immer mehr in der Lage, zwischen mehreren Dimensionen eines Phänomens hin- und herzupendeln. Sie erkennen, dass ein Glas mehr Wasser enthält, weil der Wasserstand höher ist, aber weniger Wasser enthält, weil es schmaler ist. Allerdings kommen die Kinder nicht zu dem korrekten Schluss, dass das Glas gleich viel Wasser enthält, weil die Faktoren Schmalheit und Höhe sich kompensieren. Identität: Das Kind erkennt, dass ein Objekt das selbe bleibt, auch wenn es sein äußeres Erscheinungsbild verändert. Jetzt ist Papa auch dann noch Papa, wenn er sich als Weihnachtsmann verkleidet Das konkret-operative Stadium (2-11 J.) Regulierungen, Funktionen und Identitäten entwickeln sich zu Operationen, indem sie vollständiger, differenzierter, quantitativ und stabil werden. Operationen sind verinnerlichte Handlungen, diese sind Teile einer organisierten Struktur. Repräsentierte Vorgänge gewinnen an Eigenleben zum Beispiel sind sie nun reversibel. Repräsentationen von Objekten hängen mehr und mehr logisch zusammen. Das Hin- und Herpendeln zwischen mehreren Dimensionen wird nun zur gleichzeitigen Verrechnung dieser Dimensionen. Die Aufgabe zur Erhaltung der Mengen dient als diagnostisches Instrument, an ihr liest Piaget ab, ob ein Kind schon geistige Operationen nutzt oder nicht. Dazu muss es zur richtigen Lösung (In beiden Gläsern ist gleichviel drin) auch die richtige logische Erklärung liefern (Durch bloßes Umschütten kann sich eine Wassermenge gar nicht verändern). Nach Piaget kann ein Kind den Erhaltungsbegriff erst haben, wenn es schon über bestimmte Operationen verfügt (Reversibilität, Integration zweier Variablen – hier die Höhe und die Breite des Glases – sowie Addition und Subtraktion). Weitere solche Operationen wären: Multiplikation, Division, Ordnen, Substituieren usw. Einige Errungenschaften durch die Anwendung solcher Operationen: Inklusion von Klassen: das Kind erkennt, dass eine Menge eine Teilmenge einer größeren Menge sein kann. Braune Holzperlen und weiße Holzperlen sind zwei Klassen von Holzperlen. Beziehungen: Kinder schließen daraus, dass Hans größer als Peter ist und dass Peter größer als Klaus ist, dass Hans größer als Klaus sein muss. Auch soziale Beziehungen werden dem Kind nun deutlicher (vor allem die eigenen Familienverhältnisse), und bei der Beurteilung von Schuld spielt nun die Absicht des Schuldigen eine größere Rolle. 2 wichtige Beobachtungen: Konzepte und Operationen bilden sich nicht gleichzeitig aus. Jeder kognitive Entwicklungsschritt tritt zunächst nur zeitweilig auf, wird dann zunehmend stärker und stabiler und verallgemeinert sich letztendlich auf eine Vielzahl von Situationen. Zusammengefasst wird das Denken zunehmend dezentrierter, dynamischer, reversibler und spiegelt immer mehr die Gesetzmäßigkeiten der Welt wider. Allerdings bleiben die kognitiven Leistungen auf dem Niveau des Anschaulichen, des Konkreten stehen. Das Kind beschäftigt sich mit dem, was ist (das Faktische), nicht mit dem, was sein könnte (das potentiell Mögliche). Auch können Kinder für die oben genannten Personen Hans, Peter und Klaus keine Platzhalter wie A, B und C verwenden. 26 Das formal-operative Stadium (11-15 J.) Nun können Kinder Hypothesen aufstellen. Sie beobachten einzelne konkrete Phänomene oder Objekte, gewinnen Erkenntnisse über sie aufgrund ihrer Fähigkeit konkrete Operationen durchzuführen und stellen nun mithilfe dieser Kenntnisse Behauptungen über mögliche Zusammenhänge auf und über ihre Anwendung in anderen Situationen. Die Realität ist die „ist“-Menge einer „könnte sein“-Totalität. Piagets Aufgaben zur Diagnose der kognitiven Reife stammen aus der Physik (Pendelaufgabe) und Chemie. Im Fokus stehen die Problemlöseprozesse. Piaget definiert 16 binäre geistige Operationen, die für das formaloperative Denken grundlegend sind (bsp. Konjuktion: x und y & Diskonjunktion: x und y; x und nicht y; y und nicht x). Auch auf sozialer Ebene zeigen sich diese Fortschritte: Kinder unterhalten sich über die Zukunft und stellen sich ihre eigenen zukünftigen Rollen vor, unterhalten sich über Politik, Moral etc. Allerdings überschätzen Kinder in diesem Alter noch oftmals die Macht der Logik und unterschätzen die Probleme, die bei der Umsetzung ihrer Ideen entstehen können. Die nunmehr jugendlichen Kinder können auch über das Denken (ich eigenes und das der anderen) reflektieren. Das Denken ist nun logisch, abstrakt und flexibel. Von nun an sind die kognitiven Veränderungen nur noch quantitativer Natur. Horizontale Betrachtung: Wie verhält sich ein typisches Kind aus diesem oder jenem Stadium (Querschnitt)? z.B.: Was ist ein Objekt für ein Kind aus der Sensumotorischen Phase, was ist es für ein Kind in der Präoperativen Phase usw.? Vertikale Betrachtung: Wie verhält sich ein Kind, während es die Stadien durchläuft (Längsschnitt)? z.B.: Wie geht ein Kind in den einzelnen Stadien ein spezifisches Problem an? Gedächtnis Gedächtnisinhalte bleiben nicht so, wie sie waren, als sie gespeichert wurden, sondern sie verändern sich entsprechend der Fähigkeiten, die das Kind beim Durchlaufen der Stadien gewinnt. Damit kann man an den Gedächtnisinhalten die kognitive Struktur ablesen, wie sie zu einem Zeitpunkt besteht. Mechanismen der Entwicklung: Organisation und Adaptation (funktionale Invarianten) Die Entwicklung des Denkens vollzieht sich nach Piaget nicht in großen Schritten, die Entwicklungsstadien sind vielmehr die Summe einer Vielzahl von „Mini“-Veränderungen. Letztere werden durch 3 sogenannte funktionale Invarianten (während der Entwicklung gleichbleibende geistige Funktionen) vorangetrieben: Kognitive Organisation Tendenz des Denkens, integrierte System auszuformen, deren einzelne Teile sich zu einem Ganzen verbinden. Die Struktur des Denkens wird immer komplexer, aber auch immer integrierter. Es ergibt sich im Laufe der Entwicklung ein zunehmend zusammenhängenderes Weltbild. Parallele zum menschlichen Organismus Verdauungs-, Kreislauf-, Nervensystem usw. Verändern sich die Denkstrukturen, so auch die kognitive Organisation. Das Denken organisiert sich erst in Schemata, dann in Regulierungen, Funktionen, konkreten und 27 schließlich formalen Operationen. Das Verhalten und die entsprechenden Denkergebnisse spiegeln die Organisation der Kognition in jeder Phase wider. Kognitive Adaptation Die kognitive Adaptation ist die Interaktion zwischen Organismus und Umwelt. Die angeborene Tendenz sich der Umwelt anzupassen führt zu intelligentem Verhalten. Aufteilung in Assimilation und Akkomodation: Assimilation Ist der Prozess, in dem das Individuum seine aktuelle kognitive Organisation einpasst. Es gibt 3 Arten von Assimilation: Die Reproduktive Assimilation (Kinder üben Schemata, indem sie sie wiederholen und dadurch konsolidieren.), die Generalisierende Assimilation (Die Spanne der Stimuli, die zu einem Schema assimiliert werden können, vergrößert sich.), die Wiedererkennende Assimilation (Objekte werden gleichzeitig zu den Generalisierungen differenziert. Bei der Anwendung unterschiedlicher Schemata merkt das Kind, dass diese unterschiedlichen Schemata sich offensichtlich auf unterschiedliche Objekte beziehen. Das Kind erkennt ein Objekt also insofern wieder, als es das passende – differenzierte - Schema anwendet.) und die Gegenseitige Assimilation der Schemata (Schemata assimilieren – koordinieren - sich gegenseitig, so dass umfassendere, stärker organisierte Schemata entstehen.). Akkomodation Ist die Anpassung der Denkstruktur an die Erfordernisse der Umwelt und somit eine Neuorganisation des Denkens. Sie tritt immer dann auf, wenn sich ein bestimmtes Phänomen oder Objekt nicht mit den vorhandenen kognitiven Strukturen verstehen lässt. Die Akkomodation kann jedoch nur bei geringfügigen Diskrepanzen wirksam werden. Assimilation und Akkomodation sind eng verbunden, denn jede Assimilation bedingt auch eine Akkomodation. Adaptation wird in diesem Sinne auch als Gleichgewicht zwischen den beiden definiert. Durch jeden kleinen Assimilations- und Akkomodationsschritt wird ein geringfügig höheres kognitives Niveau erreicht. Kognitive Äquilibration Entsteht aus den funktionalen Invarianten Organisation und Adaptation und bezeichnet Prozess eines Organismus aus einem Ungleichgewicht ein Gleichgewicht (mit der Umwelt und mit sich selbst; dieses ist nicht statisch sondern dynamisch) herzustellen. Auf eine Periode des Gleichgewichts folgt wegen Veränderungen der Umwelt oder des Organismus selbst ein Ungleichgewicht, daraufhin folgt eine Äqulibration, die wieder einen GG-Zustand herstellt. Hier dient als Beispiel wieder die Aufgabe zur Invarianz der Mengen: Erst wenn ein Kind die Merkmale Höhe und Breite der Gläser integrieren kann, gelangt es zu einem unverzerrten Urteil, weil es verschiedene Informationen in ein GG bringt. Äquilibration kann verschiedene Zeitspannen umfassen: Ä. von Moment zu Moment entsteht durch ein Zusammenwirken von Assimilation und Akkomodation. Ä. Von Stadium zu Stadium durch Konsolidierung der kognitiven Strukturen. Zu Beginn eines Stadiums besteht ein Ungleichgewicht, da die für dieses Stadium typische kognitive Organisation noch erst im Aufbau begriffen ist. Ä. Über die gesamte Entwicklung hinweg. Das Gleichgewicht am Ende eines Stadiums ist noch nicht der Weisheit letzter Schluss. Das Gleichgewicht am Ende der nächsten Stufe ist ein besseres. Erst wenn formale Operationen vollständig vorhanden sind, besteht ein Gleichgewicht zwischen dem Beobachteten und dem Gedachten. 28 Die Äquilibration spielt insgesamt eine zentrale Rolle als Entwicklungsmechanismus, weil sie die anderen 3 Hauptfaktoren der kognitiven Entwicklung (s.u. Kasten) reguliert. Piagets Standpunkt zu grundlegenden Fragen Die menschliche Natur Piagets Weltsicht ist eher orgasmisch als mechanisch. Das zeigt sich darin, dass der Mensch sich aus sich selbst heraus, ohne externe Motivation, aktiv entwickelt. Die Angeborene Tendenz zur Aktivität bewirkt, dass der Mensch/das Kind sich ständig weiterentwickelt bzw. verändert, getrieben vom Streben nach einem Zustand des Gleichgewichts in sich selbst und mit seiner Umwelt aufrechtzuerhalten. Qualitative versus quantitative Entwicklung In Bezug auf längere Zeiträume zeigen sich in Piagets Theorie eher qualitative Veränderungen (wenn sich etwa die kognitiven Strukturen über die einzelnen Stadien hinweg entwickeln und dabei verändern), bezogen auf kürzere Zeiträume, in denen man ein Kind beobachtet (Minuten, Tage, Wochen) ist eher eine quantitative Entwicklung des Denkens festzustellen. Qualitative und quantitative Entwicklungen bauen aufeinander auf: qualitative Veränderung (Kind versteht das Prinzip der Klasseninklusion) => quantitative Veränderung (Kind kann dies nicht nur bei beispielsweise der Kategorisierung von Tieren, sondern auch bei Fahrzeugen, Farben… anwenden) => neue qualitative Entwicklung => usw. Vererbung versus Umwelt Piaget ist ein Interaktionist! Sowohl angeborene Faktoren (anatomische, physiologische wie Reflexe, die körperliche Reifung und invariate Funktionen) als auch die physische und soziale Umwelt bestimmen die kognitive Entwicklung bzw. alle psychologischen Phänomene. Formel zur Beschreibung der Entwicklung nach Piaget: Entwicklung = Körperliche Reifung + Erfahrung mit der physikalischen Außenwelt + soziale Erfahrung + Äquilibration Es stellt sich die Frage, wie die genannten Komponenten interagieren. Die körperliche Entwicklung (Nervensystem, Muskelapparat,…) ist die Voraussetzung dafür, dass eine kognitive Entwicklung stattfinden kann. Durch einzelne Veränderungsschritte ergeben sich neue Möglichkeiten für das Kind (z.B. das Sprechen oder Laufen lernen). Durch die Erfahrungen mir der physikalischen Umwelt - diese Erfahrungen finden durch das Nachdenken über das eigene Einwirken auf physikal. Objekte statt – werden kognitive Operationen und Konzepte erworben. Soziale Erfahrungen, d.h. die Auswirkungen des kulturellen und erzieherischen Umfeldes, ergänzen den Wissenserwerb, indem ein Kind aus Erfahrungen anderer lernt. Diese drei Punkte ermöglichen Rückschluss auf die Universalität der kognitiven Entwicklung: Die einzelnen Stadien sind in ihrer Folge für alle Kulturen gleich. Unterschiede im Tempo der körperlichen Reifung, der Erfahrung mit der physikalischen und der sozialen Welt innerhalb der Stadien sind aber denkbar. Die Äquilibration verbindet und bestimmt die Interaktion von angeborenen Faktoren und Erfahrungseinflüssen, denn beiderlei Faktoren erzeugen immer wieder vorübergehend ein Ungleichgewicht, das durch Äquilibration wieder in Einklang gebracht wird. Dadurch erreicht das Kind ein höheres kognitives Niveau. 29 Wichtig ist vermutlich auch der Zeitpunkt, zu dem ein Kind eine bestimmte Erfahrung macht. Wenn es „bereit“ ist, d.h. im Übergangsbereich zwischen 2 Stadien, dann kann es durch diese vier Faktoren angeregt werden sich weiterzuentwicklen. Was entwickelt sich? Die kognitive Entwicklung beruht auf grundlegenden strukturellen Veränderungen (wie z.B. der Schemata, der Funktionen und verschiedener logisch-mathematischer Strukturen). Mit diesen strukturellen Verränderungen gehen Veränderungen der Denkinhalte einher. Metatheoretische Klassifikation Die Theoriebildung bei Piaget ist teilweise deduktiv, teilweise auch induktiv, modellierend und beschreibend. Modellierende Komponente: Piaget wendet zwei Modelle an, 1. das Modell der Äquilibration und 2. das logisch-mathematische Modell. (Ein Modell ist eine Rahmenstruktur, die auf einem Gebiet entwickelt wurde und auf andere übertragen wird. Dabei muss eine modellhafte Darstellung nicht zwangsläufig der Realität entsprechen) Die Funktion der beiden Modelle hinsichtlich Piagets Theoriebildung: (zu 1.) Dem Gleichgewichtszustand kommt bei Piaget eine zentrale und integrative Rolle zu. Integration insofern, weil die Äquilibration die Faktoren der Entwicklung integriert (wie oben beschrieben), weil sie die Übergänge von einem Stadium zum anderen erklärt und weil sie den Vergleich zwischen erworbenem Wissen und Denkstrukturen der jeweiligen Stadien ermöglicht. (zu 2.) Piaget vergleicht das Denken von Kindern ab der konkret-operativen Phase mit logischmathematischen Strukturen. Piagets Theorie ist insofern deduktiv, als dass sich beispielsweise vom logischmathematischen Modell Voraussagen darüber ableiten lassen, wie das Denken von Kindern zu bestimmten Zeitpunkten und in Bezug auf bestimmte Aufgabentypen funktioniert. Insgesamt betrachtet liefert die Theorie aber wenige solcher Möglichkeiten zur Deduktion, denn sie stellt allenfalls eine Reihe lose miteinander verknüpfter verbaler Aussagen zur Verfügung, von denen sich nur schlecht Hypothesen ableiten lassen. Es besteht aber durchaus die Möglichkeit, dies nachzuholen und die Theorie soweit zu formalisieren, dass sie deduktiver wird (dies schien jedoch nicht Piagets primäres Ziel gewesen zu sein). Piagets Theorie kann zwar durchaus als funktionalistisch bezeichnet werden (?), weniger kann man sie jedoch induktiv nennen, denn Piaget abstrahiert seine Beobachtungen zu stark, er fasst sie nicht einfach nur deskriptiv zusammen wie es Vertreter induktiver Theorien tun würden. Kritik Stärken der Theorie Erkenntnis der zentrale Rolle der Kognition Die Entwicklungspsychologie war in den 50er und 60er Jahren für Piagets Theorie bereit, denn in der Behaviorismus und die Lerntheorie waren bereits an ihre Grenzen gekommen und man war sich einig, dass diese Sichtweise für den Menschen nicht auszureichen scheint. Nicht nur die praxisnahen Entwicklungspsychologen kamen zu diesem Ergebnis, auch die theoretischen Psychologen mussten dies einsehen. Piaget war der Auslöser für neue Fragen in der Entwicklungspsychologie. Es folgte eine Flut von Wiederholungsuntersuchungen mit dem Versuch, Piagets Theorie mit der damaligen theoretischen Psychologie übereinzubringen und beispielsweise in der Lerntheorie den 30 Erwerb von Konzepten mit Kindern zu üben. Später wurde die Theorie auch auf andere Bereiche als nur die Kinderpsychologie ausgedehnt: Sozialarbeit, klinische Psychologie und die Erziehungswissenschaften. Es ist zu betonen, dass Piagets Theorie unheimlich großen Einfluss hatte, sie ist damit die erste Theorie, die so ausdrücklich die Kognition ins Zentrum rückt. (Piaget war also der Einflussreichste mit dem Versuch in die „Blackbox“ hineinzuschauen). Integrativer und heuristischer Wert der Theorie Der integrative Wert der Theorie wurde bereits weiter oben erwähnt. Der Theorie gelingt es eine Spanne scheinbar unzusammenhängender Handlungen zu organisieren und eine Kontinuität in der Entwicklung dieser Handlungen zu beschreiben (z.B. Stadienbegriff). Außerdem ist die Theorie ein heuristisches Instrument, denn von ihr kann neue Forschung ausgehen. Beispielsweise hat die Auffassung, ein Kind erwerbe sein Wissen aktiv, die gesamte Entwicklungspsychologie sowie Teilgebiete dieser (Gedächtnis, Aufmerksamkeit, Lernen…) beeinflusst. Des Weiteren wird auch heute noch bei der Erforschung der Mechanismen wie sich ein Konzept beim Kind entwickelt, immer wieder der Stadienbegriff angewandt, man geht davon aus, dass es eine invariante Abfolge von Stadien gibt, in der spätere Stadien auf frühere aufbauen. (Weitere Grundaussagen in Piagets Theorie, die in der folgenden Forschung übernommen wurden: Kinder warten nicht passiv auf einen stimulierenden Reiz, sondern suchen diesen aktiv; Grundschulkinder denken in logischmathematischen Strukturen; das präoperative, komplex forschende Denksystem zeigt sich in sog. „falschen“ Vorstellungen der Kinder; die kognitive Entwicklung ist abhängig von der Fähigkeit zur Sprachverwendung; Kinder bringen sich selbst viel bei) Entdeckung überraschender Merkmale im kindlichen Denken Piaget hat umfassend dargestellt was sich entwickelt und dabei viele Dinge aufgedeckt, die man vorher noch nicht einmal geahnt hat. Z.B. braucht die Entwicklung von Konzepten nicht nur länger als vermutet, sie durchläuft auch interessante Schritte (siehe Vorlesung: die Erde ist rund). Insgesamt denken Kinder über eine enorme Vielfalt von Dingen nach. Solche Erkenntnisse sind zudem bemerkenswert, wenn man bedenkt, dass Piaget hauptsächlich alltägliches Verhalten beobachtet hat. Der breite Anwendungsbereich Mehr Bereiche als bei allen anderen Entwicklungstheorie: Nicht nur die kognitive Entwicklung des Kindes wie sie sich in Stadien vollzieht ist angesprochen, Piagets Theorie enthält auch viele Denkanstöße in Richtung soziale, affektive Entwicklung sowie das soziale und affektive Lernen. Disziplinen wie die Erkenntnistheorie, die Wissenschaftsphilosophie und die Pädagogik werden angesprochen. Dadurch wird die Theorie besonders attraktiv aber auch angreifbar. Die ökologische Validität Der Anspruch, dass eine Theorie zur kognitiven Entwicklung etwas über die wirkliche Welt der Kinder aussagen muss, ist dadurch erfüllt, dass Piaget Kinder nicht im Labor, sondern in ihrer natürlichen Umgebung untersucht und das, ohne die Bedingungen stark zu manipulieren. Die ökologische Validität nimmt aber mit steigendem Alter der untersuchten Kinder ab, denn die Aufgaben werden zunehmend komplexer. Das Eingreifen des Versuchsleiters durch nachfragen bzw. durch das Aufgabenstellen an sich, wird hier aber notwendig, denn das Denken der älteren Kinder äußert sich nicht mehr in ihren Handlungen, ist also nicht so einfach zu beobachten wie bei jüngeren Kindern. 31 Schwächen der Theorie Kommt noch. 32 Wygotskis Theorie und die Kontexttheoretiker Lew Semjonowitsch Wygotski (1896-1943) Einleitung Im Westen haben sich aufgrund der politisch-philosophischen Weltsicht verschiedene, eher das abgetrennte Individuum betrachtende psychologische Theorien herausgebildet, im Osten eher den einzelnen in einen Kontext einbettende. Vertreter: Markus und Kitayama, wichtigster: Wygotski Neuere Einflüsse haben auch im Westen für ein verstärktes Interesse für die Kontexttheoretiker gesorgt Verhaltenspsychologie: Aufmerksamkeit auf Zielgerichtetheit und Zusammenhang zwischen Fertigkeiten und ökologischer Nische Neo-Piagetianer: kontextspezifische Entwicklung Kontextspezifische Entwicklung bisher zuwenig beachtet worden Zusammenfassung Verschiedene Ansätze im Westen und Osten Langsame Verschmelzung mit westlichen Vorstellungen Wichtige Begriffe und Daten soziale Matrix Kontext Biographischer Abriss 1. Geboren wurde Lew Semjonowitsch Wygotski 1896, im selben Jahr wie Piaget, in einer russischen Intellektuellenfamilie. 2. Ausgezeichnete Erziehung, Jurastudium, äußerst gebildet und belesen, starkes Interesse für Sprache und Literatur. 3. Beginn der Laufbahn in der Provinz, ab 24 aufgrund seiner Brillanz in Moskau 4. Wygotski, Luria und Leontjew versuchen neue psychologische Schule auf der Grundlage des Marxismus zu gründen • Kulturhistorische Darstellung der Entwicklungspsychologie; Betonung höherer geistiger Aktivitäten: Denken, Erinnern und Schlussfolgern 5. Intensive Forschung, auch in Pädagogik und Medizin, viel Arbeit für geistige und körperliche Behinderungen 6. Opfer politischer Auseinandersetzungen, schwarze Liste bis weit nach seinem Tod 7. Starb 1934 an Tuberkulose 8. Nur 10 Jahre als Psychologe tätig, trotzdem riesiger Einfluss • Mozart der Psychologie 33 • In letzter Zeit starkes Interesse und großer Einfluss von W.s Theorien Zusammenfassung 1. Aufstieg von Provinz in anerkannte Kreise Moskaus 2. Versuch von marxistischer Psychologie 3. Später starke Differenzen mit pol. Führung 4. Heute großer Einfluss auf Psychologie Wichtige Begriffe und Daten • *1896(gleich wie Piaget) • †1934 an Tuberkulose Allgemeiner Überblick über die Theorie Das aktive Kind in seinem Kontext als Untersuchungseinheit 1. Kind als Untersuchungseinheit steht nicht abgetrennt von seiner Umwelt, d.h. von seinem Kontext. Kontext als formende Kraft, die u.a. für Ausbildung von Klassifikation, Konzeptbildung, Schlussfolgerungen und Problemlösefähigkeit verantwortlich ist 2. Kontext schließt das ganze umgebende System mit ein, d.h. die gesamte Kultur sowie das soziale und materielle Umfeld 3. Alle Abgrenzungen des einzelnen von seinem Kontext wirken auf Kontexttheoretiker künstlich und verzerrend. Kontext und Individuum bilden eine untrennbare Einheit • Zeitlicher Aspekt: Zu jedem gegebenen historischen Zeitpunkt ist eine Kultur einerseits das Produkt ihrer eigenen Geschichte, bringt zugleich aber auch Kontexte hervor, die die Entwicklung von Kindern und damit die Zukunft der gesamten Kultur prägen. 4. Kultur umfasst u.a. gemeinsame Überzeugungen, Werte, Kenntnisse, Fertigkeiten, strukturierte Beziehungen, eine bestimmt Art Dinge zu tun, symbolische Systeme, physikalische Anordnungen oder Objekte 5. Bronfenbrenner(1989) beschreibt in seiner ökologischen Psychologie vier Arten von Systemkonstellationen, die mehr die untereinander mehr oder weniger wechselwirken: • Mikrosystem: Muster von Aktivitäten, Rollen und Beziehungen in unmittelbarem Lebensbereich. Bsp: Familie, Schule, Peergroup • Mesosystem: Koppelung und Prozesse zwischen zwei oder mehr Anordnungen, in die die sich entwickelnde Person eingebunden ist; System von Mikrosystemen • Exosystem: Wechselbeziehungen und Prozesse zwischen zwei oder mehr Lebensbereichen, wobei in zumindest einen dieser Lebensbereiche die sich entwickelnde Person in der Regel nicht eingebunden ist. Bsp: Familie und Arbeitsplatz der Eltern • Makrosystem: Übergreifendes Muster von Mikro-, Meso- und Exosystmen, die für eine gegebene Kultur, Subkultur oder einen anderen weiteren sozialen Kontext charakteristisch sind 6. Bisherige Forschung sieht nur Kulturelle Unterschiede: emphCulture-as-difference, während Cole auf universelle kulturbildende Eigenschaft des Menschen hinweist. Kultur als formende Kraft: emphculture-as-medium 34 Zusammenfassung 1. Individuum und Kontext nicht trennbar, beides beeinflusst sich gegenseitig fundamental 2. Bronfenbrenners ökologische Psychologie Wichtige Begriffe und Daten • kontextualistische Weltsicht • Mikro-, Meso-, Exo-, und Makrosystem • culture-as-difference und culture-as-medium Die Zone der proximalen Entwicklung 1. Zone der proximalen Entwicklung: Distanz zwischen dem aktuellen Entwicklungsniveau eines Kindes, bestimmt durch seine Fähigkeit, Probleme selbständig zu lösen, und der höheren Ebene als potentieller Entwicklung, die durch seine Fähigkeit bestimmt wird, Probleme unter Anleitung Erwachsener oder fähigerer Kameraden zu lösen 2. Bedeutung des Prozesses der Veränderung, in dem durch Entwicklungsprozesse nur in Interaktion des Kindes mit Menschen seiner Umgebung interagiert. Dabei sind sowohl Vorbild als auch Kind aktiv in einen gegenseitigen Prozess integriert. Wichtig ist auch die aktive Rolle des Kindes bei seiner eigenen Entwicklung 3. Unterstützung durch Stichworte, Hinweise, Modellbildung, Erklärungen, Leitfragen, Diskussionen, Mitwirkung, Ermutigung, Steuerung der Aufmerksamkeit des Kindes u.a. Besonders wichtig: Intersubjektivität, d.h. gemeinsamer Verstehenshintergrund auf der Basis eines gemeinsamen Aufmerksamkeitsfokus und eines gemeinsamen Zieles 4. Rogoff erweitert Idee der prox. Entwicklung: Instruktion kann implizit oder explizit vonstatten gehen. Einführung der Lehrzeit Metapher: Solche kulturellen Lehrzeiten eröffnen dem Anfänger den Zugang zu den manifesten Aspekten einer Fertigkeit und zugleich zu den eher verborgenen inneren Prozessen des Denkens. Erwachsene sorgen für benutzerfreundliche Kontexte, in denen die Kinder ihre Fertigkeiten vervollkommnen können. Damit besitzt jede Kultur ihren ”Kulturellen Lehrplan“ 5. Bonfenbrenner (1989) definiert vier verschieden Arten, in denen die Natur des Kindes aktiv auf seinen sozialen Kontext einwirkt: • Bestimmte Persönlichkeitsmerkmale rufen bei anderen Menschen Reaktionen hervor, durch die die psychologische Entwicklung gefördert oder gehemmt wird • Schon früh in ihrem Leben zeigen Kinder individuelle Unterschiede in ihrer Tendenz, auf spezifische Aspekte ihrer sozialen und physikalischen Außenwelt zuzugehen oder sie zu meiden. Auf diese Weise entwickeln sich auch unterschiedliche Fertigkeiten und Lernstile • Kinder unterscheiden sich auch in ihrer Tendenz, zunehmend komplexere Aktivitäten aufzunehmen und fortzuführen. Auch Unterschiede in Hinblick auf Kreativität und das Bedürfnis nach Veränderung haben Einfluss darauf, welche Kontexte sich ein Kind aussucht • Altersbedingte (und individuelle) Unterschiede zeigen sich darin, wie Kinder ihre Fähigkeiten einschätzen, ein bestimmtes Ziel zu erreichen und Erfolg und Misserfolg zu steuern. Z.B. kann übertriebener Optimismus bei Vorschulkindern sinnvoll sein, denn er führt dazu, dass Kinder mit ihren begrenzten Kompetenzen neue Tätigkeiten ausprobieren, selbst wenn deren Anforderungen in Wirklichkeit ihre Fähigkeiten weit übersteigen. Auch solche Erfahrungen führen dazu, dass sie die nötigen Fertigkeiten entwickeln. 6. Wygotskis sieht Zone der proximalen Entwicklung viel weiter, jeder Kontext, in dem Kinder durch eine Aktivität über ihren Entwicklungsstand hinausgeführt werden. Besondere Rolle 35 des Spiels, da hier auf ungefährliche und symbolische Weise ein erweiterter Kontext geschaffen wird. Zusammenfassung 1. Zone der proximalen Entwicklung als Spanne zwischen Fertigkeiten des Kindes und den sich in sozialer Interaktion entwickelnden potentiellen Fähigkeiten 2. Rolle der sozialen Interaktion Wichtige Begriffe und Daten • Zone der proximalen Entwicklung • Rogoff (1990) Sozio-kulturelle Ursprünge der individuellen geistigen Funktionsweise: Das Intermentale konstruiert das Intramentale 1. Kognitionen (z.B. Denken, gezielte Aufmerksamkeit, logisches Gedächtnis, Bildung von Konzepten, Wille) entstehen nach Wygotski, indem das Kind die Interaktion mit dem kompetenten Partner auf der intermentalen Ebene internalisiert und in seine intamentale Ebene integriert. 2. Kind als kleinstmöglichste Untersuchungseinheit, da intermentale und intramentale Aktivität sich nicht trennen lassen. 3. Die Idee, dass die sozialen Verhältnisse das Bewusstsein bestimmen, stammt aus der marxistischen Philosophie; Widerspruch zu westlichen Psychologien, die Kognition ”innerhalb“ eines autonomen Individuums ansiedeln 4. Die Verschiedenen Kontexttypen in denen wir uns bewegen, sorgen dafür, dass wir eine ganze Reihe verschiedener Kognitionen entwickeln und im entsprechenden Kontext anwenden können 5. Wichtiger Aspekt: Sprache. Interpersonelle Kommunikation führt zu intrapersoneller Kommunikation 6. Prozesse werden nicht einfach Internalisierungsprozess transformiert stumpfsinnig übernommen, sondern im 7. Rogoff (1990) spricht eher von Aneignung als von Internalisierung, da dieses Wort weniger Grenzen zwischen Individuum und interpersonellem Aspekt suggeriert 36 Zusammenfassung 1. Kognitionen entstehen, indem interpersonelle Aspekte zu intrapersonellen Aspekten internalisiert werden 2. Nähe zu marxistischer Philosphie 3. bestimmt die Art der Kognition Wichtige Begriffe und Daten • Itermentale Ebene • Intamentale Ebene • Internalisierungsprozess • Aneignung (Rogoff) Der Einfluß psychologischer Werkzeuge einer Kultur auf das Denken 1. Wygotski betont die Rolle so genannter ”psychologischer Werkzeuge“. Damit sind Mechanismen gemeint, die elementare geistige Funktionen, die wir mit den Tieren gemeinsam haben und die durch externe Reize gesteuert werden, zu höheren geistigen Funktionen, die Sprache und andere symbolischen Systeme einsetzen, um willentlich über Dingen nachzudenken. 2. Psychologische Werkzeuge sind kulturspezifisch und stellen eine Art internen Werkzeugkasten dar, mit dem eine Kultur ihre spezifischen Aufgaben möglichst optimal bewältigen kann. • Psychologische Werkzeuge erzeugen eine Verbindung zwischen dem aktiven Kind und seiner materiellen und sozialen Umwelt • Beispiele sind: Sprachsysteme, Zahlensysteme, Diagramme, Landkarten, konventionelle Zeichen, Kunstwerke. Außerdem Strategien zum Lernen, zur Aufmerksamkeit oder zum Behalten • Psychologische Werkzeuge erzeugen kontextspezifisch die verschiedenen Kognitionen. Dabei spielen z.B. technische Hilfsmittel wie Schriftsprache, Rechenmaschinen oder Computer eine bedeutende Rolle, da sie die Anforderungen und damit die Art der von der Kultur geforderten Kognitionen verändern. 3. Wygotski sieht die Sprache als das zentrale psychologische Werkzeug an. Es ermöglicht die verschiedensten Inhalte zu repräsentieren und dadurch als Einheit mit Denken und Handeln die gesamte geistige Struktur zu formen. • Moderne Kontexttheoretiker haben in kulturvergleichenden Untersuchungen nachgewiesen, dass Sprache in anderen Kulturen nicht eine so dominante Rolle spielt, wie sie es bei uns tut. • Die Betonung Sprache als soziales Werkzeug steht in vermutlich in direktem Zusammenhang zu Wygotskis sehr sozialinteraktionistischen Theorie Methodologie 1. „Ein Kind ist, was es sein kann.“ Entscheidend ist die dynamische Beurteilung der Lernbereitschaft bzw. Lernpotentials und weniger das Produkt des Lernens. Zudem hängt das geistige Potential eines Kindes entscheidend davon ab, was es mit Unterstützung zu leisten vermag und nicht was es alleine bewältigt. 37 2. Mikrogenetische Methode Beobachtung von Veränderungen und qualitative Beschreibung von Verhaltenstypen innerhalb einer Versuchssitzung, durch: Hinzugabe von Hinweisreizen und Denkanstößen Einbau von Hindernissen beim Problemlösen Unterstützung durch den sozialen Kontext und Motivation 3. In der heutigen Forschung Will man Verhalten verstehen, muss der Kontext des Kindes genauso gut untersucht werden, wie das Kind selbst. Variation von Kontextsituationen Stichproben aus verschiedenen Ländern, Schichten, ethnischen Gruppen Multikontextuelle Forschung Wichtige Begriffe: Dynamische Beurteilung Mikrogenetische Methode Beispiele für Wygotskische und Kontextualistische Forschung 1. Forschungsbereiche von Wygotski: Retardierung, Taubheit, Spiel, Emotion, Wahrnehmung, Aufmerksamkeit, Schizophrenie, Negativität im Erwachsenenalter, Kunst, Kreativität, Schauspiel 2. Forschungsgebiete der Kontextualisten: Planung, Unterricht, Intelligenz, Interaktion in Peergroups, Mutter- Kind- Interaktion Egozentrisches und inneres Sprechen ab 2 Jahren beginnen Sprechen und Denken miteinander zu verschmelzen ab 3 Jahren: Kommunikatives Sprechen mit anderen Egozentrisches Sprechen (hörbar) mit sich selbst um Denken und Verhalten zu steuern ab 7 Jahren wird egozentrisches Sprechen zum inneren Sprechen => Interpersonale Kommunikation (im geistigen Austausch mit anderen) wird zur Intrapersonalen Kommunikation (verinnerlichte Form) (Differenzierung zwischen dem Sprechen mit anderen und dem mit sich selbst) => Sprache beschleunigt die kognitive Entwicklung (bei Piaget: Kognition geht der Sprache Voran) => Um das Sprechen eines anderen zu verstehen genügt es nicht seine Worte zu verstehen, wir müssen sein Denken und seine Motivation verstehen Entwicklung von Begriffen Mikrogenetische Methode: „Methode der doppelten Stimulation“ am Beispiel der Wygotskiblöcke: 1. ein Stimulus mit symbolischer Eigenschaft ( z.B. Wort) 2. ein nicht symbolischer Stimulus, bei welchem Eigenschaften wahrgenommen werden können (z.B. Block) Drei Stadien konzeptueller Entwicklung: 38 1. Unorganisierte Kategorien 2. Komplexe 3. Begriffe (korrekte Zuordnung möglich, da man mit Hilfe der Nonsensewörter Dimensionen abstrahieren kann und Ähnlichkeiten entdecken kann) Wissenschaftliche Begriffe: Logisch definierte Wörter, die einen sozialen, wissenschaftlichen, mathematischen Inhalt haben können. Ein bewusster und gezielter Gebrauch dieser Wörter ist möglich, da man Distanz zu ihnen hat. Spontane Begriffe: Intuitiv, konkrete Begriffe aus der Alltagserfahrung Zunehmend werden die zwei Begriffsarten miteinander verflochten: Wissenschaftliche Begriffe werden konkreter und Spontane Begriffe werden logischer und abstrakter Gelenkte Partizipation in der Zone der proximalen Entwicklung Methode: Gegenstände in Räume sortieren mit Unterstützung (dem kognitiven Niveau des Kindes angepasst) bzw. ohne Unterstützung Erforschung gelenkter Partizipation und kindlicher Leistung entsprechend seines Entwicklungsstandes Interkulturelle Forschung 1. Bestimmung universeller Merkmale der Entwicklung und Bestimmung von Mechanismen, über die eine spezifische Kultur Entwicklung beeinflusst 2. Aufzeigen von bestimmten nicht universellen Verhaltensweisen, Entwicklungsstadien und Erziehungsmethoden als Ergebnis spezifischer kultureller, sozialer und histologischer Umstände Entwicklung wird eindeutig von der jeweiligen Kultur bestimmt Wichtige Begriffe: Kommunikatives Sprechen Egozentrisches Sprechen Inneres Sprechen Methode der doppelten Stimulation zur Untersuchung der Begriffsentwicklung Wissenschaftliche Begriffe Spontane Begriffe Gelenkte Partizipation Universelle versus nicht universelle Merkmale der Entwicklung Mechanismen der Entwicklung Dialektischer Prozess der Entwicklung: Nach Wygotski ist Entwicklung ein Prozess von These, Antithese und Synthese. Es entsteht ein Konzept höherer Ordnung oder eine weiter entwickelte Funktion. Beispiele: Spontane Konzepte Ohne Hilfe Das Kind Vererbung versus versus versus versus Wissenschaftliche Konzepte Mit Unterstützung Das zu lösende Problem Umwelt 39 Prozesse der Veränderung im dialektischen Prozess (Beispiel: Eltern- KindInteraktion) Internalisierung (Intermentales wird zu Intramentalem) Gelenkte Partizipation (aktives Übernehmen von immer mehr Verantwortung) Sprache und Beobachtung Vergleich Wygotski und Piaget: 1. Entwicklung ist eine von stabilen momentanen Strukturen unterbrochene Abfolge von Konflikten => entspricht dem Äquilibrationsprozess von Piaget 2. Ursache des Ungleichgewichts stellen die veränderte Gesellschaft und die Umwelt dar => Piaget dagegen sieht einen aktiven Organismus, aber eine passive Umwelt 3. Betonung auf das Zusammenwirken von Menschen oder Vorstellungen => Piaget hebt dagegen den Konflikt zwischen den Konzepten eines Kindes und denen der Erwachsenen hervor Nach Klaus Riegel (1976) gibt es vier Quellen der Entwicklungsbedingten Veränderung im dialektischen Prozess 1. Innerlich- Biologische Dimension 2. Individuell- Psychologische Dimension 3. Kulturell- Soziologische Dimension 4. Äußerlich- Physikalische Dimension Jede der vier Faktoren unterliegt Veränderungen, beeinflusst die andere und wird von allen anderen beeinflusst Leben als Sequenz konkreter Interaktionsereignisse, durch die ein Individuum in einen sozialen Kontext hineinwächst Wichtige Begriffe: Dialektischer Prozess der Entwicklung Klaus Riegel „4 Quellen im dialektischen Prozess“ Standpunkte der Theorie zu grundlegenden Fragen in der Entwicklung Die menschliche Natur Die menschliche Natur lässt sich nur kontextbezogen verstehen Das Kind als aktiver inhärent (zusammenhängend) sozialer Organismus innerhalb eines umfassenden Systems von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft Die Aktivitäten eines Kindes verändern die Kognition, wodurch sich wiederum die Natur seiner künftigen Aktivitäten ändert Qualitative versus Quantitative Entwicklung Die Entwicklung ist sowohl qualitativ: Erwerb des inneren Sprechens, Übergang von intuitiven spontanen zu wissenschaftlichen Begriffen, Fortschritt geistiger Funktionen als auch quantitativ, von Perioden der Ruhe, Perioden der Krise und spezifischen Wendepunkten durchbrochen. 40 Obwohl Kontexttheoretiker keine Entwicklungsstadien definieren entstanden: 1. Stadienorientierter Ansatz der Kontexttheoretiker Cole und Coles: „Theorie allgemeiner biologischer sozialer und verhaltensmäßiger Übergänge“ 2. Wygotskis Entwicklungsstadien: Affiliation Spiel Lernen Aktivität in Peergroups Arbeit Theoretisieren Vererbung versus Umwelt Wygotski und die Kontexttheoretiker erkennen die Bedeutung der Biologie zwar an, befassen sich aber überwiegend mit Umwelteinflüssen und besonders mit kulturellen Einflüssen Außerdem ist der Mensch in der Lage seine Umwelt durch den Gebrauch von technischen und psychologischen Werkzeugen zu verändern Was entwickelt sich? 1. 2. 3. 4. Eine Kultur (Sozio- kulturelle Geschichte) Einen Art (Phylogenese) Ein Kind (Ontogenese) Eine kognitive Fertigkeit (Mikrogenese) Entwicklung hat keinen idealen und universellen Endpunkt; vielmehr wird ein Endpunkt durch die Ziele der jeweiligen Kultur definiert Metatheoretische Klassifikation 1. Kontextualistische Theorien sind in der Regel Funktionalistische Theorien 2. Besonderheit bei Wygotski: Theorie gestützt auf der Theorie des Marxismus Gebrauch von räumlichen Metaphern als informelle Modelle (z.B. Zone, Distanz) Spezifische Metaphern (Werkzeuge, Gerüst, Webteppich, etc.) Kritik der Theorie Stärken der Theorie Berücksichtigung des sozial- kulturellen Kontexts Integration von Geschichte, Soziologie, Ökonomie, Politik, Linguistik, Kunst und Literatur in die Psychologie Entwicklung vollzieht sich weniger im einzelnen Kind als mehr an der Grenze zwischen Kind und Gesellschaft Integration von Lernen im Alltag und Entwicklung Lernen als Motor der Entwicklung Kognitive Entwicklung besteht darin Probleme mit Hilfe von Werkzeugen und sozialen Ressourcen herauszufinden, zu verstehen und mit ihnen umzugehen 41 Sensibilität für die Vielfalt der Entwicklung Entwicklung hat kein universelles Ziel sondern ist von Kultur zu Kultur verschieden. Unterschiedliche soziale und materielle Umstände und Gebrauch von verschiedenen Werkzeugen eröffnen unterschiedliche Entwicklungswege und führen zu spezifischen Ideen, Denkweisen und Verhalten. Schwächen der Theorie Die vage Definition der Zone der proximalen Entwicklung Auch wenn man die Ausdehnung der Zone kennt, besitzt man noch kein präzises Bild der Lernfähigkeit, der Lernstile und des aktuellen Entwicklungsniveaus von Kindern und ihres Motivationsgrades. => Somit kann eine weite bzw. enge Zone proximaler Entwicklung sowohl wünschenswert oder nicht wünschenswert sein Wie misst man die Zone der proximalen Entwicklung ohne verbindliche Messinstrumente? Unklarheit bei den psychologischen Prozessen der Internalisierung oder der Aneignung einer angemessenen Aktivität Was kann man über die Allgemeinheit und Stabilität dieser Zonen aussagen? Wissen beruht hauptsächlich auf Mutter- Kind- Dyaden (einseitige Erfassung) Unabdingbar ist eine allgemeine Vertiefung über das Wissen der Zone Weitere Schwierigkeiten ergeben sich die Reaktion und das Verhalten des Versuchsleiters zu standardisieren Unzureichende Berücksichtigung des Entwicklungsaspekts 1. Zu wenige Beschreibungen über die Unterschiede von Kindern in ihrem Kontext auf unterschiedlichen Altersstufen bzw. Entwicklungsniveaus 2. Welcher Art sind die Entwicklungsprozesse der proximalen Entwicklung und sind sie in jedem Lebensalter gleich? 3. Welche kognitiven Fertigkeiten sind erforderlich, damit ein Kind auf Denkanstöße bzw. andere unterstützende Hinweisreize, Aufmerksamkeit, Lernen durch Beobachtung und kooperativen Dialog reagieren kann und wie wirken sie sich auf den Entwicklungsstand des Kindes aus? Das Entwicklungsniveau beeinflusst, welcher Kontext bevorzugt wird, welcher Art die die sozial- kognitiven Prozesse innerhalb der dynamischen Interaktion sind und welche Auswirkungen sozio- historische Ereignisse auf das Kind haben. Das Entwicklungsniveau umfasst, das Wissen, die Motivation, die sozialen, sprachlichen Fähigkeiten, die Richtung der Aufmerksamkeit, das Selbstbild und vieles mehr Probleme bei der Untersuchung kulturell- historischer Kontexte Praktische Schwierigkeiten Zeitaufwand Schwer beobachtbar Intensives Studium einzelner Kulturen nötig Sprachliche Barrikaden => Ein historischer Zeitpunkt lässt sich niemals direkt mit einem anderen vergleichen und es ist zudem schwer vorstellbar, welcher der vielen Aspekte verschiedener historischer Zeitpunkte für Unterschiede im Verhalten verantwortlich ist 42 Fehlen prototypischer Aufgaben zum Nachweis interessanter Entwicklungsphänomene Der Kontexttheorie ist es nicht gelungen, der heutigen entwicklungspsychologischen Forschung durch prototypische Aufgaben Abregungen zu geben. Wygotski legte summarische, skizzenhafte oder aber nur wenige bzw. keine Daten vor, mit Hilfe derer man neue Arbeitmethoden entwickeln könnte. Die Kontexttheoretische Forschung wird immer bruchstückhaft und ohne klare Ausrichtung erscheinen, und durch die Vielzahl der verwendeten Aufgabentypen schwer überschaubar und vergleichbar bleiben. Abschließende Bemerkung Wygotskis Theorie zeichnet sich durch drei Hauptaspekte aus: 1. Wie beeinflusst der Kontext das Kind 2. Der interaktive Lernprozess in der Zone der proximalen Entwicklung als Ausdruck des Kollektivismus 3. Die Natur des Denkens ist kulturell vermittelt und insbesondere durch von der Kultur bereitgestellte psychologische Werkzeuge erschaffen Forschung im Sinne Wygotskis bedeutet: 1. Sowohl das Verhalten des Kindes aus auch das Verhalten des Erwachsenen beobachten und feststellen, wie es sich der jeweiligen Reaktion des anderen anpasst 2. was ein Kind alleine und mit Unterstützung erreicht 3. Auf die Verschiebung der Verantwortung achten 4. Bewerten wie Erwachsene den Lernprozess strukturieren, und sich an das Niveau des Kindes anpassen 5. Wie formt die jeweilige Kultur die Interaktion 43 Die Theorie der Informationsverarbeitung Historische Entwicklung der Theorie Informationsverarbeitung beim Erwachsenen Die Theorie der Info-verarbeitung war die erste wichtige Kognitionstheorie, die nach der Wandlung der Entwicklungspsychologie zur experimentellen Wissenschaft aufkam. Zum einen befand sich der Neobehaviorisumus in der Krise und zum anderen brachte der technologische Fortschritt auch in der Psychologie unwiderrufliche Veränderungen mit sich. Durch den Zweiten Weltkrieg veränderte sich das Weltbild der Psychologen: Der Mensch wurde nun als Vermittler von Information und als Entscheidungsträger aufgefasst. Mensch und Maschine (Flugzeug oder Waffe) operieren als Einheit. Weitere Anstöße kamen von der Kommunikationstechnik und Info-Theorie. Die Psychologen sprachen nun wie Ingenieure von „Kanälen mit begrenzter Kapazität“, „seriellen“ und „parallelen“ Prozessen. Eine neue Generation von Psychologen machte den menschlichen Geist zu ihrem Thema und entwickelten Modelle einer menschlichen Info-Verarbeitung. Weitere neuere Forschungsrichtungen, die daraus entstanden, sind die Kognitionswissenschaft, welche eine Verschmelzung von kognitiver Psychologie, Computerwissenschaft, Neurowissenschaft und Linguistik darstellt, sowie die Forschung auf dem Gebiet der künstlichen Intelligenz. Denken steht nun im Mittelpunkt und nicht mehr nur das Verhalten. Der Infoansatz hat sich mittlerweile zu einem ausgereiften Forschungsbereich entwickelt; die 70er und 80er Jahre waren so gesehen ein Zeitalter des menschlichen Geistes. Informationsverarbeitung bei Kindern Ende der der 60er Jahre gab es Zweifel am Wert der lerntheoretischen Untersuchungen und implizit auch an Piaget. Der Informationsverarbeitungsansatz dagegen schien viel versprechend, da er kontrollierte Experimente ermöglichte, um die Entwicklung des Denkens zu untersuchen. Dadurch haben Untersuchungen zum Gedächtnis des Kindes exponentiell zugenommen. Allgemeiner Überblick über die Theorie: Der Mensch wird als ein informationsverarbeitendes System betrachtet, Entwicklung als Selbstmodifikation verstanden, Probleme werden analytisch beschrieben und die Methodologie der Ino-Verarbeitung zugrunde gelegt. Der Mensch als Informationsverarbeitendes System In unserem Computerzeitalter tritt der Vergleich zwischen Mensch und Maschine immer mehr in den Vordergrund; beide verarbeiten in irgendeiner Form Information. Wahrnehmung entspricht dem Input, das Denken entspricht einem Computerprogramm, die Speicherkapazität, dem Speicherplatz in Kilobyte, das Gedächtnis einer Datenbank, eine Entscheidung dem Output und mentale Operationen den Unterprogrammen. Ein Erwachsender kann Millionen von Einzelinformation effizient organisieren. Wie konnte ein solches System sich entwickeln? Aus der Sicht des Info-verabeitungsansatzes erlaubt 44 der Zusammenhang zwischen Input und Output Rückschlüsse auf den jeweiligen Wissensstand. So ist jedes entwicklungsspezifisches Niveau durch eine spezifische InputOutput-Beziehung gekennzeichnet. Aus dem Verhalten und unter Umständen auch aus den Beschreibungen, die Kinder selbst über ihr Verhalten geben, lässt sich ableiten, welche Regeln sie in welchem Stadium oder Alter anwenden. Schließlich versuchten die Psychologen, anhand ihrer Analysierungen der Reaktionen der Kinder ein Computerprogramm abzuleiten um festzustellen ob sich die Handlungssequenz der Kinder damit erzeigen lies. Das Flussdiagramm-Modell von Atkinson und Shiffrin (1969): Flussdiagramme heißen auch Modelle und sie veranschaulichen die theoretischen Aussagen zur menschlichen Info-verarbeitung. Dieses Modell ist ein typisches für die Info-verabeitung, da es sensorischen Speicher, Kurzeitspeicher und Langezeitspeicher mit einbezieht. Sensorischer Speicher enthalten für kurze Zeit sämtliche Infos die bei Sinnesorganen eingehen (wenige Sekunden, Kapazität bei Kindern gleich groß wie bei Erwachsenen). Jede weitere zur Verarbeitung ausgewählte Info wird an den Kurzzeitspeicher weiter gegeben. Dieser hat auch einen begrenzten Umfang und speichert Infos für etwa 15-30 Sekunden. (Kapazität beim Erwachsenen: ca. 5-9 Items) Infos aus Langzeitspeicher und sensorischem Speicher können dort zusammengeführt werden, weswegen es auch oft Arbeitsspeicher genannt wird. Der Langzeitspeicher mit seiner großen Kapazität hält Infos für unbegrenzte Zeit abrufbar. Überall kann dabei Info verloren gehen, so dass keine weitere Analyse mehr möglich ist. Steuerungsund Organisationsprozesse helfen dem Menschen, strukturelle Einschränkungen der Verarbeitungskapazität zu überwinden. Entwicklung als Selbstmodifikation Im Hinblick auf die Entwicklungspsychologie gehörten Computerprogramme, die sich selbst korrigieren und modifizieren zu den wichtigsten Durchbrüchen in der Computerwissenschaft. Diese Selbstmodifikationen treiben das Simulationsprogramm von einem Stadium zum nächsten. Viele Psychologen, die den Computer als Metapher aufgreifen, gehen beim Menschen von einer Selbstkorrektur durch Feedback aus. Indem Kinder wenig sinnvolle Methoden verwerfen und Erfolg versprechende beibehalten entwickeln sie ein immer effizientere Informationsverarbeitung. Problemanalyse Ein Charakteristikum des Info-Ansatzes ist die sorgfältige, fast schon penible Analyse der experimentellen Aufgabe oder des Alltags-Problems, mit dem ein Kind oder Erwachsener konfrontiert ist. Der Forscher analysiert die jeweilige Aufgabe im Hinblick auf die verschiedenen notwenigen und hinreichenden kognitiven Fertigkeiten, die zu ihrer Ausführung erforderlich sind. Die einzigartigen Anforderungen einer jeden spezifischen Aufgabe lösen unterschiedliche Verarbeitungsaktivitäten aus. Bei der Analyse einer Aufgabe kann man zwei Klassen von Verhaltensweisen unterscheiden: solche, die Kinder als notwenige Anpassung an die Aufgabe entwickeln, und solche die auf unzureichenden Fertigkeiten bei der Info-Verarbeitung beruhen. Informationstheoretiker neigen zu der Annahme, dass ein Kind einen Satz von bereichsspezifischen Regeln erwirbt, die auf eine bestimmte Aufgabe oder eine bestimmte Gruppe von Aufgaben begrenzt sind. 45 Methodologie Bereiche des Info-verarbeitungsansatzes: Gedächtnis, Aufmerksamkeit, Textverarbeitung, Sprache und Problemlösen. Solche Studien erfassen oft zeitliche Variablen, wie Dauer der Reiz-Darbietung und die Reaktionszeit, erfassen also oft nur mikroskopische Ausschnitte. Vorausgesetzt wird, dass jede mentale Aktivität eine gewisse Zeit braucht und zwischen Kinder verschiedener Alterstufen und geistiger Entwicklungen verschieden Reaktionszeiten benötigt werden. Weitere wichtige Methode ist die Regelbewertung auf der Basis der Fehleranalyse. Das Muster der richtigen und falschen Antworten über verscheiden Typen von Versuchen hinweg zeigt, welche Regeln Kinder anwenden, um eine bestimmte Aufgabe zu lösen. Eine weitere Bewertungsmöglichkeit bietet die Analyse der Augenbewegungen. Weitere Methode ist Vygotskis mikrpogenetische Methode, bei der den Kindern die Möglichkeit geboten wird für einen allgemeinen Problemtyp viele verschiedene Lösungsversuche zu machen. Die mikrogenetische Methode ermöglicht es, den Zeitpunkt abrupter Veränderungen oder kognitiver Einsichten zu erfassen. Abgesehen von den traditionellen experimentellen Methoden gibt es im Info-ansatz zwei weiter Forschungsinstrumente: Modelle und Computersimulation. (Modelle siehe Flussdiagramm weiter oben) Computerprogramme gelten als Testinstrumente für Theorien des menschlichen Denkens. Sie sollen dem menschlichen Denken möglichst nahe kommen und präzise, spezifisch und vollständig sein. Ein gutes Modell lässt sich für mehrere Verhaltensweisen verallgemeinern, ist aber andererseits spezifisch genug, um durch empirische Belege bestätigt oder widerlegt werden zu können. Die wichtigsten entwicklungspsychologischen Forschungsrichtungen Gedächtnis Einerseits wird weithin angenommen, dass kleine Kinder nur ein sehr schlechtes Gedächtnis haben, dennoch wissen Eltern und Lehrer von Vorschulkindern, dass sich Kinder an Geschichten oft im Wortlaut erinnern, wenn man sie ihnen nur wenige Male vorgelesen hat. Vier Hauptfaktoren werden als Urasche der entwicklungsbedingten Gedächtnisveränderungen vorgestellt: Strategien: Einige Gedächtnisaktivitäten laufen mühelos und scheinbar automatisch ab, z.B. erkennt ein Baby das Gesicht seines Vaters. Solche Gedächtnisakte geschehen „von allein“. Es handelt sich eher um ein simples Wieder erkennen als um ein aktives Erinnern. Das einfache Weidererkennungsgedächtnis ist auch schon bei kleinen Kindern sehr gut ausgeprägt. Wenn allerdings das zu erinnernde Material nicht in einem Kontext steht, der für das Kind bedeutsam ist, sondern das bloße Erinnern als Ziel verfolgt als primäres Ziel verfolgt werden muss, zeigt sich tatsächlich eine erhebliche Verbesserung der Gedächtnisleistung im Verlaufe der Entwicklung. (z.B. Telefonnummern) Um zusammenhanglose Info speichern zu können, müssen sie mit dem vorliegenden Material etwas Bestimmtes unternehmen. Dieses etwas ist eine Strategie. Diese sind Hilfsmittel, die der Mensch in seinem ständigen evolutionären Kampf mit den Grenzen seiner Verarbeitungskapaziät entwickelt hat. Z.B. reproduzieren Kinder, die spontan memorieren mehr Items als andere Kinder. Sie sind also in der Lage Memorieren als Gedächtnisstrategie einzusetzen. Allerdings wenden sie diese 46 Strategien nicht in jedem Fall von sich aus an. Flavell bezeichnete diesen Sachverhalt als Produktionsdefizit. Es hat sich gezeigt, dass ältere Kinder mit höherer Wahrscheinlichkeit Beziehungen höherer Ordnung zwischen verschiedenen Reizen, also etwa Kategorien heranziehen als jüngere Kinder. Im Alter von 10 Jahren können Kinder in der Regel eine Strategie auswählen, di einer Aufgabe angemessen istund sie können diese Strategie rasch, spontan und effizient anwenden. Bestimmte Strategien werden aber auch noch bis zu Adoleszens weiter entwickelt. Drei neuere Forschungsrichtungen: 1. Es wurden rudimentäre Strategien nachgewiesen. 2. Gedächtnisstrategien werden untersucht, dabei verbraucht die Strategie bei älteren Kindern weniger Kapazitätsreserven. 3. die Ursachen, die zur Strategieentwicklung führen werden untersucht. Wissen: Das Gedächtnis ist kein isolierter mentaler Prozess, der sich von der übrigen Kognition trennen ließe, sondern es ist in ein umfassendes Denksystem eingebunden. Die Beispiele in denen vorhandenes Wissen den Abruf von Infos aus dem Gedächtnis erleichtert, lassen sich auf verschiedene Weise erklären: Die erste Möglichkeit wäre dass Kinder mit einer umfassenden Wissensbasis auf die zu erinnernden Items zurück greifen können, weil diese Items in einem Assoziativen Netzwerk mit anderen Items und mit übergeordneten Konzepten verbunden sind. Nach einer zweiten Erklärung wächst mit der Wissensbasis auch die Wahrscheinlichkeit dass eine geeignete Strategie angewandt wird, was wiederum den Abruf aus dem Gedächtnis erleichtert. Zusätzlich zu den beiden genannten wichtigsten Erklärungsansätzen wird vermutet, dass eine umfangreichere Wissensbasis den Abruf möglicherweise dadurch erleichtere, dass sie die Motivation des Kindes verstärkt oder zu einem besseren Verständnis im Hinblick auf das Ziel der Aufgabe führt. Die Struktur der Wissensbasis besteht im wesentlichen aus dem Verknüpfungsmuster de semantischen Netzwerks. Die Zuname des Wissens ist wichtig für die Gedächtnisentwicklung, aber vielleicht noch wichtiger ist die Frage, wie Wissen repräsentiert wird, genauer gesagt in welcher Form es organisiert ist. Eine letzte Beobachtung zum Zusammenhang zwischen Wissensbasis und Gedächtnis zeigt, dass sich Kinder primär an ganz andere Dinge erinnern als Erwachsene, da sich ihre Interessen und ihre Wissensbasis deutlich unterscheiden. Mit wachsender Wissensbasis neigen Kinder zunehmend dazu, Schlussfolgerungen zu ziehen, die über die dargebotene Information hinausgehen. Das konstruktive Gedächtnis von Kindern spiegelt auch ihre sozialen Überzeugungen, Einstellungen, und Erwartungen wider. Außerdem Kopiert kindliche Erinnerung nicht einfach die Welt, vielmehr konstruieren sich Kinder ihre Erinnerungen aus Schlussfolgerungen auf der Basis ihrer verfügbaren Wissens. Metagedächtnis. Metagedächtnis ist das Wissen über das Gedächtnis und ein Sonderfall der Metakognition, des Wissens über alle Aspekte des menschlichen Denkens. Während der Entwicklung lernen wir, dass manchmal eine zusätzliche Anstrengung oder eine außergewöhnliche Handlung notwendig ist, um uns an etwas zu erinnern, und dass bestimmte Faktoren der Erinnerung förderlich oder hinderlich sind. Zu diesen Faktoren gehören personelle aufgabenspezifische oder strategische Variablen. Die feinere Facetten de Metagedächtnisses entwickeln sich beim Menschen erst später. Vermutlich wird Kindern immer stärker bewusst, dass das Kurzeitgedächtnis ziemlich flüchtig ist. In der Grundschulzeit begreifen Kinder im 47 allgemeinen dass Strategien nützlich sind. Ein schlecht entwickeltes Metagedächtnis kann die Ursache für die bereits erwähnte Produktionsschwäche (nach Flavell) bei Strategien sein. Der Zusammenhang zwischen dem Wissen über das Gedächtnis und der Gedächtnisleistung scheint jedoch nicht ganz so einfach zu sein. Wissen hat nicht zwangsläufig zur Folge, dass es auch angewendet wird. Kapazität: Eine nahe liegende Erklärung der Gedächtnisentwicklung wäre, anzunehmen, dass die Gedächtnisspanne zunimmt. Und es gibt auch tatsächlich Belege dafür, dass mit zunehmender Reifung des ZNS die Kapazität zunimmt. Kognitive Fertigkeiten werden durch Übung immer stärker automatisiert und beanspruchen dadurch immer weniger Kapazität. Folglich dürfte die Entwicklungsabhängige Kapazitätszunahme zum Teil auch die zunehmende Effizienz widerspiegeln mit der die gleiche Kapazität genutzt wird und nicht ausschließlich auf strukturelle neurologische Veränderungen zurückgehen. Reifung UND Übung tragen also dazu bei, dass ältere Kinder eine größere Gedächtnisspanne haben, als jüngere. Interessanterweise scheint diese Zunahme der Gedächtniskapazität bereichsspezifisch zu sein. Repräsentation Als Repräsentation bezeichnet man die mentale Form in der Informationen dargestellt werden. Wissen kann auf unterschiedliche Weise repräsentiert werden, in Form von Wörtern oder Sätzen, Handlungen, Vorstellungsbildern und abstrakten Propositionen. Da Erwachsene ihr Wissen im wesentlichen über Sprache repräsentieren, haben sich die Psychologen egozentrisch auf das Bedeutungssystem der Sprache konzentriert – d.h. auf die Frage wie Objekt oder Phänomene verbal enkodiert und innerhalb eines semantischen Netzwerks interpretiert werden. Ein besonders interessanter Repräsentationstyp sind Skripte. Skripte sind generalisierte Repräsentationen einer geordneten zeitlichen Abfolge von Ereignissen, wie sie im täglichen Leben vorkommen. Anhand von Skripten können Kinder alte und neue Objekte oder Phänomene verstehen oder interpretieren. Skripte zeichnen sich durch drei bemerkenswerte Merkmal aus: 1. Sie werden wahrscheinlich sowohl aus sprachlichen Repräsentation, als auch aus nonverbalen Vorstellungsbildern gebildet. 2. Der Skriptansatz scheint die Art, wie Kinder komplexe Ereignisse ihres Alltages repräsentieren in viel genauere Annäherungen zu beschreiben, als viele andere Ansätze 3. Dieser Ansatz lässt sich unmittelbar auf das soziale Umfeld von Menschen und Ereignissen anwenden. All diese verschiedenen Typen von Repräsentationen lassen sich in 2 Kategorien einteilen, je nachdem, ob Information über das WIE eines Vorgangs (prozedurales Wssen), oder das DASS (deklaratives Wissen) repräsentiert werden soll. Problemlösen Bei den Forschungen zum Problemlösen der Kinder geht es vor allem darum herauszufinden, nach welchen Regeln die Kinder in den entsprechenden Altersstufen beim Problemlösen vorgehen. Ziel ist es charakteristische Produktionssysteme zu entwickeln und auf dem Computer zu simulieren, um so Verhalten vorherzusagen. Wichtige diesbezügliche Namen sind SIEGLER und KLAR. SIEGLER (1978) entwickelte vier Regelmodelle zum Lösen von Balkenaufgaben, denen 89% der Kinder entsprachen (s. S. 249). Bei seinem Vorgehen wird ihm allerdings zu 48 eingeschränkte Versuchsanordnung vorgeworfen, die den Kindern eine forced-choice, eine erzwungene Antwort, nahe legen würde. KLAHR versucht Computerprogramme zu erstellen, die die Entwicklung von Kindern in spezifischen Bereichen nachvollziehen. Voraussetzung dafür sind die schon erwähnten in Flußdiagramme umgesetzte Produktionssysteme: eine Zusammenstellung von Produktionen (“Wenn das..., dann tue das...”) samt einem Konfliktlösungsprinzip, daß bei mehreren Möglichkeiten entscheidet, welche Produktion umgesetzt wird. Zusätzlich müssen diese Programme Informationen über allgemeine Problemlösefähigkeiten des Kindes und seines semantischen Wissens enthalten, sowie Reaktionen auf Feed-Backs oder andere Stimuli während der Anwendungsphase integrieren. Intelligenz STERNBERGS triarchische Theorie der Intelligenz (1985) verbindet die Beachtung von kognitiven Prozessen, deren Kapazität und zeitliche Abläufe, Problemanalysen, individueller Unterschiede und der Entwicklung logischer Operationen. Sie charakterisiert Intelligenz als Zusammenwirken von drei Komponenten, die als elementare Prozesse, innere Repräsentationen verändern. Das sind die Komponenten des Wissenserwerbs, die Performanzkomponenten und Metakomponenten. Performanzkomponenten sind z.B. Encodierung, Schließen, Abbilden, Anwenden, Vergleichen, Abgleichen, Reagieren o.ä. Die Metakomponenten dirigieren die beiden anderen und weisen Kapazitäten und Aufmerksamkeiten zu. Überdurchschnittlich begabte Kinder und Erwachsene weisen besonders gute Fähigkeiten in den Wissenserwerbkomponenten auf (vor allem beim zielgerichteten Selektieren). Bei retardierte Kindern verlangsamt sich die fortschreitende Automatisierung und Metakomponenten werden nicht ausgereift, so daß falsche Strategien ausgewählt und nicht aufgegeben werden. Wichtig für STERNBERG bleibt auch die Einordnung von intelligentem Verhalten in seinen entsprechenden Kontext: “Es paßt sich an natürliche Gegebenheiten an und wird von soziokulturellen Einflüssen mitbestimmt. Kommentar Ein adäquates Entwicklungsmodell muß: verbale und nonverbale Reaktionen erklären Operationen des willentlichen und nicht-willentlichen Erinnerns erklären Steuerungsprozesse einschließlich der Strategien erklären das Zusammenspiel mit Regeln und Organisationsstrukturen erklären grundlegende mentale Komponenten spezifizieren selbstmodifizierende Prozesse und ihren Bezug zu biologischen und umweltbedingten Einflüssen spezifizieren. So beschreiben die vier entstandenen Sprachen je andere Aspekte am besten: 1. Semantische Netzwerke: Fakten- und deklaratives Wissen 2. Produktionssysteme und Flußdiagramme: Problemlösen 3. Scripte: Sequenzen abstrakter Probleme (z.B. Alltäglichem) Mechanismen der Entwicklung Entscheidend für das Entwicklungsmodell aus Sicht der Informationsverarbeitung ist die Theorie des selbstmodifizierenden Systems: Das System erzeugt, indem es auf sich 49 selbst wirkt, Veränderung bei sich selbst. Für die Mechanismen des Übergangs werden noch spezifische und allgemeine, allerdings explizite und formale Erklärungen gesucht. Dabei sollen empirische Schnappschüsse einen Vergleich der Verarbeitungsprozesse in unterschiedlichen Lebensaltern geben, die wiederum Aufschluß über Veränderungen und ihre Ursachen zulassen können: Allgemeine Ursachen sind allgemeine kognitive Fertigkeiten wie Informationsverarbeitung, Wissen über die Umwelt und geistige Phänomene, Fähigkeiten zur mentalen Repräsentation oder höhere kognitive Fähigkeiten (s. Piaget) sowie eine Zunahme der Verarbeitungskapazität und -schnelligkeit (Je mehr eine Funktion automatisiert ist, desto weniger Kapazität beansprucht sie und desto mehr “Platz” läßt sie folglich für andere) Spezifische Ursachen sind: auf spezifische Erfahrungen zurückzuführen, so mit widersprüchlichen Vorhersagen, das Ausprobieren einer erfolgreichen Strategie, neues Wissen und steigende Vertrautheit mit dem Material... KLAHR nimmt an, daß Lernen auftritt, sobald Kinder ihr gespeichertes Protokoll von früheren Handlungen und deren Ergebnisse analysieren und diese auf Ähnlich- und Regelmäßigkeiten, Redundanzen oder mögliche Subsysteme überprüfen. Der Standpunkt des Informationsverarbeitungsansatzes zu grundlegenden Fragen der Entwicklung Die Natur des Menschen Dieser Ansatz trägt mechanistische und organistische Züge. Steuerungsprozesse, die die unterschiedlichen kognitiven Komponenten organisieren und koordinieren. Allerdings ist kein so eng verknüpftes, organisiertes System elemantarer logischer Operationen zugrunde gelegt wie bei PIAGET. Es sind zwei Flußrichtungen der Information festzustellen, eine zu höheren Ebenen des kognitiven Systems „aufwärtsgerichtete“ oder „datengesteuerte“ Verarbeitung und eine aus dem Langzeitgedächtnis kommende „abwärtsgerichtete“ oder „konzeptgesteuerte“ Verarbeitung. Im ersten Fall reagiert der Organismus auf einen Input (Reiz) und ist bei rein automatischem Ablauf als passiv zu charakterisieren. Im zweiten Fall allerdings wird u.a. der Input interpretiert und über Regeln und Strategien neue Information gezielt gesucht. Der Mensch ist so also auch ein aktives selbstmodifizierendes kognitives System. Qualitative versus quantitative Entwicklung Qualitative Entwicklung steht nicht im Mittelpunkt, ist weniger vertreten als bei FREUD und PIAGET, aber mehr als in sozialer Lerntheorie. Ausbildung neuer Strategien zu Speicherung oder Abruf Erwerb von Problemlöseregeln Erwerb neuer Repräsentationsformen (z.B. beim Spracherwerb) quantitative Entwicklung: Zunehmende Anzahl erinnerter Items wachsender Umfang des semantischen Netzwerkes wachsende Zahl der verfügbaren Strategien 50 Beide Entwicklungsformen wirken oft zusammen. Vererbung vs. Umwelt Es wird nur implizit auf Umwelt und Veranlagung eingegangen, da hauptsächlich die exakte Spezifizierung des Zusammenwirkens von Umweltinformation und Zustand des Informationsverarbeitungssystems interessiert. Umwelteinflüsse sind offensichtlich, da hier die Quelle des kontinuierlichen Inputs zu finden ist, Vererbung spielt auf der Ebene der neurologischen Entwicklung eine wesentliche Rolle, da hier die physischen Voraussetzungen für die Informationsaufnahme geschaffen werden. Was entwickelt sich? Allgemein ausgedrückt entwickelt sich die unterscheidet feiner in die Entwicklung von a) „Wissen“ (über die Welt) b) Metakognition („Wissen über das Wissen“) c) Strategien („Wissen, wie man weiß“) kognitive Verarbeitung. Brown(1975) Metatheoretische Klassifikation Der Computer bildet das wesentlichste formale theoretische Modell dieses Ansatzes im Sinne einer freien Metapher. Es muss zwischen drei Formen der Theoriebildung unterschieden werden, die sich gegenseitig beeinflussen können: 1. induktiv: das Hauptaugenmerk liegt auf Daten aus vergleichbaren Studien und den beobachtbaren Tatsachen 2. deduktiv: die in eine formale Sprache übersetzten Annahmen generieren Implikationen und leiten daraus Deduktionen ab 3. funktionalistisch: hypothetische Konstrukte werden immer wieder vor dem Hintergrund der Tatsachen überprüft und korrigiert. Es wird also immer wieder auf induktives zurückgegriffen, kann aber auch deduktiv werden. Kritik der Theorie Stärken der Theorie 1. Wiedergabe der Komplexität des Denkens: Eine Vielzahl kognitiver Prozesse werden exakt spezifiziert und es wird versuch, die komplexe Organisation des Denkens zu beschreiben. 2. Spezifische Erklärung von Performanz: Es sind spezifische Voraussagen zum Verhalten beim Problemlösen in bestimmten Situationen beschreibbar, da von von einer detaillierten Aufgabenanalyse und dem spezifischen kognitiven Entwicklungsstand ausgegangen wird. 3. Streng methodisches Vorgehen: Den überprüfbaren Vorhersagen liegen strenge und exakte Methoden zugrunde. Beim Beurteilungsverfahren der Fehleranalyse konnten zwei Einschränkungen festgestellt werden: a) einfachere und unvollständigere Regeln bei jüngeren Kindern (SIEGLER, 1976) b) fehlerhafte Anwendung richtiger Regeln (BROWN & BURTON, 1978) Schwächen der Theorie Unzulänglichkeit des Computermodells zwei grundlegende Probleme: 51 1. selbst bei identischem Output eines Computermodells im Vergleich zu menschlichem Verhalten kann es sich trotzdem in wichtigen Aspekten menschlicher Denkformen unterscheiden (z.B. parallele statt seriell) 2. unterschiedliche Programme können bestimmte Performanz gleich gut vorhersagen (Mangel an Überprüfbarkeit) Alle Modelle sind lediglich Metaphern und als solche nur zeitgemäße Bilder, die die Wirklichkeit nur bedingt beschreiben. Zwar öffnen sie neue Perspektiven, umfassen aber auch oft breitere Bedeutungen als gewünscht. Daneben können Modelle aber auch die Bandbreite unserer Überlegungen erheblich einschränken. Schwierigkeiten bei der Beschreibung von Entwicklung Allgemein werden drei Aufgaben für ein Entwicklungssystem postuliert: 1. Veränderungen innerhalb eines oder verschiedener Verhaltensbereiche beschreiben 2. Veränderungen in den Beziehungen zwischen verschiedenen Verhaltensweisen beschreiben 3. Verlauf der beschriebenen Entwicklung erklären Hier müssen in Bezug auf die Informationsverarbeitung einige Abstriche gemacht werden: Zu 1.: Trifft für die Theorie weitgehend zu, wenn auch eingeschränkt werden muss, dass bisher nur wenig Untersuchungsmaterial zu präverbalen kognitiven Reifungsprozessen vorliegt, somit keine Entwicklung vom Säuglingsalter an beschrieben wird. Zu 2.: Bisher wurden nur Beziehungen zwischen Gedächtnis, Sprache, kognitiven Prozessen und Wahrnehmung skizziert. Dagegen gibt es im Bereich Kognition und sozio-emotionaler Komponenten (Emotion, Motivation,...) kaum hinreichende Untersuchungen. Erste Ansätze finden sich bei Arbeiten zu Erinnerungsverzerrung durch Scripte und Stereotype. Zu 3.: Die Erklärung der Entwicklung wirft große Probleme auf. Zwar kann sehr genau dargestellt werden, was im informationsverarbeitenden Bereich alles geschieht und welche Mechanismen wirken, warum es so geschieht und warum es sich verändert kann allerdings nicht erklärt werden. Zusammenhänge zwischen den hier beschriebenen kurzfristigen Veränderungen und langfristigen qualitativen Veränderungen (z.B. zwischen PIAGETs einzelnen Stadien) sind ebenfalls unklar. Eine neue Richtung des Informationsverarbeitungsansatzes wäre hier die Einbeziehung größerer qualitativer Veränderungen der kognitiven Organisation. Neue Modelle, die sich am „Konnektionismus“ und Ansatz „neuronaler Netze“ orientieren, gehen in diese Richtung (MCCLELLAND & JENKINS, 1991). Parallelverarbeitende Systeme aktivieren bzw. desaktivieren Verbindungen und entwickeln sich auf diese Weise. Wenig Berücksichtigung des sozialen Verhaltenskontextes Computer verfolgen keine Absichten und Zwecke und befinden sich nicht in Zusammenspiel mit einem ökologischen Kontext, sind daher auch nur ein wenig ergiebiges Modell für menschliche Kognition (SHAW & BRANSFORD, 1977). Dieser Ansatz nahm seinen Anfeng in künstlichen Laborsituationen und sucht erst langsam nach realistischeren und ökologisch valideren Materialien und Aufgaben (RESNICK, LEVINE & TEASLEY, 1991) 52 Psychoanalytische Ansätze Sigmund Freud (1956-1939) Biographischer Abriss FREUD (1956-1939) lebte die meiste Zeit seines Lebens in Wien. Er begann sein Medizinstudium mit großem Interesse an der Wissenschaft, mußte aber nach seinem Abschluß aufgrund seiner finanziellen Situation und der Aufstiegsbarrieren für Juden in der Wissenschaft eine private Praxis eröffnen. Dort interessierte er sich vornehmlich für die Behandlung nervöser Störungen. JEAN CHARCOT und JOSEF BREUER machten ihn mit der Hypnose als Therapieform der Hysterie bekannt. Von Breuer stammte auch die „Redekur“, die für Freud zusammen mit seiner „Traumdeutung“ (1900) von zentralem Interesse war. Breitere Anerkennung fand er erst nach seinen „Fünf Vorlesungen zur Psychoanalyse“, einem von G. STANLEY HALL veranlassten Gastvortrag in den USA. Zahlreiche Vertreter der Psychoanalyse wandten sich im späteren Verlauf von Freuds strengen Psychoanalytischen Vorstellungen ab (u.a. JUNG und ADLER, die trotz dem vehemente Einflüsse auf allen Ebenen gesellschaftlichen Lebens hatte. Allgemeiner Überblick über die Theorie Trotz teilweise widersprüchlicher Darstellungen der Theorie in unterschiedlichen Quellen und Veränderungen im Laufe der Jahre, lassen sich 6 allgemeine Charakteristika ableiten: (1) Dynamischer Ansatz, (2) Strukturalistischer Ansatz, (3) Topographischer Ansatz, (4) Entwicklungsstadien, (5) Kontinuum Normal – Abnorm, (6) Psychoanalytische Methode Der dynamische Ansatz Nervöse Energie (=psychische Energie =Triebenergie =Libido =Triebspannung) wird aufgebaut, verteilt sich, bindet sich an Vorstellungen, wandelt sich um und entlädt sich. Dabei wird psychische Arbeit verrichtet. Die Energie gleicht einer allgemeinen Energiequelle, die unterschiedlichst verwendet werden kann. Energie geht nicht verloren, entlädt sich wann immer möglich sofort (Lustprinzip) und folgt dem Prinzip des kleinsten Innervationsaufwands (Realitätsprinzip). Wird sie nicht verbraucht, wandelt sie sich entweder in Angst um, die sich in eine organische Struktur überträgt und ein Symptom hervorruft, oder in eine psychische Struktur (z.B. Zwangsvorstellung). Instinkte (=biologische Triebe) lösen körperinnere Reize (biologische Energie) aus, die den Geist stimulieren und ein „Bedürfnis“ auslösen (psychische Energie). Somit herrscht ein beständiger Austausch zwischen „Seele“ und „Körper“. Die beiden elementaren menschlichen Triebe sind Eros (Sexual-, Selbsterhaltungstrieb, Lebenstriebe, Streben nach Einheit) mit der Libido als verfügbarer Erosenergie und Destruktionstrieb (Todestrieb, Aggression, Auflösung, Haß) 53 vier Merkmale eines Instinkts: 1. Quelle (z.B. physiologische Bedürfnisse) 2. Ziel: Befriedigung des Bedürfnisses und Zustand der Abwesenheit von Erregung; wird erreicht über Unterziele, z.B. Suchen und Investition von Energie 3. Objekt, über das sich die Spannung entlädt (Person, Objekt oder Repräsentation); die Energie bindet sich und „besetzt“ 4. Drang: die Stärke hängt ab vom Maß zu befriedigender Energie Triebe können sich miteinander vermischen, lassen sich partiell oder über Umwege befriedigen oder lassen sich ersetzen (Substitution). Diese Objektsubstitution kann u.a. in zwei Formen auftreten, (1) der Sublimierung (ersetzten durch ein Kulturell oder moralisch „höherwertiges“ Ziel, z.B. malen gewalttätiger Bilder) und (2) der Kompensation (Ausgleich durch Verlagerung auf ein anderes Gebiet). Der strukturalistische Ansatz Nach Freudscher Vorstellung ist die Psyche aus Strukturen aufgebaut, die von Seelenkräften durchsetzt sind und die zwischen Trieben und Verhalten vermitteln. Die drei wichtigsten Strukturen ("Seelenprovinzen") sind: a) Es (Sitz der biologisch begründeten Triebe; Primärvorgang; Lustprinzip; "organische Vergangenheit") b) Ich (Mechanismus zur Anpassung an die Realität; sekundäre Bearbeitung; Realitätsprinzip; "Macht der Gegenwart") c) Über-Ich ("Gewissen"; "kulturelle Vergangenheit") Das Es entspricht dem Lustprinzip und verlangt unmittelbare Befriedigung. Hier zeigt sich der dunkle, unzugängliche Teil der Persönlichkeit. Befriedigung kann entweder direkt oder über Wunschphantasien (primäre Bearbeitung) erreicht werden. Sind ab dem Kleinkindalter auch ein Ich und Über-Ich vorhanden, bleibt das Es trotzdem ein Leben lang in Träumen, Phantasien und impulsivem Verhalten vorhanden. Die meisten Kenntnisse FREUDs über das Es entstammen seiner Traumanalyse, die versucht, verschleierte Bedürfnisse, die als zu bedrohlich erscheinen, aufzudecken. Das Ich entwickelt sich aus der Erkenntnis des Es, dass über die primäre Verarbeitung keine generelle Wunscherfüllung möglich ist (später sprach Freud von einem anfänglichen undifferenzierten Ich-Es). Zum Überleben trägt es über die sekundäre Verarbeitung mittels organisierter geistiger Tätigkeiten bei (Denken, Problemlösen, Gedächtnis). Hier herrscht das Realitätsprinzip, das die Energieentladung verzögert und bei der Entscheidungsfindung hilft. Das Ich steht beständig zwischen den „drei gestrengen Herren“ Es, Über-Ich und Außenwelt, wodurch Angstgefühle entstehen und die Bedrohlichkeit bestimmten Verhaltens signalisieren. Bei zu starker Angst kommen Abwehrmechanismen ins Spiel. Sie machen über eine gewisse Verzerrung der Realität zumindest eine partielle Triebbefriedigung möglich, behindern aber gleichzeitig kreatives Denken oder Problemlösefertigkeiten. Die fünf wichtigste Abwehrmechanismen sind: a) Verdrängung: Angsterregende Gedanken (Verlust der Selbstkontrolle oder Frustrationsund Schuldgefühle) werden nicht ins Bewußtsein gelassen. Wir leugnen oder vergessen, was eine Gefahr zu sein scheint (laut FREUD u.a. auch Erinnerungen an kindliche Sexualität). In schweren Fällen entstehen verdrängte Persönlichkeiten mit Verlust des Realitätsbezugs 54 b) Reaktionsbildung: dem ursprünglichen Triebimpuls oft in übertriebener Form entgegengesetze Verhaltensweise (z.B. Sauberkeitszwang oder Keuschheit) c) Projektion: Verlagerung von eigenen, unerwünschten Triebimpulsen auf Menschen oder Objekte außerhalb d) Regression: Rückfall in Verhaltensweisen früherer Entwicklungsstadien, wenn die aktuelle Angst allzu bedrohlich wird (Sehnsucht nach einfacheren Zeiten, z.B. in Form kindischen Verhaltens). e) Fixierung: Verharren in einem dem Lebensalter inadäquaten Entwicklungsstadium (der Befriedigungsform, eines Objekts oder einer Denkform), einzelne Komponenten der Persönlichkeitsentwicklung kommen zum Stillstand. Sie entsteht, wenn (a) eine gegebene Befriedigungsform zu lustvoll ist, um aufgegeben zu werden, oder (b) wenn der nächste Schritt zu furchterregend, schwierig oder unbefriedigend erscheint. Eine frühere Fixierung erleichtert eine spätere Regression. daneben gibt es: f) Sublimierung eines inakzeptablen Triebimpulses in eine sozial akzeptierte Aktivität g) Identifikation mit dem Aggressor h) Verschiebung von Triebimpulsen Das Über-Ich entwickelt sich aus einem bewältigten Ödipuskomplex und Elternidentifikation heraus. Es entsteht aus zwei Komponenten: a) Das negative Gewissen besteht aus elterlichen Verboten, die den Erwachsenen Schuldgefühlen strafen. Dabei ist es oft strenger als es die Eltern waren und ist stärker moralisch-idealistisch als realistisch. b) Das positive Ich-Ideal besteht aus Verhaltensnormen, denen man gerecht werden und die mit hohem Selbstwertgefühl und Stolz belohnen. der mit viel will Das Über-Ich versucht sowohl Lustprinzip als auch Realitätsprinzip zu überwinden und die gesellschaftliche Ordnung aufrechtzuerhalten. Eine Unterscheidung zwischen subjektiver Erfahrung und Realität gibt es nicht, Gedanken des Ich sind genau so schlimm wie eine ausgeführte Tat. Strukturelle Zusammenhänge ergeben sich in Form ineinander übergehender Gebiete der drei Strukturen, die gegeneinander nicht scharf abgegrenzt sind. Ebensowenig läßt sich deren jeweilige Energie voneinander abgrenzen, die zur Spannungsabfuhr auch zwischen den Instanzen übertragen werden kann. Jede Persönlichkeitsstruktur bildet ein geschlossenes Energiesystem. Zufuhr in einem Teil bedeutet Schwächung des anderen. Auch Verhalten oder Gedanken werden gemeinsam bewirkt, was im Regelfall harmonisch abläuft. Die zentrale Rolle des Ich liegt im Kompromiß zwischen den „gestrengen Herren“ (s.o.). Die drei Instanzen sind in ihrer menschlichen Bildhaftigkeit lediglich zur Unterstützung eines intuitiven Verständnisses gedacht, nicht als tatsächliche derartige Gestalten. Außerdem sind sie nicht spezifischen Gehirnbereichen zuzuordnen, sondern stellen eine Differenzierung der menschlichen Persönlichkeit dar. Der topographische Ansatz Die Seele läßt sich in drei topograpische Gebiete unterteilen: 1. Unbewußtes: verdrängte und unbekannte Gefühle, die nicht ohne weiteres ins Bewußtsein dringen können. Bestimmt einen großen Teil unseres Verhaltens 2. Vorbewußtes: ist nicht aktiv aus dem Bewußtsein ausgeschlossen, wird über die Gerinnung zu inneren Bildern oder die Verbindung mit Wortvorstellungen bewußt 55 3. Bewußtsein (Warnehmungs-Bewußtsein): das aktuell Bewußte, das leicht ins Vorbewußte überwechselt; bewußt können immer nur wenige Gedanken gleichzeitig sein. Die Strukturen der Seele hängen auf bestimmte Weise mit deren Topographie zusammen. Das Es sitzt insgesamt im Unbewußten, Ich und Über-Ich erstrecken sich über alle drei Teile. Das Unbewußte bleibt immer der größte Teil, auch wenn im Laufe der Entwicklung Vorbewußtes und Bewußtes zunehmen. Alle drei Teile sind Aspekte einer psychischen Funktion, die ganzheitlich Verhalten erzeugt. Die Stadien der Entwicklung Zwei zentrale Behauptungen FREUDs zur menschlichen Entwicklung sind 1. Die ersten Lebensjahre sind die wichtigsten für die Persönlichkeitsentwicklung 2. die Entwicklung vollzieht sich in psycho-sexuellen Stadien oder Phasen FREUD betont (wie PIAGET) die qualitative Veränderung im Entwicklungsverlauf. Die vier distinkten Phasen, die sich über Körperregionen und deren Triebimpulse definieren, sind: 1. orale Phase 2. anale Phase 3. phallische Phase 4. Latenzperiode 5. genitale Phase PIAGET Stadium müssen jeweils abgeschlossen sein FREUD vor nächstem Übergang ist biologisch determiniert, geschieht auch bei Nicht-Abschluß einer Phase invariate Ordnung der Stadienfolge durch: Reifung, äußere und soziale Erfahrung, körperliche Reifung angeborene geistige Aktivität jede Phase eng verknüpftes, strukturiertes lediglich durch dominante Merkmale Ganzes charakterisiert Neuorganisation bereits vorhandenen Schichtartigkeit der Phasen, weniger Wissens Neuorganisation jede Phase enthält Keim der nächsten Phasen bauen auf der vorhergehenden auf, keine Phase wird jedoch vollständig aufgegeben Das Kontinuum Normal-Abnorm Abnormale und normale Persönlichkeiten verhalten sich nach den selben Prinzipien nur von unterschiedlichen Positionen aus. In der abnormen Persönlichkeit sind die normalen psychischen Prozesse übertrieben oder verzerrt. Methodologie Freud untersuchte erwachsene Patienten, deren Persönlichkeit das Residuum ihrer Kindheit ist, auf verschiedene Arten (keine kontrollierten Experimente): Freie Assoziation: Patient fasst seinen Gedankenfluss möglichst unzensiert und vollständig in Sprache; alle Gedanken und Gefühle haben eine Ursache und sind nicht zufällig. 56 Traumdeutung: mehr unbewusstes Material kommt zum Vorschein (verschlüsselt, symbolhaft), da die Kontrollmechanismen „schlafen“. Übertragung: Patient erkennt im Therapeuten eine wichtige Person seiner Kindheit wieder, Interaktion verläuft entsprechend der Beziehung zu dieser Person. Die einzelnen Phasen Der Übergang von einer Phase zur nächsten ist biologisch determiniert und tritt demnach auch dann ein, wenn die vorhergehende Phase noch nicht vollständig bewältigt ist. Die Orale Phase (bis zu einem Jahr) Orale Aktivitäten (Berührung von Lippen, Mundschleimhat und Zunge) verschaffen dem Säugling angenehme sinnliche Gefühle. Solche oralen Aktivitäten müssen nicht unbedingt den Hunger stillen, weil sie in sich bereits befriedigend sind. Die orale Phase ist durch fünf Funktionsmodi gekennzeichnet: Sich einverleiben (viel essen Einverleibung von Macht, Wissen etc.) Festhalten (Festhalten an der Brust Entschiedenheit, Hartnäckigkeit) Beißen ( Sarkasmus, Zynismus, Herrschaftsstreben) Ausspucken ( Ablehnung) Verschließen (Verschließen des Mundes Introversion, Negativität, Ablehnung) Der wichtigste Vorgang dieser Phase ist die Mutterbindung. Die Mutter wird zum obersten Liebesobjekt, da es die oralen Bedürfnisse des Säuglings direkt befriedigt. Die anale Phase (ein bis drei Jahre) Das physiologische Bedürfnis der Defäkation erzeugt Spannung, die sich durch Defäkation entlädt. In dieser Phase kommt es darauf an, wie die Eltern die Reinlichkeitserziehung durchführen. Ist diese Sauberkeitserziehung zu streng, so reagiert das Kind mitunter mit dem Zurückhalten ihrer Ausscheidung, was später zu Geiz führen kann. Andererseits kann eine solche Erziehung auch dazu führen, daß das Kind genau dann defäkiert, wenn es unangebracht ist (z.B. in der Kirche), was sich im weiteren Leben zur Neigung zu Wutausbrüchen oder zu hartem körperlichen Training entwickeln kann. Die Funktionsmodi dieser Phase sind also: Geben und Zurückhalten. Die phallische Phase (drei bis fünf Jahre) Wichtig ist bei Jungen das Vorhandensein und bein Mädchen das Fehlen eines Penis. Bei Jungen führt dies zu Kastrationsangst (sie beanspruchen die Mutter als Liebesobjekt, sehen im Vater einen Konkurrenten und befürchten, von ihm kastriert zu werden) und bei Mädchen zu Penisneid (sie haben das Gefühl, kastriert worden zu sein und machen die Mutter für diese „mangelnde“ Ausstattung verantwortlich). Jungen lösen diesen Konflikt, indem sie den Vater internalisieren, und Mädchen distanzieren sich zur Mutter. Jungen erleben diese Phase als bedrohlicher, da sie einen Verlust befürchten, während Mädchen nichts zu verlieren haben. Allerdings bleibt die Bindung zur Mutter nach wie vor wichtig, da diese in den ersten Lebensjahren für Kinder beiderlei Geschlechts bevorzugtes, weil einziges Liebesobjekt. 57 Die Latenzperiode (fünf Jahre bis zur Pubertät) Während dieser Zeit werden Sexualtriebe verdrängt beziehungsweise vergessen, und die Kinder wenden sich Dingen wie Schule und Spielen mit Geschlechtsgenossen zu. Es werden kognitive und soziale Fertigkeiten erworben, wodurch sich Ich und Über-Ich stärken. Freud schenkte dieser Zeit nur wenig Beachtung. Die genitale Phase (Adoleszenz) Die körperlichen Veränderungen dieser Zeit bewirken, daß das Kind seine sexuellen Impulse (geprägt durch die ersten drei Phasen) auf gegengeschlechtliche Personen richtet. Das Ziel ist nun die reife, erwachsene Sexualität mit dem biologischen Ziel der Reproduktion. Je nach den Erfahrungen, die das Kind in den ersten drei Phasen gemacht hat, sind die Ansprüche und Wünsche an den zukünftigen Partner unterschiedlich. Eine wichtige Errungenschaft dieser Phase ist das ausgewogene Verhältnis zwischen Liebe und Arbeit. Mechanismen der Entwicklung Reifung (biologische, hormonelle, neuronale Veränderungen) Frustration von außen (Andere verhindern die Bedürfnisbefriedigung) Innere Konflikte (zwischen Es, Ich und Über-Ich) Persönliche Unzulänglichkeiten (z.B. Schüchternheit beim Wunsch, mit anderen Kindern zu spielen) Angst (Antizipation von physischem oder psychischem Schmerz) Nach Freud entwickeln sich Es, Ich und Über-Ich, die gemeinsam die sexuelle Energie kanalisieren beziehungsweise umwandeln. Diese Strukturen und ihre Prozesse sind sowohl kognitiver wie auch affektiver Natur. Freuds Standpunkt zu grundlegenden Fragen der Entwicklung Die menschliche Natur Konfliktbeladen, widersprüchlich, triebgeleitet Emotionen als Triebkräfte der Entwicklung von Persönlichkeit und Kognition, die menschlich Wahrnehmung ist zeitlebens davon beeinflusst (vgl. Piaget) Ich als stärkster Akteur der Persönlichkeit, aktiver Umgang mit Trieben und Herstellen eines Gleichgewichts Qualitative versus quantitative Entwicklung Hauptsächlich qualitative Veränderung (Dominanz verschiedener Aspekte des Sozialtriebs, neue Errungenschaften wie Abwehrmechanismen und das Über-Ich) Quantitativ: zunehmende Stärkung des Ich’s, des Über-Ich’s und verschiedener Abwehrmechanismen. Vererbung versus Umwelt Triebe stammen aus der biologischen Natur des Menschen, die Ausprägung wird aber durch das jeweilige soziale Milieu modifiziert. Kulturelle Anforderungen so real wie die des eigenen Körpers. Unterschiede in der Ausbildung der Persönlichkeit durch Variationen der sozialen Umwelt und der körperlichen Konstitution. 58 Was enteickelt sich? Es, Ich und Über-Ich als Strukturen (affektiver und kognitiver Natur) zur Umwandlung, Kanalisierung und Verdrängung der sexuellen Energie. Metatheoretische Klassifikation Freuds Theorie ist von einer Sammlung von Modellen und deren Anwendung geprägt. Sie ist ansatzweise funktionalistisch, da sie aufgrund von Beobachtungen erstellt und modifiziert wurde, jedoch keinesfalls deduktiv. Vier Modelle sind in Freuds Theorie implizit enthalten: das Reflexbogen (-oder topographische) Modell [z.B. Triebspannung als Reiz], das energetische (oder ökonomische) Modell [Physikalischer Energieerhaltungssatz], das Darwinistische (oder genetische) Modell [Versuche des Organismus sich in Phylound Ontogenese an seine Umwelt anzupassen] das Jacksonsche (oder neurale Integrationshierarchie-) Modell [höhere Ebenen = ich kontrollieren tiefere Ebenen = es]. Kritik der Theorie Stärken der Theorie Durch ihre Breite und die These, daß die Persönlichkeit von starken unbewußten Trieben beeinflußt ist hatte sie Auswirkungen auf die Gesellschaft, Der Phasenbegriff, die psychischen Strukturen, die unbewußter Motivation und die Bedeutung frühkindlicher Erfahrungen werden heute in vielen anderen Theorien angetroffen. Weiterhin, ist sie nach wie vor in der Kinderpsychiatrie, der Erziehungsberatung, und klinischen Kinderpsychologie lebendig, insbesondere die Konzepte des kontinuierlichen Spektrums von normal bis abnorm, die Unterscheidung zwischen bewußt und unbewußt und die psychischen Strukturen Es, Ich und Überich. Freud gab Anregungen zur Geschlechtertypisierung, Moralentwicklung, Identifikation, ElternKind-Beziehung, der Bindung, der Aggression und der Abhängigkeit. Obwohl viele Einzelheiten falsch sind hat Freud entscheidende Faktoren aufgezeigt und zur Untersuchung dieser Komponenten angeregt. Schwächen der Theorie Freud: „Und doch mussten wir erkennen (…), dass niemand das Recht hat, in die Psychoanalyse dreinzureden, wenn er nicht eine bestimmte Erfahrung erworben hat, die man nur durch eine Analyse an seiner eigenen Person erwerben kann.“ Unzureichende Methodologie zur Untersuchung von Entwicklungsprozessen Freuds Methodologie führt zu drei Hauptschwierigkeiten: 1. Nur Psychoanalytiker können psychoanalytische Thesen überprüfen. Diese sind jedoch nicht unvoreingenommen und ein objektives Urteil ist nicht zu erwarten. 2. Anfälligkeit für Fehler des „Versuchsleiters“: Selektives Erinnern (des Therapeuten) und Beeinflussung des freien Assoziationsflusses durch Räuspern usw. 3. Introspektion: Erinnerungen von Patienten an Kindheit und Träume sind weder präzise noch objektiv. 59 Mangelnde Überprüfbarkeit zentraler Behauptungen zur Entwicklung Es ist fraglich, ob sich die Kindliche Entwicklung allein durch die Befragung von Erwachsenen klären lässt. Außerdem sind Freuds Begriffe teilweise nur sehr unpräzise definiert. Er benutzt hauptsächlich Analogien, um seine Theorie darzustellen. Die Schlussfolgerungen in Freuds Theorie sind teilweise sehr weit hergeholt und stehen in sehr losem Zusammenhang zu Beobachtbarem. Problematisch ist auch, dass „in Freuds System dasselbe psychologische Merkmal verschieden Verhaltensweisen auslösen kann und umgekehrt“. Während sich Prozesse der Informationsverarbeitung ohne weiteres in einem experimentellen Setting überprüft werden können, ist dies mit den zentralen Behauptungen der Freudschen Theorie nicht möglich. Ein Großteil der freudschen Forschungsergebnisse begründet sich auf eine sehr beschränkte „Stichprobe“ (hysterische Wiener Frauen des 19 Jh.). Über Signifikanzwerte oder dergleichen ist nichts bekannt. Überbetonung der kindlichen Sexualität In den Forschungsarbeiten der letzten 20 Jahre wird das Kind als neugieriges, intrinsisch motiviertes und soziales Wesen gesehen und nicht als nur Es gesehen. Dass Kinder sich für Sexualität interessieren steht außer Frage, aber kann mit dem Sexualtrieb jede menschliche Motivation, Gefühlsäußerung usw. erklärt werden? Auch führt die Überbetonung des Sexuellen zu einer Vernachlässigung von sozialen Faktoren. „Die psychischen Strukturen (Es, Ich, Über-Ich) können ihren Wert auch dann behalten, wenn sie mit anderen Inhalten (als den Sexuellen) besetzt werden. Erikson Biographischer Abriss „Seine Wanderlust und sein Wunsch Künstler zu werden hinderten ihn daran eine formale Ausbildung abzuschließen.“ Allgemeiner Überblick über die Theorie Aus Freuds Theorie übernimmt Erikson die Konzepte der psychischen Strukturen (Es, Ich und Über-Ich), die Unterscheidung zwischen Unbewusstem und Bewusstsein, die Triebe, die psychosexuelle Phasen, das Kontinuum von normal bis abnorm und die Methodologie. Erikson ergänzt Freuds psychosexuelle Phasen um 8 psychosoziale Phasen, in denen sich die Identität des Menschen entwickelt. Diese Identitätsentwicklung ist das zentrale Thema seiner Forschung. Psychosoziale Phasen Erikson Betont den sozialen Kontext, in dem das Kind aufwächst. Das Kind ist Teil einer kulturellen Gemeinschaft (bestehend aus sich entwickelnden Individuen) an die sich das Kind anpasst und die sich dem Kind anpasst. Die Entwicklung ist kulturspezifisch (Bsp. Sioux Mütter). Die psychosoziale Entwicklung folgt dem „epigenetischen Prinzip“ (epi-„auf“, genisis„Werden“). Dazu Erikson: „Etwas verallgemeinert besagt dieses Prinzip, dass alles was wächst, einen Grundplan hat und dass die Teile aus diesem Grundplan heraus erwachsen, 60 wobei jeder Teil seinen Zeitpunkt der speziellen Aszendenz besitzt, bis alle Teile entstanden sind, um ein funktionierendes Ganzes zu bilden.“ Die Identitätsentwicklung wird verglichen mit der fötalen Entwicklung, in der sich der Organismus immer weiter differenziert und schließlich „ein funktionierendes Ganzes bildet“. Der „Weg zur Identität“ führt über 8 psychosoziale Krisen, die gelöst werden können, oder auch nicht. Auch im Erwachsenenalter ist eine Lösung noch möglich. Bei der Frage inwieweit die vorherige in der nächsten Phase integriert wird, ist Erikson zwischen Piaget und Freud anzusiedeln. Die zentrale Rolle der Identität Identität heißt sich selbst und die Gesellschaft erkennen und akzeptieren. Das Streben danach ist das wichtigste Lebensziel. Ab dem Säuglingsalter ist die Identität im Wandel („neue Ebenen“ mit dem Höhepunkt Adoleszenz). Die Identitätskrise ist ein Verlust der Identität, wie Erikson ihn bei Weltkriegssoldaten oder verhaltensaufälligen Kindern beobachtete. Die Erweiterung der psychoanalytischen Methodologie Zur tiefenpsychologischen Forschung hat Erikson drei Methoden beigesteuert: die unmittelbare Beobachtung von Kindern, interkulturelle Vergleiche und das psychologische Porträt historischer Persönlichkeiten. Psychosoziale Krisen Umkreis der Beziehungspersonen Mutter Elemente der Sozialordnung Psychosoziale Modalitäten Psychosexuelle Phasen Kosmische Ordnung Gegeben bekommen Geben Familienzelle „Gesetz und Ordnung“ Ideale Leitbilder Festhalten Loslassen Tun „Tun als ob“ (Spielen) Etwas „Richtiges“ machen, etwas mit anderen zusammen machen Wer bin ich (nicht), das Ich in der Gemeinschaft Sich im anderen verlieren und finden Oralrespiratorisch, sensorisch kinästhetisch Anal-urethral Muskulär Infantil-genital Lokomotorisch Latenzzeit 1 Vertrauen vs. Mißtrauen 2 Autonomie vs. Scham, Zweifel Initiative vs. Schuldgefühl Werksinn vs. Minderwertigkeitsgefühl Eltern Wohngegend Schule Technologische Elemente Identität und Ablehnung vs. Identitätsdiffusion Intimität und Solidarität vs. Isolierung „Eigene“ Gruppen, „die Anderen“ Freunde, sexueller Partner, Rivalen, Mitarbeiter Gemeinsame Arbeit, Zusammenleben in der Ehe Die Menschheit, Menschen meiner Art Ideologische Perspektiven 3 4 5 6 7 Generativität vs. Selbstabsorption 8 Integrität vs. Verzweiflung Arbeits- und Rivalitätsordnung Zeitströmungen in Erziehung und Tradition Schaffen Versorgen Weisheit Sein, was man geworden ist; wissen, daß man einmal nicht mehr sein wird Pubertät Genitalität 61 Die einzelnen Phasen Urvertrauen versus Misstrauen (0-1 J.) Das Kind gewinnt Vertrauen durch Zuwendung und Verlässlichkeit seiner Mutter. Es macht die Erfahrung, dass es von der Mutter zwar allein gelassen wird, sie aber immer wieder zurückkommt. In der Interaktion mit anderen gewinnen Kinder Selbstvertrauen, das mit einem religiösen Glauben an eine „kosmische Ordnung“ beschrieben werden kann. Es braucht jedoch auch ein gewisses Maß an Misstrauen um Gefahren abzuwehren und „Feinde“ zu erkennen. Psychosozialer Modus: Nehmen und Geben mit oralen Erfahrungen als Prototypen. Autonomie versus Scham und Zweifel (2-3 J.) Die körperliche Reifung des Kindes bringt ihm eine neue Unabhängigkeit, die neue Möglichkeiten der Identitätsentwicklung eröffnet. Das neue Können bringt jedoch auch die Angst vor Versagen (Scham und Zweifel) mit sich (z.B. Stuhl nicht halten können). Gefördert wird diese Angst durch ungenügendes Selbstvertrauen (Phase 1) oder zu strenge Eltern. Wie überall bei Erikson spielen auch hier die jeweiligen kulturellen Normen eine große Rolle. Analog zur Sauberkeitserziehung ist der Modus Festhalten/Loslassen. Aus den Bestimmungen wo und wann es auf die Toilette gehen darf internalisiert das Kind einen Begriff von Recht und Ordnung. Initiative versus Schuldgefühl (4-5 J.) Die Identifikation mit den Eltern erfolgt über einen „psychosozialen Ödipuskonflikt“ (siehe Freud). Diese Phase ist geprägt durch die Initiative des Kindes („Machen“). Es sucht Vorund Leitbilder und erschließt sich Raum, sowie seine soziale Umgebung. Daneben entwickeln sich ödipale Schuldgefühle (s. Freud) – das Gewissen entwickelt sich. Werksinn versus Minderwertigkeitsgefühl (6 J. – Pubertät) Mit dem Eintritt in die Schule oder andere größere soziale Strukturen beginnen Kinder Konzepte ihres Wissens und ihrer Arbeit zu entwickeln. Sie versuchen kompetent zu sein und dem entsprechend eingeschätzt zu werden. Der Konflikt besteht zwischen Erfolg und Misserfolg im Umgang mit der „Technologie einer Gesellschaft“, wie sie z.B. in der Schule präsentiert wird. Besonderheit dieser Phase ist, dass sie von außen eingeleitet und entscheidend bestimmt wird. Identität und Ablehnung versus Identitätsdiffusion (Adoleszenz) Der „Höhepunkt“ der Identitätsentwicklung: alle Identifikationen (Rollen) aus der Jugendzeit müssen in einer vollständigen Identität integriert werden. Besonders wichtig sind hier zwei Aspekte: 1. der neue, geschlechtsreife Körper und 2. der Zwang sich für einen Beruf zu entscheiden. Die Identität (das Ganze) ist mehr als die Summe der Identifikationen (der Teile). Die gesellschaftliche Ideologie gibt vor, welche Rollen positiv besetzt sind. Gelingt die Rollenintegration nicht droht Identitätsdiffusion. Intimität und Solidarität versus Isolierung (Beginn des Erwachsenenalters) Nur gut integrierte Persönlichkeiten können intime Beziehungen eingehen, die die Identitätsbildung wiederum fördern. Durch Austausch mit ihrem sozialen Umfeld gelangen junge Erwachsene zu ihren innersten Gefühlen, schaffen ein Wir-Gefühl und erfahren so Solidarität und Intimität. Misslingt der Versuch Intimität herzustellen oder bleiben die Interaktionen stereotyp und hohl, so droht Isolation. 62 Generativität versus Stagnation und Selbstabsorbtion (mittleres Erwachsenenalter) Vorraussetzung für psychisches Wachstum und Identitätsentwicklung ist „Vertrauen in die Zukunft und der Glaube an die Menschheit“ sowie die Fähigkeit sich für andere einzusetzen. Wird dies nicht erreicht, so droht Stagnation, Selbstverwöhnung (Oder auch: Ziellosigkeit). Integrität versus Verzweiflung (spätes Erwachsenenalter) Ist man im Rückblick zufrieden mit seinem Leben, so kann man die Begrenztheit des menschlichen Lebens akzeptieren (Integrität). Trauert man um das, was man im Leben nicht getan oder geschafft hat kommt Angst vorm Tod auf (Verzweiflung). Kommentar: Neuere Forschungsarbeiten zum Phasenkonzept Eriksons Marcia (1980): Krise und „innere Verpflichtung“ (Maß des persönlichen Engagements) entscheiden über den Identitätsstatus des Einzelnen: 1. Identitätsdiffusion: kein Engagement, keine Krise, 2. In Ausschließlichkeit verhaftete Persönlichkeit: Engagement ohne Identitätskrise, 3. Moratorium: im Zustand der Krise – kann sich noch nicht engagieren, 4. Die Abgeschlossene Identität hat Identitätskrisen erfolgreich hinter sich gebracht und engagiert sich. Auch in neueren Forschungsarbeiten wird immer wieder betont, wie sehr der Verlauf der Identitätsentwicklung von kulturellen Einflüssen abhängt. Snarey et al.: Drei verschiedene Arten von Theorien zur Ich-Entwicklung: 1. Strukturell definierte Stadien (z.B. Piaget) 2. Definition über das Alter 3. Interaktion von strukturellen in kulturellen Faktoren (Erikson) Mechanismen der Entwicklung Innerhalb der biologischen Grenzen ist die Entwicklung stark geprägt vom Einfluss aller gesellschaftlichen Ebenen. Entwicklung ist weniger Spannungsreduktion wie bei Freud, als vielmehr die Lösung von Konflikten. Weitere Mechanismen: Spiel (im weitesten Sinne) und Rituale. Eriksons Standpunkt zu grundlegenden Fragen der Entwicklung Wie Piaget hat Erikson eine optimistischere Auffassung vom Wesen des Menschen als Freud. Wie Freud nimmt er eine biologisch determinierte Abfolge der Stadien an, betont aber weit mehr den Einfluss von Kultur und Kontext auf die Entwicklung des Kindes. Entwicklung ist für ihn qulitativ (Stadien) und quantitativ (Ausbildung der Identität) zugleich und vor allem ein lebenslanger Prozess. Metatheoretische Klassifikation „Seine Gedanken sind allenfalls eine lose Aneinanderreihung von Gedanken und Beobachtungen.“, geprägt durch zwei Modelle: 1. Darwins Evolutionstheorie: Entwicklung sozialer Institutionen sichern das Überleben der Spezies und 2. ein dialektisches Geschichtsverständnis: Auf jeder Stufe gelangen gegensätzliche Kräfte zur Synthese und integrieren die vorherigen Stufen. 63 Kritik der Theorie Auch Erikson ist Psychoanalytiker, weswegen die Kritik, die an Freud geübt wurde, auch für ihn gilt. Stärken der Theorie Weiterentwicklung der psychoanalytischen Theorie Viele Begriffe aus Freuds Theorie werden von Erikson erweitert, andere hinzugefügt: Freud Psychosexuell Biologie Ich-Abwehrmechanismen Abnormes Kulturspezifisch Kindheitserinnerungen Entwicklung des Kindes Erikson Psychosozial Kultur Ich-Identität Normales Interkulturell Beobachtung von Kindern Entwicklung des Erwachsenen Die breite Perspektive Das Verhalten des Kindes wird sowohl von der Entwicklungsgeschichte der gesamten Menschheit (historische Perspektive), als auch von allen sozialen Ebenen (kulturspezifische Perspektive) beeinflusst. Das ist selten in der Entwicklungspsychologie. Schwächen der Theorie Mangelnde Systematik „Methodologische Unzulänglichkeiten“ führen wie bei Freud zu mangelnder Überprüfbarkeit der Postulate. Außerdem gibt es Probleme mit nicht hinreichend definierten oder irreführenden Begrifflichkeiten. Fehlende Spezifizierung der Entwicklungsmechanismen Zwar wird festgestellt was die Entwicklung beeinflusst, jedoch nicht wie. 64 Biologische Grundlagen der Entwicklung Jens B. Asendorpf In der Entwicklungspsychologie wird „biologisch“ in 3 unterschiedlichen Zusammenhängen verwendet: 1. Evolutionsbiologie: Individualentwicklung ist Gegenstand eines Jahrmillionen andauernden Entwicklungsprozesses, der Evolution einige Aspekte der menschlichen Entwicklung lassen sich als Anpassung der Individualentwicklung an die Umweltbedingungen unserer evolutionären Vorfahren verstehen. 2. Entwicklungsgenetik: Das genetische Erbgut (Genom) variiert innerhalb bestimmter Populationen von Individuum zu Individuum. Genetische Unterschiede untersch. Individualentw. u. a. Ursache für Persönlich-keitsunterschiede 3. Neurobiologie + Psychobiologie: welche Beziehung besteht zwischen neuronalen und psychischen Entwicklungsprozessen? (in diesem Kapitel nicht behandelt!) Achtung, falsch!: Gegenüberstellung von „biologisch bedingt“ (gemeint: genetisch bedingt) mit „erlernt“! Weder hat das Lernen keinen Einfluss auf die genetische Entfaltung, noch hat die Genetik keinen Einfluss auf das Lernen! Beides falsch! Sinnvolle Schlangenangst Wir haben genetische Prädisposition zum erlernen von Angst gegenüber Reizen, die in der evolutionären Vergangenheit Gefahr signalisierten Rhesusaffen, die im Zoo aufwachsen lernen schnell Angst vor Schlangen, nicht aber vor Blumen oder Hasen (ein Videofilm zeigte den Affen einen Artgenossen der auf alle 3 Reize ängstlich reagierte) Genetischer Einfluss und Lernen können nicht unabhängig betrachtet werden!!! Evolutionspsychologie der Entwicklung Allgemeine Prinzipien der Evolutionspsychologie Evolutionspsychologie = Die Spezialisierung der Evolutionsbiologie auf menschliches erleben und Verhalten. Evolutionsbiologie geht auf Darwin zurück, er erklärte die Vielfalt der heutigen Arten durch einen Entwicklungsprozess, der im Kern auf Variation der Erbanlagen und natürlicher Selektion beruht. auch auf Individualentw. innerhalb der Arten anwendbar. Entwicklungsgemeinsamkeiten und –unterschiede = Anpassungsleistungen unserer evolutionären Vorfahren! Innerhalb einer Art variieren die Allele (d.h. Varianten eines best. Gens), Gene variieren mit wenigen Ausnahmen (Mensch + Schimpanse 98% gleich) nur zwischen Arten. Variationsquellen: Mutation + sexuelle Rekombination ! Allele weisen eine unterschiedliche Fitness für ihre Umwelt auf werden natürlich ausgelesen (nat. Selektion), je nach Ansprüchen der Umwelt. 65 Fitness = Funktion eines Gens und seiner Umwelt - ändert sich Umwelt, kann sich Fitness ändern. Natürliche Selektion beruht auf Reproduktionserfolg von Genen! Statt „Survival of the fittest” (Darwin), “Reproduction of the fittest”! Selektion wirkt sich am stärksten auf körperliche und Verhaltensmerkmale aus, da diese die Reproduktion direkt betreffen. Intra- und intersexuelle Selektion (bereits von Darwin, 1871, diskutiert). Intra: Rivalität innerhalb der Geschlechter bei der Gewinnung eines Sexualpartners, Inter: sexuelle Attraktivität beim anderen Geschlecht. Gene, die Rivalitätsfähigkeit od. Attraktivität fördern haben einen Reproduktionsvorteil! Soziobiologie nach Wilson (1975) = Evolutionsbiologie des Sozialverhaltens. Kritik an Soziobiologen: Sie spekulieren nur über optimal angepasstes Verhalten, der angenommene genetischer Einfluss auf das Verhalten sei nicht nachgewiesen. Ultimate + proximate Erklärungen: ultimat: Überlegungen zum Selektionsdruck Wie hätten sich Individuen unter den angenommenen Umweltbedingungen der evolutionären Vergangenheit verhalten sollen? proximat: Mechanismen, die sie dazu gebracht haben, sich tatsächlich so zu verhalten. Evolvierte psychologische Mechanismen. EPM (Cosmides et al., 1992) = proximate evolvierte psychologische Mechanismen, bereichs- und kontextspezifischer proximater Mechanismus, der als Anpassungsleistung an die Umwelt unserer Vorfahren (ultimat) verständlich ist und vererbt wird. EPMs sichern gute Anpassung an Umweltbedingungen, die in der evolutionären Vergangenheit variierten. EPM zur Abgrenzung der Evolutionspsychologie von einer nur zu ultimaten Erklärungen verpflichteten Soziobiologie. Ultimate Erklärungen müssen in durch nat. Selektion in evolutionspsychologischen Erklärungen durch Angabe von EPMs ergänzt werden. Entwicklungsrelevante EPMs: Verhaltensatavismen körperlicher Atavismus: körperliche Abnormitäten, die Normalitäten unserer Vorfahren waren (z.B. Pelzgesichter). Die Ontogenese (die Individualentwicklung) wiederholt die Phylogenese (Entwicklung der Arten) der frühen Ontogenese. Damit ist gemeint, dass der Mensch in den verschiedenen Stadien seiner embryonalen Entwicklung, den Embryonen der Arten die in seiner Stammesentwicklung auftraten ähnlich sieht. Ein Beispiel für Verhaltensatavismen ist der Klammerreflex bei Säuglingen, kann als EPM verstanden werden: hochgradig bereichsspezifisch (betrifft nur Handbewegungen), kontextspezifisch (Auslöser: Berührungen der Handinnenfläche), genetisch fixiert (alle Säuglinge zeigen ihn) und ultimat gut verständlich (Anpassungsleistung an Umweltbedingungen unserer Säuglingsvorfahren, ins Fell der Mutter klammern). Entwicklung der sexuellen Orientierung sexuelle Orientierung: Disposition, durch Menschen des anderen Geschlechts, des eigenen Geschlechts oder beider Geschlechter sexuell erregt zu werden Heterosexuelle, Homosexuelle, Bisexuelle. Homosexualität genetisch mitbedingt, keineswegs aber rein genetisch erklärbar. Schwule interessieren sich in Kindheit mehr für Mädchen und deren Aktivitäten, entsprechendes für Lesben konnte nicht nachgewiesen werden. 66 Theorie der Homosexualität von Bem (1996), evolutionspsychologische Sicht: In allen Kulturen Inzest totales Tabu (ultimat gut verständlich, weil Inzest selektive Nachteile hat). Nach Westermarck (1891) wird das Inzest-Tabu proximat durch einen EPM gesichert, der sexuelles Interesse an Unvertrautheit in der Kindheit bindet was exotisch ist, wird erotisch kein sexuelles Interesse an Verwandten. Zur Homosexualität komme es nach Bem dann, wenn Kinder, die aus genetischen oder anderen Gründen gleiche Interessen wie das andere Geschlecht entwickeln, und deshalb auch bevorzugt mit diesem spielen, in der Pubertät dann das eigene Geschlecht für sie exotisch und damit erotisch wirkt. Problem: In kleinen sozialen Gruppen theoretisch alle miteinander vertraut, also nicht exotisch evtl. keine Fortpflanzung. Mögl. Lösung: Geschlechtertrennung bis zur Pubertät. Tendenz zur Geschlechtertrennung prädisponiert (auch wg. Inzestvermeidung!). Bewertung von Bem´s Theorie: Richtig, dass er genetische Einflüsse zwar vermutet, jedoch keine direkte Erblichkeit von Homosexualität annimmt. Denn homosexualitätsfördernde Gene würden schnell durch Selektion verschwinden! Theorie basiert auf empirisch gut gesicherten abweichenden Geschlechtsrollenentwicklung späterer Homosexueller in der Kindheit. B.´s Theorie ist mit vorliegenden Ergebnissen zur Entwicklung männlicher Homosexualität gut verträglich, nicht jedoch mit manchen Ergebnissen zur Entwicklung weiblicher Homosexualität. So geht man von verschiedenen Entwicklungspfaden der Homosexualität aus (Bem´s nicht der einzig mögliche). Bedingungen und Konsequenzen väterlicher Fürsorge Intensive väterliche Fürsorge nur bei 3-5 % der Säugetiere der Fall, hohe Variabilität von Kultur zu Kultur und zwischen den Familien. Elterlicher Aufwand = Zeit + Energie, die in leibliche Kinder gesteckt wird. Paarungsaufwand = Zeit + Energie, die in Zeugung von Kindern investiert wird (incl. Partnersuche und werbungsverhalten). Beides dient der Förderung der Reproduktion der eigenen Gene! Da Frauen weniger Kinder kriegen können als Männer, ist ihr Aufwand höher und weniger variabel. Die hohe Variabilität der väterlichen Fürsorge beruht darauf, dass eine väterliche Investition in die Kinder nicht immer deren Reproduktion fördert. Ihre Investition hängt aus evolutionspsyc. Sicht vor allem von 2 Faktoren ab: 1. Der Reproduktionsfähigkeit der Kinder ohne väterl. Fürsorge (können sie überleben, sind sie gesund?) 2. Der Erreichbarkeit potentieller Geschlechtspartnerinnen. Die Bedingungsfaktoren werden durch genetisch fixierte EPMs vermittelt, die das Fürsorgeverhalten affektiv steuern. Nach der Hypothese von Draper und Harpending entwickelt sich das Reproduktionsverhalten individuell in Form einer bedingten Entwicklungsstrategie; eine proximate Bedingung ist die väterliche Fürsorge. 67 Ellis et al.(1999) : Wiesen in einer Studie nach, dass Töchter, deren Väter sich wenig um sie Kümmern, früher in die Pubertät kommen. Beziehung zur Mutter nicht so gut zur Vorhersage, da ihre Fürsorge weniger variiert und daher kein guter Indikator für zu erwartende Umwelt ist. Ellis et al. (1999) : Beschleunigung der weiblichen biologischen Reifung durch Geruchsstoffe nicht verwandter männlicher Artgenossen. Reifung kann evtl. auch durch Geruchsstoffe des eigenen Vaters gehemmt werden. der Pubertätszeitpunkt bei Mädchen wird möglicherweise proximat durch Geruchstoffe des Vaters und/ oder nichtverwandter Männer i. d. Familie mitbestimmt. Weitere Erklärung: die beobachteten Unterschiede sind bei Vätern als auch bei ihren Töchtern durch dieselben Gene bedingt. Entwicklungsgenetik Allgemeine Prinzipien der Entwicklungsgenetik ! Entwicklung beruht nicht auf einem genetischen Programm, sondern auf der ständigen Wechselwirkung zwischen Genaktivität, neuronaler Aktivität, Verhalten und Umwelt. Gene wirken nur indirekt auf die Entwicklung durch die Proteinsynthese und beeinflussen dadurch die neuronale Entwicklung. Wirkung eins Gens kommt nur im Kontext mit anderen zustande. Gene stehen untereinander mit ihren Produkten ( z.B. Enzymen) in Wechselwirkung. Phenylketonurie: = Stoffwechselstörung (rezessiv homozygot vererbt), Phenylalaninüberschuss beeinträchtigt die Entwicklung des ZNS, verursacht Intelligenzminderung. Bevor Schäden auftreten, kann in der Kindheit durch Phenylalaninarme Diät der Überschuss beseitigt werden. kumulativ-stabilisierende Genwirkung: Gene können Prozesse in Gang setzen, die zum „Selbstläufer“ wird, falls nicht wie bei Phenylketonurie behandelt wird. Behandlung muss im Kindesalter erfolgen, um Schäden vorzubeugen, später bringt Behandlung nichts mehr. Destabilisierende Genwirkung: Gene können sich zu bestimmten Zeiten an-+ abschalten, wie z.B. die Gene für die körperliche Reifung nur in der Pubertät aktiv sind. Die Gehirnerkrankung: Chorea Huntington tritt erst in den Mittvierzigern auf. ! Die Genaktivität variiert im Verlauf der Entwicklung; sie kann sich kumulativ- stabilisierend, aber auch destabilisierend auswirken. Genetischer Einfluss auf Persönlichkeitsunterschiede Relativität des genetischen Einflusses auf Persönlichkeitsunterschiede: Es ist möglich den Beitrag von Genen und der Umwelt an der Entwicklung individueller Persönlichkeiten zu bestimmen. Genom und Umwelt feilen zusammen am Charakter von Menschen. Genom bestimmt die Blutgruppe, die Umwelt den Dialekt einer Person. Der genetische Einfluss auf Merkmale kann 0%-100% sein. ! Viele genetische Einflüsse auf Persönlichkeitsunterschiede sind höchst indirekt vermittelt, d.h. sie beruhen auf genetischen Einflüssen auf andere Persönlichkeitseigenschaften, die mit diesen Merkmalen korrelieren. Genetische Variabilität: Wenn Gene homogen verteilt in der Population = beeinflussen Merkmalsunterschiede nicht. Hat man genetisch identische Klone, sind Persönlichkeitsunterschiede umweltbedingt. 68 Umweltvariabilität: Wenn Umwelt homogen ist, ist der genetische Einfluss auf die Persönlichkeit stärker. Jedes Kind hat gleichen Unterricht: Leistungsunterschiede sind genetisch bedingt. Altersabhängigkeit: Genetischer Einfluss auf 1 Merkmal kann mit Alter variieren. (An- + abschalten der Gene) Schätzungen des genetischen Einflusses Die Zwillingsmethode: ! Bei der Zwillingsmethode schätzt die doppelte Differenz der Korrelationen eines Persönlichkeitsmerkmals zwischen ein- bzw. zweieiigen Zwillingen den gentischen Einfluss auf dieses Merkmal. Vergleich des IQ: Eineiige- (genetisch identische) mit Zweieiigen (50% identische) Zwillingen. IQ- Werte bei eineiigen korrelieren um .80, bei zweieiigen um .60. .80 - .60 = .20 ( halbe genetische Einfluss) und verdoppelt: .40 ist der ganze genetische Einfluss. Die Adoptionsmethode: ! Bei der Adoptionsmethode schätzt die doppelte Differenz der Korrelationen eines Persönlichkeitsmerkmals zwischen leiblichen und Adoptivgeschwistern den genetischen Einfluss auf dieses Merkmal. IQ zwischen leiblichen Geschwistern korreliert um .50, bei Adoptivgeschwistern um .25. .50 - .25 = .25, verdoppelt: 50% ist wieder der genetische Einfluss. Die Kombinationsmethode: Daten aus Zwillings-, Adoptiv- und Elter- Kind Ähnlichkeiten werden ausgewertet. Man bekommt gute Schätzungen, da methodische Probleme miteinander verrechnet werden. Reaktionsnorm: = Schwankung des tatsächlich beobachteten Merkmals um den rein genetisch geschätzten Wert herum => genetische Diagnose für den Einzellfall wertlos. ! Genomanalysen sind zur Vorhersage von Persönlichkeitsunterschieden nur schlecht geeignet, weil sie Umwelteinflüsse nicht berücksichtigen. Kovariation und Interaktion von genetischen und Umweltunterschieden Genom- Umwelt- Interaktion: Genetische und Umweltwirkungen hängen voneinander ab. Beispiel: Adoptivkinder mit antisozialen Eltern, jedoch in anderen Familien lebend, wiesen ein nur minder erhöhtes Risiko für antisoziales Verhalten auf. Wuchsen sie jedoch in ihren biologischen Familien auf war das Risiko für das negative Verhalten 4 mal höher, da biologische und soziale Risiken zusammen kamen. ! Adoptionsstudien legen nahe, dass sich genetische und Umweltrisiken wechselseitig verstärken können. 69 Genom- Umwelt- Kovarianz: Intelligenzförderliche Genome können sich in intelligenzförderlichen Umwelten häufen, da Eltern und Schule dies fördern und intelligente solche Umgebungen aufsuchen. ! Dass der genetische Einfluss auf manche Persönlichkeitsmerkmale mit wachsendem Alter ansteigt, kann u.a. durch die Zunahme der aktiven G.-U.-K. erklärt werden. Evolutionspsychologisch sind sowohl universelle als auch differentielle Entwicklungsphänomene erklärbar. Umweltbedingte Entwicklungsunterschiede sind oft eher evolutionspsychologisch erklärbar als genetisch bedingte. 70 Entwicklung von Funktionsbereichen Sprachentwicklung Hannelore Grimm & Sabine Weinert Sprache und Spracherwerbsaufgabe gehört zu den besonders wichtigen Entwicklungsaufgaben im frühen Kindesalter Verständnis Hineinwachsen in menschl. Kultur Ausdrucksmittel für Intentionen und Wünsche Ausbildung einer gesellschaftl. und Darstellungsmittel für Bedeutungen persönlichen Identität Steuerungsmittel in Interaktion Aufgabe weit komplexer, als es auf den ersten Blick erscheint Komponenten der Sprache: Was muss das Kind erwerben? Sätze sind hoch-strukturierte Objekte mit vielen verschränkten Komponenten Suprasegmentale Komponente = prosodische Strukturierungen Sprachrhythmus Sprachmelodie Sprachtypische rhythmische Betonungs- und Dehnungsmuster Bsp. Dehnung des letzten Vokals vor Phrasengrenze Kennzeichnung der Frage durch ansteigende Sprachmelodie Phonologie = Lautstruktur der Sprache Kleinste bedeutungsunterscheidende Einheit = Phonem (z.B. Hut – Wut) Kind muss lernen, welche Lautklassen in seiner Sprache bedeutungsunterscheidend sind Und nach welchen Regeln diese kombiniert werden dürfen Morphologie = Regeln der Wortbildung Kleinste bedeutungstragende Einheit = Morphem (z.B. Hund – e) Zwischen Sprachen unterschiedlich, welche Bedeutungskategorien morphologisch markiert werden müssen Bsp.: Im Deutschen: Anzahl, Geschlecht, Fall und Bestimmtheit (den Hund) Im Englischen: nur Bestimmtheit (the dog) 71 Syntax = Kategorien und Regeln, die die Kombination von Wörtern zu Sätzen erlauben Unterschiedliche Bedeutung durch unterschiedliche Wortstellung ausgedrückt Formaler Charakter der Wortordnungsregeln (sinnloser, aber grammatisch richtiger Satz vs. sinnvoller, aber grammatisch falscher Satz) Ableitung der Strukturen beruht nicht nur auf oberflächlicher Analogiebildung (bereits ein Wort kann die Bedeutung und Struktur eines ganzen Satzes verändern) Bsp.: sinnlos, aber grammatisch richtig: „Der Luch, der die Plabeln verummelt, krielt“ sinnvoll, aber grammatisch falsch: „Kratzen Katze Hund“ „Manche Menschen sind schwer zu verstehen“ – „Manche Menschen sind unfähig zu verstehen“ Lexikon und Semantik a) Lexikon = Wortsemantik, Bedeutungsstruktur des Wortschatzes Unterschiede zwischen Sprachen in Bezug auf die kategorialen Unterscheidungen, die durch ein Wort ausgedrückt werden Kind muss ein abstraktes System solcher Zusammenhänge erwerben b) Satzsemantik = Satzbedeutung gleiche Wörter können je nach Kontext verschiedene Bedeutungen haben Sprechakte und Diskurs zusätzlich zu linguistischen Kompetenzen auch pragmatische Kompetenzen nötig, um Sprache angemessen im Kontext verwenden zu können über Sprechhandlungen werden sozial-interaktive Beziehungen zwischen Kommunikationspartnern hergestellt Zusammenfassung der einzelnen Komponenten Komponenten Funktion Suprasegmentale Intonationsstruktur, Betonung, Komponente rhythmische Gliederung Phonologie Organisation von Sprachlauten Morphologie Wortbildung Syntax Satzbildung Lexikon Wortbedeutung Semantik Satzbedeutung Sprechakte Sprachliches Handeln Diskurs Kohärenz der Konversation Erworbenes Wissen Prosodische Kompetenz Linguistische Kompetenz (Wissen über die der Sprache zugrunde liegenden Strukturprinzipien) Pragmatische Kompetenz (Verständigungsfähigkeit, Wissen darüber, in welchem sozialen Kontext, in welcher Weise und mit welcher Erwartung welchem Gesprächspartner etwas zu sagen oder zu verschweigen ist) Sprache kann sowohl primär aus grammatisch-struktureller Sicht als auch primär aus kommunikativ-funktionaler Sicht betrachtet werden Dennoch in Kommunikationssituation keine Trennung dieser Bereiche möglich Beide Aspekte bedingen sich gegenseitig (durch Kommunikation wird Struktur erworben, die wieder bessere Kommunikation ermöglicht usw.) Erwerb jeder einzelnen Komponente stellt besondere Anforderungen an das Kind 72 Aufgliederung erscheint aufgrund von Beobachtungen des gestörten Spracherwerbs und Sprachgebrauchs sinnvoll Es können Störungen bei einer Komponente auftreten, während andere ganz gut funktionieren Spracherwerbsaufgabe: Fragen und ungelöste Probleme Frage: Wie schafft es ein Kind innerhalb weniger Jahre, das hochkomplexe Sprachsystem zu erlernen? Aktiver Induktionsprozess Sprache wird nicht durch Imitation von Gehörtem gelernt Sondern das Kind muss auf der Grundlage des Sprachangebots Regeln abstrahieren und so selbst neue Sätze produzieren Aktiver Induktionsprozess: Speicherung von Daten, Ableitung von Regeln und Bildung neuer Sätze Kein bewusster Prozess, sondern implizites Lernen Metalinguistische Bewusstheit erst auf der Basis von bereits erworbenem Sprachwissen möglich Unterschiedliche Auffassungen Kernelemente grammatischen Wissens angeboren oder im Verlauf der Entwicklung erworben? Sprachbereichsspezifische Mechanismen oder generelle kognitive Prinzipien? Erwerb der Sprache einfache Folge der senso-motorischen Entwicklung? Welche Merkmale der sozialen Sprachumwelt notwendig? Reicht nur Hören der Sprache oder braucht man besondere Formen der sprachlichen Interaktion? Die wichtigsten Meilensteine der Sprachentwicklung Phonologisch-prosodische Entwicklung Erwerb der Sprache beginnt schon lange vor dem ersten Wort, sogar schon vorgeburtlich Rezeptive phonologisch-prosodische Entwicklung Säugling ist mit sehr spezifischen Fähigkeiten ausgestattet, die es ihm ermöglichen, die Sprache seiner Umwelt zu verarbeiten Phonologische Kategorien Bereits direkt nach der Geburt können Säuglinge: menschliche von anderen Lauten unterscheiden Laute in phonologische Kategorien einordnen (ba/pa) Entwicklungsveränderungen Kategoriale Lautunterscheidung verändert sich mit dem Alter mit 6 Monaten: Säuglinge können auch zwischen Lauten unterscheiden, die in ihrer Umweltsprache nicht unterschieden werden (z.B. r/l in Japan) mit 10 Monaten haben sie diese Fähigkeit nicht mehr Repertoire erfahrungsabhängig eingeengt und teilweise umstrukturiert 73 Im selben Alter können sie aufgrund phonetischer Information die Muttersprache von anderen Sprachen unterscheiden Die wichtigsten Regeln der Lautkombination ihrer Sprache sind bereits erworben Prosodische Merkmale von Anfang an Sensitivität für suprasegmentale Merkmale der Sprache Unterscheidung Muttersprache – fremde Sprache bereits vier Tage nach der Geburt (nicht aber zwei fremde Sprachen) Wiedererkennen eines Textes, den Mutter während letzter Schwangerschaftswoche oft laut gelesen hat Vorgeburtliche Erfahrung spielt bereits eine Rolle alles aufgrund von Merkmalen wie Tonhöhe, Betonung, Lautheit, Schnelligkeit und Pausengebung (also Prosodie) Nachweis der Bedeutung der Prosodie zur Unterscheidung von Mutter- und Fremdsprache: Mehler et al., 1988 (s.a. Vorlesung) Allerdings nur bei natürlicher kindorientierter Prosodie (nicht bei monotonem Sprechen) Präferenz für stark prosodische Sprache (auch wenn nicht Muttersprache) Funktion dieser Präferenzen: Prosodie erleichtert Strukturierung und Unterscheidung von Sätzen mit verschiedenem Inhalt („the cat chased white mice“ vs. „the rat chased white mice“) Prosodie wichtig für Sprachverarbeitung und Erinnerung Grammatikerwerb Auch hier Prosodie wichtig! 7-10 Monate alte Säuglinge können prosodische Hinweisreize ihrer Muttersprache für das Erkennen syntaktisch relevanter Einheiten nutzen Hirsh-Pasek et al., 1987: Sätze mit Pausen an Phrasengrenzen vs. Sätze mit Pausen in Phrasen („Cinderella lived in a great big house…“) Zusammenfassung: Säuglinge sind von Geburt an (und sogar schon vorgeburtlich) sensitiv gegenüber prosodisch-phonologischen Regularitäten Während dem ersten Lebensjahr wird differenziertes Wissen über die Regularitäten der Muttersprache aufgebaut Nicht nur auditive sondern auch visuell-soziale Information wird verarbeitet („Lippenlesen“: Präferenz für Mundbewegung, die zu gleichzeitig präsentiertem Ton passt) Produktive phonologische Entwicklung: Von den Sprachlauten zur Wortproduktion im Vergleich zu rezeptiver Entwicklung im ersten Jahr noch recht eingeschränkt läuft in 5 Schritten ab: 6 - 8 Wochen: Gurren 2. – 4. Monat: Lachen und Lautbildung Nachahmung vorgesprochener Vokale 6. – 9. Monat: Lallstadium Reduplikation von Silben = kanonisches Lallen 74 CVC – Verbindungen (baba / dada) mit satzähnlicher Intonation Hinweis auf zunehmende Kontrolle über Sprechwerkzeuge Früherkennung von gehörlosen Kindern (kein kanon. Lallen) wenige unterschiedliche Silben als Prädiktor für spätere Störungen der Sprachentwicklung 10. – 14. Monat: erste Wörter 18. Monat: 50-Wörter-Marke neue Wörter werden jetzt sehr viel schneller gelernt (wenige Monate später schon ca. 200) oft ungenauere Aussprache: Aufmerksamkeit eher auf grammatikal. Prinzipien gelegt, also eigtl. kein „Rückschritt“ sondern „Fortschritt“ Aussprachefehler Normalerweise nach 4 Regeln: Wiederholung von Silben Auslassung unbetonter Silben Reduktion von Konsonantenclustern Vorwärts und rückwärts gerichtete Assimilation am Ende der Vorschulzeit in der Regel korrekte Aussprache gelernt Drei Hauptschritte in der lexikalischen Entwicklung innerhalb von 16 Jahren Grundwortschatz von ca. 60000 Wörtern ca. 9 neue Wörter / Tag komplexer Prozess: Zuordnung von phonologischen Sequenzen zu Bedeutungsrepräsentationen Unterscheiden sich kindliche Bedeutungszuweisungen von denen der Erwachsenen? Welcher Bedeutungswandel findet statt? Wie lässt sich schnelles Wortlernen erklären? Die ersten Wörter zwischen 10 und 18 Monaten: Wechsel der Funktion des Wortgebrauchs erste 30 Wörter: soziale Wörter, Namen für ein bestimmtes Objekt (z.B. das Auto des Vaters), Wort als Ereignisrepräsentation Erreichen der 6. Stufe der sensomotorischen Stufe nach Piaget: intrapersonale, regulative, kognitive Qualität des Wortgebrauchs abstrakte Beziehungen, Verschwindens-, Erfolgs-, Misserfolgswörter 1 ½ Jahre: Benennungsexplosion schneller Zuwachs von Benennungen beruht auf Erkenntnis, dass alle Dinge benannt werden können Wunsch, alle Objekte zu benennen „late talkers“: nach 24 Monaten noch keine 50 Wörter Risiko der Störung! Übergeneralisierungen und Überdiskriminierungen Übergeneralisierung: ein Wort auf mehrere Worte und Objekte angewandt (z.B. Hund für alle kleineren Tiere) Überdiskriminierung: Geltungsbereich eines Wortes viel enger beschränkt als bei Erwachsenen (z.B. Ente nur für Badeente, nicht für das Tier) 75 diese Fehler nicht mehr, wenn Kind die jeweilige hierarchische Organisation des semantischen Wortfeldes erkannt hat (wenn es erkannt hat, dass die gleiche Sache mit verschiedenen Wörtern bezeichnet werden kann) Schneller Erwerb für Objekte und Eigenschaften Wie kann das Kind so schnell neue Wörter lernen? nicht Umwelt (da benennende Eltern-Kind-Interaktion nach 2 Jahren stark abnimmt) Ursache liegt im Kind selbst Fast mapping: schnelle Zuordnung eines Wortes zu einer (wenn auch noch nicht vollständig bekannten) Bedeutung Kind erwirbt Unterscheidung zwischen Ereignissen und Objekten bevor es sprachliche Bezeichnung kennt Auch Auffassen einer Bezeichnung kann zu konzeptueller Unterscheidung führen reziproke Beziehung zwischen Sprache und Kognition Bsp.: „chromium“ Tablett Kinder merken sich Wort nach einmal Hören, wissen, dass es Farbe bezeichnet, nicht aber genau welche Induktionsproblem viele mögliche Bedeutungen für ein Wort, wie wird richtige herausgefunden? Markman & Mitarbeiter: Annahme von „constraints“ = Vorannahmen, die die möglichen Bedeutungen von Wörtern auf wenige reduzieren wird in Zeit um Benennungsexplosion bedeutsam andere Qualität des Sprachlernens (nicht langsamer assoziativer Prozess wie anfangs) Ganzheits- und Taxonomieconstraint Ganzheitsconstraint: neue Wörter beziehen sich auf ganze Objekte (nicht auf Teile oder Eigenschaften) Taxonomieconstraint: neue Wörter beziehen sich auf Dinge gleicher Art und nicht auf thematisch verbundene Dinge dazu Experiment: Markman & Hutschinson, 1984 Bedingung ohne Benennung Bedingung mit Benennung Ordnung nach thematischer Verbindung Ordnung nach taxonomischer Verbindung die beiden Constraints sind „Ausgangsconstraints“ für schnelles Wortlernen Disjunktionsconstraint = neue Wörter beziehen sich immer auf unbekannte Dinge (wenn also Objekt bekannt, muss Wort sich auf Teile bzw. Eigenschaften beziehen) durch Markman & Wachtel experimentell bestätigt nötig, damit Eigenschaften und Objektteile gelernt werden können Offene Fragen Constraint-Ansatz macht deutlich, wie Mapping-Problem zu lösen ist Das kann weder die klassische Lerntheorie noch der kognitionspsychologische Ansatz lösen Dennoch bleiben Fragen: 76 1. Erwerb von Nomen erklärt, aber Verben? 2. Wie spezifisch sind Constraints? (spezifische linguistische Konventionen oder generelle kognitive Lernmechanismen) 3. Echte Beschränkungen oder eher Bevorzugung, Vorannahme, Strategie? 4. Woher kommen Constraints? (Erfahrung, angeboren) Schneller Erwerb von Verben Syntaktische Constraints Syntax besonders wichtig für Erwerb von Verben Gründe: verschiedene Wörter /Wortpaare beziehen sich auf gleiche Ereignisse (aus unterschiedlicher Perspektive), für das Kind schwer zu erkennen, was genau gemeint ist verschiedene Verben beschreiben Ereignisse auf unterschiedlichem Spezifikationsniveau (z.B. verschiedene Wörter für visuelle Wahrnehmung)l, die Situation gibt über die Differenzierung keine Information manche Verben beziehen sich auf nicht beobachtbare Ereignisse d.h. schon verfügbare kognitive Konzepte Induktionsprozess, syntaktischer Constraint nötig bzw. Constraints reichen nicht für Syntaktischer Constraint: Nutzung von Satzrahmen (Anzahl der Objekte, transitiver bzw. intransitiver Satzrahmen, präpositionale Verbindungen usw.) Bezeichnet als „syntaktisches Steigbügelhalten“ („syntactic bootstrapping“) Drei Hauptphasen der lexikalischen Entwicklung Phase Merkmale Pragmatischer Gebrauch: Früher Worterwerb ab ungefähr soziale Wörter, spezifische dem 10. Lebensmonat Benennungen Benennungsexplosion: schnelles Wortlernen für Objekte und Übergeneralisierungen, Objektmerkmale ab ungefähr Überdiskriminierungen dem 18. Monat Schnelles Wortlernen für Verben Verwechslungen wie und andere relationale Wörter ab zwischen „geben“ und ungefähr dem 30. Lebensmonat „nehmen“ Theoretische Erklärung Assoziative Verknüofungen im sozial-interaktiven Kontext Ganzheits-, Taxonomieund Disjunktionsconstraints Syntaktische Merkmale als Steigbügelhalter Von den Wörtern zur Satzproduktion produktive Grammatik beginnt mit ersten Wortkombinationen (wie Wortschatzspurt ab 18. Monat) Verständnis jedoch schon vorher vorhanden Nutzung der Wortordnung für das Verständnis von Sätzen Unterscheidung von transitiven und intransitiven Satzmustern Zwei- und Dreiwortäußerungen Kindliche Aussagen sind regelhaft strukturiert Kinder sind sich der Regeln aber nicht bewusst Vier Hauptcharakteristika der kindlichen Sprache: 77 Telegraphische Sprache Kinder aller untersuchten Sprachen lassen systematisch bestimmte Satzelemente aus (Artikel, Hilfsverben, Ableitungs- und Flexionsmorpheme, Kopnjunktionen, Präpositionen o.ä.) Vergleich aber trotzdem nicht völlig zutreffend, da kindliche Äußerungen im Gegensatz zu Telegrammen oft nur aus dem Kontext zu verstehen sind Gesprächspartner interpretiert Äußerungen, fragt in grammatisch vollständiger Form nach Bedeutungsrelationen Kinder verleihen unterschiedlichen semantischen Relationen Ausdruck Handelnder – Handlung: „Papa schläft“ Handlung – Objekt: „Tür auf“ Objekt – Lokation: „da ein Schönes“ Besitzer – Besitz: „Papa Hut“ Objekt – Attribut: „Kleines Balla“ Zurückweisung – Handlung: „net schreibe“ Wiederauftreten – Handlung: „mehr habe“ langsam beginnt das Kind jetzt auch, sich auf vergangene Ereignisse zu beziehen Beachtung formaler Regularitäten Da Kinder schon Wortstellungsregeln beachten, müssen sie schon ein Gefühl für die formal-grammatischen Eigenschaften ihrer Umweltsprache erworben haben Dies gilt auch für morpho-phonologische Regeln: Kinder beachten den phonologischen Hinweis bei der Zuweisung des grammatischen Geschlechts (deux bicron – le bicron), nicht den semantischen Hinweis Wortordnung Kinder halten bei ihren Äußerungen ganz bestimmte Wortordnungen ein Sie sind sensitiv gegenüber den formalen Strukturprinzipien ihrer Sprache z.B. stehen unflektierte Verben zunächst am Satzende, wenn dann die morphologischen Regelmäßigkeiten erworben sind, rückt das Verb an die richtige Stelle im Satz danach schneller Erwerb variabler Wortordnungen (für Fragen, Aufforderungen) dies gilt allerdings nicht für sprachentwicklungsgestörte Kinder Fortschritte der morpho-syntaktischen Fähigkeiten mit ca. 2 ½ Jahren: Sätze mit mehreren Phrasen mit ca. 4 Jahren: Beherrschung der hauptsächlichen Satzkonstruktionen ihrer Muttersprache dramatische Veränderungen des sprachlichen Wissens durch wichtige Reorganisationsprozesse Fehler können Aufschluss über die Aneignung von Strukturprinzipien geben Reihenfolge- und Semantikstrategie Kinder setzen ganz unterschiedliche Interpretationsstrategien ein, die zu entsprechenden Fehlschlüssen führen Im sog. Manipulationsexperiment zu überprüfen: Passivsätze in Handlungen mit Spielobjekten umsetzen Interpretation der Reihenfolge der Nomen als Handlungsfolge gehörte Sätze in Übereinstimmung mit Weltwissen interpretiert Auch bei anderen Satzstrukturen (z.B. Temporalsatz mit „nachdem“) 78 diese Interpretationsstrategien interpretieren! nicht fälschlicherweise als Erwerbsstrategien Drei Stufen struktureller Reorganisation Kind arbeitet hart an der Sprache, erkennt zunehmend abstraktere Strukturprinzipien Drei Phasen: 1. „rote stage“: Formen als unanalysierte Einheiten im Gedächtnis gespeichert, isolierter Abruf, Sprachwissen an der Oberfläche 2. „rule stage“: Übergeneralisierungen, Kind hat erkannt, dass Wörter aus Einheiten zusammengesetzt sind, regelmäßige Formen werden auf unregelmäßige übertragen 3. korrekte Formen: Wortformen in ein neu erworbenes morphologisches Regelsystem integriert Drei-Phasen-Modell expliziten Sprachwissens zwar können 5jährige Kinder schon viel reden und haben die Satzmuster ihrer Muttersprache prinzipiell erlernt trotzdem noch nicht Abschluss ihrer grammatischen Kompetenz erreicht Drei-Phasen-Modell: ab 5 Jahre ab 6 Jahre ab 8 Jahre Phase 1 Implizites Sprachwissen korrekter Sprachgebrauch, erfolgreiche Kommunikation Keine Reflexion möglich Fokus auf Sprachinformation aus der externen Umwelt Phase 2 System-internaler unbewusster Reorganisationsprozess Fehler auf Verhaltensebene, spontane Selbstkorrekturen Lösung von Beurteilungs- und Korrekturaufgaben Von außen kommende Information teilweise vernachlässigt Phase 3 Explizites Sprachwissen Bewusste Reflexion über die Sprache Erklärung von Sprachregularitäten Der Weg zur pragmatischen Kompetenz Erwerb von Fähigkeiten und Fertigkeiten des situations- und kontextabhangigen Sprachgebrauchs Aufbau soziokultureller Kenntnisse Wissen um Gefühle und Bedürfnisse anderer sehr viele unterschiedliche Fragestellungen, hier nur auf einige eingegangen Von Kommunikation zu Sprache: Drei Phasen Kommunikation schon lange bevor Kind zu sprechen beginnt Lernt Regeln, weil es kommuniziert und nicht andersherum Drei Hauptphasen: 8. – 10. Monat: intentionale Kommunikation mittels Gesten Protoimperative und Protodeklarative 79 Ab 11. Monat: systematischer Einsatz der Zeigegeste zur Kommunikation 16. – 22. Monat: Ausdruck verliehen Intentionen, die sich auf Diskurs beziehen, wird der erste sprachliche Ab 2. Jahr: Länge der Konversationseinheiten nimmt entscheidend zu 30 Monate ca. 20 zusammenhängende Äußerungen Frühe pragmatische Kompetenzen und Einschränkungen Bereits dreijährige Kinder können sich sprachlich an Gesprächspartners anpassen (entgegen Piaget) Gespräche unter Kindern gewinnen echte soziale Qualität Alter und Status des Frühzeitige kommunikative Fähigkeiten und Fertigkeiten (nach Hickmann) Anpassung an kommunikative Erfolge und Misserfolge Umformulierung von Äußerungen nach Erklärungsaufforderung durch Erwachsene Kontextabhängige Variation von Formen des Bittens Verständnis und Verwendung verschiedener Typen indirekter Anweisungen Anpassung der Sprache an verschiedene Rollenbedürfnisse Zugleich Defizite in folgenden Bereichen gezielte Verwendung bestimmter Ausdrücke zur Unterscheidung von Sprechakten pragmatisch korrektes Reden von Dingen, die nicht Teil der Sprechsituation sind Ausführung kompetenter argumentativer Handlungen jüngere Kinder interpretieren verschiedene Sprechakte eher auf Basis des Situationskontextes, ältere Kinder nutzen linguistische Hinweise (z.B. erst ab 10 Jahren Nutzung des Futurs als Hinweis auf ein Versprechen) im Rollenspiel: erst Nachahmung der Stimmqualität und Prosodie, dann des sprachlichen Inhaltes und der Wortwahl und erst spät Anpassung der Äußerungsformen an die Rolle (z.B. Imperativ) Das Erklärungsproblem Wie gelingt es dem Kind, abstrakte Spracheinheiten und komplexe Regularitäten zu erwerben? keine rein quantitative Wissenszunahme, sondern qualitativunterschiedliche und hoch kreative Zwischengrammatiken bis heute keine übergeordnete Theorie sinnvoll, unterschiedliche Lerntypen für die Ausbildung verschiedener Struktureinheiten zu verschiedenen Zeitpunkten anzunehmen Grundüberzeugungen und Unterschiede In folgenden 4 Punktern sind sich die Forscher einig: 1. Sprache ist humanspezifisch und hat eine biologische Basis 2. Kind ist für Spracherwerbsprozess vorbereitet 3. Ohne sprachliche Umwelt wäre Erwerbsprozess nicht möglich 4. Innere Voraussetzungen des Kindes und äußere Faktoren müssen im Sinne einer gelungenen Passung zusammenwirken Frage, unter welchen Umständen gelungene Passung gegeben ist, wird je nach Standpunkt unterschiedlich beantwortet 80 Extrempositionen: sehr spezifisches angeborenes grammatisches Wissen oder Sprache als reiner Imitationsprozess Heute Extrempositionen nicht mehr vertreten, Unterschiede zwischen Theorien in Annahme sprachspezifischer angeborener Voraussetzungen, Bedeutung der Informationsverarbeitungsfähigkeiten und Rolle der sprachlichen Umwelt Je nach Gewichtung dieser Faktoren unterschiedliche Antwort auf folgende Fragen: Wie kann Kind abstraktes Wissen erwerben, das ihm nicht direkt angeboren ist? Warum machen Kinder ganz bestimmte Fehler nicht? Welche Prozesse sind für Reorganisation verantwortlich? Warum nimmt Kind Änderungen vor, obwohl diese die Kommunikation nicht stören? Zwei große Theoriefamilien: „Outside – In“ – Theorien Annahme genereller Lernmechanismen Angeborene sprachspezifische Voraussetzungen werden nicht angenommen oder minimiert Kognitive Theorien: - Spracherwerb als Ergebnis der kognitiven Entwicklung - Wörter erst dann erlernt, wenn zugrunde liegende Konzepte erworben Sozial-interaktive Theorien: - Sprachmuster entstehen direkt aus den zuvor erworbenen sozialkommunikativen Mustern - Im Dialog ausgebildete Sprach- und Kommunikationsmuster haben primäre Bedeutung für gelungenen Spracherwerb „Inside – Out“ – Theorien Sprachlernen unterscheidet sich zumindest zum Teil von anderen Lernprozessen Das Kind ist mit angeborenem Sprachwissen oder angeborenen sprachspezifischen Fähigkeiten ausgestattet Starke Version: Universalgrammatik - Kind hat von Beginn an hoch abstraktes grammatisches Wissen und spezialisiertes sprachbezogenes Verarbeitungssystem - Dieses ist unabhängig von anderem Wissen und verantwortlich für Lernbarkeit der Sprache - Umweltsprache und allgemeine Lernfähigkeiten der Kinder spielen geringe Rolle - Dienen nur der Auslösung des Erwerbsprozesses, der Spezifizierung nicht genau festgelegter grammatischer Muster und der Unterstützung - Beziehungen zwischen sprachlicher und kognitiver Entwicklung weil Output des Sprachmoduls mit anderen Wissensrepräsentationen interagiert Schwache Version - basierend auf empirischen Ergebnissen der Säuglingsforschung - Sicht der meisten Sprachentwicklungspsychologen - Passungsgedanke im Vordergrund - Annahme sprachspezifischer Bedingungen (empirische Belege) - Nicht vollständig unabhängig von Kognition, sondern bereichsspezifischer Problembereich - Säugling mit sprachspezifischen Voraussetzungen ausgestattet, seine Aufmerksamkeit auf linguistisch 81 relevante Spracheinheiten und Regularitäten zu fokussieren Interaktionistische Sichtweise Steigbügelhalter – Theorien („bootstrapping theories“) Z.B. welche schon erworbenen Konzepte werden für Einstieg in die Grammatik benutzt? Oder: Nutzung von syntaktischen Hinweisreizen für Erwerb von Wortbedeutungen? Haben keinen allumfassenden Anspruch, sondern versuchen, einzelne Teilbereiche der Spracherwerbsaufgabe präzise zu definieren Voraussetzungen und Bedingungen für einen erfolgreichen Spracherwerb Welche wahrnehmungsbezogenen, kognitiven und sozial-kognitiven Fähigkeiten? Rolle der sozialen Umwelt (motivierende oder sprachlehrende Funktion)? Generelle Lernprinzipien oder sprachspezifische Erwerbsmechanismen? Spracherwerb als biologisch fundierter, eigenständiger Phänomenbereich Vier Beobachtungen unterstreichen die biologische Fundierung: (1) Der Spracherwerb ist humanspezifisch Versuche, Primaten die Gebärdensprache beizubringen, führte nicht zu einer der menschlichen vergleichbaren Sprachkompetenz Zwar funktionsbezogene Nutzung der Sprache bei Primaten, nicht aber Nutzung grammatischer Strukturen (2) Beim Menschen erweist sich die grundlegende Fähigkeit zum Spracherwerb als sehr robust gehörlose Kinder: erwerben auch unter sehr eingeschränkten Bedingungen eigenständig sprachähnliche, morphologisch und syntaktisch strukturierte Zeichensysteme beginnen zu selbem Zeitpunkt wie hörende Kinder erste Wörter zu produzieren (anhand von selbst erfundenen Gesten), dann verbinden sie diese der normalen Sprachentwicklung folgend zu Zwei- und Drei-Zeichen-Sequenzen ebenso vorhanden: grammatische Regularitäten, bestimmte Wortordnungen Kinder sind internal mit der Fähigkeit ausgestattet, solche Formen zu erwerben Studien mit Patienten, denen zu frühem Zeitpunkt linke bzw. rechte Hemisphäre entfernt werden musste: Angemessene phonologische und semantische Fähigkeiten (normale Artikulation, phonemische Unterscheidungsleistung) Weder Worterkennungs- noch Wortfindungsschwierigkeiten Entfernung der linken Hemisphäre: Schwierigkeiten bei der Einbeziehung syntaktischer Merkmale zur Interpretation von Satzbedeutungen Intakte linke Hemisphäre: keine solchen Schwierigkeiten (3) Sprachleistungen in der Kindheit werden nicht in gleicher Weise von denselben Gehirnregionen vermittelt wie im Erwachsenenalter Frühe Lateralisierung bereits bei Neugeborenen (linkslaterale Verarbeitung gesprochener Silben) 82 Vergleichbare Läsionen im Kindes- und Erwachsenenalter führen zu unterschiedlichen Störungsbildern Hinweis darauf, dass schnelle modulare Sprachverarbeitung nicht Ausgangspunkt sondern Ergebnis der Entwicklung ist (4) Der Erwerb der Sprache ist auch bei eingeschränkten kognitiven Fähigkeiten möglich Kinder mit eingeschränkten kognitiven Fähigkeiten haben in der Regel gravierende Schwierigkeiten beim Spracherwerb Trotzdem einzelne Syndrome, bei denen das nicht so ist: Williams-Beuren-Syndrom: deutliche geistige Retardierung, dennoch vergleichsweise gute, wenn auch nicht ganz altersgemäße Sprache; gutes Gedächtnis für Gesichter, relativ gute auditive Gedächtnisfähigkeiten, Stärken im Bereich der „theory of mind“ Down-Syndrom, Offener Rücken: Einzelfälle mit dennoch elaborierter Sprache Jedoch weder sprachliches noch kognitives Leistungsprofil der Probanden vollständig homogen Kognitive Voraussetzungen des Spracherwerbs: Wirkungen und Rückwirkungen Obiges macht deutlich, dass Erwerb der Sprache keine einfache Folge der kognitiven Entwicklung ist Kinder erwerben das komplexe, abstrakte Regelsystem der Sprache zu einem Zeitpunkt, zu dem ihre abstrakten Problemlösefähigkeiten noch extrem eingeschränkt sind Keine generellen Zusammenhänge zwischen kognitivem und sprachlichem Entwicklungsstand nachweisbar Dennoch Erwerb der Sprache nicht völlig unabhängig von kognitiven Kompetenzen und Entwicklungsveränderungen Kind muss Regeln, die für Muttersprache spezifisch sind (also Wortschatz, Syntax, Morphologie und Großteil der Phonologie), induktiv aus dem Sprachangebot ableiten Es muss also eine Vielzahl von kognitiven, sozial-kognitiven, und sozial-kommunikativen Fähigkeiten sowie eine abgestimmte soziale Umgebung vorhanden sein: Bedeutsame lokale Zusammenhänge zwischen kognitiv-konzeptueller Entwicklung und dem Erwerb sprachlicher Bedeutungen Kognitive Entwicklung ist nicht einfach „Schrittmacher“ der Sprachentwicklung Kind beachtet von Anfang an auch sprachliche Regularitäten, die die kognitivkonzeptuelle Entwicklung erleichtern können Dazu interkulturelle Studien: Englische Kinder fortgeschrittener in Objektkategorisierung und Benennungsspurt Koreanische Kinder fortgeschrittener in der Lösung von Mittel-Zweck-Aufgaben und dem Erwerb von Erfolgs-/Misserfolgswörtern Differenzen korrespondieren mit Sprachangebot und Struktur der jeweiligen Sprache (Englisch = nominale Sprache, Koreanisch = verbale Sprache) zwischen kognitiv-konzeptueller und sprachlicher Entwicklung zwar keine generellen, aber spezifische Zusammenhänge und Wechselwirkungen 83 Phonologische Gedächtnisfähigkeiten: Voraussetzung und Folge eines erfolgreichen Spracherwerbs kapazitätsbegrenztes phonologisches Arbeitsgedächtnis als individuell variable Voraussetzung für Spracherwerb der Kinder individuelle Arbeitsgedächtnisleistungen spielen wichtige Rolle beim Wortschatzerwerb Wiedergabe sinnfreier Pseudowörter mit 4 Jahren prädiktiv (und vermutlich funktional) für Wortschatz der Kinder mit 5 Jahren Sprachgestörte Kinder Defizite im Bereich des auditiven Gedächtnisses Jedoch keine Einbahnstraße: im Alter von 5 Jahren scheint sich die dominante Wirkrichtung umzukehren: Fortschreitender Spracherwerb ist nun prädiktiv für Gedächtnisleitungen der Kinder Implizite Lernfähigkeiten und Sensitivität gegenüber korrelativen Zusammenhängen und prosodischen Strukturen Verarbeitung und Speicherung des Sprachangebots genügt nicht, es müssen auch die zugrunde liegenden Regularitäten induktiv abgeleitet werden Säuglinge von Anfang an sensitiv gegenüber im Sprachangebot enthaltenen korrelativen phonologisch-prosodischen Strukturen Scheinen somit mit spezifischen Prädispositionen ausgestattet zu sein, um Sprachangebot in sprachspezifischer Weise zu verarbeiten und zu repräsentieren Erworbenes Wissen erleichtert Verarbeitung komplexerer Formen, diese wieder als „Steigbügelhalter“ für Erwerb neuer Sprachkomponenten Allerdings kann daraus nicht geschlossen werden, dass Kinder Prosodie zur Ableitung von Regeln benutzen Dazu ergänzende Befunde zur Nutzung prosodischer Merkmale als syntaktische Gliederungshinweise nötig: Lokalisation von Pausen an Phrasengrenzen oder in Phrasen beeinflusst Satzverständnis jüngerer Kinder Relativsätze besser verstanden, wenn prosodisch und nicht monoton gesprochen Prosodische Gliederungen erleichtern bei Kinder und Erwachsenen den impliziten Erwerb sprachähnlicher grammatischer Regeln … Kinder mit Sprachentwicklungsstörungen gravierende Defizite in diesen Bereichen Kinder haben angeborene Prädispositionen für das Sprachlernen, die allerdings im Bezug auf linguistische Spezifizierung von Universalgrammatik oder Sprachmodul sehr weit entfernt sind Sozial-kognitive Voraussetzungen des Spracherwerbs bewegtes Gesicht und stimmlicher Ausdruck interessante Reize für Säugling, die seine Aufmerksamkeit erregen besonders wichtige Rolle in Interaktion mit der Umwelt spielen Episoden der geteilten Aufmerksamkeit Gemeinsamer Aufmerksamkeitsfokus und Imitation als sozial-kognitive Vorausläuferfähigkeiten je häufiger Episoden der geteilten Aufmerksamkeit und Imitation von Sprachlauten vorkommt, desto größer ist produktiver Wortschatz mit 21 Monaten 84 Gebrauchshäufigkeit von Gesten vor/um 1. Lebensjahr und Wortschatz im 16./20. Monat: r = .50 Dennoch nicht einfach auf Kausalbeziehung schließen! Quasi-experimenteller Befund: Kinder mit späterer Diagnose Autismus: keine symbolischen Gesten, keine Aufmerksamkeitszentrierung auf mütterliches Gesicht oder Stimme Gemeinsame Aufmerksamkeit zunächst durch Mutter gesteuert, dann beachten Kinder aktiv die Blickrichtung der Mutter Dadurch vermeidet Kind die Herstellung falscher Wort-Referent-Verbindungen (auch hier bei autistischen Kindern deutliche Defizite) Gesten als sozial-kognitive Vorausläuferfähigkeiten: Von der Geste zur Sprache Kinder verleihen mittels Gesten ihren Wünschen und Zurückweisungen Ausdruck Drei Arten von Gesten: 1. Deiktische Gesten des Zeigens, Gebens und Hinweisens: Referent nur aus Kontext zu erschließen Gesten noch vorsymbolisch Protoimperativ, wenn Kind Erwachsenen benutzt, um etwas zu erhalten Protodeklarativ, wenn Kind Objekt benutz, um Aufmerksamkeit zu erregen 2. Referentielle Gesten: präziser Referent symbolische Qualität 3. Konventionalisierte Gesten: fest gefügte Bedeutungs-Handlungs-Zusammenhänge z.B. Nicken / Kopfschütteln für Zustimmung / Ablehnung Zusammenhang zwischen Gesten und Sprachentwicklung theoretisch plausibel und empirisch belegt Dennoch zu verkürzt, Worterwerb ausschließlich auf Gesten zurückzuführen! Entwicklung vom vorsprachlichen Handeln zum Sprachausdruck verläuft diskontinuierlich (neue sprachliche Qualität kommt hinzu) Hierzu Studie mit gehörlosen Kindern: Zunächst deiktische Zeigegesten (Proto-Ich und Proto-Du) Erlernen der Gehörlosensprache: nicht mehr die Gesten für ich und du Stattdessen gesten sie vollen Namen für sich und Gegenüber Dann Verwechslung von ich und du mit 22 Monaten Erst einige Monate später wieder korrekte Verwendung der Zeichen zwischen Verwendung vorsymbolischer Zeichen und der von Sprachzeichen kein einfacher Übergang, sondern spezifische linguistische Fähigkeit kommt hinzu Sozial-kommunikative Voraussetzungen des Spracherwerbs: Sprachangebot und sprachliche Interaktionen Fähigkeiten des Säuglings können nur in Interaktion wirksam werden Dazu positive sozial-emotionale Beziehung zur Mutter nötig Ammensprache („baby-talk“) sensitive Anpassungsleistungen im Sprachbereich, intuitives Elternprogramm (an kindliche Präferenzen, Bedürfnisse und Fähigkeiten angepasst) hohe Tonlage Hörfähigkeiten im Säuglingsalter übertriebene Satzmelodie prosodische Präferenzen des Säuglings 85 deutl. Pausen zwischen Phrasen, Akzentverschiebung Aufmerksamkeitslenkung Verwendung von Diminutiven, Wiederholung einzelner Satzelemente Deutliches Sprechen keine hoch komplizierten Satzkonstruktionen diese besonderen Sprachregister weitgehend kulturunabhängig vom Säugling besonders präferiert und für erste kategoriale Organisation der Sprache genutzt Dialog schon von Geburt an Dialog zwischen Mutter und Kind allmähliches Hineinwachsen in die Rolle des Dialogpartners wechselseitiges Agieren und Reagieren zuerst von Mutter gesteuert: ermöglicht Situationen, in denen Säugling Kontingenzen zwischen seinem Verhalten und mütterlichen Reaktionen feststellen kann) führt so zu eigener Verhaltensorganisation wichtig für Spracherwerb: Aufbau einer gemeinsamen Erfahrungswelt größerer produktiver Wortschatz mit 12 Monaten, wenn mit 4 Monaten Aufmerksamkeit häufig auf Umwelt gerichtet Lernen = kumulativer Vorgang, von Mutter unterstützt Wichtige Rolle für Strukturierung des Bedeutungsraumes: Wiederholungen, Routinen Stützende Sprache („scaffolding“) Konventionalisierte soziale Routinen (Formate) enthalten drei wichtige Elemente für Spracherwerb: 1. „scaffolding“: Mutter begrenzt Information so, dass Kind damit umgehen kann; überschaubarer Ausschnitt aus der Realität, einfache Dialogstruktur (Vokativ – Frage – Benennung – Bestätigung); Art Gerüst, das Worterwerb stützt; wenn Kind mit Lallen beginnt 2. Mutter insistiert auf eine Antwort; wenn keine Lall-Laute mehr 3. Mutter weitet Situation der Spracheinführung schrittweise aus; aktive Teilnahme des Kindes am Dialog Lehrende Sprache („motherese“) Im weiteren Entwicklungsverlauf hat sich dieser Sprechstil als förderlich erwiesen Merkmale: Anpassung der durchschnittlichen Länge von Äußerungen und der Anzahl der Nominalphrasen pro Äußerung Anzahl der Ja/Nein- Fragen und W-Fragen Wiederholungen, Transformationen, Erweiterungen der kindlichen Äußerungen Wiederholung mit oder ohne Modifikation der eigenen Äußerungen warum und wie diese Merkmale grammatische Entwicklung beeinflussen, ist nur exemplarisch belegt keine simple Übertragung vom mütterlichen in den kindlichen Geist Sprachangebot („Input“) muss verarbeitet und somit zum „Intake“ werden Nicht über Imitationsvorgang, sondern aktive Auseinandersetzung Lernen am Modell unterstützt Mutter durch Sprachlehrstrategien (bestätigende und korrektive Rückmeldung) Z.B. Expansion: 86 Mutter bestätigt kindliche Äußerung Gibt gleichzeitig korrigiertes Modell vor Wesentliche lerntheoretische Voraussetzung erfüllt: keine zu große Distanz zwischen Bekanntem und Unbekanntem Ganzheitlicher Verarbeitungsmodus spielt wichtige Rolle Einerseits Imitation und Verwendung von Äußerungen als fertige Routinen Nutzung des Satzrahmens und größerer Einheiten aus der mütterlichen Sprache als Induktionsbasis zur Ableitung von Regularitäten sprachentwicklungsgestörte Kinder machen davon kaum Gebrauch, Defizite können zumindest teilweise auf Fehlen einer ganzheitlichen Sprachverarbeitungsstrategie zurückgeführt werden Zusammenfassung bis 12 Monate Ammensprache Überzogene Intonationsstruktur, („baby talk“) hoher Tonfall, lange Pausen an Phrasengrenzen, einfache Sätze, kindgemäßer Wortschatz 2. Lebensjahr Stützende Gemeinsamer Sprache Aufmerksamkeitsfokus, („scaffolding“) Routinen, Formate, Worteinführungen 24 – 27 Monate Lehrende Modellsprache, modellierende Sprache Sprachlehrstrategien, („motherese“) Sprachanregung durch Fragen Spracherkennung zentral: Prosodie, Phonologie Spracheinführung im Dialog Zentral: Wortschatz Sprachanregend und –lehrend, zentral: Grammatik Wirkung elterlichen Verhaltens Im Dialog zwar sozial-kommunikative Funktion im Vordergrund, aber auch Prozesse der Sprachlehrens und -lernens wichtig mütterliche Sprachlehrstrategien verantwortlich für 20 – 40 % der Gesamtäußerungszahl von 2-3-jährigen Kindern kindliche Lernstrategien wie z.B. Imitation: 14 % kurzfristige Optimierung der Bilderbuchsituation führte zu nachhaltigen Fortschritten der Sprachentwicklung allerdings nicht genau geklärt, wie viel Sprachangebot mindestens nötig, damit Spracherwerb stattfinden kann es kommt auf Sprachangebot an, nicht auf Input Beispiel: Hörendes Kind Jim wuchs bei gehörlosen Eltern auf Hörte im Fernsehen Englisch, spielte nur selten mit anderen Kindern Wortschatzzunahme, aber oft falsche Verwendung Keine Ausbildung korrekter syntaktischer Strukturen Interventionsprogramm: in sprachlicher Interaktion ist es ihm gelungen, den sprachlichen Code zu knacken und formale Sprachstrukturen zu erwerben Zusammenfassung von Julia Dürrschmidt (Uni Bamberg) 87 Entwicklung begrifflichen Wissens Beate Sodian Begriffliche Repräsentationen Begriff als Gedächtniseintrag, der mit mehreren Merkmalen verknüpft ist (z.B. Hund – bellen, Schwanz, Futter, Leine) Verschiedene Theorien bzgl. der Repräsentation von Begriffen im Gedächtnis: Merkmalsbasierte Ansätze Die Einträge der Begriffe im Gedächtnis ähneln Lexikoneinträgen Anhand der zum Objekt gehörigen Merkmale wird entschieden unter welchen Begriff ein bestimmter Gegenstand/ Objekt eingordnet wird Zwischen dem Begriff und den jeweiligen Merkmalen können deterministische probabilitische Relationen bestehen: und Deterministische Relation: Ein Objekt muss bestimmte Merkmale aufweisen bzw. Definitionskriterien erfüllen, um einem Begriff zugeordnet zu werden Beispiel: Ein Mann ist ein Onkel, wenn er der Bruder des Vaters oder der Mutter ist (notwendige Kriterien, die erfüllt werden müssen für die Zuordnung zum Begriff Onkel) Probabilistische Relation: Ein Objekt muss nicht zwingend bestimmte Merkmale erfüllen, um einem Begriff zugeordnet zu werden Beispiel: Die meisten Vögel können fliegen (Flugfähigkeit als wahrscheinliches, nicht aber notwendiges Merkmal um die Zuordnung zu treffen) Theoriebasierte Ansätze Begriffe sind nicht nur durch Merkmalsassoziationen gekennzeichnet, sondern sie sind in Wissensdomänen eingebettet Psychologische, physikalische, biologische Wissensdomänen: Annahmen darüber, weshalb die Welt so ist, wie sie ist Beispiel: Verschiedene Erklärungen, wie sich ein Hund bewegt oder wie sich ein Auto bewegt (biologische und technische Wissensdomäne) Repräsentationale Entwicklung Kategorisierung im Säuglingsalter Bereits Säuglinge können kategorisieren: Z.B. Laute, Gesichter, Ausdruck von Emotionen Im ersten Lebensjahr bilden Säuglinge sowohl Kategorien auf der basalen Ebene (z.B. Pferde, Katzen) und auf übergeordneter Ebene (Säugetiere, Möbel) 88 Habituationsexperimente, z.B. Zeigen von Kärtchen mit Möbelstücken Fixationszeiten), dann Zeigen einer Karte mit Tier (Anstieg der Fixationszeit) (kürzer werdenden Entwicklung begrifflicher Repräsentationen Traditionelle Annahmen über fundamentale Veränderungen begrifflichen Wissens: Man ging davon aus, dass sich begriffliches Wissen von Kindern vom rein perzeptuellen zu konzeptuellen Repräsentationen, von thematischen zu taxonomischen Repräsentationen und von konkreten zu abstrakten Konzepten verändert (domänübergreifende Änderungen) Neue Erkenntnisse betonen, dass kindliche Begriffe jedoch im hohen Maße domän- und kontextspezifisch – Deshalb stehen domänspezifische Veränderungen im Begriffssystem im Mittelpunkt (domänspezifische Veränderungen) Wissensentwicklung in den grundlegenden Domänen Theoretische Ansätze Vgl. oben: Bereichsspezifische Theorien der kognitiven Erntwicklung Intuitive Physik: Basales Wissen Nach CAREY beginnen Kinder mit nur zwei bereichsspezifischen Theorien: Einer intuitiven Physik und einer intuitiven Psychologie, aus denen durch begriffliche Differenzierungsprozesse die übrigen Theorien hervorgehen Wichtiges physikalisches Wissen um sich in der Welt zurecht zufinden: Z.B. Objekte sind unabhängig von unseren Handlungen, Solidität, Dreidimensionalität, Schwerkraft Haben Kinder dieses Wissen von Anfang an, oder erwerben sie es erst im Laufe der Entwicklung? Es gibt Hinweise dafür, dass Kinder bereits im ersten halben Jahr intuitives physikalisches Wissen besitzen (vgl. SPELKE, 1992: Physikalisch unmögliche Ereignisse – ausführlich: O/M, 5. Auflage, S. 450) Kausales Denken: Bei Vorschulkindern ist deterministisches Denken feststellbar – sie wissen bereits, dass jedes Ereignis eine Ursache hat (vgl. BULLOCK, 1992, S. 451) Bereits 6 Monate alte Säuglinge verstehen Aspekte mechanischer Verursachung (LESLIE, 1987, S. 451) Objekteigenschaften: Wichtig bei der Unterscheidung von Objekten sind für Säuglinge raum-zeitliche Hinweise und Bewegungshinweise Weniger beachtet werden von Säuglingen die Objekteigenschaften (vgl. XU & CAREY, 1996, S. 452) Schwerkraft und Trägheit: Säuglinge beherrschen die Prinzipien der Solidität und Kontinuität Das Prinzip der Schwerkraft und Trägheit verstehen Säuglinge noch nicht Erklärungsansätze: Annahme angeborener domänspezifischer Kernprinzipien (SPELKE) und Bereicherung des intuitiven Wissens durch Lernen und Erfahrung (Expertiseerwerb) 89 Alternativerklärung: Angeborene domänspezifische Lernmechanismen (BAILLARGEON) Ähnliche physikalische Intuitionen bei Kindern und Erwachsenen: Schon Säuglinge teilen einige unserer grundlegenden physikalischen Erwartungen über Eigenschaften physikalischer Objekte Das physikalische Wissen von Säuglingen ist also sehr viel reichhaltiger als Piaget es angenommen hat Entwicklung physikalischen Wissens: Begrifflicher Wandel Kindliche Fehlvorstellungen bzgl. physikalischer Phänomene halten sich sehr hartnäckig Mögliche Erklärung: Kindliche Vorstellungen sind in da sie in intuitive Theorien eingebettet und können somit nicht ohne weiteres geändert werden Beispiel 1: Wandel vom geozentrischen zum heliozentrischen Weltbild VOSNIADOU, 1991, S. 454: Kinder integrieren die Information, die Erde sei rund, zunächst in ihr naives geozentrisches Weltbild und versuchen, sie innerhalb dieses Rahmens sinnvoll zu integrieren (z.B. Erde als Hohlkugel, in deren Innenraum wir leben) Bedeutungswandel zentraler Begriffe: Kinder haben ganze Systeme von Überzeugungen und Theorien – Daher die Resistenz gegen punktuelle Änderungen: Neue Informationen werden in einem Interpretationsrahmen (je nach Theorie) gesehen – Veränderungen sind langwierige Prozesse, denn Änderung der Bedeutung zentraler Begriff wäre nötig Beispiel 2: Gewicht, Dichte, Aufbau der Materie CAREY, 1991, S. 454: Kinder sehen Masse nicht als konstitutives Merkmal von Materie (Styroporblock-Zerlegungsaufgabe – Jüngere Kinder glauben, dass die ganz kleinen Stücke nichts wiegen) - Zu dem Probleme mit dem Dichtebegriff und unzureichende Differenzierung von gewicht und Dichte Umstrukturierung des Begriffssystems Der Erwerb des Begriffsverständnisses von Dichte und Gewicht ist keine bloße Anreicherung von angeborenen oder früh erworbenen Wissensbeständen – denn kindliche Konzepte von Dichte- und Gewicht können nicht einfach in das Begriffssystem Erwachsener übertragen werden (intuitive Theorien müssen sich wandeln!) Erklärungsansätze für Veränderungen im physikalischen Wissen: Kinder haben schon sehr viel früher als angenommen die Grundlagen unseres physikalischen Weltbildes Im Laufe der Entwicklung finden jedoch unumstritten noch wesentliche Veränderungen des physikalischen Verständnisses statt Ob diese als Bereicherung eines Wissenskerns Begriffssystemen zu verstehen sind, ist noch unklar oder als Umstrukturierung von Intuitive Alltagspsychologie (theory of mind) Menschliches Verhalten wird durch das Zuschreiben von Wünschen und Absichten erklärt: Mentalistische Interpretationen, intuitive Alltagspsychologie = theory of mind 90 Verfügen Kinder von Anfang an über den gleichen mentalistischen Interpretationsrahmen oder erwerben sie ihn erst im Verlauf der Entwicklung? Differenzierung zwischen mentaler und physikalischer Welt: Wichtige Voraussetzung für die theory of mind – Kinder müssen überhaupt erstmal eine mentale Welt kennen Laut PIAGET kommt es erst mit 7 Jahren zu einer Differenzierung – aber bereits mit 3 Jahren Unterscheidung zwischen physikalischer und mentaler Welt: Kinder wissen z.B. dass man einen vorgestellten Hund nicht füttern kann Wünsche, Absichten, Ziele: Bereits 3-jährige Kinder führen Handlungen auf Wünsche, Ziele und Absichten der Personen zurück Geschichten nach WELLMAN & WOODY, 1990, S. 457: Kind will Kaninchen mit in den Kindergarten nehmen, Kaninchen könnte im Garten oder in der Garage sein, Kind sucht z.B. in der Garage und findet nichts – Frage an das Kind: ‚Was tut das Kind in der Geschichte als nächstes?’ Das Verständnis falschen Glaubens Neben Wünschen, Absichten und Zielen sind Überzeugungen von Personen für deren Handeln wichtig 4-5-jährige verstehen, dass sich jemand in einem falschen Glauben über einen Sachverhalt befinden kann Maxi-Geschichte nach WIMMER & PERNER, 1983, S. 459: Maxi legt Schokolade in den grünen Küchenschrank, geht zum Spielplatz. Währenddessen räumt die Mutter die Schokolade in den blauen Küchenschrank. Maxi kommt vom Spielplatz zurück und sucht nach der Schokolade. – Frage an die Kinder: Wo sucht Maxi? 4-5- jährige antworten korrekt, 3-jährige dagegen verstehen dies nicht 3-jährige Kinder haben zudem Schwierigkeiten eigene falsche Überzeugungen zu verstehen (vgl. Smarties Aufgabe) 3-jährige verfügen offensichtlich noch nicht über einen Überzeugungsbegriff, verstehen nicht, dass sich Überzeugungen von der Realität unterscheiden können Lüge und Täuschung Kinder im Alter von 3 Jahren haben Schwierigkeiten zu mogeln oder andere zu täuschen: In Spielsituationen, in denen sie mogeln sollen, verraten sie, was sie vorhaben – sie verstehen den Zweck der Täuschung nicht Theory of Mind - Entwicklung und Theory of Mind - Defizit Für das Konzept der Überzeugung ist die Differenzierung zwischen Überzeugung und Realität wichtig – Dies lernen Kinder erst zwischen 3 und 4 Jahren Etwa zur gleichen Zeit lernen sie die Differenzierung zwischen Aussehen und Realität: FLAVELL, 1986: Man zeigt den Kindern eine Kerze, die wie ein Apfel aussieht und fragt sie ‚Wie sieht es aus?’ und ‚Was ist es wirklich?’ – Von 3-järigen Kindern bekommt man die gleiche Antwort, 4-jährige dagegen unterscheiden Autistische Kinder: Spezifische Defizite in der Theory of Mind Entwicklung – Vermischung von mentalen und physischen Phänomenen, Schwierigkeit Sein und Schein zu unterschieden, weniger Symbolspiel 91 Vorläufer in der frühen Kindheit Erst ab 4 –5 Jahren spricht man von Theory of Mind Vorläufer für mentalistische Interpretationen gibt es allerdings schon im ersten Lebensjahr Unterscheidung zwischen Personen und unbelebten Objekten, Triadische Interaktion (Interaktion Baby – Erwachsener mit Objekt), Babys folgen der Zeigegeste von Erwachsenen, Unterscheidungen zwischen eigenen und fremden Wünschen Entwicklung ab dem Alter von 4 Jahren Wesentliche Erweiterungen und Differenzierungen des Verständnisses der mentalen Domäne bis zum 6. Lebensjahr: Verständnis, dass eine Überzeugung über eine Überzeugung einer anderen Person falsch sein kann (Max glaubt, dass Peter glaubt, dass ...) Verständnis, dass schlussfolgerndes Überlegen zu Wissen führt Einsicht in den eigenen Lernprozess Erklärungsansätze für die Veränderungen in der Theory of Mind : Modulationstheorien: Mit zunehmenden Alter kommen Kinder besser mit Gedächtnis- und Aufmerksamkeitsanforderungen zurecht Simulationstheorie: Philosophischer Grundgedanke ist, dass Menschen unmittelbaren Zugang zu unserem geistigen Geschehen haben – Kinder wissen also, was in ihnen vorgeht, müssen deshalb simulieren/ sich vorstellen, was in den Köpfen anderer Menschen vorgeht Intuitive Theorie: Wissen der Kinder über den mentalen Bereich als intuitive Theorie, mit zunehmenden Alter erhalten mentale Begriffe ihre Bedeutung durch den Bezug zu anderen Begriffen Intuitive Biologie Vor dem Grundschulalter besitzen Kinder noch keine spezifische biologische Wissensdomäne (z.B. glauben sie, dass Pflanzen keine Lebewesen sind) und sie besitzen noch keine biologischen Kausalschemata (vgl. animistische Deutungen) Ausbildung einer biologischen Wissensdomäne erst ab der Grundschulalter Biologische Intuitionen können bei Grundschulkindern jedoch schon festgestellt werden: Sie vermuten, dass biologische Eigenschaften vererbt werden, psychologische dagegen nicht und sie erwarten, dass Mitglieder der gleichen Tierfamilie gemeinsame anatomische Eigenschaften besitzen Erklärungsansätze für die Veränderungen im biologischen Wissen: Wandel intuitiver Theorien: Biologisches Begriffsystem der Kinder wird radikal umstrukturiert Expertiseansatz: Zunehmendes Wissen über Biologie durch Schuleintritt Modularitätstheorien: Spezifisches biologisches Modul Metabegriffliches Wissen Metabegriffliches Wissen ist Wissen und Überzeugungen über den Wissenserwerb selbst, über menschliches Denken und Lernen 92 Unzureichendes metabegriffliches Wissen kann ein Hindernis für den Erwerb bereichsspezifischen Wissens darstellen (Kinder haben eigene Theorie und naive Fehlvorstellungen, die dem naturwissenschaftlichen Unterricht widersprechen (epistemologische Naivität) Entwicklung zum kritischen Rationalismus: Auf einer ersten Ebene werden Interpretationskonflikte zunächst verneint oder als Missverständnisse abgetan, daraufhin werden Interpretationskonflikte zur Kenntnis genommen aber als x-beliebige Meinungen abgetan, ein reifer Umgang mit konfligierendem Standpunkten besteht schließlich im kritischen Rationalismus, d.h. Prüfen der Standpunkte vor dem Hintergrund der rationalen Ableitung und Begründung von Argumenten. Zusammenfassung von Ines Kollei (Uni Bamberg) 93 Moralische Entwicklung und moralische Sozialisation Leo Montada Moralphilosophische Konzepte Normen existieren in jeder Gemeinschaft als Verbote, Pflichten, Verantwortlichkeiten, Rechte usw. Normen sind verschiedenartig: sie existieren als Traditionen, staatliche Gesetze, aber auch andere Regeln, z.B. Moden. Über die Legitimität spezifischer Normen divergieren die Überzeugungen, daraus können Konflikte entstehen. Die Legitimität von Normen ergibt sich aus ihrer ethischen Begründung oder aus der Legitimation des Normstifters (z.B. Religionsgründer). Diesbezüglich gibt es verschiedene wichtige Kriterien: Universalisierbarkeit Anerkanntestes Kriterium der philosophischen Ethik, z.B. formuliert in Kants kategorischem Imperativ: „Handle so ,dass die Maxime deines Willens jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könnte.“ Utilitarismus (J. Bentham, J.S. Mill, 19. Jhdt.) Maximierung das Gemeinwohls als Kriterium. Weiterentwicklungen achten darauf, dass dies nicht auf Kosten von Minderheiten geschieht. Diskurstheorien (z.B. Habermas, 1983) Keine inhaltlichen Kriterien für Normen, sondern Kriterien für die Verfahrensweise bei ihrer Findung. Ziel = idealer Diskurs (z.B. Verständigungsbereitschaft, Informiertheit, Verzicht auf Herrschaftsansprüche aller Teilnehmer). Kulturunterschiede: es sind nicht nur universalisierbare/universelle Normen vorhanden. So unterscheiden sich z.B. individualistische und kollektivistische Gesellschaften in dem Maß an Freiheit, dass sie ihren Bürgern gewähren, bzw. im Maß an Normiertheit. Auch fordern neue Probleme in modernen Gesellschaften ständig neue Lösungen. In demokratischen Staaten sind deshalb die moralphilosophischen Kenntnisse und Überzeugungen von großer Bedeutung. Psychologische Moralforschung Abgrenzung von moralischem Handeln und prosozialem Handeln aus Sympathie: letzteres ist nicht moralisch motiviert. Indikatoren von Moral: Nötige Abfolge für Handlungsregulation durch Normen: 1. Wissen über Normen erwerben 94 2. Geltungsanspruch anerkennen 3. Normen befolgen (Erfassbare) persönliche Indikatoren von Moral sind Wissen über Normen, moralische Urteile, moralisches Verhalten und moralbezogene Gefühle (z.B. Scham, Schuld, Stolz). Kein einzelner Indikator liefert jedoch ausreichende Ergebnisse. Also: immer mehrere verschiedene erfassen! In den verschiedenen Theorien werden unterschiedliche EntwicklungsSozialisationsziele formuliert. Daraus werden verschiedene Einflussnahmen abgeleitet. und Entwicklungslinien, also Veränderungen sind erkennbar bei moralischen Urteilen ihrer Begründung der Unterscheidung zwischen konventionellen (z.B. Mode) und moralischen Normen und in derHerausbildung eines persönlichen Entscheidungsfreiraumes der moralischen Motivation der Differenziertheit der Urteile der Konsistenz von Urteil und Verhalten Die Internalisierung moralischer Normen Internalisierung bedeutet: vorgegebene Normen werden als die eigenen akzeptiert. Die Vermittlung der Normen kann argumentativ, durch positive und negative Beispiele (Beobachtung) oder durch Belohnung und Bestrafung (operantes Konditionieren) erfolgen. Normvermittlung und Konditionierung Internalisierung wird operationalisiert als Tun oder Lassen ohne Bestrafung/Verstärkung ( Extinktionsresistenz) Intrinsische Belohnung: extinktionsresistentes Verhalten wird durch Aufbau einer positiven inneren Wertigkeit erzeugt. Dies ist z.B. durch klassisches Konditionieren von Emotionen möglich (Koppelung Verhalten – Freude). Entzug von intrisischer Belohnung bei normabweichendem Verhalten nie möglich, von extrinsischer Belohnung oft auch schwierig (z.B. Aufmerksamkeit). Bestrafung soll als Ausgleich zu ex- und intrinsischer Belohnung fungieren, quasi eine negative Bilanz der Verhaltensfolgen herstellen. Probleme von Strafen: bei seltener Bestrafung: unverhältnismäßige Höhe der strafe nötig, um Bilanz auszugleichen Strafe schafft keine Verhaltensalternativen Strafen garantieren keine Einsicht Strafen belasten das Verhältnis von Bestraftem und Strafendem Normvermittlung durch Identifikation und Beobachtung Wahl von Vorbildern: „Identifikation mit dem Aggressor“ (Freud): Übernahme von Forderungen einer bedrohlichen Autorität (um Bestrafung zu entgehen) 95 „Identifikation nach Trennung“ (Freud): um eine abwesende Person präsent zu halten, werden Merkmale von ihr übernommen Identifikation mit einer mächtigen Person (Macht durch Status, Beliebtheit, Sanktionsgewalt, sachliche Kompetenz, Gewährung von Sicherheit oder Liebe ...) Zugehörigkeit zu einer Gruppe Grundsätzlich kann alle die Moral betreffende Information aus Beobachtung gelernt werden. Normvermittlung durch familiäre Sozialisation Die Familie ist die erste Instanz moralischer Sozialisation. Typologie von Erziehungsstilen (Hoffmann und Saltzstein 1967) und Folgen für die Internalisierung: Macht ausübender Stil: Verhindert Internalisierung eher, fördert nur äußere Anpassung. Verhindert Identifikation durch ein Fehlen von Liebe und Wärme. Durch externe Attribution normkonformen Verhaltens wird dieses nicht zu einem Teil des Selbstbildes. Induktiver Stil: Normen werden argumentativ erläutert, Konflikte angesprochen, der Sinn von Normen erklärt. Raum für eigene Entscheidungen ist vorhanden; diese werden kommentiert (und als Werk der Jugendlichen gelobt) und somit zu einem Teil seiner Identität. Führt zu eine „humanistisch flexiblen Moral“ (es darf nachgedacht werden). Persönliche Verantwortung wird gefördert (nur Handlungen mit Wahlfreiheit können moralisch/unmoralisch sein). Liebesentzug als Sanktion: Wirksamkeit nicht eindeutig ermittelt, hängt vom Bedürfnis der Kinder nach liebevoller Zuwendung ab. Nicht unproblematisch: führt eher zu einer ängstlich-rigiden Moral (Klammern an den Wortlaut von Regeln). Normvermittlung durch Peergruppen Wichtiger Einflussfaktor für die Moral, der mit dem Verhältnis zu den Eltern variiert. Großer Einfluss nachgewiesen für Sexualnormen, Alkohol und Drogen, Delinquenz. Wie entsteht das moralische Selbst? Ziel der Moralerziehung = Einsicht, das Gebote und Verbote richtig sind, nicht nur ihre Ausführung. Förderung „freiwilligen“ moralischen Verhaltens, dezente Anregung, Würdigung als selbstgewählt Zurückführen auf eigene Überzeugungen Bem: Selbstwahrnehmungstheorie Internalisierung oder Selbstkonstruktion von Normen? Es gibt zwei Fälle von Normabweichungen: nicht geteilte Norm – fehlgeschlagene Sozialisation in Frage gestellte Norm – in pluralistischen Gesellschaften ist die Reflexion über die Geltung vonGeboten und Verboten unvermeidbar. Eigene Überzeugungen müssen durch die Auseinandersetzung mit (konfligierenden) Normen aufgebaut werden. 96 Entwicklung des Denkens über Moral Piagets Theorie: von der Heteronomie zur Autonomie Bis 4 Jahre: kein Normverständnis. Heteronomie: Beginn des Stadiums mit 4-5 Jahren. Regeln/Normen beziehen ihre Gültigkeit von den Autoritäten, die sie vorgeben; sie werden nicht in Frage gestellt, sind unantastbar. Konflikt: Einhaltung – Nichteinhaltung. Verfehlung = Verletzung von Geboten/Verboten. Autonomie (keine genaue Altersangabe im Buch): Maßstäbe der Gerechtigkeit. Regeln als Übereinkunft. Konflikt: Sinn und Begründung. Verfehlung = Verletzung der Vertrauens. Erforscht anhand von Spielregeln (Murmelspiel) Gleiche Muster auch bei Urteilen über gerechte Pflichtenverteilung: wenn die Mutter die Arbeit im Haushalt verteilt, wird sie von fast allen sechsjährigen auch bei sehr ungleicher Verteilung auf die Kinder als gerecht beurteilt, von zwölfjährigen nicht. Wenn jedoch Kinder die Pflichten verteilen (z.B. Ballholen beim Fußballspielen) fordern auch sechsjährige Gleichberechtigung ( keine Autorität). Was ist eine gerechte Strafe? Heteronomie: Sühnestrafen, oft drakonisch Autonomie: Strafen, die Wiedergutmachung oder natürliche Konsequenzen der Verfehlung beinhalten Altersangaben mit Vorsicht aufzufassen. Neuere Forschung zu Piagets Themen Denken über Recht und Gesetze: 11-13j. definieren Gesetze durch spezifische Beispiele; ihre Funktion ist es, Untaten einzelner zu verhindern. 15-18j. definieren Gesetze über abstrakte Funktionen wie Freiheit und Sicherheit, betonen die hilfreichen Funktionen von Gesetzen. Nur 1/3 sieht sie als modifizierbar an. Altersverschiebung im Vergleich zu Piagets Ergebnissen. Moralische und konventionelle Normen: Kinder differenzieren schon früh (4-5j.) zwischen unmoralischem Verhalten (immer schlecht) und Verstößen gegen Konventionen (nur schlecht wegen den Konventionen). Unterschiedliche Rechtfertigung: Eltern betonen bei moralischen Normen mehr den Schaden, der entstehen kann, und beikonventionellen Normen mehr ihre Bedeutung für die soziale Organisation, so dass dieser Unterschied übernommen sein kann. Normativ regulierte vs. persönliche Bereiche 4-5j. unterscheiden klar zwischen öffentlicher Sphäre und Privatsphäre (in der die Eltern auch mehr Freiheiten geben). Konflikte zwischen Jugendlichen und Eltern ergeben sich vor allem in Bereichen, die die Jugendlichen als ihre Privatsphäre, die Eltern eher als konventionsreguliert ansehen. Privatsphäre und die Entwicklung von Rechten und Freiheiten 97 Zusammenhang v.a. in westlichen Kulturen gezeigt Freiheit wird schon früh als moralisch fundiertes Recht erkannt, Einschränkungen werden ebenfalls gefordert, wenn Konflikte mit anderen moralischen Prinzipien bestehen Verantwortlichkeit und Schuld: Wichtigstes Kriterium für mögliche Verantwortlichkeit ist Handlungsfreiheit (siehe Strafrecht) Ausreden aus der Verantwortlichkeit (absteigende Reihenfolge): Freiheit bestreiten Vorhersehbarkeit der Folgen bestreiten Absicht bestreiten auf Verantwortung anderer hinweisen Unterscheidung zwischen Verantwortung und moralischer Schuld vor allem aufgrund der Rechtfertigung, z.B.: Verweis auf Verantwortlichkeit Dritter auf die Priorität übergeordneter Ziele auf die Legitimität eigener Bedürfnisse (z.B. Wahrung des Gesichts in einer Diskussion) Hinweis auf den Vergeltungscharakter der Tat Das Gefühl von Verantwortlichkeit führt zu größerer Hilfsbereitschaft. Auch das Ausmaß des Ärgers hängt stark von der wahrgenommenen Verantwortlichkeit der Anderen ab. Handlungsausgang und Absicht (Beispiel: heruntergeworfene Teller bei Piaget) Bei Urteilen: Verschiebung der Gewichtung mit zunehmendem Alter hin zur größeren Beachtung der Absicht. Aber auch viele Vorschulkinder berücksichtigen bereits beide Informationen. Verschiebung durch Sozialisation: stärkere Gewichtung der Intention durch Beobachtung von wenigen entsprechenden Modellen bewirkbar. Schon Kindergartenkinder urteilen aufgrund der Intention, wenn kein Ausgang berichtet wird. Verteilungsgerechtigkeit und Fairness: Entwicklungssequenz zwischen 4. und 11. Lebensjahr bei der Vorstellung von gerechter Verteilung (Damon, 1980 und 1988): 1. Egozentrische Verteilung 2. Gleichbehandlung 3. Nach Leistung & Beachtung von Reziprozität 4. Konflikte zwischen Aufteilungsmöglichkeiten werden bewusst, Kompromisse eingegangen Steigende Anforderungen an die Kognition, da immer mehr Aspekte beachtet werden. Abhängigkeit vom Arrangement: Schon im Vorschulalter integrieren Kinder 2 dargebotene (!) Alternativen Von der egozentrischen zur universalistischen Begründung normativer Urteile Lawrence Kohlberg: Studium der Begründungen normativer Urteile anhand moralischer Dilemmata studiert (Konflikte zwischen Normen, nicht zwischen Konflikt und Neigung). 98 Untersuchung der Prinzipien, die Entscheidungen zugrunde gelegt werden: 3 Niveaus mit jeweils 2 Stufen von qualitativen Unterschieden; keine Skala I. Vormoralisches Niveau 1. Begründung durch drohende Strafen bzw. Autoritäten 2. Begründung mit eigenem Interesse II. Niveau der konventionellen Moral. Begründung mit dem Erhalt wichtiger Sozialbeziehungen 1. Nur innerhalb der Familie und anderer Primärgruppen (Konflikte zwischen Bezugsgruppen nicht prinzipiell lösbar) 2. Ausdehnung auf übergreifende Systeme wie Staat oder Religionsgemeinschaft III. Niveau der postkonventionellen Moral. Erkenntnis, dass das System nicht unwandelbar ist. Bemühen, Prinzipien und Werte unabhängig von Autoritäten und der Identifikation mit Gruppen zu finden. 1. System als Gesellschaftsvertrag. Utilitaristische Überlegungen häufig. Neue Dimension von Gerechtigkeit: Gerechtigkeit des Verfahrens zur Entscheidungsfindung. Menschenrechte aber unveräußerlich. 2. Suche nach allgemeingültigen ethischen Prinzipien und allgemeinen Verfahren zur Prüfung normativer Entscheidungen (vgl. Diskursethik). Weitere Entwicklung im Erwachsenenalter: häufiger Relativierung auf Kontexte und spezifische Situationen. Entwicklungsförderung des moralischen Denkens am besten durch ein Angebot von Problemen und unterschiedlichen Meinungen. Ziel ist der Aufbau von Kompetenzen zur Lösung moralischer Probleme, nicht die Anpassung an bestehende Normen. Optimale Entwicklungsvoraussetzungen: mehrwöchiges Training, viele verschiedene Problembearbeitungen, aktive Beteiligung, Meinungsstreit. Nachholeffekte beobachtbar. Ethik- bzw. Sozialkundeunterricht: kein Effekt. Stufen der moralischen Argumentation und moralisches Verhalten Auf Niveau III. werden eher Ungerechtigkeiten in der Gesellschaftsordnung entdeckt, da alle Beteiligten berücksichtigt werden. Stufe III. ist empirisch in politisch aktiven, kritischen Gruppen überrepräsentiert. In radikalen politischen Gruppen findet man jedoch vermehrt Stufe I. (z.B. werden Opfer von Anschlägen gar nicht beachtet). Gesellschaftskritiker sind auf Stufe 4. Unterrepräsentiert. Personen auf Stufe III. sind bei Gruppendruck vermehrt nonkonform und lehnen moralisch verwerfliche Forderungen einer Autorität eher ab (Milgram 1974!). Männliche und weibliche Moral? Carol Gilligan 1984: Männliche Moral an Gerechtigkeit orientiert, weibliche an Fürsorge. Nicht Verteilung nach dem Bedürftigkeitsprinzip gemeint, sondern moralische vs. altruistische Motivation, also Verantwortlichkeit vs. Mitleid/Liebe/Sensibilität für Not der Betroffenen Keine empirische Bestätigung von Geschlechtsunterschieden 99 Moralisches Denken und moralisches Handeln Das moralische Handeln ist nicht durch das Urteilsniveau determiniert. durch das Argumentationsniveau ist die inhaltliche Zielsetzung nicht festgelegt in den vorgelegten hypothetischen Konflikten gab es keine persönliche Betroffenheit Moralisches Wissen vs. moralische Motivation Etwas für richtig zu halten, bedeutet nicht, sich aktiv dafür zu engagieren. Trennung zwischen moralischer Norm und der persönlichen Verantwortung, sie einzuhalten. Performanzfaktoren und moralisches Handeln Moralisches Handeln ist durch die Akzeptanz von Normen nicht gesichert. Es muss sich gegen andere Bedürfnisse, Affekte, Vorurteile, soziale Nötigungen, Angst usw. durchsetzen. Performanzfaktoren sind Selbstsicherheit, Handlungskompetenz (bei sachlichen Problemen), Wissen um Möglichkeiten und Kompetenzen zur Selbststeuerung. Diese werden von Kohlberg unter dem Begriff Ich-Stärke zusammengefasst. Sie enthält Fähigkeiten zu: Aufschub von Bedürfnisbefriedigung, Antizipation längerfristiger Konsequenzen, Durchhaltevermögen bei langwierigen Aufgaben usw. Möglichkeiten zum Aufbau von Selbstkontrolle liegen zum Beispiel in der Verhaltensmodifikation (Mischel), z.B. sprachliche Wiederholung der zu erfüllenden Regel. in der objektiven Selbstaufmerksamkeit (Wicklund), die zur Aktualisierung relevanter Selbstkonzeptkomponenten führt. Konsistenz als Indikator für die integrierende Funktion des Selbst Es wird keine Einheit von moralischem Urteil, moralischer Motivation und moralischem Handeln angenommen (Keller und Edelstein). Das Selbst als Handelnder Akteur. Motivation als wahrgenommene Verantwortlichkeit. Konstitutiv für das Selbst: Konsistenz in Selbstwahrnehmung und wahrgenommener Fremdwahrnehmung. Indikatoren für wahrgenommene Inkonsistenz: Scham, Schuldgefühle, Rechtfertigungen, Entschuldigungen, Wiedergutmachungen. Konsistenzherstellung (durch Erklärung, Rechtfertigung, Kompensationen) dient wiederum der positiven Wahrnehmung durch andere und sich selbst. Aufbau des moralischen Selbst: bewusst werden, dass das eigene Handeln Auswirkungen auf andere hat Perspektivenübernahme und Empathie führen zum Nachfühlen dieser Folgen und damit zur ersten intrinsisch motivierten Normeinhaltung bewusst werden von Bewertungen anderer, die Implikationen für die Selbstbewertung haben Das Versprechen Beispieldilemma (Keller & Edelstein 1993) für 7, 9, 12 und 15j. Kürzlich zugezogenes Mädchen lädt die Vp ins Popkonzert/Kino ein, die gleichzeitig versprochen hat, sich mit einer Freundin zu treffen, die persönliche Probleme mit ihr besprechen will. 100 Entwicklungssequenzen mit je 4 Stufen für das Verständnis von Versprechen, Freundschaft und den erlebten moralischen Konflikt: Genannte Gründe für die Einhaltung des Versprechens: 0. Keine. 1. Die Regel selbst oder die Legitimierung durch eine Autorität. 2. Persönliche Verbindlichkeiten und Folgen für den Interaktionspartner. 3. Generalisierte Norm der Gegenseitigkeit, Notwendigkeit von Verlässlichkeit. Konzept einer engen Freundschaft: 0. Wird nicht verstanden. 1. Kontakthäufigkeit als Kriterium genannt. 2. Kriterien sind wechselseitige Nähe und Vertrauen. 3. Gegenseitige Vertrautheit und Verlässlichkeit, teilen von Erfahrungen und Gefühlen, gegenseitiges Verständnis. Konfliktverständnis: 0. Wird nicht konzeptualisiert. Kein Verständnis. 1. Versprechen wird nicht spontan aufgegriffen, Wünsche aller Betroffenen aber erkannt. 2. Die Norm des Versprechens rückt in den Mittelpunkt. Wer das Versprechen bricht, fühlt sich schlecht, muss sich gegenüber der Freundin rechtfertigen. 3. Die Norm des Versprechens wird verpflichtend im Sinne einer generalisierten Reziprozitätsnorm, die Freundschaftsbeziehung ebenfalls. Dabei gilt als Kriterium jeweils die tatsächliche Handlungsentscheidung. Die Stufen erlauben eine bessere Vorhersage der Entscheidung als das Alter. Außerdem wurden fünf Typen des moralischen Urteils gebildet: 1. Urteil basiert auf Eigeninteresse. 2. Wegen der Freundschaft und dem Versprechen wird dessen Einhaltung als richtig angesehen. 3. Betonung der Ambivalenz zwischen Freundschaft und Eigeninteresse. Keine Eindeutige Entscheidung. 4. Freundschaft vs. Altruismus: Man will auf der einen Seite das gegebene Versprechen halten, auf der anderen Seite dem Kind, das hier noch keine Freunde hat, eine Freude machen. 5. Altruismus: Man will dem neu zugezogenen Kind eine Freude machen. Zentrales Ergebnis ist die mit zunehmendem Alter immer größere Übereinstimmung von moralischem Urteil und Handlungsentscheidung. Bei den Jüngeren urteilt die Mehrheit inkonsistent, indem sie zwar angibt, dass das Versprechen zu halten auf jeden Fall richtig sei, es aber trotzdem nicht tun würde. Entwicklung der moralischen Motivation (Nunner-Winkler 1993) Grundlegende moralische Regeln ab dem 4./5. Lebensjahr fast allen bekannt. Entwicklung der Motivation zentral. Vorlage von Konflikten zwischen Normen und persönlichen Bedürfnissen. Überprüfung von Normkenntnis, Normverständnis und Begründung. Ermittlung der Motivation anhand der Zuschreibung von „moralischen“ Gefühlen (Stolz, Schuldgefühle). Längsschnittstudie an etwa 200 Kindern. 101 60% der 4-5j. und 50% der 6-7j. erwarten, dass sich jeweils das egoistisch handelnde Kind gut fühlt, weil es seine hedonistischen Bedürfnisse befriedigen kann. Bei 8-9j. sind das nur noch weniger als 30%. Zuschreibung von Schuldgefühlen spiegelbildlich. Zuschreibung von Schuldgefühlen guter Indikator für moralische Motivation? Die Funktion des moralischen Selbst ... ist es, wertorientiertes Handeln auch bei Schwierigkeiten aufrechtzuerhalten. Lydon und Zanna haben die Bedeutung des moralischer Aspekte des Selbstkonzepts für längerfristige prosoziale Engagements nachgewiesen. Unmoralisches Handeln wird Selbstbildgefährdend. Fazit: Moralisches Engagement ist dann verlässlich, wenn es der persönlichen Identität entspricht. Lasst Euch nicht unterkriegen! Zusammenfassung von Benjamin Schültz (Uni Bamberg) 102 Entwicklung in ausgewählten Lebensabschnitten Vorgeburt und frühe Kindheit Hellgard Rauh Perspektiven auf die frühe Entwicklungszeit Betrachteter Lebensabschnitt: Zeugung bis Ende des 2./3. Lebensjahres Kind noch auf die Hilfe Erwachsener angewiesen in der Regel keine Erinnerungen an den Zeitpunkt Soziokulturelle und familiäre Rahmenbedingungen Kulturunterschiede: Säuglinge wachsen nicht besser oder schlechter auf, sondern je nach Kultur „anders“ Historischer Wandel: medizinische Fortschritte; entwicklungspsychologische Erkenntnisse; Wandel der Familie, der Rolle von Kindern, der Einrichtungen für Kinder, der körperlichen Versorgung, etc. Geburt als kritisches Lebensereignis für die Eltern: neue Lebensplanung, neue Verantwortlichkeit, Rollenveränderungen, etc. Vorgeburtliche Entwicklung Kind nimmt zumindest in den letzten Wochen vor der Geburt an der Umwelt teil (wahrnehmend und lernend) Definitionen: Zeit von der Zeugung (Konzeption) bis zur Geburt: Schwangerschaft bei der Mutter, Gestationszeit beim Kind (Dauer: ca. 40 Wochen) Gestationsalter (GA): intrauterine Zeit des Kindes seit Zeugung Lebensalter des Kindes: Rechnung ab Geburt korrigiertes Lebensalter: Lebensalter minus Zeit, die Kind zu früh geboren wurde Konzeptionsalter: GA + Lebensalter Embryo: menschlicher Keim in den ersten 8-12 Wochen der Gestationszeit Fötus/Fetus: Bezeichnung für das werdende Kind ab dem 3. Monat Entwicklung des ZNS Beginn bereits in den ersten Wochen (Bildung von Nervenplatte und Rückenmarksstrang) 3 Phasen des Gehirnwachstums: 3.-5. Gestationsmonat: rapide Vermehrung der Nervenzellen und ihrer Verbindungen Beginn eines 2. Wachstumsschubs einige Wochen vor der Geburt im 3. Lebensjahr: Höhepunkt der Myelinisierung Besonderheiten der Hirnentwicklung beim Menschen: Gehirn mehr Platz als bei nächsten Primaten, Gehirnreifung langsamer, Formbarkeit bis weit in die postnatale Zeit 3 wesentliche Entwicklungsprinzipien bei der Hirnentwicklung im Lebenslauf: 103 a) Zunahme (Vermehrung + Überproduktion der Zellen) b) Selektion (funktionsnotwendige Zellen werden ausgelesen, Überzählige für einige Zeit aufgehoben) c) Abnahme (Bei Nicht-Benötigung Absterben) Heterochronie: Gehirn und Sinnesorgane entw. sich unterschiedlich schnell und weitgehend unabhängig voneinander Motorische Entwicklung des Fötus Säugling bereits ab der 8. – 12. Gestationswoche (GW) aktiv Zyklisierung der Aktivität: ab 14. GW: kurzzeitige Schübe und Ruhepausen ab 22. GW: Ruhe- und Aktivitätsphasen im Tagesrhythmus 38.-40. GW: Unterscheidung von je 2 Schlaf- und Wachheitsgraden; Tagesrhythmus der Mutter beeinflusst Gesamtaktivität 2-3 Monate nach der Geburt: Ausbilden eines eig. Schlaf-Wach-Rhythmus gegen Ende der Gestationszeit Koordination von Atemtempo, Herzrate und motorischer Aktivität Funktionen vorgeburtlicher Aktivität: Funktionsaufnahme des sich entwickelnden neuronalen Systems Feinanpassung der Gehirnstrukturen und Synapsen Abbau überschüssiger Neuronen und Verbindungen einige Verhaltensmuster sind Vorläufer späterer Verhaltensmuster Geschlechtsdifferenzierung des Fötus chromosomale Festlegung: XX bei Mädchen, XY bei Jungen geschlechtsspezifische Ausbildung durch Hormone des Embryos/Fötus und der Mutter als „Basismodell“ weibliche Entwicklung, bei der männlichen Entwicklung zusätzlich Testosteron Maskulinisierung Vorgeburtliche Risiken bei 2/3 aller befruchteten Eizellen kommt es zu einer Fehlgeburt bis zur 16. GW genetische Risiken: v.a. bei extrem jungem oder fortgeschrittenem Alter der Mutter (Untersuchungen möglich) gesundheitliche Risiken z.B. Infektionskrankheiten, chronische Krankheiten, Medikamentengebrauch, Drogenkonsum, bestimmte Umwelteinflüsse im ersten Schwangerschaftsdrittel kommt es zur Schädigung von Organen, später dann zur Beeinträchtigung der Sauerstoff- und Nahrungsversorgung, was wiederum die Gehirnentwicklung behindert psychische Belastungen z.B. Ablehnung aus Umwelt, schwierige Lebensumstände plazentare Mangelversorgung: am häufigsten in den letzten Gestationsmonaten, führt zur Frühgeburt Frühgeburt Frühgeburt: Kind ist vor der 37. GW geboren oder wiegt weniger als 2500 g Überlebensrate: 50-60% der Säuglinge, die unter 1000 g wogen (Daten von 1997 aus Deutschland) 104 Entwicklungsauswirkungen: Frühgeborene sind schlechter vorbereitet auf die Umstellung von Atmung, Kreislauf, Ernährung, Verdauung und Wärmeregulierung Intensivbetreuung nötig Motorik, Sinnesorgane und deren Koordination in Ordnung häufig längerfristige Probleme wie z.B. bei der Erregungskontrolle (schwierigere Besänftigung), bei komplexen kog. Leistungen (z.B. Spracherwerb), bei der Koordination, Informationsverarbeitung dauert länger Veränderte Betreuung im Gegensatz zu früher: weniger Apparate, Simulation eines Tag-/ Nachtrythmus, starke Beteiligung der Eltern Modellvorstellungen über vorgeburtliche Entwicklungsfaktoren Kein reiner Reifungsvorgang Entwicklung der verschiedenen Teilbereiche nach unterschiedlichen Zeitplänen Einschränkung (constraints) oder Eröffnung (opportunities) neuer Verhaltensmöglichkeiten (z.B. vor und nach Verschaltung der Sinnesorgane) Erfahrungen aus eigener Aktivität ( Entwicklung der neuronalen Strukturen und Funktionen) und Erfahrungen externen Ursprungs ( Lernen) Einige Forscher unterscheiden zwischen erfahrungsabhängigen Entwicklungsprozessen (regen Metabolismus entsprechender Hirnregionen an und somit ihr Wachstum) und erfahrungserwartenden Entwicklungsprozessen (Vorbereitung neuronaler Strukturen durch Überproduktion von Zellen bzw. Synapsen Selektion bzw. „Abschleifen“ durch ext, Erfahrungen) Probabilistische Epigenese: Zusammenspiel von Reifung und Erfahrung, bidirektionale Beziehung zwischen Genen, Gehirn und Verhalten Prognosen aufgrund der vorgeburtlichen Entwicklung längerfristige Prognosen noch nicht möglich (Ausnahmen: pränatale Schädigungen genetischer, neurologischer, anatomischer Art) sinnvoll, das Lebensalter des Kindes bis zum 2. Lebensjahr um die Wochen seiner Frühgeburtlichkeit zu korrigieren zunehmende gute Prognosen für normale Entwicklung bei frühgeborenen Kindern ab einem GA von 32 Wochen, weniger positive Prognosen für extrem frühgeborene Kinder (aber auch hier gibt es Kinder ohne Beeinträchtigung) bei Frühgeborenen: erhöhte Vulnerabilität: Probleme v.a. im perzeptuell-motorischen, kognitiven, sprachlichen Bereich und in Situationen mit erhöhten Aufmerksamkeitsanforderungen Kommen zu biologischen auch soziale Probleme besondere Vulnerabilität Als Erklärung der mitunter geringen Spätwirkungen von biologischen Risiken wird die außerordentliche Plastizität des Gehirns herangezogen. Funktionell vergleichbare Leistungen können über sehr unterschiedliche Entwicklungspfade und auf unterschiedlich struktureller Grundlage erbracht werden. Die Neugeborenenzeit termingerecht: vollendete 37. – 42. GW 105 im Durchschnitt 50-53 cm groß und 3,5 kg schwer Veränderungen in der Geburtspraxis früher: Mutter + Kind 2 Wochen Aufenthalt in Klinik, Mutter sah Baby hauptsächlich zum Nähren heute: Gefahren reduziert 3-5 Tage auf Geburtsstation oder sogar Hausgeburt; Säugling darf hauptsächlich bei der Mutter bleiben Zwei psychologische Fragen zur Geburt Gibt es ein Trauma der Geburt? Rank/Bernfeld (Psychanalytiker, 20er): Geburt als Ursituation aller späteren Ängste heutige Sicht: unwahrscheinlich, dass Mensch sich an seine Geburt erinnern kann; außerdem: Geburtsvorgang eher große Anstrengung und anschließende Erleichterung als Angst Wie entsteht die emotionale Bindung zwischen Mutter und Kind? nach Klaus & Kendell: es gibt eine Art sensible Phase in den ersten Minuten und Stunden nach der Geburt: tiefe und unbedingte emotionale Bindung der Mutter (und des Vaters) an das Kind Bonding wichtige Stimuli: enger körperlicher Kontakt mit dem Neugeborenen Reaktionen des Neugeborenen auf das elterliche Verhalten Attachement: emotionale Bindung und Anhänglichkeit des Kindes an seine Bezugsperson Befunde zum Bonding: Würde die Bonding-These stimmen, müssten alle Menschen, die vor 1980 geboren sind, ein schweres Bindungsdefizit aufweisen: Das ist aber nicht der Fall! Die Effekte zusätzlicher Frühkontakte sind gering und halten nicht an! Interpretation als regulärer Lernprozess möglich: Früher Erstkontakt und ungestörte Beobachtungs- und Interaktionsmöglichkeiten in den ersten beiden Lebenstagen erleichtern beiden Seiten einander kennen zu lernen und eine herzliche Beziehung zueinander aufzunehmen! Psychologische Kompetenzen und Bedürfnisse des Neugeborenen Die Geburt ist für das Kind eine enorme physiologische Umstellung und Anpassungsleistung: erste Prüfung der Lebenstüchtigkeit anhand des AGPAR-Indexes möglich (Beobachtung von Hautfärbung, Art der Atmung, Muskeltonus, Reflexauslösbarkeit, Herzschlag und Pulsfrequenz). In den ersten 2-3 Monaten des Neugeborenen stabilisiert sich sein Verhaltensrepertoire und somit wird die Voraussetzung für seine enormen Lernleistungen geschaffen. Frühe Verhaltensregulation und erste Regulationsleistungen Entwicklungsmodell von Brazelton und Als: Unterscheidung von 4 psychophysiologischen Teilsystemen in der perinatalen Zeit (späte vorgeburtliche bis frühe nachgeburtliche Zeit): autonomes System der physiologischen Funktionen: Atmung, Kreislauf, Körpertemperatur, Verdauung (erstaunlich stabil, aber bei kleinen Überbelastungen Spucken, Blähungen, etc.) 106 motorisches System: Energetisierung, Tonusbalance, Koordination, etc.(schon bei leichten Belastungen außer Balance) System der Bewusstseins- und Erregungsniveaus: Säuglinge haben mit sanften Übergängen vom Tiefschlaf zum leichten Schlaf Probleme, überbelastete Säuglinge können plötzlich in Tiefschlaf fallen System der kognitiven, interaktiven und sozialen Prozesse: sehr gering ausgebildet, teilweise kurze Phasen des Schauens und Lauschens, ist aber sehr anstrengend für Säugling Diese 4 Systeme werden in der Neonatal Behavioral Assessment Scale (NBAS) erfasst (für Frühgeborene: APIB) Befunde: bei Jungen Cortisolanstieg während der Untersuchung, bei Mädchen nicht; afrikanische Kinder schon bei Geburt motorisch kompetenter, sichere Prognosen auf spätere Leistungen (18 Mon.) oder auf eine sichere Bindung (12 Mon.) nicht möglich Motorisches und sensorisches Verhaltensrepertoire in den ersten Lebenswochen Motorik und Aktivität Motorisches Verhaltensmuster: allgemeine Bewegungen ohne Geschmeidigkeit und Zielgerichtetheit (z.B. Armbewegungen), differenzierte und strukturierte motorische Verhaltensmuster (z.B. Augenbewegungen) Aktivitätszyklen: größere vor allem vom Zeitabstand zw. den Mahlzeiten abhängig, kleinere z.B. beim Saugverhalten Es gibt Gruppe von Verhaltensweisen. die in bestimmten Situationen in den ersten Lebenswochen zu beobachten sind und dann wieder verschwinden, um nicht mehr oder viel später wieder aufzutauchen Unterschiedliche Meinungen über die Ursachen für den u-förmigen Verlauf: keine strukturelle Kontinuität zw. frühen und späten Verhaltensweisen Teilkomponenten brechen auf und reorganisieren sich neu nur vorübergehendes "Verstummen" der Verhaltensweisen, weil andere Verhaltensweisen in den Vordergrund rücken Theoretische Erklärungsmodelle für die frühe motorische Entwicklung: Prechtl: Neugeborenes ein um 2-3 Monate zu früh geborener Fötus erste 1-2 Monate: Anpassen des fötalen Verhaltensmusters an neue Umgebung 2.-3. Monat: Entwicklung neuer motorischer Funktionen Weiterführung von Towen: Unterscheidung zwischen allgemeiner motorischer Aktivität (Fötus) und der Fähigkeit zur Reaktivität (ab Geburt); plötzliche Rückschritte als Übergangszeiten und Zeiten der Reorganisation Gibson: Wahrnehmung, Bewegung, Kognition, Handeln bilden eine Einheit; Kind nimmt Umgebung über eigene Körperbewegungen wahr Verfeinern der motorischen Handlungen neue kog. Erfahrungen Sinnesrepertoire des Neugeborenen Die Nahsinne bereits intrauterine Berührungserfahrungen Gleichgewichtssinn schon früh ausgebildet besonders gut ausgebildet: Geschmacks- und Geruchssinn 107 Die Fernsinne I: Auditive Wahrnehmung bereits ab 24.GW: Reaktion auf Gehörtes unmittelbar nach Geburt: Unterscheidung Stimme der Mutter - Stimmen anderer andere Reaktionen auf soziale Laute (Sprache) als auf nichtsoziale Geräusche und Töne Fähigkeit, Sprachlaute unterscheiden zu können ist ein guter Prädiktor für sprachliche Kompetenzen im Vorschul- und Schulalter Die Fernsinne II: Visuelle Wahrnehmung Neugeborenes sieht nur auf 20-25cm Entfernung bei mittlerer Helligkeit scharf Schwierigkeiten, mit beiden Augen zu fixieren Neugeborene können verschiedene einfache Formen (Kreis, Dreieck, Quadrat) unterscheiden Bewegtes hebt sich von Unbewegtem ab wl. von Anfang an Wahrnehmung der Welt nach Objekten strukturiert erste Lebensmonate: Achten v.a. auf physikalische Merkmale eines Stimulus nach den ersten 2-3 Monaten: Vertrautheit und Neuheit als wichtige Kriterien bald danach: kog. Kategorien wie z.B. Schwerkraft, Sichtbarkeit, Solidität, etc. Gesichterwahrnehmung anfangs selbst bei 25cm Entfernung eher unscharf Johnson: 2 Mechanismen: CONSPEC: lässt Kind einem gesichtsähnlichen Stimulus folgen, der sich seitlich bewegt CONLERN (erst ab 2.-4. Monat): Wahrnehmung von Gesichtern in frontaler Ansicht, übergreifender Lernmechanismus Präferenz für Gesichter: Neugeborene präferieren runde, ovale, 3-dimensionale, gemusterte, kontrastreiche, bewegte Formen einige Forscher nehmen so etwas wie eine angeborene Idee von einem Gesichtsschema an Primäres und sekundäres visuelles System sekundäres visuelles System: ab 3.-4. Monat Beginn, Teilstimuli aufeinander zu beziehen vor allem empfänglich für örtliche und zeitliche Parameter primäres visuelles System: Entwicklung leicht zeitversetzt zum sek. System, wird mit zunehmend fovealem scharfem Sehen wirksam, mit 3-4 Monaten aktives Lösen des Blickes von einem Stimulus, Gesicht gezielt visuell abtasten visuelle Kategorisierung: mit knapp 5 Monaten Beginn der Zusammenarbeit beider Hemisphären erste Gruppierungen und Kategorisierungen, Gesichterunterscheidungen, Wiedererkennen einer Person aus verschiedenen Ansichten, Differenzieren mimischer Ausdrücke Soziale Interaktion und Kommunikation in den ersten Lebensmonaten Einige Forscher sind der Meinung, dass das Neugeborene von vornherein 2 Welten unterscheidet: Personenwelt und Dingwelt Schaffer, Prechtl et. al.: keine deutliche Trennung der beiden Welten in den ersten zwei Monaten ab 2-3 Monaten markanter Wechsel: Wachphasen länger, Schreien wird angepasst an Umwelt, Kind sieht schärfer Interaktion mit zweimonatigem Kind ähnelt Gespräch: Blicke, Mimik, Laute, Gesten; Kind erwartet sogar aktiven Interaktionspartner, ist das Gegenüber nicht aktiv, werden Kinder selbst initiativ Nachahmung bei Säuglingen als bedeutsame Form des Lernens (erst im 2. Lebensjahr als breites Lerninstrument verfügbar, nach Piaget und Uzgiris) 108 Es gibt schon Nachahmungen bei Neugeborenen, allerdings ist unklar ob dies ein direkter Vorläufer der späteren Nachahmung ist Erstes soziales Wiederlächeln ca. 5-8 Wochen nach der Geburt (Sehschärfe verbessert, so dass Merkmale eines Gesichts deutlicher hervortreten) Erhebliche körperliche Wachstumsbeeinträchtigungen (z.B. durch zu wenige Mahlzeiten) in den ersten Lebensmonaten können sich auch ungünstig auf die geistige Entwicklung auswirken Neugeborenes hat nach Blass und Ciaramitaro zwei Motivsysteme, die sich beide auf das motorische System auswirken und belohnenden Charakter haben: das exzitatorische Motivsystem mit Energieverausgabung (Weiterbildung des Gehirns) und das besänftigende Motivsystem zur Energieschonung (Neugeborenes braucht viel Kalorien zum Wachsen) Im System der Nahrungsaufnahme wirken viele Komponenten zusammen und bilden ein hervorragend abgestimmtes Verhaltenssteuerungsprogramm Individuelle Unterschiede: Schreien und Irritabilität Zunahme der Schreiintensität und –dauer in den ersten zwei Monaten, mit vier Monaten gehen sie auf ein stabiles Niveau zurück Einige Kinder schreien, weil sie Bauchkrämpfe haben; noch ungeklärt, warum manche Kinder darunter mehr leiden als andere (nur selten organische Gründe oder Milchunverträglichkeit) Längsschnittuntersuchung von Kinder, die mit NBAS getestet wurden und als hoch irritabel aufgefallen sind: mit großer Wl. entwickeln sie eine unsichere emotionale Bindung und werden bis ins 6. Lebensjahr hinein von ihren Eltern als „schwierig“ empfunden Als Interventionsmaßnahme bei exzessivem Schreien hat sich videogestützte Elternberatung bewährt Modellvorstellungen über den Entwicklungswandel in den ersten Lebensmonaten und besondere Vulnerabilität zwischen zwei und vier Monaten finden in fast allen Verhaltensbereichen sehr deutliche Veränderungen statt: z.B. Atemtechnik: starre Atemtechnik neue Atemtechnik: Verringern der Atemfrequenz im Schlaf, Verlängern der Ausatmungsphase in Wachperioden dieser Wandel in fast allen Verhaltensbereichen ist auch besonders störanfällig: Beispiel hierfür wäre der plötzliche Kindstod (wird heute überwiegend mit der Veränderung der Atemtechnik in Verbindung gebracht) v.a. verhaltensbiologisch orientierte Forscher halten diesen Übergang nicht nur für quantitativ, sondern vor allem für qualitativ Der kompetente Säugling (ca. 4-12 Monate) Ausbildung grundlegender Kompetenzen, aber immer noch angewiesen auf betreuenden Erwachsenen 109 Körperliche und motorische Veränderungen Übersicht primäre Variabilität: 3./4. Monat bis 1. Lebensjahr: Entwickeln neuer motorischer Funktionen und Lernen, diese in verschiedenen Variationen auszuführen, ohne dass diese Variationen von bestimmten Zielen geleitet sein müssen sekundäre Variabilität: 2- 4 Jahre: im Wesentlichen nur noch qualitative Verbesserungen der Bewegungsmuster und Automatisierung Grobmotorik, Greifen, Wahrnehmung, und Erkunden Grobmotorik und Greifen Bewegungen werden flexibler, weicher und variabler mit etwa 4 Monaten Erlernen des visuellen Greifens Freies Sitzen und beidhändiges Greifen mit etwa 6 Monaten Tiefensehen mit 6 Monaten besser und somit zielsicheres Greifen Innehalten beim Greifakt, ausgiebige Betrachtung und Betastung verbesserte kortikale Gedächtnisleistungen (jüngerer Säugling brauchte als „Gedächtnisstütze“ einen motorischen Hilfsmechanismus: den vorgeschobenen und zugespitzten Mund) mit 8-10 Monaten Erproben erster Formen der Fortbewegung (Rollen, Robben, Rutschen, …); die großen interindividuellen Unterschiede hängen von Kraft des Kindes, kulturellen Rahmenbedingungen und seiner Motivation ab die eigene Fortbewegung des Kindes fördert die Raumorientierung des Kindes und verändert seine Wahrnehmung neue kognitive und soziale Fähigkeiten ab ca. 9 Monaten: zwei unterschiedlich schwere Gegenstände unterscheiden, haptische und visuelle Informationen aufeinander beziehen, aktive Suche nach Gegenständen Greifentwicklung als Modell für psychologische Entwicklung Greifentwicklung als Ausdruck und Folge neurologischer und motorischer Reifungsprozesse Greifentwicklung als Ausdruck und Modell kognitiver Entwicklung Piaget: Entwicklung des Greifens als Modell für das Entstehen von komplexen Handlungs- und mentalen Operationsstrukturen Bower: sehr allgemeine kognitive Strukturen beim Neugeborenen werden im 4. Lebensmonat durch Lernen angereichert und differenziert und spezialisiert Greifentwicklung als Modell für Problemlösen und intentionales Handeln von Hofsten: motorische Entwicklung als Modellfall für das Lösen spezifischer Handlungsprobleme und den Erweb von „skills“ Thelen: in den Anfangsphasen einer neuen Fertigkeit sind die Handlungen der Kinder sehr unterschiedlich und variabel spricht für Problemlöse- und Lernprozess Bruner: Verhalten ist von Anfang an intendiert, aber anfänglich fehlt noch Programm intentionale Handlungen sind zuerst diffus-undifferenziert und werden dann artikuliert und differenziert Neurologische und kognitive Veränderungen erhebliches Gehirnwachstum im ersten Lebensjahr Hemisphärenspezialisierung 110 Vertrautheit des Stimulus wird wichtiger als seine physikalischen Eigenschaften Kind erkennt einfache Muster (wieder) Kind erlernt Kontingenzen ((Hervorrufen einer Melodie durch verstärktes Saugen) Beginnende Kooperation der beiden Hemisphären, z-B. beidhändiges Greifen Aufrechte Körperhaltung senkrechte Raumorientierung Differenzieren aufrechter Gesichter von Gesichtern in anderen Orientierungen Form und Textur werden wichtig bei der Identität von Objekten, Berücksichtigung von Kontinuität, räumlicher Nähe, guter Gestalt, etc. Erste Ansätze von physikalischem Wissen Kind kann jetzt eine Handlung über eine kleine Zeitspanne hinweg aufschieben und planen (bedingt durch Reifungsschub) Lernen, Informationsverarbeitung und Gedächtnis im ersten Lebensjahr Indikatoren für Unterscheiden und Lernen Können Kinder verschiedene Stimuli unterscheiden? Untersuchung anhand des Blickverhaltens des Kindes Präferenz für Neues Vertrautheit kann durch Habituierung hergestellt werden Einflussfaktoren auf Lernen, Behalten und Reaktivieren des Gelernten: sehr, sehr an- oder erregender Reiz Kind physisch nicht in bester Verfassung Überforderung mit anderem Stimulus vorzeitig unterbrochene Erkundungsphase Frühgeborene, Down-Syndrom-Kinder, … verminderte Präferenz für Neues Kinder bauen bei Habituierungsexperimenten Erwartungen auf (z.B. ein Bild wird immer abwechselnd rechts und links gezeigt) 3- monatige Babys lernen kausalen Zusammenhang (Strampeln Mobile) nach 3 Tagen kurze Auffrischung Erinnerung an Verknüpfung Strampeln - Mobile noch 8 Tage später: Zeitraum zwischen Lernen und völligem Vergessen: Zeitfenster (nach Rovee-Collier verlängert sich mit zunehmendem Alter und Lernerfahrung Lernen und Emotionen Kinder (ab 2 Monate) lernten, dass bei einer Armbewegung eine Fernsehsequenz (3 sec.) ausgelöst wurde: Beobachtung des mimischen Ausdrucksverhaltens: zuerst Interesse, dann etwas Furcht, dann Überraschung beim Erkennen der Kontingenz Freude am Höhepunkt des Lernens abflauendes Interesse bei Habituierung, eher traurig bis weinerlich Wurde Kontingenz während Lernphase unterbrochen: ärgerliche Mimik individuelle Unterschiede bei positiver Emotion ab 4 Mon. und bei negativer Emotion schon ab 2 Mon. stabil (über eine Zeitspanne von 2 Monaten) Emotionen als Erinnerungshilfen: 111 Lernen der Verknüpfung Strampeln – Mobile mit mehreren Komponenten Zeigen eines neuen Mobiles mit 2 Komponenten Ärgerlichkeit und Weinen Nach 7 Tagen erneutes Zeigen eines der beiden Mobiles: nur das Mobile wird erinnert, bei dem sie nicht geweint hatten Auch Nachahmung beinhaltet eine Erinnerungsleistung, vor allem wenn sie zeitlich aufgeschoben wird Individuelle Unterschiede und langfristige Vorhersagen Zusammenstellung einer Vielzahl von Längsschnittstudien: am häufigsten betrug das Erhebungsalter der Habituierungs- und Behaltensleistung vier Monate; das Alter, auf das vorhergesagt wurde, lag zwischen 1 und 8 Jahren. Intelligenzleistungen ließen sich besser vorhersagen aus Habituierungsmaßen (35% Varianzaufklärung) als aus üblichen Säuglingstests und späteren Entwicklungs- und Intelligenztests. Objektpermanenz Piagets Forschung und Theorie Objektpermanenz = Objekte existieren für das Kind weiter, auch wenn es die mit seinen Sinnen gerade nicht wahrnehmen kann. Diese Vorstellung wird erst in den ersten 1, 5 Lebensjahren entwickelt Piaget beobachtete verschiedene Entwicklungsschritte bis zum vollen Verständnis der Objektpermanenz. Neue Erkenntnisse und Kritik an Piaget Andere Autoren: Objektpermanenz bereits bei Neugeborenen, also schon von vornherein abstrahierende Vorstellungen der Wirklichkeit. Nach Baillargeon beruhen die „Irrtümer“ der Babys nur auf ungenauer Wahrnehmung oder fehlender Erfahrung. Spelke: Babys haben von Geburt an ein Kernwissen über Objekte und ihre Bewegungen, Personen, den euklidischen Raum sowie Zahlhaftigkeit Objektpermanenz und die Art des Versteckens Piagets Beobachtung: Babys unter 8 Monaten suchen einen Gegenstand nicht mehr, wenn er mit einem Tuch zugedeckt wird. Wishart und Bower: Beschreibung der Entwicklung der Objektpermanenz als Entwicklung der Objektidentität: Kind hat Schwierigkeiten zu begreifen, dass es sich bei einer Sequenz von Ereignissen um ein und dasselbe Objekt handelt allmählich zunehmende Individuierung der Objekte Der A-/nicht-B – Suchfehler Piagets Beobachtung: Verstecken eines Gegenstandes unter einer von zwei Decken Kinder suchen Gegenstand richtig unter Decke A. Sichtbares Verstecken des Gegenstandes unter Decke B viele Kinder suchen dennoch wieder unter A. Piagets Interpretation: für die Kinder sind die Handlung mit dem Gegenstand und sein Ort eine Eigenschaft des Objektes konzeptuelles Problem 112 Möglicher Alternativerklärung: Suchfehler bedingt durch ein motorisches Performanz- und Perseverationsproblem, d.h. durch eine kleine Wartezeit führen die Hände der Kinder nicht das aus, was sie „wissen“, sondern sie wiederholen die erfolgreiche Reaktion. Bis jetzt wurde noch keine endgültige Erklärung für den Suchfehler gefunden. Das Weltbild des Säuglings verschiedene Fragestellungen: Wie lernen Kinder zwischen Lebewesen und nichtLebewesen zu unterscheiden? Gelangen Kinder von der Wahrnehmung zu den Kategorien? Verstehen von Kausalität Leslie und Fodor: Kausalität wird auch schon von Babys wahrgenommen angeborene Primitivkategorie oder Basisfähigkeit. Kritik anderer Autoren: wenn es diese Primitivkategorie gibt, dann nur beschränkt auf sehr engen Bereich von Ereignissen. Piaget: Erfahren von Handlungserfahrungen. Kausalität in den ersten 2 Lebensjahren durch eigene Intentionalität und Theory of Mind Intentionalität (Motiviertheit und Zielgerichtetheit) als Beginn eines kindlichen Psychologieverständnisses, einer Theory of Mind Schon mit 6 Wochen eigenes zielgerichtetes Verhalten: Suchen von Blickkontakt, später Vokalisieren, um Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, etc. Kinder können intentionale Handlungen anderer Personen aus dem Gesamthandlungsfluss heraus als Einheiten erkennen Es gibt zahlreiche Indizien dafür, dass Kinder mit 18 Monaten Verständnis für die psychische Situation anderer zeigen: z.B. Trösten eines Anderen, wenn dieser traurig ist, weil etwas zerbrochen ist Fazit: Etliche Forscher gehen davon aus, dass Babys schon früh Personen und Sachen voneinander unterscheiden können Kategorien und Dimensionen Untersuchungsmethoden, ob Kinder bereits im vorsprachlichen Alter Kategorien bilden und wenn ja, auf welcher Ebene: Präferenzen beim Schauen und Präferenzen bei der Objektexaminierungsaufgabe (manuelles Erkunden) wenn Kinder Kategorienwechsel bei Bild oder Objekt wahrnehmen, dann wird erwartet, dass sie neues Exemplar länger betrachten Kinder erhalten Nachbildung von Exemplaren zweier Kategorien es wird erwartet, dass sie Exemplare, die zur gleichen Kategorie gehören, nacheinander berühren (Babys zwischen 7 und 10 Monaten akzeptieren Plastik-/Holznachbildungen als Stellvertreter für reale Dinge) Globale Kategorien: Unterscheidung, also Kategorisierung zwischen Lebewesen und Nicht-Lebewesen: ab 5-7 Monaten Menschen und Tieren: ab 7 Monaten Pflanzen und Artefakten: ab 9-11 Monaten 113 Basiskategorien Betten/Tische oder Hunde/Katzen: ab ca. 11 Monaten Da Kinder erst globale Kategorien und dann Basiskategorien bilden, kategorisieren sie offenbar nach grundlegenden Eigenschaften, d.h. Bewegung (eigenbewegt – fremdbewegt), Vorhersagbarkeit, Funktionalität ungeklärt, warum Babys Nachbildungen als Stellvertreter für reale Dinge akzeptieren Sozialverhalten und Emotionen 2. Hälfte des 1. Lebensjahres: Kind zunehmend aktiver Kommunikationspartner (Unterscheidung zw. Personen und Gegenständen; Unterscheidung zwischen Kindern und Erwachsenen; Achten auf Wirkungen seines Verhaltens auf Umwelt; zunehmendes Vergnügen an kleinen Spielen und Liedern) Gegenseitige Aufmerksamkeitsregulation Joint attention Mit 8-9 Monaten: Gegenstand wird in Interaktion einbezogen, gemeinsame Aufmerksamkeit (Kind und Erwachsener) auf Gegenstand, Kommunikation über Gegenstand Shared attention Kind lernt, seine Aufmerksamkeit der Aufmerksamkeitsrichtung des Erwachsenen anzupassen bzw. die Aufmerksamkeit des Erwachsenen auf das zu lenken, was es selbst gerade interessiert. Mit 9 Monaten beginnen die Kinder die Zeigegesten des Erwachsenen zu verstehen und beginnen teilweise selbst mit der Zeigegeste. einige Forscher sehen hier schon Beginn der Theory of Mind Kommunikation bis 4 Monate: eher symmetrische Kommunikation zwischen Mutter und Kind, d.h. etwa gleichzeitiges Anschauen und Vokalisieren ab 4 Monaten: häufiger unilaterale Kommunikation: Mutter agiert, Kind schaut und hört zu bzw. umgekehrt Das Kommunizieren über einen Gegenstand gelingt eher als mit 4 Monaten, da das Kind mit 6 Monaten nun zwischen 2 Stimuli (Mutter, Objekt) wechseln kann. Lallspiele nehmen Charakter eines Dialogs an. Elterliche Kommunikation mit Kind: stärkeres Eingehen auf Interessen des Kindes, Dinge der Umwelt werden jetzt öfter in Kommunikation einbezogen Bildung von Scripts + Grundlage für Struktur und Basisgrammatik der späteren Sprache Kinder entnehmen zunehmend dem Gesichtsausdruck und dem Tonfall der Eltern Informationen, die sie für ihre Handlungen nutzen (z.B. in unsicheren Situationen Rückversicherungsblicke) (Entwicklungsabfolge des Emotionsverständnisses siehe Kasten S.185) Kind unterscheidet zwischen Fremden und vertrauten Personen deutlich in seinen emotionalen Reaktionen. Entwicklung des emotionalen Ausdrucksverhaltens Empfindet das Kind auch die Emotion, die wir aus seiner Mimik ablesen? 114 Kognition und Emotion 2 Thesen: Bischof-Köhler: Emotionen als alte Form von Kognition: Kind bewertet Situation unbewusst und reagiert dann mit Verhalten und Emotionsausdruck erst kognitive Erfassung der Situation und daraufhin spezifische Emotionen In den ersten Lebenswochen zeigt das Kind eindeutige emotionale Reaktionen wie Weinen und Schreien. 2-4 Monate: zusätzlich Überraschung, Ärger, Lächeln, … 6 Monate: situationsvalide Interpretation von Emotionsausdrücken Meilensteine der Emotionsentwicklung Einige Emotionen scheinen in spezifischem Alter neu oder besonders hervorzutreten: z.B. das Lächeln mit 6 Wochen: soziales Wiederlächeln, bei einigen Kindern sogar verschämtes Lächeln (Lächeln bei gleichzeitigem Wegschauen) Sroufes Stufentheorie Die meisten Emotionen bilden sich aus 3 Emotionsvorläufern heraus: Vergnügen/Freude, Ängstlichkeit/Furcht, Wut/Ärger Die Differenzierung ist eng an die kognitive und sozialkognitive Entwicklung gebunden. Sroufe unterscheidet 8 Stufen der Emotionsentwicklung Emotion und Temperament Interindividuelle Unterschiede in der Emotionalität werden oft als Temperament gefasst Unterscheidung von Kagan: Kinder mit hoher vs. niedriger Reaktionsempfindlichkeit (wachsame Reaktion auf neue Reize, tw. Furcht oder Abwehr vs. Reaktion mit Neugier und Zuwendung) guter Prädiktor für Ängstlichkeitsverhalten mit 14 bzw. 21 Monaten und sozialer Gehemmtheit/Offenheit mit 4,5 Jahren Fremdeln (Fremdenangst) Meist plötzliches Auftreten um den 8./9. Monat herum Kennzeichen: bei Auftauchen einer fremden Person Klammern an Elternteil, stummes und wachsames Beobachten der fremden Person, immer wieder Abwenden des Blickes Kulturunabhängiger Höhepunkt zwischen 8 und 12 Monaten in unserer Kultur sehr starkes Fremdeln bei Männern mit dunklem Vollbart und dunkler lauter Stimme Unterschiedlich starkes Fremdeln eines Kindes möglich je nach Befindlichkeit unterschiedliche Theorien zum Fremdeln: Fremdeln als konditionierte Angst vor Verlassenwerden (Psychoanalyse, frühe Lerntheorien) Fremdeln als kognitives Diskrepanzerlebnis (Kind hat kein Verhaltensrepertoire parat) Fremdeln als Versagen vorsprachlicher Kommunikation (Kinder haben nur sehr personenspezifische Kommunikationsmuster) Fremdeln als misslingendes Wiedererkennen der gestischen Signatur (spezifisches Verhalten einer Person) 115 Elternverhalten Intuitives Elternverhalten Kulturübergreifend lässt sich ein sehr charakteristisches Verhalten gegenüber Babys feststellen: Langsameres Sprechen und Gestikulieren, Hebung der Stimme, Vereinfachung der Sprache, etc. Bezugspersonen reagieren so rasch auf das Kind (z.B. mit der Stimme), dass es unmöglich bewusst geplant sein kann intuitiv Dennoch gibt es Unterschiede in der elterlichen Kompetenz: Kinder mit meist guter Stimmung und Interesse an Umwelt machen es den Eltern leichter, diese Elternfähigkeit auszubilden (Gegensatz: Kinder, die oft krank sind; Frühgeborene, irritable Kinder, …) ambivalente Einstellung der Eltern zum Kind oder zu ihrer Kompetenz beeinträchtigen Ausbildung der Elternkompetenz Eltern mit hohen Belastungen bzw. psychisch kranke Eltern oft gehemmt Kindgerechte Sprechweise Neugeborene: Reaktion auf stimmlich erhöhte, gedehnte Prosodie mit gesteigerter Aufmerksamkeit Funktionen der Prosodik: verhaltensregulierend (anregend – bestätigend – besänftigend) aufmerksamkeitslenkend Sensitivität = Fähigkeit der Bezugsperson, prompt und angemessen auf kindliches Verhalten zu reagieren (vor allem emotionale Qualität). Z.B. erwies sich Depressivität der Mutter als ungünstiger Prädiktor für die spätere Sprachentwicklung Das Kleinkind im zweiten Lebensjahr um den 1. Geburtstag herum erste freie Schritte und erste bedeutungsspezifische Wörter Einführung in die soziale und kulturelle Gemeinschaft Verdopplung von: realen Gegenständen durch symbolisierende Gesten, Worte oder Kritzelzeichen (anfangs sehr starr Ganzheits- und Disjunktionsannahme) der sozialen Realität im Rollenspiel und von Ereignissen durch Nachahmung und im Symbolspiel Repräsentationen entstehen dem eigenen Ich, wenn es sich im Spiegel, auf Videos und Photos erkennen kann dem psychischen Erleben des Kindes mithilfe der Sprache und ihrer grammatischen Kategorien Diese verdoppelten Welten können für das Kind auch Gefahren bergen, deshalb stehen dem Erkundungsdrang auch Absicherungsbedürfnisse gegenüber: das erkundende Kind entfernt sich von der Mutter nur bis zu einem bestimmten Punkt verliert das Kind die Kontrolle auf geistiger Ebene, in seiner Phantasiewelt (z.B. beim Träumen), kann dies Angst auslösen. Strukturierenden Halt bieten Bezugsperson, Sprache sowie die sich entwickelnden logischen Denkwerkzeuge 116 Soziale Welt: Bedürfnis nach Individualisierung: betonte Abgrenzung gegenüber anderen (anfangs unbeholfen und unbeherrscht, Konflikt zwischen Wollen und Nicht-Können) Soziabilität/Gemeinschaft: ausgeprägtes Interesse an anderen Kindern und Bereitschaft, der Führung durch Erwachsene zu folgen Kind muss Gleichgewicht zwischen Individualisierung und Soziabilität finden Laufenlernen als Problemlösen und Entwicklungsaufgabe nach Thelen: Laufenlernen als Problemlösen Multiple Voraussetzungen sind nötig: Absenken des Körperschwerpunktes, beweglichere Gelenke, Zunahme der Muskelkraft, Halten aufrechter Balance, Integration von visuellen, vestibulären und propriozeptiven Informationen Außerdem wichtig: die Motivation des Kindes, sich im Raum auf etwas hin bewegen zu wollen „Erfinden“ einer Lösung (individuelle erste Lösungsversuche), die zunehmend verfeinert wird Laufenlernen als Entwicklungsaufgabe Laufenlernen ist eine sein Leben über Wochen bestimmende Aufgabe wesentliche Beeinflussung des weiteren Lebens Kinder, die früh mit Laufen beginnen, sind unternehmungslustiger (späte Läufer sind ängstlicher und haben behütendere Eltern) Bindung und Bindungsqualität Der theoretische Ansatz von John Bowlby Bindungsverhalten aus Evolution hervorgegangen, sichert das Überleben der Spezies stabil gegen widrige Umwelteinflüsse Jedes Kind entwickelt personenspezifische Bindung, sofern ein Minimum an Interaktionskontakt zu einer Person vorhanden Bindung als psychologisches Konstrukt, das Emotionen, Motivationen und Verhalten des Kindes je nach Situation strukturiert Entwicklungsverlauf der sozial-emotionalen Bindung 3 Etappen in den ersten beiden Lebensjahren (nach Bowlby und Ainsworth) 1. keine Bindung an spezifische Person 2. Lernen, seine Interaktionspartner zu unterscheiden Zuwendung zu einer oder einigen spezifischen Personen 3. Eigentliche Bindung entsteht mit Lokomotion und Objekt- und Personenpermanenz Vermissen der Person möglich, aktive Regulation von Nähe und Entfernung Vgl. Untersuchung von Harlow: Affen mit Plüsch- oder Drahtmutter Bindungsqualität nach Ainsworth 117 Entwicklung eines standardisierten Untersuchungsverfahrens zur Bindungsqualität: der Fremde-Situations-Test (FST): in 8 Drei-Minuten-Episoden erfährt das Kind in zunehmender Intensität Unvertrautheit, Neuheit und Fremdheit sowie zwei Trennungen von der Mutter Unterscheidung von 4 Strategien und 3 Bindungsstilen anhand des Verhaltens des Kindes bei der Rückkehr der Mutter: Strategien: Nähesuchen, Vermeidungsverhalten Kontakthalten, Widerstand gegen Körperkontakt, 3 Bindungsstile: Bindungsstil A: unsicher-vermeidend Kinder zeigen wenig Emotionen, suchen keine Nähe, sondern beschäftigen sich weiter mit ihrem Spielzeug bei Rückkehr der Mutter haben wenig sensitive Fürsorge erfahren Bindungsstil B: sicher, balanciert Kinder zeigen direkt ihren Kummer, wenn sie allein gelassen werden; tritt Mutter wieder ein, kurzes Suchen von Kuschelkontakt, danach fröhliches Weiterspielen mit der Mutter sehr einfühlsame, sensitive Mütter oder emotional stabile Kinder, Kinder haben ihre Mutter als offen, verlässlich und freundlich erlebt Bindungsstil C: ambivalent-unsicher Kinder reagieren empfindlich auf Annäherung der Fremden und zeigen lautstark und deutlich ihren Kummer beim Verlassenwerden; bei der Rückkehr der Mutter suchen sie einerseits den Kontakt, andererseits widersetzen sie sich ihm Aus dem Verhalten der Mutter ergab sich kein vorhersagbares Muster für die Kinder Main und Solomon: beschreibung einer weiteren Dimension: D-Komponente: desorganisierte, desorientierte Kinder Kleinere und größere Verhaltensauffälligkeiten bei Kindern, die Zuordnung zu den Bindungsstilen A, B oder C erschweren; kein Verhaltensprogramm für den Konflikt Annäherung – Angst oder schwankende Reaktionsstile besonders ausgeprägt bei Kindern mit Missbrauchserfahrung, aber auch andere Gründe möglich (z.B. wenig sensibles Mütterverhalten), diese D-Kinder sind besonders gefährdet, Verhaltensprobleme zu entwickeln Das Bindungskonzept lässt sich auch auf andere Bezugspersonen anwenden Der Bindungsstil personenabhängig. ist keine Persönlichkeitseigenschaft des Kindes, sondern Längsschnittliche Veränderungen und Vorhersagen aus der frühkindlichen Bindungsqualität Bowlby, Ainsworth, Main: die frühen, sozialen Interaktionserfahrungen sind ein „Arbeitsmodell“ für künftige Beziehungen zu möglichen Vertrauenspersonen; Anreicherung oder auch Veränderung im Laufe der Zeit Bindungsqualität als stabiles Merkmal vom 2. Lebensjahr bis ins Vorschul- und Schulalter 118 Deutliche Wechsel in der Bindungsqualität von sicher zu unsicher konnten in Zusammenhang gebracht werden mit einschneidenden Lebensereignissen (v.a. Trennung der Eltern), Bindungsstilwechsel von sicher zu unsicher konnten nicht eindeutig mit etwas in Zusammenhang gebracht werden Krippenbesuch und Bindungsqualität Krippenerfahrung für sich genommen hat keinerlei Beziehung zur Bindungsqualität. Unsichere Bindung ließ sich am ehesten aus geringer Sensitivität der Mütter, pädagogisch zweifelhafter Krippe oder wechselnden Betreuungsarrangements vorhersagen geringere Sensitivität der Mutter bei täglich sehr langem Krippenaufenthalt des Kindes, dagegen prädizierte die Wahl einer pädagogisch guten Krippe größere Sensitivität Bindungsqualität an Mutter als Prädiktor für die Verarbeitung der Eingewöhnung in der Krippe Trotzverhalten erstmaliges Auftreten in der Mitte des 2. Lebensjahres Milderung mit zunehmender Sprach- und Handlungskompetenz (außer bei ungünstigen Erziehungserfahrungen) Entstehung von Trotz: Kind kann sich jetzt Handlungsziel vorstellen und sieht sich als Ursprung. Wird die Durchführung unterbrochen, steht dem Kind erstmal kein alternativer Handlungsplan zur Verfügung starke individuelle Unterschiede in der Häufigkeit und Intensität von Trotzreaktionen verminderte Aufmerksamkeits- und Emotionskontrolle begünstigen Trotzreaktionen GU: Jungen zeigen heftigeres Trotzverhalten unterschiedliche Interaktionserfahrungen als Mädchen - Längsschnittstudien: Jungen, die Trotzverhalten noch mit über 3 Jahren zeigten mehr Probleme in der Schule Jungen und Mädchen, die lang und heftig trotzten signifikant häufiger Eheprobleme, mehr Scheidungen Die Entdeckung des Ich im Spiegel und Anfänge der sozialen Kognition - Selbsterkennen: um die 18 Monate - bis jetzt: diachrone Identität (Kind hat gelernt, dass Dinge auch bei einem Wechsel der Orte über die Zeit hinweg identisch bleiben), nun: Begreifen der synchronen Identität: Etwas, was zur gleichen Zeit existiert, kann auch identisch sein (z.B. Gesicht und Spiegelbild); Vergleichen findet nun statt (die andere Person ist eine wie ich) Herstellung einer sozialen Identität (Bischof-Köhler) als Voraussetzung für echtes Mitgefühl: Teilhaben an Gefühlslage einer anderen Person (Voraussetzung: sich selbst von anderen unterscheiden zu können, Mindestmaß an Kontrolle der eigenen Gefühle und Wissen, dass man die Emotionen anderer beeinflussen kann) Gleichzeitig entwickelt sich Soziale Kognition: Fähigkeit, die Aufmerksamkeitsrichtung des Partners zu erkennen und ihr folgen zu können ähnlich „Lehrer-Schüler-Situation“ 119 Sozialisationsbereitschaft Sauberkeitserziehung: Eltern benötigen ein gewisses Maß an Vertrauen, dass die Kinder selbst sauber werden wollen und dies zu ihrer Zeit auch anzeigen Compliance: Bereitschaft, sich die von einem anderen gegebenen Verhaltensziele zu eigen zu machen wird dem Kind erleichtert durch ein positives Sozialisationsklima Entwicklung von Compliance: Ursprung in der frühen Interaktion von Mutter und Kind hat das Kind viel Gegenseitigkeit, Vertrauen und Empathie erfahren, so wird es mit den sich eröffnenden kognitiven Möglichkeiten im 2. Lebensjahr eine positive Bereitschaft zeigen (sichere Bindung wäre günstige Voraussetzung) 2 Formen von Compliance: aktives Folgen: Kind übernimmt gut gelaunt Handlungsvorgaben der Mutter Sich-Fügen: generell kooperatives Verhalten, aber eher halbherzig, Kind beendet Aufgabe nur dann, wenn Mutter dahinter bleibt Fähigkeit, Aufmerksamkeit aktiv auf ein Bild zu richten ( 9 Monate) und Sensitivität der Mutter als guter Prädiktor für Compliance Wie wichtig ist die frühe Kindheit für die weitere Persönlichkeitsentwicklung? Unterschiedliche Ansichten: Psychoanalyse: tief greifende Bedeutung Einige Forscher: der frühen Kindheit darf nicht die alleinige „Schuld“ für spätere Persönlichkeitsunterschiede anlasten Vieles spricht dafür, dass die Plastizität der Persönlichkeit und des Verhaltens auch noch in der Folgezeit sehr groß ist - gewisses Maß an Kontinuität der Persönlichkeitsunterschiede aus dem ersten Lebensjahr dort, wo Merkmale mit biologischen Einschränkungen korrespondieren oder soziale Rahmenbedingungen Stabilität sichern Dennoch frühe Kindheit als Basis für alle späteren Entwicklungen! Zusammenfassung von Anja König (Uni Bamberg) 120 Jugendalter (Rolf Oerter & Eva Dreher) Konzepte, Theorien, Thematiken Jugend - zur Konstruktion einer Lebensphase Jugend = Zwischenposition: „nicht mehr Kind“ und „noch nicht Erwachsener“ Soziohistorische Konstruktion Idee, dass Jugend eine qualitativ eigengesetzliche Entwicklungsphase ist, reicht bis weit in die Antike. Erst im späten 19. bzw. 20. Jh. wird die Phase der Jugend gesellschafts- und sozialpolitisch verankert: Freisetzung von Erwerbsarbeit, institutioneller Zugang zu Ausbildung und Vorbereitung auf Anforderungen der Lebensbewältigung ermöglicht. Verkürzte Pubertät (Lazarsfeld, 1931) und gestreckte Pubertät (Bernfeld, 1923): je nach Zeitpunkt des Berufseintritts und damit verbunden geringeren bzw. größeren Bildungschancen. Jugend als Phänomen multidisziplinären Interesses Vielzahl von Bedeutungsfacetten des Begriffs „Jugend“ in Soziologie, Politik, Psychologie, Medizin, Pädagogik, Biologie, Rechtswissenschaft. Begriffsdimensionen(Weber,1987): „Jugend als Entwicklungsstadium im individuellen Lebensverlauf“ Differenzierung altersspezifischer Entwicklungsaufgaben „Jugend als Gleichaltrigengruppe“ Jugendkultur/generationstypischer Lebensstil „Jugend als Ideal“ Überbewertung als optimalster Altersabschnitt (Vitalität...) Fokus auf geschlechtsspezifischen Anforderungen (z.B. Militärdienst) oder geschlechtsrollentypischen Erwartungen (z.B. Beruf, Wertorientierung) … Entwicklungspsychologische Kriterien Beginn der Jugendphase: Eintreten der Geschlechtreife Drei Phasen zur Differenzierung der Veränderungsdynamik: 1. Frühe Adoleszenz zwischen 11 und 14 Jahren 2. Mittlere Adoleszenz zwischen 15 und 17 Jahren 3. Späte Adoleszenz zwischen 18 und 21 Jahren Abgrenzung zum frühen Erwachsenenalter erfolgt nicht über Altersmarken, sondern anhand von Funktionsbereichen, Rollenübergängen und Kriterien sozialer Reife. 121 Adoleszenz im Wandel entwicklungspsychologischer Forschung Frühe Forschung zu Beginn des 20. Jh. legte v.a. ihr Hauptinteresse auf die Psychischen Korrelate biologischer Veränderungen: Sturm und Drang-Thematik dominant. Seit den 70er Jahren Aufschwung in den USA. Forschungsinteressen im Bereich der frühen Adoleszenz konzentrieren sich auf die Themen: Verlauf und psychische Auswirkungen der Pubertät Bedeutung adaptiver und konflikthafter Bewältigungsmuster für psychische Gesundheit Pubertärer Wandel Veränderung der Familieninteraktion „Adjustment vs. Turmoil“ ist hierbei der generelle Tenor, der auf die Fortsetzung der klassischen Sturm- und Drang-Thematik in modifizierter Form verweist: inter- und intrapersonelle Konflikte gelten nicht mehr als generelles Entwicklungsphänomen des Jugendalters Analyse auf Bedingungen und Entstehungszusammenhänge sowohl konstruktiver als auch beeinträchtigender Verarbeitungsformen in dieser Phase. Entwicklungspsychologie der Lebensspanne: Gegenwärtig stärkere Akzentuierung der Adoleszenz als Periode innerhalb der Lebensspanne Betonung der Richtung und Funktionalität von Veränderungen (z.B. Identitätsentwicklung) Interdisziplinäre Entwicklungsforschung: Verbindung gesundheits- und entwicklungspsychologischer Thematiken. Ziel: im Jugendalter langfristig wirksame Entwicklungsressourcen anzubahnen (Förderprogramme....) Theorien der Adoleszenz (hierbei Theoriebegriff nicht allzu eng/streng gefasst) Anlagetheorien der Adoleszenz Erste Theorie stammt von Stanley Hall (1846-1924), Begründer einer wissenschaftlich fundierten Psychologie des Jugendalters (biogenetisch): Ontogenese = Rekapitulation der Phylogenese Jede Entwicklungsstufe (frühe Kindheit, Kindheit, Jugend, Adoleszenz) repräsentiert ein Entwicklungsalter, das in Analogie zu Stufen der Menschheitsgeschichte charakterisiert wird (z.B. Spielformen der Kindheit wie Höhlenbau, Fangen, Werkzeiggebrauch korrespondieren mit der Epoche der Jäger und Sammler). Die Stufe der Jugend (8-12 Jhr.), gekennzeichnet durch aufkommende Bereitschaft zur Übernahme von Ordnungen und Regeln, wird die beginnende Zivilisation zugewiesen, deren Fortsetzung im Verlauf der Adoleszenz (11/13-22/25) erfolgt: eine Sturm- und-Drang-Periode mit innerpsychischen Spannungen und interpersonellen Konflikten. Die theoretische Bedeutung des Hallschen Werks sieht Ewert (1983) in der Einführung folgender Schlüsselbegriffe: Darstellung von Entwicklung als Schichtmodell Entwicklung als qualitativer Wandel Entwicklungsbedingte Übergänge als Krise 122 Offenheit von Entwicklungsmöglichkeiten in der Auseinandersetzung mit jeweiligen Lebensbedingungen Umwelttheorie der Adoleszenz Wirkung von Kultur, Konditionierung und sozialer Modellierung Kulturanthropologischer Ansatz: Nach Mead (1971) bedeutet Identität Bindung an Sinnkonzepte, kulturelle Werte und Orientierung an Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft innerhalb der Gesellschaft. Postfigurative Kultur: statisch, traditionell Kinder übernehmen primär Erfahrungen der Erwachsenen; biolog. und soziale Reife sind identisch mit der Pubertät ist der Erwachsenenstatus erreicht; Identität wird im Zuge der Internalisierung von Sinnkonzepten und werten erworben , deren universelle Richtigkeit und dauerhafte Gültigkeit nicht in Frage gestellt wird. Kofigurative Kultur: der gegenwärtigen Lebensform entsprechend; mobile, durch raschen Wandel gekennzeichnete Kultur, in der die Lebensbewältigung in hohem Maße an Orientierungsleistungen gebunden ist. Präfigurative Kultur: prognostisches Modell als Lösung für zunehmende Umweltgefährdung, soziale Probleme, Generationendistanzierung... Wichtig: Erwachsene sollen Bindung lehren und auch bereit sein, von den Kindern zu lernen. Kritik von Griese (1977): es wird von einheitlicher Jugendgeneration ausgegangen, subkulturelle Unterschiede in einer Gesellschaft werden nicht beachtet; Generationenkonflikte werden pauschalisiert (in der vorgegebenen Schärfe empirisch nicht nachgewiesen). Lerntheoretische Ansätze: Wie kontrolliert soziale Umwelt Verhaltensänderungen (S-R-Theorien)? Theorie der sozialisierten Angst (Davis, 1944): Wir erfahren beim Erlernen der Regeln in der Gesellschaft, dass erwünschtes Verhalten belohnt/gebilligt und unerwünschtes bestraft/missbilligt wird. Die Antizipation von Bestrafung ist mit unangenehmen Gefühlen -sozialisierter Angstverbunden; um diese zu vermeiden verhalten wir uns in Übereinstimmung mit gesellschaftl. Rollenerwartungen. Die Rollenerwartungen gegenüber Jugendlichen sind unklar Jugendliche wissen nicht welches Verhalten akzeptiert bzw. missbilligt wird und können somit nur schwer erfolgreich die sozialisierte Angst vermeiden/reduzieren Emotionale Beeinträchtigung in dieser Phase. „Drive theory“ adoleszenten Verhaltens (McCandless, 1970): Bestimmte Verhaltensweisen werden gelernt, weil sie einen inneren Spannungszustand reduzieren Triebreduzierendes Verhalten hat Belohnungscharakter und führt durch Wiederholungen zum Aufbau von Gewohnheiten. Die Gesellschaft billigt für Jungen und Mädchen unterschiedl. Verhaltensmuster Jugendliche müssen sich im Kontext neuer geschlechtstypischer und per gesellschaftlicher Vorgabe gebilligter Verhaltensweisen neu definieren. Periode unverminderter Triebspannung, die stress und emotionale Belastung mit sich bringt. 123 Intertraktionstheorien der Adoleszenz Anlage-Umwelt-Dynamik! Schwache Interaktionstheorien: Anlage ausschlaggebend, Umwelt kann den zugrundeliegenden Reifungsplan beschleunigen, verzögern oder fixieren, ihn aber nicht verändern (vgl. Sigmund und Anna Freud, Erikson) Moderate Interaktionstheorien: Anlage und Umwelt sind notwendige aber von einander unabhängige Determinanten jeglicher Entwicklung. (vgl. Piagets Theorie der kognitiven Entwicklung) Starke Interaktionstheorien: Wechselseitige Abhängigkeit zwischen Anlage und Umwelt dynamischer Interaktionismus (vgl. Modell des developmental contextualism) Psychodynamischer Ansatz (Anna Freud, 1958, 1969): In Jugend gesteigerte Freisetzung libidinöser Energien Anstieg impulsiver Aktivität (Neugier, Aggressivität, Egozentrik) Konflikthaftigkeit. Außerdem werden psychosexuelle Konflikte der Kindheit reaktiviert ambivalente Verhaltensformen Insgesamt: ES wird stärker und gerät in Konflikt mit den vorhandenen Möglichkeiten des ICH Ängste bereits vorhandene Abwehrmechanismen, Entwicklung neuer Formen der Impulskontrolle Abwehrmechanismen: Alte: Sublimation (z.B. im künstlerischen Bereich), Verschiebung (=Verlagerung der Impulse auf andere Dinge/Personen) und Identifikation (weniger mit Eltern als mit anderen Erwachsenen oder Gleichaltrigen) Neue: Intellektualisierung (Rechtfertigung durch logische Argumentation) und Askese (Leugnung der Triebe); außerdem können bedrohliche oder aggressive Impulse auf Gedankenebene gehandhabt werden und müssen nicht zur Handlung führen ( größere Distanz zw. Ideen und Impulsen) Bewältigung neuer Triebkonflikte: Der Entwicklungsfortschritt in der Adoleszenz wird im Wesentlichen in der Bewältigung der neuen Triebkonflikte gesehen, die darauf beruht, dass gestärkte ICH-Funktionen den Ansturm libidinöser Energien balancieren können. Gelingt dies nicht, so treten Störungen auf, die zu Regressionen auf frühere Entwicklungsstufen führen. Ebenso wird das ausbleiben von Konflikten als eine pathologische Störung aufgefasst Übermaß an Abwehr Theoretische Weiterentwicklung: Copingkonzepte: Neoanalytische Konzepte: z.B. Haan (1977): Bewältigungsstrategien (=Copingstrategien) und Abwehrstrategien beruhen auf gleichen grundlegenden Ich-Prozessen, erfüllen jedoch unterschiedliche Funktionen. Coping Konstruktive, realitätsangepasste, flexible Auseinandersetzung, die emotionalen Komponenten Raum lässt Abwehr lässt Affekte nur indirekt zu und zielt auf Angstkontrolle ohne eigentliche Problembearbeitung. 124 Kognitionspsychologische Ansätze: Vgl. Lazarus (1986) Copingprozess: 1. Abschätzung der Situation einschließlich kognitiver und affektiver Aspekte (primary appraisal) 2. Abschätzung der eigenen Problemlösemöglichkeiten/Kompetenzen (secondary appraisal) 3. Evtl. Neubewertung der Situation bzw. Abwägen alternativer Lösungsmöglichkeiten im Zuge der Ausführung bei Stagnation, Fehlschlägen oder neuen Infos... (tertiary appraisal) Psychosozialer Ansatz (Erik H. Erikson): Eine der prominentesten Erweiterungen und Modifikationen der Freudschen Theorie. Generalthema: Erringen der Ich-Identität durch Bewältigung von Anforderungen, die aus der Einbettung des Individuums in die Sozialordnung resultieren. Aufbau von Selbstkonsistenz: Ich = Organisiertes System von Einstellungen, Motiven und Bewältigungsleistungen Die Bewältigung von Krisen/Wendepunkten kennzeichnet die wachsende Persönlichkeit, die der Umwelt aktiv begegnet. Ausbau von Ich-Identität = Aufbau von Selbstkonsistenz, d.h. man weiß, wer man ist und worin über Zeit, Situationen und soziale Kontexte hinweg die Einheitlichkeit und Unverwechselbarkeit der eigenen Person (Individualität!) begründet ist. Prozess der Persönlichkeitsentwicklung in acht Stadien... Integrationsleistung: Hauptaufgabe der Adoleszenz: Integration psychosexueller und psychosozialer Veränderungen; Finden der eigenen Position in der Gesellschaft (der Erwachsenen); In Bezug auf die Ich-Entwicklung bedeutet das, die Identifikationen der Kindheit zu integrieren, um daraus das Potential zu gewinnen, das zur Übernahme neuer Rollen erforderlich ist. Moratorium: Da die Entwicklung der Ich-Identiät sowohl einem zeitlich ausgedehnten Prozess unterliegt als auch Handlungsspielraum erfordert, gibt es in der Jugend die Periode des selektiven Gewährenlassens seitens der Gesellschaft, sowie der provokativen Verspieltheit seitens der Jugend. Identifikationsverhalten: entscheidend dafür, ob und in welcher Form der Jugendliche zu Werten, Zielen und zur Übernahme gesellschaftlich als relevant erachteter Rollen kommt. In der frühen und mittleren Phase der Adoleszenz hat das Aufbrechen bestehender Identifikationen und der Verlust bisheriger Selbstdefinition etwas krisenhaftes/konflikthaftes. Dynamischer Interaktionismus: wechselseitig interaktives Individuum-Umwelt-System vgl. Entwicklungspsychologie contextualism“): der Lebensspanne (Lerner &Lerner: „Developmental 125 reziprok interaktive Beziehungen zwischen biologischen, physikalischen, psychologischen, historischen und sozialen und historischen Prozessen im Konzept der Organismus-KontextRelation Modell der moderierten Effekte (Richards & Peterson): Sozial-situationale und individuelle Faktoren moderieren (=verstärken bzw. begrenzen) die Wirkung von hormonellen und physischen Veränderungen auf das Verhalten und weitere psychische Variablen. Produzent seiner Entwicklung: Auf der individuell reziproken Ebene bedeutet die reziproke Dynamik, dass der Jugendliche den sozialen und physikalischen Kontext, der ihn beeinflusst, beeinflussen kann (Er ist zugleich Produkt und Produzent in dem System). Indem er den Kontext beeinflusst, erzeugt er Feedback für sich selbst. Lerner unterscheidet dabei drei Modalitäten: 1. the adolescent as stimulus: Stimuluseffekte: z.B. körperliche Veränderungen Attraktivitätsveränderung Feedback eigenes Verhalten 2. the adolescent as processor: Veränderung kognitiver und emotionaler Strukturen in dieser Phase Herstellen von Sinnkonstruktionen (=Interpretationen) über bestimmte Erfahrungen und Ereignisse kontrollierte, beeinflusste Verarbeitung der Ereignisse 3. the adolescent as agent, shaper and selecter: Potential zur Herstellung und Erweiterung von Handlungsräumen/Entwicklungsnischen, z.B. Wahl der Peergruppe Entwicklungsaufgaben im Jugendalter (Konzept ursprgl. Von R.J. Havighurst) Entwicklung als Lernprozess: Entwicklung = lebenslanger Lernprozess im Kontext realer Anforderungen, der zum Erwerb von Fähigkeiten führt zufriedenstellende Bewältigung des Lebens in der Gesellschaft. Quellen für Entwicklungsaufgaben: Physische Reifung, gesellschaftl. Erwartungen und individuelle Ziele und Werte. Physische Reifung: weitgehend universell und invariant Gesellschaftl. Erwartungen: Einfluss altersbezogener Normen im Sinne eines sozialen Zeitrasters, an dem Anforderungen bemessen werden. Spezifische Aufgaben verändern sich über Kohorten hinweg (z.B. Ausbildungsdauer etc.) Individuelle Ziele und Werte: Teil des Selbst, das im Laufe der Lebensspanne ausgebildet wird und zur treibenden Kraft für die aktive Gestaltung von Entwicklung wird. Zeitliche Dimensionierung: Havighurst nimmt „sensitive periods of learning”, “teachable moments” an. Außerhalb dieser Phasen erfordern Aufgaben größeren Aufwand und externe Hilfestellungen haben weniger Erfolg. Unterscheidung zwischen zeitl. Begrenzten Aufgaben (z.B. Erwerb grundlegender Kulturtechniken) und unbegrenzten Aufgaben (z.B. Aufbau von Beziehungen zu Gleichaltrigen) 126 Vernetzung von Entwicklungsaufgaben: Weiterführung von Aufgaben der Kindheit; andere Aufgaben beginnen in der Adoleszenz, werden aber im frühen Erwachsenenalter fortgesetzt. konzentrierte Phase multipler Bewältigungsleistungen Gültigkeit der Entwicklungsaufgaben: Siehe S.270 Abb.7.1: „Entwicklungsaufgaben der Adoleszenz“ nach Havighurst mittlere Kindheit (6-12) Adoleszenz (12-18) Frühes Erwachsenenalter (18-30) Untersuchungsmethode: Ergebnisse: im geschlechtsspezifischen und zeitbezogenen Vergleich sowohl Entwicklungsaufgaben, für die sich konstante Bedeutsamkeit abzeichnet als auch solche, auf die unterschiedliche Urteilstendenzen (der Jugendlichen) zutreffen (siehe S.272, Abb. 7.2) Zeitbezogener Vergleich (im Vergleich der Rangplätze): die Entwicklungsaufgaben Beruf und Peergruppe sind zeit- und geschlechtsbezogen gleichbleibend in der jeweiligen Spitzengruppe der Bedeutsamkeit vertreten. Thematik der Freundschaftsbeziehungen gewinnt, Thematik der Entwicklungsaufgabe Selbsterkenntnis verliert an Bedeutung. Geschlechtsspezifischer Vergleich: z.B. ist geschlechtsrollenspezifischen Verhaltens wesentlich Jugendlichen Jungen die bedeutender als Aneignung weiblichen Entwicklungsaufgabe als Konstrukt der Veränderung Ökologische Entwicklungskonzeption(Oerter, 1978, 1986): Integration der Entwicklungsaufgabe in den theoret. Rahmen der ökologischen Entwicklungskonzeption Relevanz des Konzepts: Entwicklungsaufgaben bieten ökologisch valide Zugänge zur Analyse von externen und internen Faktoren für Veränderung spezifizieren hemmende und unterstützende Umweltbedingungen identifizieren die Bedeutung subjektiver Entwicklungstheorien für die Regulation der eigenen Aktivität fungieren als inhaltlich definierter Rahmen für die Nutzung von Konzepten, z.B. Coping, Handlungskontrolle, Prävention, die zur Operationalisierung von Anforderungsmerkmalen und Bewältigungsformen im Kontext konkreter Entwicklungsziele dienlich sind Kritik des Konzepts: Falls die Tatsache der Wertgebundenheit von Aufgaben und Zielen der Entwicklung missachtet wird. Außerdem können Entwicklungsaufgaben von normativen Standards individueller und gesellschaftlicher Art nicht gelöst werden. Kognitive Entwicklung (siehe auch Kap. 10 bis 14) 127 Bedeutung kognitiver Veränderung: unmittelbare Erweiterung der Denkoperationen qualitative Verbesserung der Informationsverarbeitungskapazität Veränderung bewusstseinsbildender Prozesse. Die u.a. auf der Nutzung des Potentials aus den beiden ersten Punkten beruht kognitive Voraussetzungen für besseren Umgang mit Komplexität, für Einnahme von Meta-Perspektiven... Charakteristika kognitiver Veränderungen: Denken in Möglichkeiten: Denken bleibt nicht länger auf das Wirkliche beschränkt. Fähigkeit, hypothetisch zu denken Abstraktes Denken: wird besser und umfassender z.B. begriffliche Abstraktion, Erfassen von Sinnstrukturen im Kontext gesellschaftlicher, sozialer, ideeller Sachverhalte, bezogen auf Politik, Wirtschaft, Moral... Metakognition: Die eigenen Gedanken werden Gegenstand des Denkens z.B. Bewusste Fokussierung der Aufmerksamkeit, Reflexion und Evaluation eines Denkvorgangs. Möglichkeiten der Organisation und Optimierung kognitiver Aktivitäten Multidimensionales Denken: Es können zunehmend mehr Aspekte in den Denkprozess einbezogen und verarbeitet werden z.B. Argumentation aus versch. Positionen und mit unterschiedlichen Zielen Relativität des Denkens: hinsichtlich der Bedeutung von Kriterien als Bezugssysteme in Bewertungs- und Entscheidungsprozessen Erklärungen kognitiver Veränderungen: Strukturgenetischer Ansatz: bis vor 20 Jahren dominierte die Orientierung an Piagets Theorie der kognitiven Entwicklung Aufbau formaler Operationen = Erwerb der zur Generierung mathematisch-logischer Systeme erforderlicher Denkstrukturen Psychometrischer Ansatz: Erforschung quantitativer Veränderungen kognitiver Fähigkeiten und diesbezüglicher individueller Unterschiede, die anhand von Intelligenztestverfahren erfasst werden (z.B.: IQ ab der frühen Adoleszenz zunehmend stabil) Informationsverarbeitungsansatz: differenziert Teilfunktionen und spezifiziert deren Bedeutung für kognitive Fähigkeiten Leistungsverbesserung im Bereich der selektiven und distributiven Aufmerksamkeit Bessere Gedächtnisleistung sowohl in KZG als auch in LZG Metakognition Soziale Kognition: zunehmende Differenziertheit in der Personenwahrnehmung und Urteilsbildung; Fortschritte im Erkennen von Perspektivität Fähigkeit zur Rollenübernahme Formales Denken: Möglichkeit der Dekontextualisierung Chandler (1987) verweist diesbezüglich auf die Notwendigkeit, in Fragen der Weiterentwicklung des Denkens den Rückbezug auf konkrete Lebensbedingungen einzubinden 128 Jugendlicher Egozentrismus: Physische Veränderungen und Veränderungen der sozialen Interaktion sind Anlass, die Aufmerksamkeit auf die eigene Person zu zentrieren und gleichzeitig eigene Gedanken und Gedanken anderer zu konzeptualisieren. Mögliche Folgen: Imaginery audience: der Jugendliche schreibt den Fokus seiner eigenen Aufmerksamkeit – nämlich die eigene Person- anderen in gleicher Weise zu und verhält sich deshalb wie für ein imaginäres Publikum Personable Faible: Empfinden einer völligen Individuation, die die Vorstellung ausschließt, dass eigene Gefühle, Handlungen, Entscheidungen für andere in gleicher weise zutreffen können. Generell: Führt die erhöhte Selbstaufmerksamkeit im Jugendalter zur Wahrnehmung der Gefährdung oder Verletzung des Selbst, sowie zur Bildung eines idealen Selbst. Körperliche und Psychosexuelle Entwicklung Auswirkungen auf die Gesamtentwicklung Körperwachstum und Motorik Körpergröße und Gewicht: Endgültige Größe mit 16 bis 18 Jahren erreicht (Mädchen ca. 2 Jahre früher) Körpergewicht nimmt auch im Erwachsenenalter noch zu, abhängig von körperl. Belastung und Ernährung. Wachstumsschub mit 12/13 Jahren (bei Mädchen) bzw. mit 14/15 Jahren (bei Jungen). Körperteile wachsen nicht alle mit synchroner Geschwindigkeit: 1. Kopf, Hände, Füße 2. Beine, Arme 3. Rumpf vorübergehend schlaksige, ungelenke Bewegungen Zunahme der Muskelkraft: v.a. bei Jungen Geschlechtsreifung (biosexuelle Entwicklung) verursacht durch eine beträchtliche hormonale Umstellung Körperliche Veränderungen bei der Geschlechtsreife Entwicklung der primären und der sekundären Geschlechtsmerkmale in einer ziemlich festgelegten Reihenfolge (siehe S.278, Tab. 7.1); Typische Entsprechungen zwischen männlichen und weiblichen Jugendlichen, wobei die korrespondierenden Entwicklungsabschnitte bei Mädchen um rund 2 Jahre früher stattfinden. Verhältnis von Schulter- zu Hüftbreite verkleinert sich bei Mädchen und vergrößert sich bei Jungen radikal. 129 Große individuelle Unterschiede in Reifungsgeschwindigkeit Entwicklung kann nicht eindeutig bestimmten Zeitmarken des Lebensalters zugeordnet werden. Die erste Menstruation bzw. Ejakulation findet immer früher statt. Veränderungen im Hormonhaushalt Wachstumshormone: Hypophysenhormon Somatotropin: unmittelbarer Einfluss auf Gesamtwachstum des Körpers Schilddrüsenhormon Thyroxin: Erzeugung nur auf Anweisung der Hypophyse; Einfluss auf Wachstum des Gehirns, der Zähne und der Knochen Hormone in der Pubertät: Hypophyse erhält von Hypothalamus den befahl, neue Hormone zu produzieren, die die Keimdrüsen (gonadotrope Hormone) und die Nebennierenrinde (adrenocortikotropes Hormon: ACTH) anregen. Jungen: (ab etwa 11 Jahren) Hoden, Nebennierenrinde Testosteron und Androgen Herstellung von Samenzellen, Wachstumsschub... Mädchen: (ab etwa 9 Jahren) Eierstöcke, Nebennierenrinde Östrogen und Progesteron Entwicklung der Brüste, Schambehaarung, Fettbildung, Menstruationszyklussteuerung... Akzeleration und Retardation frühere bzw. spätere Reifung im Vergleich zum Altersdurchschnitt Säkulare Akzeleration: Biologische Reife setzt im Laufe der Zeit immer früher ein (z.B. durchschnittliches Menarchealter in Deutschland um 1900: 16.2 Jahre. Heute: ca. 12 Jahre) Kluft zwischen biologischen und sozialem Erwachsensein wächst immer mehr. Individuelle Akzeleration und Retardation: Nirgendwo sonst im Leben unterscheiden sich Gleichaltrige so deutlich voneinander wie im Jugendalter. Der kognitive, emotionale und soziale Entwicklungsstand kann –im Vergleich von körperlich unterschiedlich weit entwickelten gleichaltrigen Jugendlichen- gleich bei allen drei körperlichen Reifegrad oder sogar in umgekehrter Reihenfolge liegen, so dass die am kindlichsten Aussehenden evtl. sozial am weitesten entwickelt sind. Problem: Umwelt reagiert v.a. auf die äußeren Unterschiede bei Jugendlichen. Auswirkungen: Spätreifende unausgeglichener, unzufriedener, negativeres Selbstkonzept, weniger Verantwortungsbewusst Frühreife leichter Anschluss an ältere Peergroups höheres Risiko für Drogenkonsum frühreife (amerik.) Mädchen Abweichung von kulturellen Normen von Schlankheit und Grazie für Frauen durch früh erreichte Werte von Körpergröße und Gewicht weniger beliebt, Unterordnung... (die verschiedensten Ergebnisse) Das Körperselbstbild bei Jugendlichen Acht Dimensionen des Körperselbstbildes bei 12- bis 16 Jährigen (Mrazek, 1987): 130 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. Fitness und Sport Äußeres und Körperpflege Figurprobleme Narzissmus (Ich finde meinen Körper schön) Körperentfremdung und Gesundheitsprobleme Rauchen und Alkohol Körperkontakt mit Verwandten Naschen Mit zunehmendem Alter wurden Narzissmus und Körperpflege wichtiger. Geschlechtsunterschiede: Bei Mädchen dominiert das kulturelle Schönheitsideal der Schlankheit/des Untergewichts Vorliebe erwachsener Frauen für Mädchenhaftigkeit Unzufriedenheit steigt mit dem Gewicht negativeres und differenzierteres Körperselbstbild als Jungen Bei Jungen wird Gewichtsabnahme fast ausschließlich negativ bewertet Ideal des männlichen und nicht des jungenhaften Körpers Faktoren von Roth (1998): Roth fand weiter Dimensionen des Körperselbstbildes. Z.B. Vertrauen und Misstrauen in die eigene Körperdarstellung, private und öffentliche Selbstaufmerksamkeit, externale und internale Komponente der Kontrollüberzeugung, Zufriedenheit mit Figur vs. Zufriedenheit mit Physiognomie Altersbedingte Veränderungen: Jugendliche der mittleren Adoleszenz zeigen größeres Vertrauen als jüngere in ihre körperliche Selbstdarstellung und eine geringere externale Kontrolliertheit. Mädchen werden tendenziell unzufriedener mit ihrer Figur, Jungen zufriedener. Schlichte Aufklärung kann für die Bewältigung körperlicher Probleme eine gr0ße Hilfe sein. Sexuelle Orientierung und Sexualverhalten Die Entwicklung des Sexualverhaltens ist ein kompliziertes Zusammenspiel zwischen biologischen Faktoren (hormonelle Entwicklung) und den psychosozialen Bedingungen, wie den erotischen Stimuli, die eine Kultur bereithält (z.B. in den Massenmedien), den sozialen Kontakten und den Settings, die Gelegenheit zu erotischen Erfahrungen bieten. Auch die Erfahrung der Eltern im Umgang mit Sexualität und die eigene frühe Erfahrung von Zärtlichkeit spielen eine Rolle. Eine Entwicklungstheorie sexueller Orientierung Die Geschlechtertrennung etwa ab Schuleintritt scheint ein notwendiger Entwicklungsschritt auf dem weg zur sexuellen Attraktivität im Jugend- und Erwachsenenalter zu sein. Wie kommt es zu homosexueller Neigung? Daryl J. Bem (1996) bietet eine Erklärung, die biologische, sozialpsychologische und entwicklungspsychologische Aspekte vereinigt: Biolog. Variablen (Gene, pränatale Hormone) kindliches Temperament Bevorzugung typisch männlicher (wild) oder typisch weiblicher (ruhig) Spiele und Aktivitäten 131 Bevorzugung von Peers mit gleichen Vorlieben ist das Kind Geschlechtskonform, wird das andere Geschlecht unähnlich, unvertraut und schließlich exotisch Gefühl der Fremdheit und Exotik Erregung des autonomen Systems Zunächst Antipathie und Unbehagen bei Anwesenheit des anderen Geschlechts; später Transformation der Erregung in erotisch-romantische Attraktion Das Exotische wird erotisch (auch wenn es sich um das gleiche Geschlecht handelt). Erklärungen: Extrinsischer Erregungseffekt: Im Zustand starker Erregung, die nichts mit sexueller Stimulation zu tun haben muss, wirkt eine Begegnung mit Sexualpartnern erregend. Vgl. Zweifaktorentheorie der Emotionen von Schachter und Singer (1962): Der erste Faktor ist die physiologische Erregung, der zweite stellt die inhaltliche Einschätzung der jeweiligen Situation dar, in der die Erregung auftritt. So kann der gleiche Erregungszustand unterschiedliche Gefühle von positiv bis negativ auslösen. Gegenläufiger Prozess: Eine negative Emotion wird durch eine positive aufgefangen und umgekehrt. So mag sich die negative Emotion gegenüber den exotischen Peers ins Positive verwandeln. Prägungseffekt: bei Tieren für Festlegung auf Sexualpartner nachgewiesen. Würdigung des Modells: Versuch, Hetero- und Homosexualität durch die gleichen Prozesse und Bedingungen zu erklären Primitiven genet. Biologismus vermieden Kurzzeit- und Langzeitstrategien des Sexualverhaltens evolutionäres Modell sexueller Strategien bei der Partnersuche nach Buss und Schmitt (1993) Selektionsprobleme: Siehe S. 286, Tab. 7.3 Kurzzeitstrategien des Sexualverhaltens sind für Männer wesentlich attraktiver als für Frauen, da Männer biologisch den größten Fortpflanzungseffekt erreichen, wenn sie möglichst viele Frauen kontaktieren können. Frauen suchen nach potentiell langfristigen Partnern Männer suchen nach Partnerinnen mit sexueller Bereitschaft bei Minimierung der Kosten und des Aufwandes Kulturelle Einflüsse: In unseren westlichen Kulturen, die eine individuelle Identität hervorbringen bestehen viele Freiheitsgrade bei der Partnersuche und eine große Variationsbreite an sexuellen Praktiken und Strategien bei der Partnersuche. Das Leistungsdenken wird auch auf die Sexualität übertragen. Befunde: Bei beiden Geschlechtern Bevorzugung kurzfristiger Strategien, d.h. die Bemühung, mit vielen potentiellen Sexualpartnern in Beziehung zu kommen. 132 Erste und häufigste Strategie: (zunächst unverbindliches) Dating Salisch und Oswald (1989): Mädchen wünschen Verstehen, Vertrauen, Rücksichtnahme, Treue, Liebe; Jungen wünschen gutes Aussehen. Jaspers und Mosebach (1990): Jungen sehen Sexualität losgelöst von der Beziehung, unabhängig; Mädchen sehen Sexualität als in die Beziehung eingebettet. Wenzel (1990): nach Auswertung von Bravo-Leserbriefen bei Jungen und Mädchen Leistungsdruck Jungen sehen sich eher aktiv, Mädchen finden sich mit passiver Rolle ab Bezüglich der Lanzeitstrategien sind Jugendliche beiden Geschlechts eher konservativ: beide äußern eine klare Langzeitperspektive und betonen die Werte der Bindung, Treue... Drei Thesen der Sexuellen Entwicklung nach Schmid-Tannwald und Kluge (1998) Beschleunigung: Eindeutige Vorverlagerung sowohl hinsichtlich der Geschlechtsreife als auch in Bezug auf die erste Koituserfahrung. Sexualalter: nicht das chronologische Alter, sondern die Jahre der Geschlechtsreife sind entscheidend für den sukzessiven Anstieg der Koituserfahrung. Annäherung: Die Geschlechter nähern sich im Sexualverhalten an. Dies gilt bereits für die Sexualreife: Fast kein Unterschied mehr zwischen Zeitpunkten der ersten Koituserfahrung. Religiöser Einfluss: In evangelischen Familien wird häufiger als in katholischen oder konfessionslosen Familien über Sexualität und Partnerschaft gesprochen. Kath. Eltern sind stärker gegen Koitus im Jugendalter. Dennoch berichten kath. Mädchen am häufigsten über Sexualkontakte. Jugendliche mit eng religiöser Bindung haben die geringste Koituserfahrung. Zur Relation zwischen Wissen und Verhalten nach Erhebungen von Kluge & Schmid-Tannwald Mangelhaftes und falsches Wissen als Ursache für ausbleibende Verhütung. Z.B. Können deutsche Jugendliche zu einem Großteil das Empfängnisoptimum nicht richtig benennen. Im geschlechtlichen Vergleich erweisen sich Mädchen als kundiger und interessierter. Die meisten Jugendliche werden nach wie vor von Freunden aufgeklärt oder holen sich Infos aus Büchern. Zur Prävention früher Sexualkontakte nach Schmidt, 1993 Frühe Sexualität ist „bürgerlich“ geworden, und darf von den Jugendlichen im Elternhaus ausgeübt werden. positives Stützsystem 133 Die Verfrühung des sexuellen Interesses und Sexualverhaltens kann durch funktionelle Äquivalenz anderer Aktivitäten aufgefangen werden., die ebenfalls mit dem Erwachsenenstatus, der bewussten Abweichung von soziokulturellen Normen, der Befreiung und Selbstdurchsetzung verbunden sind. Sexuelle Aktivität ist Teil der gesamten Identitätsformung und muss somit als Teilkomponente (sexuelle Identität) in den Gesamtentwurf von Persönlichkeit integriert werden. Neuerdings gibt es eine Bewegung (=Trendwende oder Modeerscheinung?) zurück zur Keuschheit bis zur Ehe. Vgl. Britney Spears Identität: das zentrale Thema des Jugendalters Zum Begriff der Identität wichtige Identitätskomponente im Jugendalter: das eigene Verständnis für die Identität, die Selbsterkenntnis und der Sinn für das, was man ist bzw. sein will Abgrenzung zum Selbst: Definition von Selbst: 1. Das Wesentliche einer Person, Kern des Persönlichkeitssystems 2. Akteur/Agent 3. Selbstwahrnehmung, Selbsterkenntnis Selbstkonzept: affektive Komponente mit Selbstvertrauen und Selbstwertgefühl; kognitive Komponente mit dem Wissen und der Wahrnehmung von sich; Der Identitätsbegriff geht auf Erikson (1968) und der Begriff des Selbst auf James (1890) zurück. Mead (1934): Die Reaktion des Subjekts auf die Gesellschaft = „I“ Andere Autoren unterscheiden zwischen dem privaten/persönlichen Selbst und dem öffentlichen/sozialen Selbst (Goffman, 1963). Dabei entsteht das soziale Selbst aus dem Bild, das die anderen sich von einem machen, und das dann wiederum vom Individuum erfasst wird. „Looking-glass-self“ (Cooley, 1922), weil das Individuum durch die Brille der anderen sieht. Burns (1982): das selbst, das ich bin (real); das Selbst, das ich sein möchte (ideal), und das Selbst wie andere mich sehen. Humanistische Psychologie (Bugental, Maslow, Rogers): wahres Selbst/Zentrum, das freigelegt werden muss Existentialphilosophen (Heidegger, Sartre): Selbst als Vakuum. Das Individuum soll bestehende Konventionen übernehmen, soziale und persönliche Identitäten wählen, die sein existentielles Vakuum maskieren. Ausgangspunkt für uns: Identitätsbegriff nach Erikson: 1. Antwort auf die Frage „Wer bin ich?“ 2. Herausbildung einer neuen Ganzheit, in der die Elemente des „alten“ mit den Erwartungen an die Zukunft integriert sind. 3. fundamentale Erfahrung von Kontinuität und Selbstsein 4. realistische Einschätzung der eigenen Person und Vergangenheit 134 5. sowie der eigenen Kultur und deren Erwartungen an die eigene Person 6. kulturelle und soziale Erwartungen werden kritisch hinterfragt 7. bzgl. fundamentaler Probleme wie die berufl. Zukunft die Partnerbeziehungen und religiöse und polit. Standpunkte 8. persönliche Verpflichtungen in diesen Bereichen 9. produktive Integration in die Gesellschaft 10. Gefühl der „Loyalität und Treue“ 11. tiefes Gefühl der Verwurzelung und des Wohlbefindens, der Selbstachtung und Zielstrebigkeit 12. Die sensible Phase für die Entwicklung der Identität ist die Adoleszenz Selbsterkenntnis und Selbstgestaltung sind die zwei Prozesse, die die Identitätsentwicklung vorantreiben. Identitätsentwicklung: Voller Tumulte oder ruhiges kontinuierliches Wachstum? Entgegen der allgemeinen Vorstellung (auch lange Zeit in der Psychologie) der Jugend als eine Zeit des „Sturm und Drang“ gibt die überwiegende Mehrheit der Jugendlichen an, keine tiefgreifenden Probleme zu haben und mit den Eltern und Peers gut zurecht zu kommen (Offer et al., 1988) und sich wohl zu fühlen. Dabei fühlen sich Mädchen häufig weniger attraktiv, labiler und unausgeglichener. Längsschnittstudien: Komponenten des Selbstkonzepts wie allgemeine Zufriedenheit, Emotionskontrolle, Selbstakzeptanz und Aussehen bleiben im Selbsturteil der Jugendlichen relativ stabil. Stabilität des Selbstkonzepts: Würde es sich, wie früher oft angenommen, um ein Stadium des Tumults oder gar des Zusammenbruchs aller bisherigen Werteinstellungen handeln, so müsste sich das in einer sehr schwankenden Selbstbeurteilung bemerkbar machen, die Korrelationen müssten niedrig oder gleich Null sein. Dieses Resultat ist aber in keiner einschlägigen Untersuchung aufgetreten. Das Selbstkonzept, hauptsächlich gemessen als Selbsteinschätzung, verändert sich im Jugendalter zu keinem Zeitpunkt dramatisch. Vielmehr bleibt es über die lange Zeitspanne der Jugend relativ stabil. Die absolute Höhe der Selbsteinschätzung steigt bei wiederholter Erfassung, also im Längsschnitt, an. Dieses Ergebnis kann aber auch mit der durch die Untersuchung bewirkten Erhöhung der Selbstaufmerksamkeit zu tun haben. Im Querschnittvergleich zeigen Kontrollgruppen und Altersgruppen keinen oder nur einen geringen Anstieg des Selbstwertes mit zunehmendem Alter. Die Struktur der Identität und ihre Veränderung im Jugendalter Wachsende Komplexität der Identität Erfasst man die Selbstbeschreibungen Jugendlicher über längere Zeit hinweg, so zeigt sich, dass sie differenzierter und zunehmend organisierter werden (Pinquart & Silbereisen, 2000): Konstruktion kontextbezogener Selbsts: z.B. gegenüber andersgeschlechtlichen Peers bin ich unsicher, gegenüber gleichgeschlechtlichen aber selbstsicher. Realbild und Idealbild werden immer deutlicher getrennt Trennung von authentischem und unauthentischem Selbst. 135 Jugendliche lernen allmählich, sich auch aus der Sicht anderer zu sehen. Einbeziehung der Zeitdimensionen: So war ich, so bin ich, so möchte ich sein. Kinder beschreiben sich dahingegen gewöhnlich gegenwartsbezogen Methode der Selbstbeschreibung: Ermöglicht man Jugendlichen, in umfangreichen Gesprächen über sich zu erzählen, dann stellt sich Identität als sehr komplexes Gebilde dar (Mey, 1999). Die Selbstbeschreibungen erweisen sich dabei als Entwürfe oder Konstruktionen der eigenen Identität, die sich nach der jeweiligen Bedürfnislage und den Erfahrungen richten. Solche narrativen Selbstbeschreibungen haben wenig mit den Messergebnissen von Fragebögen gemeinsam und können schon innerhalb eines Jahres drastisch umgeschrieben werden (sowohl inhaltlich als auch darstellungsstrategisch). Identität kann nicht wie Selbstkonzeptmessungen mit Hilfe stabiler Merkmale beschrieben werden, sondern eher als umfassendes Konstrukt des Selbst in seiner jeweiligen Erfahrungswelt. Die vier Formen des Identitätsstatus nach Marcia Erfassung des Aktuellen Identitätsstatus von Marcia, 1966, durch Erfassung des Ausmaßes an Verpflichtung in verschiedenen Bereichen wie Beruf, Religion und Politik. Vier Formen der Identität: diffuse Identität, Moratorium, übernommene und erarbeitete Identität Kennzeichnung einzelner Bereiche des Lebens, mit denen sich die Jugendlichen auseinander zu setzen haben, hinsichtlich dreier Dimensionen: Krise: Ausmaß der Unsicherheit, Beunruhigung oder Rebellion, das mit der Auseinandersetzung verbunden ist Verpflichtung: Umfang des Engagement und der Bindung in dem betreffenden Lebensbereich Exploration: Ausmaß der Erkundung des in Frage stehenden Lebensbereichs mit dem Ziel der besseren Orientierung und Entscheidungsfindung Keineswegs ist damit zu rechnen, dass alle Jugendliche auch alle vier Identitätszustände durchlaufen und dass die Identitätsausprägung zwangsläufig bei er erarbeiteten Identität endet. Waterman (1982): Progressiver Verlauf: über Moratorium zur erarbeiteten Identität Regressiver Verlauf: endet bei diffuser Identität Stagnierender Verlauf: verweilt entweder bei der übernommenen oder bei der diffusen Identität. Siehe S.297, Tab.7.5: „Kennzeichen der 4 Identitätszustände nach Marcia“ Untersuchungsbeispiele zur Identität als Struktur Meilman (1979): fand einen nahezu idealtypischen Verlauf, bei dem der prozentuale Anteil an erarbeiteter Identität mit dem Alter steigt. Archer(1982): Noch in der 12 Klasse besaßen 81% eine diffuse und übernommene Identität Erklärung dafür, dass in den Selbstkonzeptfragebögen kaum krisenbezogene oder problemanzeigende Urteile auftraten. 136 Identitätsformung und Bewältigungskonzepte: Neuenschwander (1996) bemühte sich um eine stringente Prüfung des Marcia-Ansatzes. Seine Theorie: Kritische Lebensereignisse die Identitätsformung kommt in Gang Anstieg des Selbstwertes Neue werte motivieren und werden richtungsweisend wachsende Kontrollüberzeugung („ich kann meine Ziele Verwirklichen“) integrierte Identität Befunde: Offenbar stehen zu Beginn des Identitätsformungsprozesses herausragende Lebensereignisse; die Steigerung des Selbstwertes steht zeitlich vor der Festigung der Kontrollüberzeugung Erweiterung des Identitätsspektrums Vier Formen diffuser Identität: Die Anzahl der Jugendlichen ohne feste Wertorientierung, mit geringer Verpflichtungsneigung und geringer Stabilität ist stark angewachsen (= diffuse Identität). Entwicklungsdiffusion: Übergangsform zum Moratorium oder zur erarbeiteten Identität. Sorgenfreie Diffusion: Person erscheint angepasst, sozial kontaktfreudig. Die Kontakte sind jedoch oberflächlich und von kurzer Dauer. Sie hat keine verbindlichen Werte. Störungsdiffusion: als Folge eines Traumas, das mit einem Mangel an inneren und äußeren Ressourcen einhergeht Isolation, Größenphantasien Kulturell adaptive Diffusion: möglicherweise die Diffusion der Zukunft (in unserer Multi-KultiGesellschaft). V.a. dann, wenn Unverbindlichkeit, Offenheit und Flexibilität gefordert werden. Sowohl berufl. Als auch privat erscheint es dann angemessen, sich nicht festzulegen, um den soziokulturellen Anforderungen gerecht zu werden. Traditionaler Typ: = eine Ausdifferenzierung der kulturellen Diffusion bei deutschen Jugendlichen nach Kraus und Straus (1990) Man bleibt beim Gewohnten (jedoch ohne Überzeugung Unterschied zu übernommener Identität) und schreckt vor Neuem und Fremdem zurück. Man wiederholt die elterlichen Muster, aber das „Identitätserbe“ ist zu einer bloßen „Identitätshülse“ geworden. Surfer: Erfolgreich in einer gefälligen Selbstrepräsentation und in rascher Kontaktherstellung ohne das Merkmal tieferer Verpflichtung: „waches, spielerisches Dahingleiten mit ständiger Positionskorrektur“ Isolierte: v.a. bei diskontinuierlicher Berufsbiographie in Verbindung mit der Konflikthaftigkeit der Herkunftsfamilie. Es fehlen äußere und innere Ressourcen. Normalität ist Identitätsziel. Patchworkidentität: Elkind (1990): ohne integrative Kraft zusammengesetzt, ohne Identitätskern. Werthaltungen und Gewohnheiten stehen unverbunden nebeneinander und widersprechen sich teilweise. 137 Patchworkidentitäten sind im Arbeitsleben der modernen Gesellschaft durchaus funktional, weil man besser mit der Unvereinbarkeit verschiedener Lebensbereiche zurecht kommt. Identität zwischen Widerspruch und Stimmigkeit Erst die Fähigkeit zur Selbstreflexion setzt das Ringen um Identität in Gang. Die Selbstreflexion führt aber auch zum Bewusstwerden der Diskrepanz zwischen Ideal- und Real-Selbst, was schmerzvoll sein kann Selbstdiskrepanz-Theorie Higgins (1987) Ideal-Selbst: Zukunftsentwurf/Wunschvorstellung der eigenen Identität Sollen-Selbst: die innere Repräsentation der Verpflichtungen und Aufgaben, die von Gesellschaft und Bezugsgruppen herangetragen werden. Vier Formen der Selbstdiskrepanz: 1) Aktual- Selbst versus Ideal-Selbst: Enttäuschung und Unzufriedenheit 2) Aktual-Selbst versus Aktual-Andere: Selbstbild stimmt nicht mit Fremdbild überein Scham, Verlegenheit, Niedergeschlagenheit 3) Aktual-Selbst versus Sollen-Andere: Der aktuelle Stand der Selbstattribute, so wie sie das Individuum wahrnimmt, stimmt nicht mit dem Sollen-Zustand überein, wie er von signifikanten anderen gewünscht wird. Furcht, Bedrohung, weil Gefahr oder Schmerz erwartet wird 4) Aktual-Selbst versus Sollen-Selbst: Aktueller Stand der Selbstattribute stimmt nicht mit eigenen Vorstellungen über die Aufgaben und Verpflichtungen überein. Schuld, Unbehagen, Selbstverurteilung Empirische Überprüfung: Lösen unterschiedliche Formen der Diskrepanz tatsächlich unterschiedliche Emotionen aus? Ja! Jugendalter: Für selbstreflexive Jugendliche ist sicherlich die Real-Ideal-Diskrepanz ein zentrales Thema. Der Selbstdiskrepanzansatz liefert auch Hinweise auf den Identitätsstatus: Moratorium und erarbeitete Identität lassen sich durch ein hohes Maß, übernommene und diffuse Identität durch ein geringes Maß an Selbstdiskrepanz kennzeichnen. Theorie der symbolischen Selbstergänzung Ansatz für das Verständnis von Identitätsentwicklung nach Gollwitzer & Wicklund (1985) Ein Individuum benutzt Indikatoren in Form von Symbolen für seine Selbstdefinition, da das Psychische selbst ja nicht greifbar ist. Diese Symbole werden so gewählt, dass sie der sozialen Umwelt die Selbstdefinition vermitteln. 138 Beispiele für Symbole Jugendlicher sind: a) Kleidung, Accessoires, Frisur. Verbale Ausdrücke, Musikvorlieben... (Symbole aus der Subkultur) diese vermitteln ihre Selbstdefinition den Peers gegenüber b) gute Schulleistungen, beruflicher Erfolg, Drogenmissbrauch... (Symbole aus der Erwachsenenkultur) diese Vermitteln ihre Selbstdefinition den Erwachsenen Erfährt eine Person den Verlust eines Indikators für das Selbst, so trachtet sie danach, diesen Defekt durch symbolische Selbstergänzung (Vervollständigung) auszugleichen, wobei sie sich auf ihr Idealbild von sich bezieht. Problem: die mit der symbolischen Selbstergänzung verbundene Realitätsverzerrung. wer sich für seine Identitätsziele entscheidet, will sie als symbolische Selbstergänzung um jeden Preis realisieren. Spezifische Bedeutung im Jugendalter: Die Theorie der symbolischen Selbstergänzung erklärt, sofern man die Wirkung der erhöhten Selbstaufmerksamkeit mit einbezieht, warum gerade im Jugendalter so starke Bemühungen um Identitätsformung einsetzen. Es ist die beginnende Selbstreflexion, die zugleich eine erhöhte Selbstaufmerksamkeit mit sich bringt und eine hohe Sensibilität für Defizite bzw. Verletzungen des Selbst erzeugt. Kompensatorische Bemühungen um die Vervollständigung des Selbst können dabei hohe oder geringe Realitätsnähe haben. Wenn schulische und berufliche Leistungen sowie Akzeptanz im sozialen Umfeld erreicht werden können, so dient die Selbstergänzung der angemessenen Identitätsentwicklung. Wenn andererseits solche Möglichkeiten ausfallen, so mündet die Bemühung um Selbstvervollständigung in Drogenmissbrauch, Kriminalität und Suche nach Anerkennung bei Extremgruppen. Versagen solche Bemühungen gänzlich, kommt es zur Selbstaufgabe, die bis zum Suizid führen kann. Zwei Stufen des Identitätsverständnisses im mittleren und höheren Jugendalter Riegel (1980): Widerspruch (v.a. in der Phase des Moratoriums) ist der Motor von Persönlichkeitsentwicklung/Identitätsbemühungen. Autonome Identität: Mensch erkennt sich und seine Möglichkeiten richtig, hat feste Lebensziele und Wertvorstellungen, denen er sich verpflichtet fühlt, und er hat Kontrolle über sich Widersprüche werden durch konsequentes Handeln, das sich an den Wertmaßstäben orientiert, ein für alle mal aufgehoben. Mutuelle Identität: Meist erst im frühen Erwachsenenalter: qualitative Strukturveränderung Der Mensch ist ständig Widersprüchen ausgesetzt (unvereinbare LebensIdentitätsentwürfe), durchlebt permanent Konflikte, z.B. Berufs-Familien- Dilemma. und Das Menschenbild wandelt sich von der autonomen Identität zur mutuellen (wechselseitigen) Identität: Man erkennt, dass der Widerspruch zum Menschsein selbst gehört und dass die Identität kein selbstbestimmtes kontrolliertes Ziel ist, sondern von 139 anderen mitdefiniert wird durch die Hereinnahme des Denkens, Fühlens und Strebens anderer, wobei die Identität des anderen ebenfalls des Austauschs bedarf. Sozialtheorie der beiden Stufen: Das Identitätsverständnis hat Auswirkungen auf die Sozialbeziehungen. Auf der Stufe der autonomen Identität wird der andere ebenfalls als unabhängig, selbstverantwortlich und einmalig konstruiert man respektiert diese Andersartigkeit und Autonomie, versucht nicht, sich einzumischen oder Grenzen zu verwischen. Aufbau von Toleranz = Grundlage für das Identitätsverständnis in demokrat. Gesellschaft. Grundlage: Relativistisches Denken: man erkennt, dass es verschiedene Wahrheiten gibt. Aber: Auf dieser Ebene können Konflikte nicht durch eine Synthese von widersprüchlichen Meinungen gelöst werden. Anders auf der Stufe der Mutuellen Identität: Die Menschen werden aufeinander bezogen konzipiert. Sie hängen voneinander ab, indem sie wechselseitig aneinander teilhaben. Durch dialektisches Denken werden Widersprüche aufgearbeitet und aufgelöst. Gesellschaftl. Identität: = dritte Stufe der Identitätskonzeption: Individuum: Träger der Gesellschaft und von dieser bestimmt. Man erkennt die Austauschbarkeit von Mitgliedern der Gesellschaft und die Funktionalität des Individuums als Element eines großen, nicht durchschaubaren und nicht direkt beeinflussbaren Systems. schmerzhafter Widerspruch zwischen selbsterlebter und bewusst konzipierter Einmaligkeit und der gesellschaftlichen Anonymität und Funktionalität. oft Wunsch nach gesellschaftl. Veränderung Suizid im Jugendalter Einige Fakten zum Suizidverhalten bei dt. Jugendlichen zweithäufigste Todesursache Im Jahr 2000 begingen ca. 1500 Menschen zwischen 5 und 25 Suizid Frauen und Mädchen begehen häufiger Suizidversuch, Männer und Jungen vollziehen häufiger den Suizid Ca. 80% aller suizidalen Akte werden vorher angekündigt; etwa 25 % der Suizidenten wiederholen ihren Selbsttötungsversuch innerhalb von 2 Jahren In Deutschland: Medikamenteneinnahme und Erhängen am häufigsten In USA: Erschießen und Erhängen die meisten Suizidversuche werden zwischen 15 und 35 Jahren unternommen Motive: 1. Soziale Konflikte, v.a. disharmonische, feindselige Familienbeziehungen 2. Liebeskummer und Partnerprobleme 3. Beachtung finden 140 Maskierter Suizid: Z.B. überproportional viele Verkehrstote unter den Spätadoleszenten und jungen Erwachsenen; Drogentote, die sich den Goldenen Schuss gaben... Entwicklungsstadien der Suizidhandlung nach Pöldinger (1968) Stadium I: Erwägung Aufgrund psychodynamischer Faktoren wie soziale Isolation, Identitätsverletzung etc. wird ein Suizid in Erwägung gezogen. Starke Orientierung an Modellen aus der Umwelt (Familie, Medien): Aufschluss über die verschiedenen Methoden des Selbstmordes. Dieses Stadium muss nicht unbedingt zum nächsten führen. Stadium II: Abwägung Schwanken zwischen Leben- und Sterben Wollen Hauptgrund für Ankündigung von Suizidabsichten (leider selten ernst genommen!). Schließlich Fazit-Tendenz für oder gegen das Vorhaben Stadium III: Entschluss Heimliches Vorbereiten des Selbstmordes. Der Betroffene erscheint ruhig. Der Entschluss bindet die Person an die Intention der Selbsttötung. Suizidales Verhalten als Identitätsproblem Ausgehend von der Diskrepanztheorie (Higgins, 1987) kann man annehmen, dass Selbsttötungstendenzen aus einer Identitätsstörung resultieren: Der Widerspruch zwischen selbstgesetzten Standards und dem aktuellen Status ist allzu gravierend. Nach der Theorie der symbolischen Selbstergänzung (Golwitzer & Wickelund, 1985) ist der Verlust von Indikatoren für ein stabiles Selbst so groß, dass er aus Sicht der Betroffenen nicht ausgeglichen werden kann. Suizidtheorie: Baumeister (1990): Suizid = Flucht vor dem Selbst Weg zum Suizid = Auseinandersetzung mit sich selbst mit unbefriedigendem Ergebnis Sechs (notwendige) Schritte zum Suizid: 1. Wahrnehmung einer gravierenden Distanz zw. Real- und Ideal-Selbst 2. (Internale) Selbstattribuierung 3. erhöhte Selbstaufmerksamkeit 4. Angst und Depression 5. kognitive Destruktion des Selbst (Vermeidung einer rationalen Auseinandersetzung) 6. Enthemmung als Folge der Selbstdestruktion Suizid Der Jugendliche im Spannungsfeld verschiedener Umwelten Identität ist immer Identität im Kontext 141 Marginalisierung: Nach Kurt Lewin (1936)entsteht der zentrale Konflikt des Jugendalters aus der Stellung des Jugendlichen zwischen Kindheit und Erwachsenendasein. Diese Zwischenstellung macht ihn -ähnlich den Angehörigen von Minderheitsgruppen- zur Marginalperson. Als solche erfährt er von zwei Seiten zusätzliche Belastungen und Unsicherheit: Der Übertritt in die Jugend ist der Übertritt in einen noch unbekannten neuen Lebensbereich dramatische körperliche Veränderungen und körperliche Erfahrungen, auf die auch die Umwelt reagiert. Der Konflikt der Jugendlichen als Marginalperson hängt in seinem Ausmaß davon ab wie groß die Kluft zwischen Erwachsenenkultur und Kindheit ist wie ausgeprägt sich der Jugendliche selbst als Marginalperson wahrnimmt. Die berufstätige Jugend nimmt diese Kluft wohl weniger wahr als Schüler, Studenten oder arbeitslose Jugendliche. In letzter Konsequenz führt die Marginalisierung zur Entfremdung von der umgebenden Gesellschaft und zur Wahl alternativer Lebensformen. Die Familie als Umwelt Auch in der Jugend spielt Familie noch eine große Rolle! Die Transformation familiärer Beziehungen im Jugendalter Eine wichtige Aufgabe des Erwachsenwerdens besteht in der Lösung von der Ursprungsfamilie und im Aufbau eines eigenständigen Lebens. Stierlin (1980) unterscheidet drei Beziehungsmodi: 1. Bindungsmodus, der die Kinder festzuhalten versucht 2. Delegationsmodus (Kinder werden zugleich festgehalten und ausgesandt) 3. Ausstoßungsmodus, bei dem das Kind vernachlässigt wird Dreher & Dreher unterscheiden drei Ablösungsmodi: 1. Distanzierung ohne Erlaubnis Entfremdung 2. Konfliktvermeidender Regulationsmodus mit instrumenteller Harmonisierung 3. Distanzierung mit Erlaubnis wachsendes gegenseitiges Vertrauen Umgang mit Dissens: (Fend, 1998, große Konstanzer Längsschnittuntersuchung) Dissens zwischen Eltern und Kind ist an sich etwas Normales und muss die Beziehung nicht nachhaltig belasten. Es kommt darauf an wie unterschiedliche Sichtweisen ausgehandelt werden und wie man sich gegenseitig wahrnimmt. Allgemein bedenkenswerte Verschlechterung des Wohlbefindens im Elternhaus bei beiden Geschlechtern zwischen 12 und 16 Jahren. Danach sinkt die Anzahl der Dissenspunkte wieder ab. Problematisch werden die Kind-Eltern-Beziehungen besonders dann, wenn beide eine unterschiedliche Einschätzung der Situation im Elternhaus haben Drei Familienbeziehungs- Typen: Fend (200) hebt drei Gruppen von Familien hervor: 142 1. mehrheitl. Hoher Bildungsanspruch, viele gemeinsame Unternehmungen; schließlich zunehmende Schwierigkeiten im Zeitraum von der siebten zur neunten Klasse: Verringerung der Leistungsbereitschaft, Verschlechterung der Beziehung Eltern versuchen mit Strenge und Druck ihre Autorität zu wahren 2. Kinder erlebten die meisten Probleme in der 7. Klasse, hatten sie in der neunten schon überwunden. Jugendliche fühlten sich zunehmend freier und akzeptierter Anpassung der Eltern an das wachsende Selbstständigkeitsgefühl der Kinder 3. Eltern = tolerierend, wenig bestrafend, Kinder = selbstbewusst, leistungsbereit, fühlen sich akzeptiert keine Beziehungsprobleme Wichtige Indikatoren der Eltern-Kind-Interaktion: Bewahrung gegenseitiger Freude aneinander durch Fehlen von Dauerkonflikten und Aufrechterhaltung konfliktfreier Zonen Fairness und Gerechtigkeit durch Aushandeln von Regeln Gemeinsame Freizeitaktivität in früher Adoleszenz Wenig punitiver und stärker argumentationsorientierter Erziehungsstil Vermeidung von Überbehütung, aber Aufrechterhaltung unterstützender Maßnahmen Schaffung von Zwischenbereichen der Unabhängigkeit Konstruktion eines realistischen Bildes vom eigenen Kind, bei dem einerseits Wunsch und Wirklichkeit nicht zu sehr auseinander klaffen und andererseits Übereinstimmung zwischen dem elterlichen Bild vom Jugendlichen und seinem eigenen Bild von sich selbst besteht Emotionale Distanzierung und Belastungsdämpfung durch Bindung Attachmenttheorie nach Steinberg (1989): Während ihrer körperlichen Reifung Verringert sich die Bindung der Jugendlichen zu ihren Eltern Erhöhung von Gefühlen sozialer Angst und Depression Dämpfungshypothese nach Armsden und Greenberg (1987): Die Qualität der Bindungsbeziehung zu den Eltern ist ein Puffer für Stress und Angst in der Übergangsperiode Schutz vor Gefühlen sozialer Angst und Depression Befunde: Papini et al. (1991) haben in einer Studie beide Hypothesen aufeinander bezogen: Eindeutige Bestätigung nur der Dämpfungshypothese enge, sichere und warme Beziehung zu Eltern wichtig! Exosystem Beruf: Berufstätigkeit der Mutter: Gerade dann, wenn die Kinder ins Jugendalter kommen, treten viele Mütter wieder ins Berufsleben ein. Zwei alternative Hypothesen: 1. Mutter erlebt Doppelbelastung Stress in der Familie nimmt zu Kinder stehen weniger unter Aufsicht, erfahren weniger Zuwendung 2. wegen der statussteigernden und emanzipatorischen Wirkung steigert die Berufstätigkeit das Wohlbefinden der Mutter positiv für Familie Dabei geht man von spillover aus, einem Überfließen der Befindlichkeit der Mutter auf die Befindlichkeit der Kinder. 143 Als Hauptergebnis dieser Untersuchung kann festgehalten werden, dass für die frühe Adoleszenz kein negativer Einfluss von der Berufstätigkeit der Mutter auf die Kinder ausgeht. Familien mit berufstätigen und solche mit nicht-berufstätigen Müttern unterscheiden sich nicht negativ hinsichtlich der Auswirkungen auf die Jugendlichen. Erklärungen der positiven Wirkung: Man kann vermuten, dass die Entwicklungsaufgaben der Ablösung vom Elternhaus und der Gewinnung von Autonomie leichter bewältigt werden können, wenn die Gefahr einer Überbehütung und Überkontrolle durch die permanente Anwesenheit der Mutter nicht gegeben ist. Außerdem wirkt die Berufstätigkeit der Eltern auch als Modell positiv auf die Kinder. Die Gleichaltrigen Die Funktion der Peergruppe Die Gleichaltrigen gewährleisten besser als Erwachsene die Verwirklichung von Gleichheit und Souveränität. Souveränität wird in der Peergruppe als Möglichkeit zur Selbstdarstellung und als Verwirklichung von Zielen, die zugleich Ziele der Gruppe sind, erfahrbar. So bewältigt die Peergruppe das Kunststück, Unabhängigkeit und wechselseitige Abhängigkeit zu integrieren. Bedeutung für wichtige Entwicklungsfunktionen in der Jugend nach Ausubel, Coleman, Eisenstadt und Erikson: Überwindung des durch Selbstreflexion ausgelösten Gefühls der Einsamkeit emotionale Geborgenheit lässt Formen von sozialen Aktivitäten zu, die außerhalb der Gruppe zu riskant wären Unterstützung beim Ablösungsprozess von den Eltern durch die normierende Wirkung einer Mehrheit („die anderen dürfen auch alle länger weg bleiben“) bietet Identifikationsmöglichkeiten, Lebensstile und Bestätigung der Selbstdarstellung Der Jugendegozentrismus kann sich ausleben: Jeder hat die Möglichkeit, die anderen als Publikum anzusehen und sich selbst zum Mittelpunkt zu machen (z.B. Großsprecherei, Schreien...) Peergruppe und Subkultur Eisenstadt (1966): Die Peergruppe und die durch sie getragene Subkultur (Jugendkultur) bringt die gesellschaftlichen Konflikte zum Ausdruck, ist also eine von der Gesellschaft produzierte Einrichtung neuer Kleidungsstil, Jugendsprache, Musikstile... = Reaktion auf die Einseitigkeit des Hauptstromes der Kultur Subkultur: Teilkultur, die neben und mit der Gesamtkultur besteht, wobei die übergeordneten Züge der Gesamtkultur einer Gesellschaft erhalten bleibt. Gegenkultur: Wenn die Subkultur eindeutig als Gegengewicht zur Gesamtkultur wirkt (gegengerichtete Normen...) Peer-Group Culture: die Subkultur, die durch die innere Angleichung und äußere Abgrenzung einer altershomogenen Gruppe entsteht. Gewöhnlich bezieht man sie auf die Peer-Gruppe der Jugendlichen. Kennzeichen einer Subkultur: 144 sich von der Gesamtkultur abhebendes Orientierungs- und Normensystem deutlich abweichender Lebensstil Vorhandensein eines Sozialsystems (Peergruppe) als Träger eines Normensystems und eines spezifischen Lebensstils Hinzu kommen räumlich-zeitliche Komponenten bezogen auf die Umwelt, in der Jugendliche lebt und die er gestaltet. Dominanz und Altruismus in der Peergruppe: Ein Erzeugnis der Evolution? Die dominantesten Gruppenmitglieder zeigen das ausgeprägteste prosoziale Verhalten. (vgl. Studie von Savin-Williams, 1987 biolog.-evolutionäre Basis dieses gruppendynamischen Phänomens) Peergruppe: Was ist das Besondere im Jugendalter? Stile: Peergruppe begegnet uns meist als Clique mit einer großen Vielfalt von Ausprägungsformen des jugendlichen Lebensstils. Typische Merkmale, die denen des Zusammenlebens im Hauptstrom der Kultur entsprechen (nach Sack, 1987, und Bourdieu, 1987): Korpus von Regeln, der von einzelnen erworben werden muss mit den beteiligten Gruppenmitgliedern abgestimmt werden muss wobei ein Interpretationsspielraum besteht Zugleich ist eine Teilnahme an einer Gruppe nicht verbindlich und man kann auch mehreren Gruppen angehören. Auch Jugendliche, die in ihrer Gruppe Verhaltensweisen zeigen, die stark vom Hauptstrom abweichen, passen sich im Erwachsenenalter dann meist schnell an. Es gibt allerdings Fälle, in denen Elemente von Stilen beibehalten werden (vgl. 68er Generation Ablehnung bestimmter Karrieremuster...) Die öffentlichen Gruppenstile der Jugendlichen kommen und gehen. Das dahinter liegende Muster jedoch bleibt gleich. Kommunikation: Unterschiedliche Schwerpunkte in versch. Jugendgruppen: sprachliche Kommunikation und Argumentation solidarisches handeln nonverbale Kommunikation über integrale Objekte (z.B. Computer, Musikgruppen, Motorräder) und homologe Objekte (z.B. Kleidung, Frisur Symbole der Zusammengehörigkeit und der Abgrenzung) Jugendjargon: Funktionen: er drückt Dinge kurz und knapp und oft auch simplifiziert aus und richtet sich damit gegen den Sprachstil der Erwachsenen Er drückt Erlebniszustände aus, deren Beschreibung mit der Erwachsenensprache angeblich nicht möglich ist Gefühl der Zusammengehörigkeit und der Abgrenzung gegenüber anderen Gruppen 145 Freundschaften, Soziale Netze und Cliquen Cliquen und soziale Netze: Man darf nicht vergessen, dass manche Jugendliche in keiner Clique, sondern sozial isoliert sind. Studie von Fend, 1998: Isolierte und in kleine Freundschaftsnetze eingebundene Jugendliche zeigten weniger Risiko- und Problemverhalten, dafür mehr Leistungsverhalten. Cliquengebundene setzten Erwachsenengesellschaft ab. sich am meisten von den Leistungsnormen der Isolierte zeigten die stärkste Erwachsenenorientierung. Die Beliebten und Kontaktfreudigen zeigten höheres Selbstbewusstsein. Es gibt auch deutliche Geschlechts- und Schulzugehörigkeitsunterschiede: Mädchen lebten weniger in Cliquen als Jungen. Am ausgeprägtesten sind Cliquenbildungen an dt. Hauptschulen, am geringsten ausgeprägt bei Mädchen auf dem Gymnasium. Der Wandel der Freundschaftsbeziehungen: Freundschaften dienen immer mehr als Medium der Selbstoffenbarung wechselseitige Rückmeldung von Verständnis, Vertrauen... Stabilisierung der Identität Douvan & Adelson (1966): In der frühen Adoleszenz sind Freunde einfach Personen, mit denen man etwas gemeinsam unternehmen kann. In der mittleren Adoleszenz steht das Bedürfnis nach Loyalität und Wechselseitigkeit im Vordergrund. In der späteren Adoleszenz (ab 17) wird Freundschaft wieder zu einer entspannteren gemeinsamen Erfahrung, Freundschaft wird nicht mehr so benötigt wie zuvor. Auf dem Weg zum anderen Geschlecht: Peergruppen dienen auch dazu, den Kontakt mit dem anderen Geschlecht aufzunehmen (siehe Studie von Noack, 1990) Mehr und mehr werden solche Orte aufgesucht, die es ermöglichen, sich dem anderen Geschlecht zu nähern. Sowohl die Orte als auch die Peerbeziehungen sind in sofern Mittel zum Zweck. Studie von Dunphy (1963) zu den Stufen der Gruppenentwicklung: Anfänglich gleichgeschlechtliche Cliquen beginnende Vermischung, eingeleitet von Gruppenmitgliedern mit hohem Status heterosexuelle Cliquen, die miteinander in Beziehung stehen Desintegration der Mischgruppe lose verbundene Paare, die miteinander befreundet sind Partnerschaft und Selbstwertgefühl: Berliner Längsschnittstudie von Silbereisen & Noack (1990): Den größten Zugewinn an Selbstwertgefühl verzeichneten die Jugendlichen, die in einer Partnerschaft waren, oder während der Erhebungszeit eine eingingen. Bischof (1975): Hauptfunktion der Peergruppe: Schaffen des Übergangs von den engen partikularistischen Beziehungen in der Familie zu den neuen, ebenfalls intimen und 146 partikularistischen Beziehungen zwischen Sexualpartnern, die eine dauerhafte Bindung eingehen. Das Mesosystem Familie – Peergruppe: rivalisierend oder komplementär? Situationshypothese: Studie von Brittain, 1969: Jugendliche orientierten sich an den Erwartungen der Eltern, wenn es um Entscheidungen für die Zukunft ging und an denen der Peers, wenn augenblickliche Status- und Identitätsprobleme Gegenstand des Konflikts waren Interaktionshypothese: Fend, 1998, Walper, 1998: Für das Mesosystem Eltern-Peergruppe ergibt sich –zumindest aus subjektiver Sicht der Befragten- ein harmonisierendes Bild, das durch die Generalisierung des Bindungstypus erreicht wird. Ähnliche Art der Bindung zu Eltern wie zu Peers deutliche Zusammenhänge zwischen guten Elternbeziehungen und positiven Werten bei Peerkontakten Zusammenfassung von Christine Gulde (Uni Bamberg) 147 Frühes Erwachsenenalter Günter Krampen & Barbara Reichle Kommt noch. 148 Erwachsenenalter und Alter Ulman Lindenberger Einleitung: S. 350 Mittleres und höheres Erwachsenenalter bezeichnen in etwas die Altersbereiche von 35 bis 65 sowie von 65 bis 80 Jahren; die Zeit nach dem 80. Lebensjahr gilt als hohes Alter. mittleres Erwachsenenalter: Differenzierung und Expansion von Aufgaben, Kompetenzen und Ressourcen „hineinwählen“ in verschiedene Lebensbereiche (z.B.: Partnerschaft, Beruf) hohes Alter: Einschränkungen erfordern Konzentration auf noch vorhandene Ressourcen „Abwählen“ von Lebensbereichen Zentrale Entwicklungsaufgabe des höheren Erwachsenenalters: von Expansion zu Konzentration Entwicklung im Erwachsenenalter Die generelle Architektur des Lebensverlaufs S. 350 Aufgabe der allgemeinsten Ebene der Psychologie der Lebensspanne ist die biologische und kulturelle Architektur des Lebenslaufs in ihren invarianten Grundzügen Strukturierende Alterfunktionen Baltes nennt drei interdependente Altersfunktionen: 1. die positiven Auswirkungen des evolutionären Selektionsdrucks nehmen mit dem Alter ab 2. der Bedarf an Kultur nimmt mit dem Alter zu 3. der Wirkungsgrad von Kultur lässt mit dem Alter nach Die Abnahme evolutionärer Selektionsvorteile mit dem Alter Abnahme nach der reproduktiven Phase deutlich beschleunigt wird nur geringfügig durch indirekte Selektionsvorteile, wie Nutzen der Großeltern für die Enkel, abgeschwächt möglicher Grund ist, dass in evolutionären Zeiträumen nur sehr wenig Menschen ein hohes Alter erreichten, so dass die Evolution nur bedingt wirkt Die Zunahme des Bedarfs an Kultur mit dem Alter Kultur = alle psychischen, sozialen, materiellen und wissensbasierten Ressourcen, die Menschen hervorbringen bis zur Adoleszenz die Entwicklung im Kontext der Reifung des Frontalhirns 149 ab der Adoleszenz wird Entwicklungszugewinn zur kulturellen Aufgabe unter zunehmen schwierigeren biologischen Bedingungen Abnahme des Wirkungsgrads von Kultur mit dem Alter S. 352 das biologische Potential weist eine negative Beziehung zum Alter auf, daraus folgt: mit zunehmenden Lebensalter sind mehr materielle, soziale, ökonomische oder psychologische Ressourcen erforderlich, um ein hohes Funktionsniveau in einem bestimmten Gebiet zu erhalten oder neu zu erzeugen (z.B.: mehr Trainingssitzungen um etwas zu erlernen) das maximale Funktionsniveau liegt bei älteren Erwachsenen niedriger als bei jüngeren (z.B.: die maximale Gedächtnisleistung) Law of Pracitice generell ist es umso schwerer seine Leistung auf einem bestimmten Gebiet zu steigern, je höher sie bereits ist je älter eine Person ist, desto höher ist ihre Wahrscheinlichkeit auf einem Gebiet bereits sehr viel gelernt zu haben Veränderung der relativen Ressourcenallokation S. 353 3 allgemeine Ziele der Entwicklung 1. Zuwachs / Erreichen höherer Funktionsniveaus 2. Aufrechterhaltung 3. Regulation von Verlusten Funktionserhalt und Verlustregulation werden wichtiger übergeordnetes Ziel der psychischen Entwicklung im mittleren und späten Erwachsensalter: von einer überwiegend zuwachsorientierten zu einer erhaltenden und verlustregulierenden Allokation von Ressourcen das Verhältnis zwischen den verschiedenen Zielen ist interaktiv und dynamisch sie können zu einander in Widerspruch geraten Selektive Optimierung mit Kompensation S. 354 Baltes & Baltes (1990): Modell der selektiven Optimierung mit Kompensation (SOK): erfolgreiche Entwicklung wird durch das Zusammenspiel dreier übergeordneter Entwicklungsprozesse hervorgebracht 1. Selektion = Auswahl von Entwicklungsbereichen 2. Optimierung = Produktion von Entwicklungsgewinnen 3. Kompensation = Aufrechterhaltung des Funktionsniveaus bei Verlusten erfolgreiche Entwicklung = gleichzeitige Maximierung von Gewinnen und Minimierung von Verlusten die Entwicklungsprozesse können aktiv oder passiv, intern oder extern erfolgen (Bsp:: passive, externe Selektion: ein Kind wird auf ein neusprachliches Gymnasium geschickt, weil dieses das einzige Gymnasium in der Stadt ist > beeinflusst Lebenslauf des Kindes; externe Kompensation: Verwendung eine Rollstuhls) 150 Handlungstheoretische Ausformulierung Elektive und verlustbasierte Selektion S. 355 elektive Selektion = Auswahl von Handlungszielen, die den eigenen Werten und Kompetenzen entsprechen verlustbasierte Selektion = Veränderung oder Aufgeben von Zielen als Reaktion auf Einschränkung des Verhaltensspielraums Optimierung des Handlungsgefüges Anwendung von Mittel-Zweck-Relationen bei der Zielverfolgung Optimierung: eine Handlung soll zu möglichst vielen Zielen beitragen Kompensation widersprechen sich Ziele, weil nicht genügend Ressourcen vorhanden sind, um alle zu erreichen, werden einige von ihnen abgewählt oder modifiziert und das Investment in andere erhöht > selektive Optimierung mit Kompensation Das Modell der selektiven Optimierung mit Kompensation aus handlungstheoretischer Sicht - Beispiele Selektion Optimierung elektive Selektion: - Bildung von Zielen verlustbasierte Selektion: - Fokussierung auf weniger Ziele - Erwerb neuer Fähigkeiten Übung Nutzen von Gelegenheiten Gebrauch externer Hilfe Kompensation - Mobilisierung latenter Reserven - vermehrte Anstrengung Intellektuelle Entwicklung im mittleren und höheren Erwachsenenalter Zweikomponentenmodelle der intellektuellen Entwicklung Biologische Grundlagen S. 356 das Zweikomponentenmodell von Baltes (1987) unterscheidet zwischen biologischen und kulturellen Determinanten kognitiver Leistungen Grundlage hierfür ist die Konsistenz der Unterschiede zwischen alterungsanfälligen und alterungsresistenten intellektuellen Fähigkeiten alterungsanfällig: v.a. Leistungen, die auf Schnelligkeit , Genauigkeit und Koordination elementarer kognitiver Prozess beruhen (z.B.: Wahrnehmungsgeschwindigkeit, Merkfähigkeit) = Fertigkeiten = prozedurales Wissen altersresistent: Leistungen, die das Niveau von Fertigkeiten und die Größe und Qualität von Wissensbeständen betreffen; diese Leistungen nehmen im Erwachsenenalter zu und fallen erst im sehr hohen Alter ab = Wissensbestände = deklaratives Wissen Mechanik und Pragmatik Unterscheidung zwischen absolutem und relativem Vermögen bereits 1777 von Johann Nicolaus Tetens ( = Vorläufer Modell) Kurzinfo zu Tetens: 151 1736 in Deutschland geboren Begründer der Psychologie der Lebensspanne 1777 Hauptwerk: „Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwicklung“ Fluide und kristalline Fähigkeiten S. 361 Theorie der fluiden und kristallinen Fähigkeiten 1971 von Catell ( =Vorläufer Modell) Baltes (1987): Modell der biologisch bestimmten Mechanik und der kulturell geprägten Pragmatik der Kognition Die Mechanik der Kognition Mechanik der Kognition bezeichnet die biologische Komponente der kognitiven Leistungsfähigkeit und des kognitiven Entwicklungspotentials die Ursachen für den Zuwachs der Mechanik zu Beginn des Lebens sind grundsätzlich verschieden von den Ursachen für die Abnahme in der zweiten Lebenshälfte Ursachen für den Zuwachs: interaktiver Aufbau neuronaler Strukturen Ursachen für Abnahme: nachlassender phylogenetischer Selektionsdruck und alternsbezogene Dysfunktionen Die Pragmatik der Kognition S. 361 Pragmatik der Kognition erfasst die kulturelle Dimension der intellektuellen Entwicklung Erwerb des pragmatischen Wissens kann normativ (z.B. allgemeine Schulpflicht), universell in allen Gesellschaften (z.B. informelle Unterweisung durch Mentoren) oder idiosynkratisch (z.B. professionelle Expertise) sein Normativ-pragmatische Wissensbestände S. 362 Kinder investieren während der Schulzeit mechanisches kognitives Potential in allgemeine Wissensbereiche pragmatisches Wissen folgt also ontogenetisch dem Mechanischen während das mechanische Wissen dem gegenwärtigen Leistungstand entspricht, ist das pragmatische Wissen stärker mit sozibiographischen Faktoren verknüpft Personenspezifische pragmatisches Wissen aufgrund der geringen Allgemeinheit entgeht dieses Wissen mist standardisierter Testung Expertise ein großer Teil der kognitiven Zugewinne geht im mittleren Erwachsenenalter auf den Erwerb von personenspezifischem pragmatischem Wissen zurück die positiven Auswirkungen der Expertise überschreiten meist nicht die Grenzen des Entsprechenden Bereichs werden jenseits des Inhaltsbereichs der Expertise Effekte beobachtet, so ist eher von einem Transfer pragmatischen Wissens auszugehen als von mechanischen Veränderungen erworbenes Wissen befähigt alternde Menschen in Beug auf ihren Expertisebereich die negativen Auswirkungen der alternsbedingten Abnahme der Mechanik abzuschwächen 152 Mechanik und Pragmatik: Evolutionäre und ontogenetische Abhängigkeiten S. 363 Menschen entwickeln bereits vor der Geburt Lernmechanismen und bereichspezifische Constraints (z.B. im Bereich der Wahrnehmungsleistungen von Sprache) die Pragmatik der Kognition baut auf dieser vorstrukturierten Mechanik auf Menschen erzeugen Wissensformen (z.B. Geometrie) und Verhaltensmuster (z.B. in die Vorlesung rennen) die nicht als direkte Konsequenz evolutionären Selektionsdruck gesehen werden können Interaktion von Mechanik und Pragmatik in der frühen Kindheit ist die Pragmatik der Inhalt für den Aufbau der Mechanik, d.h. seine strukturelle Voraussetzung Höchstleistungsalter = Alter in dem ein bestimmter Leistungsbereich (z.B. Turnierschach) optimal ausgebildet ist pragmatisches Wissen schwächt die Grenzen mechanischer Leistung ab im Laufe des Lebens verlagert sich das Potential von intellektuellem Zugewinn auf selektive Pflege und kompensatorischer Erweiterung bestimmter Wissensbestände Entwicklungszugewinne im Erwachsenalter: Stufenkonzeption und funktionalistische Zugänge (Unter-der-Lupe-Kasten S. 365) Stufenkonzeption: Entwicklungszugewinne im Erwachsenenalter folgen einer stufenhaften Logik hierfür gibt es keine überzeugenden empirischen Belege funktionalistischer Zugang: Betonung der lokalen und graduellen Natur des Wissenserwerbs Zweikomponentenmodell Relative Stabilität intellektueller Leistungen über die Lebensspanne S. 366 drei Aspekte intellektueller Leistungsfähigkeit: 1. Veränderung der relativen Stabilität oder dem Ausmaß, indem interindividuelle Unterschiede in späteren durch interindividuelle Unterschiede in früheren Abschnitten der Ontogenese vorhergesagt werden können 2. Veränderungen in der Heritabilität oder dem Ausmaß, in dem interindividuelle Unterschiede in intellektuellen Leistungen auf genetische Unterschiede zurückgehen 3. Veränderungen im Ausmaß des Zusammenhangs (Kovariation) zwischen verschiedenen intellektuellen Fähigkeiten Beachte: die meisten Befunde beruhen auf IQ-Tests = unspezifisches Maß intellektueller Leistungsfähigkeit Verhalten im Säuglingsalter als Prädiktor intellektueller Leistungsfähigkeit S. 366 Habituations- und Wiedererkennungsverhalten im Gegensatz zu früheren Befunden mit standardisierten Maßen der Säuglingsentwicklung haben Arbeiten mit Habituationsund Wiedererkennungsparadigmen (vgl. Kapitel zehn und zwölf) ein beachtliches Ausmaß an relativer Stabilität zwischen Säuglingsverhalten und Intelligenz im Kindesalter zum Vorschein gebracht 153 genauer: Unterschiede im Habituations- und Wiedererkennungsverhalten im Alter zwischen zwei und acht Monaten korrelieren moderat mit den Ergebnissen von Standardintelligenztest im Alter zwischen einem und acht Jahren Inhibition und Bevorzugung von neuem Erklärung der Befunde: Säuglinge, die sich schneller an Reize gewöhnen und eine höhere Präferenz für Neues aufweisen, sind eher in der Lage Handlungstendenzen, die mit bereits bestehenden Repräsentationen verknüpft sind, zu hemmen Annahme: Inhibition und Bevorzugung von Neuem sind übergreifenden Merkmale der Intelligenz Relative Stabilität nach dem Säuglingsalter S. 367 im Kindesalter (1-12 Jahre) bleibt die Korrelation zwischen den Maßen des Habituationsverhaltens und der Intelligenz ontogenetisch stabil aber die Korrelationen nach dem Säuglingsalter nehmen zwischen den Messungen ab gleichzeitig nimmt die Höhe der Korrelation, die sich auf denselben Zeitraum zwischen den Messzeitpunkten besteht kontinuierlich bis ins späte Erwachsenenalter zu die Sieben-Jahres-Stabilität = Messungen mehrer intellektueller Fähigkeiten über sieben Jahre kann als valider Indikator der generellen Intelligenz im Alter zwischen 25 und 67 Jahren gelten Interpretation interindividuelle Unterschiede verändern sich zu Beginn der Ontogenese relativ schnell dies führt zu größeren Mengen an Varianz je Zeiteinheit verglichen mit den nachfolgenden Lebensabschnitten im hohen Alter kommt es zu einer partiellen Neuordnung individueller Unterschiede Heritabilität S. 367 Heritabilitätskoeffizient = Ausmaß, in dem individuelle Unterschiede in einem Verhaltensmerkmal mit interindividuellen Unterschieden in der genetischen Ausstattung zusammenhängen Zunahme der Heritabilität in der ersten Lebenshälfte genetisch bedingt individuelle Unterschiede kommen unmittelbar in der Mechanik zum Ausdruck die Heritabilität nimmt in der ersten Lebenshälfte zu im hohen Alter geht sie auf einen Wert um 60 % zurück Mögliche Gründe S. 368 die relative Stabilität im Erwachsenenalter ist aus zwei Gründen besonders hoch: 1. die genetischen Varianzquellen haben sich auf hohem Niveau stabilisiert, d.h. sie sind hoch und es kommt nur wenig neue Varianz hinzu 2. die individuellen Lebensbedingungen sind unterschiedlicher als in der frühen Kindheit, mit genetischen Unterschieden korreliert und stabil 154 im hohen Alter könnte die Abnahme der relativen Stabilität, der Heritabilität und des Leistungsniveaus mit dem weniger wirksamen Selektionsdruck der Genexpression zusammenhängen Fähigkeitsstruktur Differenzhypothese bzw. Gesetz der nachlassenden Gewinne von Spearman: das Ausmaß an positiver Kovariation zwischen verschiedenen intellektuellen Fähigkeiten steht in Gegenläufiger Beziehung zum durchschnittlichen Fähigkeitsniveau einer Population das Ausmaß an Kovariation zwischen verschiedenen Fähigkeiten nimmt demnach mit zunehmendem Leistungsniveau ab Veränderliches Gewicht des Generalfaktors die Differenzhypothese beruht auf der Annahme, dass niedrige Leistungen vorwiegend durch ein Ensemble bereichsübergreifender leistungsbegrenzder Faktoren verursacht wird hohe Leistungen hingegen ein intaktes kognitives System voraussetzen und vorwiegend durch bereichsspezifische Bedingungen begrenzt werden die Differenzhypothese legt nahe, dass der Generalfaktor Intelligenz im Laufe der Kindheit an Gewicht verliert vom Jugendalter bis in späte Erwachsenenalter relativ konstant bleibt im hohen Alter aufgrund der Zunahme umfassender Begrenzungen der Effizienz der Informationsverarbeitung erneut zunimmt Differenzierung und Dedifferenzierung S. 369 intellektuelle Entwicklung über die Lebensspanne kann als Abfolge von Differenzierung und Dedifferenzierung gesehen werden so hat die Berliner Alterstudie für das hohe Alter (Baltes & Lindenberg, 1997) gezeigt: die Altersgradienten mechanischer und normativ-pragmatischer intellektueller Fähigkeiten konvergieren im hohen Alter sie ergeben ein Bild des generalisierten linearen Rückgangs die Interkorrelationen verschiedener intellektueller Fähigkeiten sind im hohen Alter deutlich höher und gleichförmiger als im Erwachsenenalter (intrasystemische Kovarianzdedifferenzierung) grundlegende sensorische und sensomotorische Fähigkeiten weisen im hohen Alter wesentlich stärkere korrelative Beziehungen zu intellektuellen Fähigkeiten auf als im sonstigen Erwachsenenalter (intersystemische Kovarianzdedifferenzierung) Historische und ontogenetische Plastizität S. 369 das Leistungsniveau wird von Veränderungen der dinglichen und soziokulturellen Umwelt beeinflusst manche dieser Veränderungen sind historisch und betreffen ganze Gesellschaften Kohorteneffekte, Periodeneffekte und gesellschaftlicher Wandel Kohorteneffekt = zeitlich stabiler Unterschied zwischen Geburtsjahrgängen Periodeneffekt = spezifischer Einfluss bestimmter historischer Ereignisse über alle Altersgruppen hinweg 155 gesellschaftlicher Wandel = generelle und zeitlich ausgedehnte Veränderung in den Umweltbedingungen, die alle Mitglieder der Gesellschaft betreffen Nachweis von historischen Einflüssen Kohorten-Sequenzdesigns erlauben querschnittliche und längsschnittliche Vergleiche sowie Vergleiche unabhängiger, zu jedem Messzeitpunkt neu gezogener, Stichproben identischer Geburtsjahrgänge bestes Beispiel: Seattle Longitudinal Study: derzeit umfangreichste KohortenSequenzstichprobe zur intellektuellen Entwicklung im Erwachsenenalter (Schaie, 1996) Vorsicht!: wegen der diversen Effekte führen Längsschnittsuntersuchungen nicht unbedingt zu genaueren Schätzungen als Querschnittsuntersuchungen Kognitive Intervention im Alter: Aktivierung des Lernpotentials S. 370 kognitive Intervention stellt einen Weg dar, Plastizität in unterschiedlichen Bereichen der intellektuellen Leistungen zu bestimmen zwei Bereiche der Mechanik: 1. fluide Intelligenz = Denkvermögen im Zusammenspiel von Induktion und Deduktion 2. episodisches Gedächtnis = Fähigkeit zum Einprägen und Abrufen neurer Informationen kognitive Interventionsstudien bestehen meist aus Prätest - Intervention – Posttest geistig gesunde ältere Erwachsene zeigen deutliche Leistungszugewinne kognitive Plastizität bleibt bis ins hohe Alter erhalten Größenordnung der Leistungszugewinne entspricht in etwa dem Ausmaß des Verlustes der vorangegangen 15 bis 20 Jahre Leistungszugewinne sind über mehrere Monate bisweilen bis Jahre stabil aber Leistungszugewinne im hohen Alter sind deutlich niedriger als in anderen Abschnitten des Erwachsenenalters Reaktivierung von Strategien S. 372 die Wirksamkeit der Intervention beruht wahrscheinlich auf Reaktivierung vorhandener Strategien Beleg: selbstgesteuertes Üben ist bei fluiden Testleistungen genauso wirksam wie Intervention interventionsbedingte Leistungsgewinne sind bei fortgeschrittenen dementen Erkrankungen deutlich reduziert Ausmaß der kognitiven Plastizität könnte als Frühdiagnose genutzt werden der positive Transfer geübter Leistungen auf ähnliche Fähigkeiten ist gering Altersunterschiede zwischen jungen und älteren Erwachsenen nehmen an den Leistungsobergrenzen zu die Intensität von Intervention ist meist zu gering, um zu den Leistungsobergrenzen zu gelangen (kein Testing-the-limits); erkennt man daran, dass die Leistungszugewinne linear verlaufen Testing-the-limits S. 373 durch intensive Intervention werden die Obergrenzen der Leistung bestimmt 156 bei Training der Merkfähigkeit (mit der Methode der Orte) erreicht kein einziger der älteren Erwachsenen die mittlere Leistung der jungen Erwachsenen Altersunterschiede der Leistungsobergrenzen sind sehr stabil und wahrscheinlich irreversibel die Koordination mehrerer Wahrnehmungs- und Handlungsstränge ist für ältere Erwachsene besonders schwierig Generalisierbarkeit interventionsbedingter Leistungszugewinne klassische Frage der Trainingsforschung: Was wird durch Training verändert, Fähigkeit oder Fertigkeit? Trainierbar sind Fertigkeiten S. 374 Fertigkeiten sind aufgaben- und kontextspezifisch Belege: engen Grenzen des positiven Transfers und Interventionsresistenz der Altersunterschiede an den Leistungsobergrenzen Steigerung des Kompetenzerlebens S. 374 aber Trainingsprogramme sind nicht sinnlos, sie steigern das Erleben intellektueller Kompetenz und wirken sich positiv auf das subjektive Wohlbefinden sowie das Erleben des eigenen Handlungspotentials Kognitiver Aufwand neuer Fertigkeiten bei der Entscheidung, was trainiert werden soll, ist solchen Fertigkeiten der Vorzug zu geben, die zur kompetenten Bewältigung des Alltags beitragen, insbesondere Fertigkeiten die die kompensatorische Nutzung externer Hilfsmittel betreffen Altersunterschiede in der Mechanik: Purifizierung der Messung S. 375 Personen unterschiedlichen Alters können sich systematisch im Ausmaß an Vorerfahrung unterscheiden Messungen werden also von Faktoren beeinflusst, die zwar mit dem Alter zu tun haben aber nicht unmittelbar mit Altersveränderungen in der Mechanik zusammenhängen (z.B.: wissensbasierte aufgabenrelevante Strategien, motivationale und emotionale Faktoren) Vorteile von Messungen an der Leistungsobergrenze Testing-the-limits ist nur wenig durch pragmatische und andere Einflüsse kontaminiert an den Leistungsgrenzen zutage tretenden Altersunterschiede sind mit größerer Sicherheit auf die Mechanik der Kognition zurückzuführen als Leistungsunterschiede im Normalbereich in Verbindung mit entsprechenden Theorien kann Testing-the-limits zum Verständnis der Streubreite der ontogenetischen Veränderung beitragen Vorhersage bei Ausweitung von Testing-the-limits auf die gesamte Lebensspanne: im Bereich der Mechanik Verschiebung der Leistungsergebnisse zugunsten jüngerer Erwachsener 157 Determinanten der mechanischen Entwicklung im Erwachsenenalter S. 376 Ressourcenorientierung dieser Ansatz postuliert eine möglichst kleine Anzahl von Determinanten (=kognitiven Ressourcen) der Altersunterschiede (Bsp. für Ressource: Verarbeitungsgeschwindigkeit) Vorteil dieses Ansatzes: sparsam Nachteil: Mangel an kognitionspsychologischer und neuropsychologischer Plausibilität Prozessorientierung dieser Ansatz postuliert eine große Anzahl von Ursachen für Altersveränderungen in der Mechanik er geht davon aus, dass jede intellektuelle Leistung auf einer spezifischen Kombination von Prozessen beruht Altersveränderungen in verschiedenen Leistungen bedürfen also jeweils einer eigenen Erklärung Vorteil: größere kognitionspsychologische und neuropsychologische Plausibilität Nachteil: Mangel an Sparsamkeit Übergreifenden und spezifische Ursachen S. 376 übergreifende Ursachen = Ressourcen spezifisches Ursachen = Prozesse die Ressourcenorientierung geht von drei Konstrukten aus: 1. Verarbeitungsgeschwindigkeit 2. Arbeitsgedächtnis (Kurzzeitspeicher) 3. Inhibition = Fähigkeit irrelevante Informationen automatisch oder intentional zu hemmen Verarbeitungsgeschwindigkeit wird als Wahrnehmungsgeschwindigkeit gemessen allerdings ist Wahrnehmungsgeschwindigkeit wahrscheinlich eine zusammengesetzte Größe mit hohem Verarbeitungsgeschwindigkeits- Anteil Wahrnehmungsgeschwindigkeit ist stärkster Prädiktor von Altersunterschieden der Mechanik Arbeitsgedächtnis S. 377 sein Erklärungsgehalt ist schwer bestimmbar, denn Altersveränderungen des Arbeitsgedächtnisses werden of mit der Verarbeitungseffizienz oder der Verarbeitungsgeschwindigkeit in Verbindung gebracht eine wesentliche Funktion des Arbeitsgedächtnisses ist die Kontrolle zielgerichteten Handelns, damit ist es eher ein wichtiger Bestandteil intelligenten Handelns als eine seiner Determinanten Inhibition wird mit Aufgaben gemessen, bei der die Pb eine starke Handlungstendenz unterdrücken müssen Bsp.: Test mit Farbwörtern: grün blau rot blau ... 158 bei älteren Erwachsenen ist die Inhibition nicht mehr handlungsrelevanter Aufgaben weniger effizient es ist aber schwierig Altersunterschiede der Inhibition von solchen der Aktivierung abzugrenzen Kognitive Neurowissenschaften des Alterns S. 377 es wird untersucht welche anatomischen, neurochemischen und funktionalen Veränderungen des Gehirns mit Altersunterschieden im Verhalten zusammenhängen dies sind wahrscheinlich Veränderungen des Stirnhirns (z.B. der dorsolaterale präfrontale Kortex) und die Abnahme von Neurotransmittern beides hängt zusammen weil die Verarbeitung im Stirnhirn dopamingestüzt funktioniert Stirnhirn und exekutive Funktionen S. 378 Regulation und Koordination von Verhalten beanspruchen bestimmte Areale des Stirnhirns diese Fähigkeiten sind auch besonders von kognitiver Alterung betroffen Das Dilemma behavioralen Alterns aus neurokognitiver Sicht auf der einen Seite nimmt der Bedarf an kognitiver Kontrolle mit dem Alter zu, da die Zuverlässigkeit der Sinne und des Bewegungsapparats sinkt auf der anderen Seite nimmt aber die Effektivität kognitiver Kontrolle ab Kognitives Altern kann als Verknappung einer zunehmend nachgefragten Ressource angesehen werden. Zusammenfassende Überlegungen S. 379 Zweikomponentenmodell Gegenüberstellung von biologischer Mechanik und Pragmatik erworbenen Wissens empirische Unterstützung: Existenz altersanfälliger und altersresistenter Fähigkeiten Normatives und personenspezifisches Wissen erworbenes Wissen (Pragmatik) sich bis ins hohe Alter steigern es wird innerhalb der Pragmatik zwischen normativem und personenspezifischem Wissen unterschieden Mechanik und Pragmatik interagieren sie sind ontogenetisch miteinander verbunden und beeinflussen sich gegenseitig in späten Phasen des Alters kann der Erhalt der Pragmatik die negativen Auswirkungen mechanischer Leistungsrückgänge abschwächen Differenzierung und Dedifferenzierung S. 381 Heritabilität, relative Stabilität und normativ-pragmatisches Wissen sowie die Differenziertheit der Struktur intellektueller Fähigkeiten nehmen von der Kindheit bis ins späte Erwachsenenalter zu und im hohen Erwachsenenalter wieder ab die Parallelität dieser vier Entwicklungsfunktionen stützt das Konzept der Gen-UmweltKorrelation: Synergie zwischen sozialstruktureller und genetischer Differenzierung 159 Plastizität Personen aller Altersgruppen können Leistungszugewinne erzielen weitgehende Abwesenheit positiven Transfers Leistungsverbesserung primär in Pragmatik Erfassung mechanischer Leistungsveränderungen Standardmaße der Mechanik der Kognition sind durch individuelle Unterschiede in aufgabenrelevanter Vorerfahrung und andere pragmatische Einflüsse kontaminiert Merke!: Individualität kontaminiert Wissenschaft Purifizierung der Messung kann durch Testung der Obergrenzen geschehen Determinanten der mechanischen Entwicklung es wird postuliert: Verarbeitungsgeschwindigkeit Arbeitsgedächtnis Inhibition aber ist momentan nicht mit neuronalen Erkenntnissen verbindbar es wird versucht kognitive Veränderungen mit neuroanatomischen, neurochemischen und neurofunktionalen in Beziehung zu setzen Altern: Normal, pathologisch, erfolgreich, differentiell Unter-der-Lupe-Kasten S. 380 Normales Altern zwei Bedeutungen: 1. statistische im Normbereich 2. ohne chronische Krankheiten Abgrenzung zwischen normalem und pathologischem Altern ist im Bereich des hohen Alters empirisch und theoretisch schwierig Bedeutung 1) und 2) sind im hohen Alter weit voneinander entfernt aber Definition 1) ist wissenschaftlich produktiv, da sie die Frage aufwirft, unter welchen Bedingungen Altern so krankheitsfrei wie möglich verlaufen kann Erfolgreiches Altern objektive Indikatoren: Gesundheit und Langlebigkeit subjektive Indikatoren: Wohlbefinden und Lebenszufriedenheit Differentielles Altern Menschen altern verschieden ab 70 Jahren gibt es allerdings keine starken Hinweise auf eine weitere Zunahme der interindividuellen Variabilität; möglicherweise deshalb nicht, weil Personen mit besonders niedrigen Leistungsfunktionen und besonders ungünstigen Entwicklungsverläufen vorher sterben Forschungsstrategie: Verständnis der invarianten und variablen Merkmale der Entwicklung im Erwachsenenalter durch die Analyse individueller Unterschiede 160 Die Entwicklung von Selbst und Persönlichkeit im Erwachsenenalter Forschungsstrategien im Bereich von Selbst und Persönlichkeit S. 381 drei Forschungstraditionen: 1. Persönlichkeit 2. Selbstkonzept, Selbstdefinition, Identität 3. Selbst-regulative Prozesse stehen oft unverbunden nebeneinander Persönlichkeitsforschung S. 382 Personen als Träger von Eigenschaften und Verhaltensdispositionen Forschung mittels psychometrischer Methoden, Selbstreport Hauptanliegen: Entstehung, Veränderung von Persönlichkeitsstrukturen nachzuweisen Schwerpunkt liegt auf struktureller Stabilität, Niveaustabilität und relativer Stabilität Selbstkonzept, Selbstdefinition, Identität Personen als Produzenten dynamischer Selbststrukturen Forschung mittels psychometrischer Methoden, Selbstreport; wichtig ist, wie eine Person „sich selbst“ sieht Betonung des Begriffs der Identität und seine soziale Bedeutung Annahme: unterschiedliche Situationen aktivieren unterschiedliche Inhaltsbereiche der Selbststruktur Selbstregulative Prozesse Betonung der Regulation des Selbst im Kontext von Planung, Kontrolle und Bewertung von Handlungen Selbst-regulative Prozesse dienen der Erreichung angestrebter Selbst-Zustände, diese stehen mit den Konzepten von Kohärenz, Kontinuität und Sinnhaftigkeit in Verbindung in Bezug auf die Psychologie der Lebensspanne geht es darum, alterskorrelierte Veränderungen in der Funktionalität verschiedener Selbstregulativer Prozesse zu erkunden Grenzen und Möglichkeiten Selbst-bezogener Anpassungsleistungen zu bestimmen; hierfür sind drei Ansätze wichtig: 1. Akkomodation und Assimilation 2. primäre vs. sekundäre Kontrolle 3. handlungstheoretische Ausgestaltung der selektiven Optimierung mit Kompensation (SOK) Personale und subpersonale Perspektive personale Perspektive: Person wird als Produzentin ihrer Entwicklung gesehen, der Mensch ist aktiv; Wünsche, Ziele und Absichten sind zentral für Handlungserklärung subpersonale Perspektive: Wünsche, Ziele, Absichten, etc. sollen erklärt werden Selbst-regulative Prozesse und exekutive Funktionen S. 383 Fragen der Handlungssteuerung stehen im Vordergrund (Bsp.: Wirkung von Erwartungen auf die Wahrnehmung) 161 für Alternsforschung ist die Frage relevant, welche Prozesse Personen dazu befähigen in der Gegenwart ablenkender Reize an Absichten festzuhalten Erforschung der Entwicklung Selbst-regulatorsicher Prozesse könnte konzeptuelle und empirische Kluft zwischen Kognition/Intelligenz und Selbst/Persönlichkeit überbrücken; Bsp.: die Widerstandsfähigkeit (Resilienz) des Selbst im Alter (Erhaltung des Selbstwerts trotz körperlicher, kognitiver und sozialer Einbußen) könnte damit zusammenhängen, dass die entsprechenden Selbst-regulatorischen Prozesse wissensbasiert sind und Teile des kognitiven Systems nutzen, die mit dem Alter weniger stark nachlassen Persönlichkeit im Erwachsenalter S. 383 die meisten Arbeit hierzu orientieren sich an den Big Five die Big Five weisen im Erwachsenenalter hohe Entwicklungsstabilität auf vier Arten von Stabilitäten: 1. strukturelle Stabilität = Stabilität der Anzahl, der Variabilität und der Beziehungen der Persönlichkeitsdimensionen untereinander 2. relative Stabilität = Stabilität von Ausprägungsgraden zwischen Personen 3. Niveaustabilität = Stabilität des Niveaus der Ausprägung von Persönlichkeitseigenschaften relative Stabilität Profilstabilität können nur durch Längsschnitterhebungen festgestellt werden hierbei ist zu bedenken, dass die in Persönlichkeitsfragebögen enthaltenen Items im Laufe der Jahrzehnte aus einem ursprünglich weit größerem Pool ausgewählt wurden; dabei dienten u.a. eine klare Faktorenstruktur sowie eine hohe Test-Retest-Stabilität als Auswahlkriterien Strukturelle Stabilität S. 384 ein hohes Ausmaß an struktureller Stabilität lässt darauf schließen, dass die untersuchten Persönlichkeitsdimensionen als Konstrukte Gültigkeit haben deshalb ist strukturelle Stabilität Voraussetzung für alle anderen Stabilitätsformen ab dem zehnten Lebensalter findet sich ein hohes Ausmaß an struktureller Stabilität Relative Stabilität bei Zeitabständen zwischen 6 und 30 Jahren findet sich hohe relative Stabilität die Korrelationen liegen zwischen 0.5 (vorsichtige Schätzung) und 0.6 (Costa & McCrae) Niveaustabilität S. 385 allgemeiner Trend im Laufe des Erwachsenenalters: niedrigere Werte für Offenheit, Extraversion und Neurotizismus; höhere Werte für Zuverlässigkeit und Umgänglichkeit beachte!: Ergebnisse könnten auch auf gesellschaftlichen Wandel zurückzuführen sein im hohen Alter sind deutliche Veränderungen der Persönlichkeitseigenschaften zu beobachten die Tendenz des Selbstsystem, Stabilität zu erzeugen, scheint an Wirksamkeit zu verlieren, wenn Stressoren eine gewisse Grenze der Intensität überschreiten 162 Profilstabilität sie setzt sich aus allen Persönlichkeitseigenschaften zusammen kann also nicht höher als die instabilste von ihnen sein und ist weit weniger stabil als die isolierte Betrachtung der einzelnen Persönlichkeitseigenschaften vermuten lässt Persönlichkeit und erfolgreiche Entwicklung den Zusammenhang zwischen beidem zu beurteilen ist methodisch und konzeptuell schwierig die relevanten Daten bestehen meist aus Selbstauskünften und die Items sind sich sehr ähnlich Problem der gemeinsamen Methodenvarianz und der Itemähnlichkeit Kriterien erfolgreicher Entwicklung subjektive: Wohlbefinden als zentraler Indikator objektive: v.a. Gesundheit und intellektuelle Leistungsfähigkeit Empirische Befunde Extravertierte beschreiben ihre Befindlichkeit eher positiv als Introvertierte hohe Werte bei Neurotizismus gehen einher mit negativer Befindlichkeit (aber Problem der Itemähnlichkeit!) Gewissenhaftigkeit weist positive Beziehung zu Wohlbefinden auf Offenheit für Neues und Verhaltensflexibilität positiv korreliert mit verschiedenen kognitiven Leistungen (z.B.: Aufgaben zu Lebenswissen) Erklärungen zwei Ansätze: 1. Eigenschaften als Quelle individueller Unterschiede im Verhalten und Erleben 2. Eigenschaften als Resultat Selbst-bezogener Prozesse Stabilität ist nicht alles S. 387 Big Five gehen davon aus, dass das Stabilität eine hinreichende Erklärung individueller Unterschiede darstellt wissenschaftlich ist das wenig hilfreich, denn es könnte auch 2) der Fall sein und die Stabilitäten sind nicht perfekt es gibt Anzeichen, dass einige Personen ihr Persönlichkeitsprofil im Laufe des Erwachsenenalters verändern Selbstkonzeptionen und Selbst-regulative Prozesse Plurale Selbst-Struktur eine plurale Selbststruktur („mehrere Selbsts“; Markus: possible selves) erleichtert Anpassung an veränderte Entwicklungsbedingungen und ist positiv mit geistiger Gesundheit korreliert Themen und Motive als Entwicklungsziele: Altersunterschiede in Auswahl und Priorisierung S. 388 bei abnehmenden Ressourcen werden Ziele priorisiert, so dass einige beibehalten und andere abgewählt werden 163 Selbst-Strukturen und Persönlichkeitsmerkmale sind personale Ressourcen Zielverschiebung Alter 25 – 34 35 – 54 55 – 65 70 - 84 85 - 105 Hierarchie des Investments das Investment in Themen, Motivsysteme und Entwicklungsaufgaben verschiebt sich -Beruf -Freunde -Familie Unabhängigkeit -Familie -Beruf -Freunde -kognitive Leistungsfähigkeit -Familie -Gesundheit -Freunde -kognitive Leistungsfähigkeit -Familie -Gesundheit -kognitive Leistungsfähigkeit -Freunde -Gesundheit -Familie -Nachdenken über das Leben -kognitive Leistungsfähigkeit Soziale und temporale Vergleichsprozesse S. 388 auch in schwierigen Lebenssituationen können die meisten Menschen ein hohes Maß an Wohlbefinden beibehalten Selbst-Konzeption und Motivsysteme werden an alterstypische und personale Erfordernisse angepasst soziale Vergleichsprozesse = Vergleich zwischen einer Referenzgruppe und er eigenen Person auf einer Selbst-relevanten Dimension Aufwärtsvergleiche sind funktional, wenn eine Verbesserung auf der entsprechenden Dimension möglich ist Motivation Abwärtsvergleiche sind funktional, wenn Verbesserung nicht möglichst und Verluste reguliert werden müssen Temporale Vergleichsprozesse = Vergleich mit sich selbst über die Lebenszeit Personengruppen unterschiedlichen Alters schätzen ihr gegenwärtiges Funktionsniveau (in den Aspekten Autonome und soziale Beziehung) gleich ein bei Variation des Bezugspunkts schätzen junge Erwachsene ihre eigene Zukunft positiver und ihre Vergangenheit negativer als ältere Erwachsene ein Bewältigungsverhalten S. 389 Resilienz gegen Stressoren steigt, wenn Personen über eine Bewältigungsformen verfügen (ähnlich wie bei plurale Selbst-Struktur) Selbst-Definitionen und Bewältigungsformen sind personale Ressourcen Vielzahl von Herausforderungen und Ressourcen Stress = Verhältnis von Herausforderungen und Ressourcen im hohen Alter steigt Häufigkeit nicht kontrollierbarer Verlustereignisse, wie Tod von Angehörigen, Abnahme der eigenen Gesundheit, etc. aber keine Anzeichen für besonderes Ausmaß an Unzufriedenheit oder Depressivität Assimilative und akkmmodative Bewältigung S. 390 164 assimilatives Bewältigungsverhalten = problemorientiertes Handeln akkomodatives Bewältigungsverhalten = Aufgeben nicht erreichbarer Ziel bei dauerhaft reduzierten Entwicklungsmöglichkeiten ist akkomodatives Bewältigungsverhalten funktional, es ist nicht mit Resignation oder Depression verknüpft Hoffnungslosigkeit und Hilflosigkeit sind mit Defiziten in der flexiblen Zielanpassung verbunden Zielkongruenz je höher die Zielkongruenz desto wirkungsvoller können Ressourcen eingesetzt werden Zielkongruenz steigt im Laufe des Erwachsenenalters Verbindung des Modells der selektiven Optimierung mit Kompensation und der Theorie des assimilativen und akkomodativen Bewältigungsverhalten: assimilatives Bewältigungsverhalten unterstützt Optimierungsprozesse akkomodatives Bewältigungsverhalten unterstützt verlustbasierte Selektionsprozesse, wie 1. Abwerten schwer erreichbarer Ziele 2. Redefinition der Indikatoren des Zielbereichs 3. Aufgeben unerreichbarer Ziele Kompensation ist assimilativ und akkommodativ Kompensation spielt ein zentrale Rolle beim Übergang vom mittleren zum höheren Erwachsenenalter Zusammenfassung von Anna Madl (Uni Bamberg) 165 Übergreifend Familienentwicklung Klaus E. Schneewind Die familienpsychologische Perspektive von Familienentwicklung Definition: Familienpsychologie ist eine wissenschaftliche Disziplin, die sich mit der familiären Lebenspraxis, d.h. mit dem Verhalten, Erleben und der Entwicklung von Personen im Kontext des Beziehungssystem“ Familie“ beschäftigt, und zwar mit der Absicht der Beschreibung, Erklärung, Vorhersage und Veränderung der dabei auftretenden Phänomene und ihrer Bedingungen. Was zeichnet die „Familie“ eigentlich aus? Personenorientierte Sicht: Zentrales Kriterium sind die engen persönliche Beziehungen der Mitglieder dieser Personengruppe. Dieser beziehungsorientierte Aspekt gewinnt in unserem Zeitalter, das sich weg von der „bürgerlichen Familie“ hin zur „postfamilialen Familie“ entwickelt, immer mehr an Bedeutung. Beziehungsorientierte Sicht: Familie ist qualifiziert dadurch, dass jeder eine Reihe von Funktionen zu erfüllen hat, die der Daseinsicherung dienen. Diese Familie ist unabhängig von ihrer Personenzusammensetzung ein Prototyp für enge und intime Beziehungen. Entwicklung der familiären Beziehungssysteme erfolgt über Interaktion und Kommunikation. Durch gemeinsame Interaktion entsteht eine gemeinsame Basis, die sich durch bedeutungshaltige Kommunikation auszeichnet. Theoretische Aspekte einer Psychologie der Familienentwicklung Familiensystemtheorie Bezeichnet das systemische Familienbeziehungen. Verständnis von Familienentwicklung und Definition der Familie: Familien sind offene, sich entwickelnde, zielorientierte und sich selbst regulierende Systeme, deren Entwicklung im Kontext historisch gewachsener materieller und sozialer Gelegenheitsstrukturen stattfindet. Kernaspekte der systemischen Familientheorie: Ganzheitlichkeit, Zielorientierung, Regelhaftigkeit, Grenzen, Zirkuläre Kausalität, Positive und negative Rückkopplung, Selbstorganisation, Hömöo- vs. Heterostase, Wandel erster und zweiter Ordnung, Familienspezifische interne Erfahrungsmodelle 166 Familienentwicklungstheorie Beschäftigt sich mit längerfristigen Entwicklungen von Familien, innerhalb eines “begrifflichen Bezugsrahmen“ (nach Aldous 1996), der auf den folgenden Grundannahmen aufbaut: Familiäres Verhalten in der Gegenwart hängt von der Vergangenheit der Mitglieder ab und bestimmt der Zukunftserwartungen Trotz der Vielfalt verschiedenen Lebensformen, zeigen diejenigen, die in derselben Lebensphase sind, vergleichbare Verhaltensmuster Familien und ihre Mitglieder werden im Laufe der Zeit mit Aufgaben konfrontiert Carter und McGoldrick (1988) haben sechs Stadien einer normativen Familienentwicklung mit deren Aufgaben an die Familie entwickelt und sie durch eine nicht normative ergänzt ( für Alleinerziehende und Wiederverheiratete). Familienstresstheorie Bei der Familienstresstheorie steht die Bewältigung von Stress auf der Individual-, Paar-, und Familiensystemebene im Vordergrund Integratives Systemmodell der Familienentwicklung Im diesem Modell von Schneewind (1999) werden grundlegende Aspekte der Familiensystem-, Familienentwicklungs-, und Familienstresstheorie vereint. Der Kerngedanke dieses Modells besteht darin, den Familienentwicklungsprozess als eine Abfolge von entwicklungsbezogenen Stressoren und Ressourcen zu sehen. Systemebene: Schließt den Kontext der familienbegründenden Partner mitein, z.B. ihre vergangene Erfahrungs- und Beziehungsgeschichte, ihre Partnerschaft selbst, Geschichte ihrer Herkunftsfamilien sowie extrafamiliäre Systeme wie Beruf, Freizeit, politische und ökonomische Lage 4 Systeme Vertikale Stressoren und Ressourcen: Im Laufe der Zeit werden auf allen vier Ebenen belastende und unterstützende Erfahrungen gemacht Potential an vertikalen Ressourcen und Stressoren Horizontale Stressoren und Ressourcen: Ausgestattet mit vertikalen Stressoren und Ressourcen trifft das Paar auf neue Herausforderungen horizontale Stressoren und Ressourcen Differenzierung horizontaler Stressoren und Ressourcen: Horizontale Stressoren und Ressourcen lassen sich auf allen vier Ebenen ausmachen und werden eingeteilt nach: Normative und nicht-normative Ereignisse bzw. Übergänge im Lebenszyklus (norm: Geburt, nicht-norm: unzeitgemäße Tod eines Kindes) Dauerhafte und chronische Lebensumstände (Erbe, Krankheit) Alltägliche Widrigkeiten bzw. Annehmlichkeiten (Streit mit Chef, Blumen) (das Modell: Seite 111) 167 Verlauf der Familienentwicklung: Das Zusammentreffen der vertikalen mit der horizontalen Dimensionen von Stressoren und Ressourcen und die Art der Auseinandersetzung und Bewältigung dieser kennzeichnen den Verlauf der Familienentwicklung. Entwicklung von Familienbeziehungen Beziehungskonstellationen: Innerhalb eines Familiensystems bestimmt vor allem die Anzahl der Familienmitglieder die Art und die Komplexität der Beziehungskonstellationen. Daneben müssten noch Beziehungen zwischen der Gesamtfamilie, zwischen Einzelpersonen und „Beziehungen zwischen Beziehungen“ (Kinder vs. Eltern) berücksichtigt werden. Auf die Paar bzw. Elternbeziehung und die Eltern-Kind-Beziehung soll hier näher eingegangen werden: Entwicklung von Paarbeziehungen Modell nach Levinger und Stock (1972) unterschiedet vier Stadien zwischen den Polen maximaler und fehlender Kontakt: 1. kein Kontakt 2. einseitige Wahrnehmung des anderen 3. oberflächlicher Kontakt 4. auf Gegenseitigkeit beruhender Kontakt nur hier eine enge persönliche Beziehung Phasen und Aufgaben der Paarentwicklung Betrachtet man Paarbeziehungen unter einer lebenslangen Perspektive, so lassen sich bei einem ungebrochenem normativen Entwicklungsverlauf fünf Entwicklungsstadien prototypisch darstellen, innerhalb derer gewisse Aufgaben von den Paaren bewältigt werden müssen. Paare in der Frühphase ihrer Beziehung, Paare mit kleinen Kindern, Paare mit älteren Kindern, Paare in der nachelterlichen Phase, Paare in der späteren Lebensphase (Aufgaben siehe Tabelle 4.3) Nicht normative Entwicklungsverläufe können durch zusätzliche Aufgaben erweitert sein (z.B. Integration eines Kindes aus früherer Partnerschaft) Gelingende und misslingende Paarbeziehungen Karney und Bradbury (1995) haben das pfadanalytische Vulnerabilitäts-StressAdaptionsmodell entwickelt, das der Vorhersage von Paarzufriedenheit und Paarstabilität dienen soll. Paarzufriedenheit und Paarstabilität werden als konzeptionell und empirisch weitgehend unabhängige Dimensionen betrachtet (z.T. sehr stabile unglückliche Paarbeziehungen). Dennoch wird unterstellt, dass hohe Paarzufriedenheit mit einer hohen Paarstabilität einhergeht. In diesem Modell gibt es außerdem die Einflussgrößen Anpassungsprozesse, belastende Ereignisse und überdauernde Eigenschaften. Anpassungsprozesse: Nehmen eine zentrale Stellung im Modell ein und beschreiben die Strategien, die Partner sowohl für sich, als auch als Paar besonders in krisenhaften Situationen einsetzen. Hierzu gehören vor allem Emotionsregulation und Stressbewältigung bei paarinternen 168 Unstimmigkeiten und paarexternen Stressoren und Kommunikationsfertigkeiten und Konfliktlösungskompetenzen. die damit verbundenen Belastende Ereignisse: Von „Makrostressoren“ (politische Krise), über Krankheiten, „Ministressoren“(intern:Sexualitätsdifferenzen, Haushalt; extern Zeitdruck) Traumata, zu Externe Stressoren können sich belastend auf die Beziehung auswirken „Spill -over“ – Hypothese (Bodenmann 2000) Überdauernde Eigenschaften: Relativ stabile Persönlichkeitseigenschaften (z.B. Neurotizismus) Das Modell von Karney und Bradbury hat sich in prospektiven Studien bewährt. (Modell siehe Seite 114) Paarbeziehungstypen von Gottmann (1988) und Fitzpatrick (1988): Die Konstruktiven (Traditionellen): Auseinandersetzungen vermeiden, doch wichtiges klären, betonen „wir“ Rollenverständnis: Traditionelle Rollenverteilung Die Impulsiven (Unabhängigen): Betonung der Individualität, Konflikte als Chance, gefühlsbetont Rollenverständnis: modern und gleichberechtigt Die Konfliktvermeidenden (Separierten): interpersonale Distanz, wenig gemeinschaftlich, betonen Auto-nomie in der Wohnung, Konflikte so weit wie möglich vermeiden Rollenverständnis ähnlich den Konstruktiven Gottman-Konstante: Trotz Verschiedenheit gleiche Paarzufriedenheit der drei Typen Interaktionen positiv/negativ: glücklich 5/1; unglücklich 1/1 Entwicklung von Eltern-Kind-Beziehungen Rollenumkehr: Eltern pflegen zuerst Kinder, im Alter dann die Kinder die Eltern Augenmerk nun aber auf nachwachsende Generation im Kindes- Jugendalter: Eltern als Interaktionspartner Bestimmen die Qualität der kindlichen Erfahrungen mit. Bindungsaufbau: Charakteristika elterlichen Bindungsverhalten: Sensitivität für kindliche Signale Positive Haltung gegenüber dem Kind Synchronisation im Sinne einer reziproken Interaktion Stimulation durch häufige Interaktion bewirken enge affektive Bindung des Kindes 169 Bezogenheit und Autonomie: Affektive Bindung schützt den Säugling vor Gefahren und ermög-licht ihm die sichere Basis für die autonome Erkundung der Welt Interne Arbeitsmodelle: Personintern repräsentierte Abbilder spezifischer Bindungserfah-rungen, die maßgeblich die Selbst- und Beziehungsentwicklung einer Person mitbestimmen. Bindungsförderndes Elternverhalten (attachment parenting): Vor allem in den ersten eineinhalb Jahren soll durch BE eine positive emotionale Beziehungsgrundlage für die weitere kindliche Entwicklung gelegt werden. Eltern als Erzieher Eltern nehmen neben der Rolle der Interaktionspartner auch die Rolle der Erzieher ein und wirken explizit auf ihre Kinder. Eltern vermitteln das „Rüstzeug“ zum eigenständigen Leben, wobei diese Vermittlungs-beziehung mit dem Spannungsverhältnis von Autonomie und Heteronomie belastet ist. Erziehungsstile: Autoritär ( zurückweisend, Macht ausübend) Vernachlässigend (zurückweisend,orientierungslos) Permissiv (akzeptierend und wenig fordernd) Autoritativ (akzeptierend und klar strukturiert) Kontextabhängigkeit Die Erziehungsstile sind vom Kontext und dem Milieu in dem erzogen wird abhängig Erfolgskriterien: Spezifische Erfolgskriterien führen durch elterliche Unterstützung zu spezifischen Entwicklungszielen. Borba (1999) (siehe Seite120) Eltern als Arrangeure von Entwicklungsgelegenheiten: Eltern als „Türöffner“ von sekundären Entwicklungskontexten, in denen die Kinder selbstständig neue Erfahrungen machen können. Eltern als Arrangeure einer „Ökologie der Sicherheit: Physische Sicherheit: Haushalt und Umwelt sicher gestalten Umgang mit anderen Personen: Betrifft physische und psychische Sicherheit im Umgang des Kindes mit anderen Personen Elterliche Gewalt: Direkte und indirekte(Kind erlebt destruktiven Elternstreit- “spill-over“Hypothese) Gewalt an Kindern. Eltern als Arrangeure einer „Ökologie der Entwicklungsförderung“: Nicht nur negatives entschärfen (Sicherheit) , sondern auch positives möglich machen (Möglichkeit) Anregende Umwelten: sollen kindliche Entwicklungsgelegen-heiten darstellen.( passendes Spielzeug, anregungsreiche Orte) Förderliche Kontakte: Positive Kontakte für das Kind mit anderen Personen arrangieren („tolle“Gleichaltrige ,gute Kindergärtnerin) Institutionen: möglichst hohe Qualität bezügl. Kindergarten, Kinderkrippe, Tagesmutter, Babysitter. 170 Freundschaften: Eltern tragen auf direktem und indirektem Wege zur Sozialentwicklung bei, wobei das eigene Netzwerk an Bekanntschaften und Freundschaften der Eltern Einfluss hat. Kontrolle: Überwachung kindlicher Aktivität (“monitoring“) ist Ausdruck der elterlichen Fürsorge und wirkt sich auf das Kind positiv auf, solange es nicht in zu hohem Maße geschieht. Beziehungen zwischen Beziehungen Aus der familiensystemischen Perspektive gibt es vielfältige Familienbeziehungen Einzelne Personen Familiensysteme ( mehrgenerationalen Perpektive) Einzelne Subsysteme innerhalb eines Familiensystems (zwischen ElternGeschwistersubsystemen Familiäre (Sub-)Systeme und außerfamiliäre Systeme (z.B.Freundschaftssystem) und Intergenerationale Transmission von Eltern-Kind-Beziehungen Bezeichnet den Prozess der Übertragung von Bindungserfahrungen aus der Herkunftsfamilie auf die Paarbeziehung und die Qualität der Beziehungsgestaltung mit den eigenen Kindern. Übertragung von Bindungserfahrungen: Haben Längsschnittstudien belegt, deswegen jedoch noch keine schicksalhafte Prägung, die nicht modifiziert und reflektiert werden kann. Beziehungen zwischen dem Paar- und dem Eltern-Kind-Subsystem Relevant bei Scheidung und destruktiven und ungelösten Konflikten, die sich auf die ElternKind-Beziehung auswirken: „Spill-over- Hypothese“( „Überschwappen“), die besagt, dass destruktive und offen ausgetragene Partnerkonflikte nicht nur das psychische und physische Wohlbefinden der Partner und deren Beziehungsqualität, sondern auch die Qualität der Eltern-Kind-Beziehung negativ beeinflusst. Varianten des „Spill-over“ -Effekts Umlenkung des Partnerkonflikts auf das„Problemkind“ (Sündenbock) Durch Modell-Lernen übernehmen Kinder die negativen Verhaltensweisen der Eltern und werden zu „schwierigen“ Kindern Koalitionsbildung von einem Elternteil und Kind bei Partnerkonflikten Externe und interne Stressoren wirken sich auf Eltern- Kind- Bez. Aus = erhöhte Feindseligkeit, geringere Kontrolle und geringer Akzeptanz der Eltern Geschwisterbeziehungen Destruktive Elternkonflikte können sich auch negative auf Geschwister-beziehungen auswirken, andererseits können diese auch Ressource sein. Entwicklung durch Intervention in Paar- und Familiensystemen Wissenschaftliche, präventive Interventionssätze: Erhöhung der Beziehungsqualität Prävention bei Risikopaaren oder -familien 171 Rückfallprophylaxe nach therapeutischer Stabilisierung Entwicklungsförderliche Stärkung von Paarbeziehungen Beispiele sind PREP, KEK, FSPT und EPL, die vor allem Kommunikationsverbesserung konstruktive Konfliktlösungen und Positivität fördern. durch Entwicklungsförderliche Stärkung von Elternkompetenzen STEEP, Familienkonferenz, „Triple P“ und „Positiv Parenting“ sollen vor allem durch Kommunikationsschulungen die Eltern-Kind-Beziehungen fördern. Z.T. auch Grenzensetzen, Kontrolle und Förderung von Verantwortlichkeit geübt. Familiäre Entwicklungsintervention als Public Health Aufgabe Mithilfe neuer Medien sollen die schwer zu erreichenden Risikopaare und –familien erreicht werden, um die Paarbeziehung und die Elternkompetenzen zu stärken. 172 Kapitel 8: Frühes Erwachsenenalter Krampen, G. & Reichle, B. (2002) Geht von 18 bis 29 Jahren, mit unscharfen, fließenden Altersübergängen. Ablösung von der Primärfamilie und der beruflichen Orientierung beziehen sich v. a. auf: das Privatleben und das Freizeitverhalten (Partnerschaften, Lebensformen, Freundesund Bekanntenkreise) die Einbettung in soziale und gesellschaftliche Gruppen (Sport, Hobbies, Religion, Politik) den Berufseintritt und die Berufstätigkeit 1. Frühes Erwachsenenalter: Transitionskriterien und Entwicklungsprozesse Forschungsthema: nur 1 – 3 % der Forschung beziehen sich auf das frühe und mittlere Erwachsenenalter. Kriterien und Charakteristika des frühen Erwachsenenalters: 1. formale und rechtliche Kriterien (Volljährigkeit, Wahlrecht) – bis 1974 lag die Ehemündigkeit des Mannes bei 21, der Frau bei 16 Jahren 2. objektive, verhaltensnahe Kriterien (Auszug aus dem Elternhaus, finanzielle Unabhängigkeit, Heirat, Elternschaft) 3. psychologische Kriterien (Ablösung, emotionale Autonomie, psychologische Reife) – Steinberg und Silverberg (1986) der Fokus liegt auf der emotionalen Autonomie. 4. subjektive Kriterien (Selbstzuordnung einer Person zu einer Altersgruppe) Fragt man Jugendliche und junge Erwachsene nach den Merkmalen des Erwachsenseins: Verantwortung übernehmen Unabhängigkeit von den Eltern bleichberechtigter Erwachsener sein Verhaltensnahe Kriterien (wie Eintritt ins Berufsleben, Abschluss der Ausbildung, Heirat und Elternschaft) werden von der Mehrheit Jugendlicher und junger Erwachsener abgelehnt. 173 Differentielle Entwicklung im frühen Erwachsenenalter Interindividuelle Unterschiede berufsbezogener Tätigkeiten und Privatleben: Erst-, Zweit- oder Drittausbildung Berufseintrittsphase Berufswechselphase Jobber, Jobhopper, Kurzzeittätige mit Ferienpausen Singles WGs hetero- und homosexuelle Partnerschaften Patchwork-Identität ist die biographische Offenheit und Plastizität der Identitätsarbeit. Körperlich reif, finanziell abhängig. Säkulare Akzeleration ist die Entwicklungsbeschleunigung im historischen Vergleich. Säkulare Retardation ist die Entwicklungsverzögerung (Verlangsamung) im historischen Vergleich. Es bestehen zwei soziokulturelle Trends: 1. Säkulare Akzeleration der körperlichen Entwicklung in der Pubertät und die damit verbundene frühere Aufnahme intimer Beziehungen und die biologisch bedingte „Verkürzung“ der Kindheit und schnellere Annäherung an das Erwachsenenalter. 2. Verlängerung der ökonomischen Abhängigkeit bis weit in das frühe Erwachsenenalter, folglich die säkulare Retardation der finanziellen Selbständigkeit. Zusammen führen diese beiden säkularen Entwicklungstrends in den (post-)modernen Gesellschaften zu einer Verlängerung des Jugendalters und tragen zur Unschärfe in der Bestimmung des Übergangs zum Erwachsenenalter bei. Junge Erwachsene als Vergleichsgruppe. Sie sind sowohl für die » altersvergleichende experimentelle Entwicklungspsychologie als auch für » Feld- und Korrelationsstudien die verwandte Vergleichsgruppe. 174 Entwicklungsthemen. Es dominieren in der Fachliteratur zum frühen Erwachsenenalter die klassischen Ansätze zu altersnormierten - Entwicklungskrisen (Erikson (1959) mit „Intimität und Solidarität vs. Isolation“) und - Entwicklungsaufgaben (Havighurst (1948) mit Partnerwahl, Familiengründung, Berufseinstieg, Verantwortungsübernahme, sozialer Integration und Lebensstilfindung). Insgesamt dominiert die Einordnung des frühen Erwachsenenalters als Zeit der Beziehungsund Verantwortungsentwicklung. Bezugsgrößen oder Lebensbereiche sind dabei das Privatleben und die Freizeit, soziale und gesellschaftliche Gruppen sowie die Arbeit und der Beruf. 175 2. Der Übergang zum frühen Erwachsenenalter 2 Warum wird jeder anders erwachsen? Mögliche Ursachen sind (1) persönliche Entwicklungsziele, (2) auf die eigene Entwicklung bezogene Regulations- und Kontrollbemühungen, und (3) familiäre Hintergrundvariablen wie Familienklima, Erziehungsstil, Re-Manifestation eines ungelösten Ödipuskomplexes, geschiedene Eltern. Unter der Lupe: Silbereisen (2000) Rasche Angleichungen sind vor allem dort zu beobachten, wo situative Anforderungen für das persönliche Leben von Bedeutung sind. Schnelleres Durchlaufen der Stationen auf dem Weg zu Erwerbstätigkeit, Partnerschaft und Familiengründung. Ablösung von der Herkunftsfamilie Kriterium hierfür: Zeitpunkt des Auszuges aus dem Elternhaus. Partielle Ablösung: liegt vor, wenn eine eigene Wohnung vorhanden ist, aber noch regelmäßig und länger bei den Eltern gewohnt wird. ♂: feste Partnerschaft und deviantes Verhalten sind Prädiktoren für den Auszug ♀: feste Partnerschaft, deviantes Verhalten und Anzahl der Geschwister Psychologische Auszugskriterien: Distanzierung zu den Eltern und Aushandeln sozialer (Macht-)Balancen Selbständigkeit und emotionale Autonomie Symmetrische Beziehung: Idealerweise entsteht zu den Eltern eine symmetrische Beziehung auf Ebene des gemeinsamen Erwachsenenstatus, die nicht durch räumliche Trennung oder materielle Unabhängigkeit beeinträchtigt wird. Berufsausbildung und Berufseintritt Junge Erwachsene bewerten berufsorientierte Werte als weniger wichtig als früher. 176 Einflüsse auf die Berufswahl Zentrale Einflussfaktoren: Geschlecht, sozioökonomischer Status der Herkunftsfamilie, Lebensregion (und ihr Arbeitsmarkt) und elterliche Einflüsse. Studienfachwahl Wesentliche Determinanten sind Geschlecht, sozioökonomischer Status der Herkunftsfamilie, Lebensregion und die auf dem Arbeitsmarkt erwarteten Chancen, persönliche Interessen und persönliche Neigungen. Phasenmodell der sozio-emotionalen Anpassung beim Übergang ins Studium (Steward, 1982): 1. Informationsaufnahme und Orientierung: knüpfen sozialer Kontakte, systematisches einholen von Informationen, erkunden sozialer Regeln im neuen Umfeld; Entwicklungsrisiken: soziale Isolation, Uninformiertheit, hoher Konformismus 2. Autonomiestreben und Selbstbehauptung: Es entsteht Reaktanz gegen informelle (peers) und formelle soziale Regeln sowie gegen Konformitätsdruck. Entwicklungsrisiken: anhaltender Konformismus, generalisierter Widerstand gegen Strukturen und Regeln 3. Sozial-emotionale Integration: Entwicklungsrisiken: weitere soziale Isolation, Außenseitertum, persönlich sozial-emotionale Desintegration mit gesteigerter Vulnerabilität für einen Studienabbruch Studienabbruch (Gold & Kloft, 1991) Rechts- und Wirtschaftswiss: 23%, Naturwiss: 11%, Sprach- und Geisteswiss: 15%, Gründe: Praxisferne, Lernschwierigkeiten, schlecht Berufsaussichten Prädiktoren für einen Studienabbruch: im 2. bis 3. Semester angegebene Lern- und Leistungsprobleme; erlebte mangelnde Anerkennung durch die Mitstudierenden Psychologiestudierende: Antizipation von Arbeitslosigkeit führt zu kognitiv-antizipatorische Bewältigungsstrategien, die zu einer Verlängerung der Studienzeit führen, einer subjektiven Entwertung des Diploms und zu Privatisierung der Berufsqualifikation außerhalb der Uni. 177 3. Intensivierung und Differenzierung sozialer Beziehungen sowie Verantwortlichkeiten Berufliche Entwicklung Fünf Stadien: Exploration - Stabilisierung - Establishment (Konsolidierung und Aufstieg) Aufrechterhaltung - Spezialisierung - Disengagement bis in den Ruhestand Verschiedene Rollen innerhalb der Stadien: Azubirolle, Kindrolle, Freizeit, Bürgerpflicht, Rolle der erwerbstätigen Person, Rolle iVm. Haushaltspflichten Einflussfaktoren sind die Herkunftsfamilie, das Netzwerk in der Kindheit (peers, Schule, Jobs), extrafamiliales Netzwerk des Erwachsenen (Beruf, Arbeitsplatz), eigene Familie des Erwachsenen und Umweltgegebenheiten (Sozial- und Bildungspolitik, Arbeitsmarktsituation, Gesetzgebung...). Geschlechtsunterschiede: Geschlechtsunterschiede hinsichtlich der Bildungsbeteiligung sind verschwunden, aber die Entwicklungslinien nach dem Schulabschluss zeigen wieder deutliche Geschlechtsunterschiede. Frauen: Bürokauffrau, Arzt- und Zahnarzthelferin, Bankkauffrau, Fachverkäuferin Akad.: Vet.med, Sprach- und Kulturwiss, Lehramt, Kunstwiss Männer: KFZ-Mechaniker, Maler, Lackierer, Tischler, Kauffmann Akad.: Ingenieur, Mathematik, Naturwissenschaften, Recht, WiWi, Sozialwiss Einzige Gemeinsamkeit: Einzelhandelskauffrau bzw. -mann Erklärungen für die eingschränkte Berufswahl 1. situative Faktoren (Widerstände der Eltern, Sexismus bei Arbeitgebern) 2. beruflich und familiäre Doppelbelastung Frauen und Berufswahl: Mädchen investieren materiell mehr, und erhalten doppelt so häufig keine Zusage auf Bewerbungen. Frauen mit akademischem Abschluss sind häufiger und zunehmend unterwertig beschäftigt. Frauen werden geringer entlohnt, leisten aber auch im Haushalt und in der Kinderbetreuung mehr Arbeit. Ihre Chancen auf berufliche Erfolg steigen u.a. mit ihrer Begabung, der Liberalität ihrer Geschlechtsrollenorientierung, Androgynität, hohem Selbstwert, androgyner Erziehung, Ehelosigkeit, später Heirat und Kinderlosigkeit. 178 Partnerwahl Die Entstehung und Bildung intimer (romantischer) Partnerschaften wird in der entwicklungspsychologischen Literatur auf den ersten Sexualkontakt datiert. Mitbestimmende Einflussfaktoren sind elterliche Kontrolle bei Verabredungen, Qualität der schulischen Sexualerziehung, psychosexuelle Einstellungen und Normen der Kultur und Subkultur, die Häufigkeit von Verabredungen und Parties, und die Häufigkeit risikoreicher und delinquenter Freizeitaktivitäten. Die Partnerwahl ist in den Phasen der Kontaktaufnahme und des Kennenlernens wesentlich von der Attraktivität und der Verfügbarkeit potentieller Partner bzw. Partnerinnen abhängig. Altersangaben (Silbereisen und Wiesner, 1999): 1. mal verliebt ♀ 14,5 (♂ 15) 1. fester Freund ♀ 16 (♂ 16,5) 1. Sex ♀ 16,5 (♂ 16,7) Feste Partnerschaften im Alter von 18 bis 21: ♂ 3 - 4, ♀ 2 - 3 Attraktivität Merkmalsähnlichkeit: Altersgruppe, Wohngegend, sozioökonomischer Status, Freizeitinteresse, Bildungsstand, Berufs- und Ausbildungsgruppe Physische Attratkrivität: Evolutionsbiologische Erklärung = Interesse an einer optimalen Reproduktion der Gene auf Basis von Jugend und Gesundheit Der erste Eindruck Im ersten Eindruck von einem subjektiv attraktiven Menschen werden zahlreiche Zuschreibungen positiver Eigenschaften manifest, über die zunächst keine Informationen vorliegen. Dieser erste subjektive Eindruck weist erhebliche interinindividuelle Unterschiede auf. Beeinflusst wird er durch: » Attrakrivitätsstereotype » kulturelle Schönheitsideale (Jugend, Gesundheit, positiv-emotionaler Gescihtsausdruck, Schlankheit, Körpergröße) und » subjektive Attraktivitätsähnlichkeit Endogamie-Prinzip der Partnerwahl = Kultur- und Subkulturähnlichkeiten Homogamie und Heterogamie "Gleich und gleich gesellt sich gern" "Gegensätze ziehen sich an" Woman marry up Frauen tendieren dazu, stärker den soziökonomischen Status, das Leistungsstreben, die Intelligenz und den Charakter potentieller Partner zu beachten als Männer. Bei Männern dominiert die physikalische Attratkrivität als eindeutiges Merkmal. 179 Frühe Partnerschaftsentwicklungen sind gekennzeichnet durch beginnende Intensivierung der Kontakthäufigkeit und -intimität. Das eher passiv bestimmte Kennenlernen wird schrittweise durch eine aktivere Abstimmung und Bearbeitung der Partnerschaft abgelöst. Phase der Elaboration von Rollen (Lewis, 1973) 1. 2. 3. 4. 5. 6. Wahrnehmung von Übereinstimmungen Sympathie durch gegenseitige positive Bewertung wechselseitige Selbsterhöhung Übernahme gemeinsam definierter Rollen aktive Gestaltung der Beziehung führt zu einer dyadischen Kristallisierung mit Erlebnis von Paaridentität Von der sicheren Basis zur Bearbeitung von Diskrepanzen Dauerhafte Partnerschaften sind somit nicht alleine durch einen emotionalen, psychischen und physischen Austausch sowie in der Regel durch ökonomische und soziale Austauschprozesse gekennzeichnet, sondern auch und vor allem durch kontinuierliche partnerschaftliche Abstimmung von Regeln über den Umgang miteinander. Eifersucht in Partnerschaften Eifersucht wird als aversive emotionale Reaktion auf eine extradyadische Beziehung des Partners definiert, die real ist, vorgestellt wird, oder als wahrscheinlich erachtet wird. Kennzeichnend sind Gefühle darüber, dass eigene Besitzansprüche oder Rechte verletzt werden, dass man unterlegen ist, dass eigene Bedürfnisse nicht hinreichend Befriedigt werden können und dass man von Einsamkeit und Ablehnung bedroht ist. Eifersucht ist ein universelles Phänomen, das in allen Kulturen nachweisbar ist. Partnerschaft und erste Jahre der Elternschaft Die weitere Entwicklung vollzieht sich im Kontext der Bewältigung von Lebensveränderungen. Merkmale familiärer Transitionen (Übergänge) qualitative Veränderungen eher äußerlicher Art (Rollenveränderung, Restrukturierung der persönlichen Kompetenz zur Lösung neuer Aufgaben, Reorganisation von Beziehungen) qualitative Veränderungen im Selbst- und Weltbild des betroffenen Individuums Verschiedene Ressourcen Bei der Bewältigung familiärer Übergänge kommen folgende Ressourcen zum Einsatz: personale: Sensibilität für die Gefühle anderer, Selbstwert, Humor ... familiale: Einkommen, Wohnen, Kohäsion, Offenheit, gegenseitige Unterstützung ... außerfamiliale: soziale Netzwerke, soziale Unterstützung Problemfokussierte und emotionsfokussierte Bewältigung 1. emotionsfokussierte Bewältigung » innerpsychische Emotionsbewältigung (Vermeidung, Intellektualisierung) » positiv bewertete Formen (positives Denken, Hoffen) » emotionsfokussierte aktionale Varianten (Vermeidung durch Flucht, Suche nach Entspannung) » expressive emotionsfokussierte Bewältigungsversuche (Emotionsausdruck) 2. problemfokussierte Bewältigung » Planung und Durchführung lösungsorientierter Handlungen » Verstärkter Einsatz » Aktive Anpassung an die Situation » Positive Neubewertung der Situation 180 » Einsatz von Humor » Rückgriff auf spirituellen Glauben Bewältigungsstile Stile des Umgangs mit belastenden Situationen sind depressiver Stil, Attributionsstile, Ärgerventilation vs. Ärgerunterdrückung, und Repression vs. Sensitisierung. Eine gelungene Bewältigung sollte in positiven Befindlichkeiten der Beteiligten und positiven Ausprägungen ihrer Beziehungsqualitäten resultieren. 3 Warum heiraten? Häufigste Antwort: L I E B E In der soziobiologischen Betrachtung liegt das gesellschaftliche Interesse am Überleben in weiteren Generationen, wobei eine zuverlässige Versorgung der Kinder sicherzustellen ist. Dieser Ansatz wird in psychoanalytischen und rollentheoretischen Ansätzen durch eine auf das persönliche Wachstum und die Selbstaktualisierung von Menschen begründete Perspektive erweitert. 4 Übergang zur Elternschaft Durchschnittsalter Westdeutscher Frauen bei der ersten Geburt: 29 Jahre. Mutter werden Übergangsprozess von Gloger-Tippelt (1988): Verunsicherung (bis 12. Schwangerschaftswoche) – Anpassung (bis 20. SSW) – Konkretisierung (20. – 32. SSW) – Geburt – Erschöpfung und Überwältigung (4 – 8 Wochen nach Geburt) – Herausforderung und Umstellung (bis 6. Mon.) – Gewöhnung (2. Hälfte des 1. Jahres). Neue Beziehungen, vorwiegend zu anderen jungen Eltern werden geknüpft, alte verändern sich. Daneben gilt es, eine Identität als Mutter oder Vater herauszubilden und eine Weltsicht aus dieser Perspektive zu entwickeln. Unterschiedliche Ausgangsbedingungen Anpassungsleistungen müssen unter unterschiedlichsten Ausgangsbedingungen erbracht werden: nichtgeplante Schwangerschaft; kurze Partnerschaftsdauer; niedriges Lebensalter; niedriger Sozialstatus; geringe Partnerschaftszufriedenheit vor der Geburt. Auch sind nachgeburtlich vor allem situative Belastungen und Belastungen durch eine problematische Persönlichkeit ungünstig. Traditionelle Aufgabenverteilung Unter einer als ungerecht empfundenen Arbeitsverteilung leiden mehrheitlich Frauen, die sich auch eine egalitäre Verteilung wünschen. Praktiziert wird jedoch meistens die traditionelle Aufgabenverteilung. 181 Ungünstige Persönlichkeitsmerkmale Als ungünstige Persönlichkeitsmerkmale haben sich bei Müttern eine geringe soziale Orientierung, geringe Extraversion und wenig ausgeprägte Fähigkeiten zur Umbewertung erwiesen, bei Vätern geringere Aggressivität (in der Selbsteinschätzung), geringe Selbstkritik gegenüber den eigenen Verhaltensweisen in Belastungssituationen, geringe Konformität und geringe Sensibilität für die Gefühle anderer. Bei beiden Geschlechtern geringe Beziehungskompetenz, wenig Einfühlungsvermögen und hohe Verletzbarkeit. Wer verstärkt den Partner die Verantwortung für ungerechte oder unvorhergesehene Einschränkungen verantwortlich macht, sowie über Ärger, Enttäuschung und Empörung berichtet, ist mit großer Wahrscheinlichkeit nach vier Jahren weiterer Partnerschaft getrennt oder geschieden. Umgekehrt findet man bei verträglichen Beziehungspersönlichkeiten und positiv wahrgenommener Beziehungsentwicklung nach dem Übergang zur Elternschaft früher und häufiger weitere Geburten. Weiter familienbezogene Transitionen (Übergänge) sind jene zur Krippe, Kindergarten, Schule und weiterführenden Schule. 4. Alternative Lebensformen ... existieren seit der zweiten Hälfte des 20. Jhdts. Sie kommen als nichteheliche Lebensgemeinschaften Heterosexueller, als Lebensform des Alleinlebens (Single), als alleinerziehende Eltern, als Lebensgemeinschaft Homosexueller, und als Wohngemeinschaften vor. Auch die bewusst gewählte Kinderlosigkeit kommt seit ca. 30 Jahren gehäuft vor (Schneewind, 1999). 5. Freizeit, soziale Beziehungen, Ausbildung und Berufstätigkeit Besonders wichtig für den jungen Erwachsenen ist es, neue Freundschaften zu finden, alte zu erhalten und zu fördern. Diese gehen über enge, intime Partnerschaftsbeziehungen und engere Sozialbeziehungen in alternativen Lebensformen hinaus. Zeitbudget junger Erwachsener Während bis zum Alter von etwa 20 Jahren ein privilegierter Umgang mit Zeit verbreitet möglich ist, schränkt sich dies danach sowohl bei studierenden als auch bei berufstätigen erheblich ein. Berufstätige Freizeitaktivitäten pro Tag Sa, und So je Arbeitszeit im Schnitt zusätzliche Arbeit pro Woche Studenten 4,3 h 4,5 h 9 – 10 h 9 – 10 h 38,5 h 37,3 h 12 h (50 %) Damit wird für einen Grossteil der studierenden jungen Erwachsenen ein Wandel in der traditionellen Studentenrolle belegt, der zu einer Annäherung an das Zeitbudget junger Berufstätiger geführt hat und deutlich macht, dass das Studium bei vielen nicht mehr im Tätigkeitszentrum, sondern mit anderen Tätigkeiten in Konkurrenz steht. Junge Mütter haben sehr hohe Zeitbindungen für Hausarbeit und Kinderbetreuung sowie besonders geringe Freizeit an den Wochenenden. 182 Private Sozialkontakte Generell ist das Zeitbudget durch stärkere Verpflichtungen in den Bereichen der Hausarbeiten, des Studiums sowie der Erwerbs- und Gelegenheitsarbeiten zu Ungunsten privater Kontakte bestimmt. Freizeitverhalten junger Erwachsener 1996 bestand noch eine klare Dominanz sozialer Aktivitäten (wie telefonieren, Feste und Parties feiern, Probleme besprechen, flirten) gegenüber Freizeitaktivitäten, die alleine realisiert werden (wie lesen, Computer spielen, Gartenarbeit, Tagebuch schreiben). Dabei zeigt sich die Selbstöffnungsbereitschaft junger Erwachsener besonders gegenüber Freunden, seltener gegenüber Familienangehörigen. Bei älteren Erwachsenen ist das umgekehrt. Durch die Erprobung und Etablierung von Partnerschaften werden so die Lebensläufe und auch die Freizeitaktivitäten junger Männer und junger Frauen im Übergang vom Jugend- zum frühen Erwachsenenalter synchronisiert. Soziale Teilhabe und Übernahme gesellschaftlicher Verantwortung Im Übergang vom Jugend- zum frühen Erwachsenenalter finden soziale Platzierungen in der Gesellschaft statt – hierzu gehören: Familienstand, Berufsausbildung, Berufstätigkeit, aktive Teilnahme in sozialen und gesellschaftlichen Vereinen, Religionsgemeinschaften, Politik, ... Zusammenfassung: Robert Ripfl (Freiburg) 183