Arbeitstexte zum Seminar Bedeutung und praktische Anwendung der ‚didaktischen Analyse’ im Unterricht am Beispiel der Verkehrserziehung Donnerstags 11.15 – 12.45, Raum 0118 Gliederung 1. Die fünf Grundfragen der didaktischen Analyse 2. Beispiel 3. 3.1. 3.2. „Es gibt keine Sachanalyse“ (Meyer) Entflechtung und Reduktion Beispiel 4. 4.1. 4.2. 4.3. Zum ‚Hintergrund’ der Didaktischen Analyse Zu der Herkunft, den Autoren der ‚Bildungstheoretischen Didaktik’ Zum Normproblem Die drei Ebenen der Didaktik 5. 5.1. 5.2. Kategoriale Bildung Das Elementare, Fundamentale, Exemplarische Kritischer Blick 6. Exkurs: Kategoriale Bildung innerhalb einer ‚basalen Didaktik’ (G. Feuser) 7. Perspektivschema zur Unterrichtsplanung 8. Was hat sich in der ‚kritisch-konstruktiven Didaktik’ verändert? Literaturverzeichnis Folien Arbeitsaufgaben/-ergebnisse der Studierenden 1 Erläuterungen Die blaue Schrift zeigt Aufgabenstellungen an, die Sie bearbeiten können. Die Textblätter haben zum Ziel, Ihnen einen Einblick in die ‚didaktische Analyse’ zu geben, d.h. in die Notwendigkeit, sie durchzuführen. Denn: guter Unterricht ist geplanter Unterricht. Sämtliche Ausführungen sind i.W. Jank/Meyer entlehnt (s. Literaturverzeichnis) Das Seminar eignet sich hervorragend zur Kombination mit dem Seminar: ‚Was ist der Sinn der Bildung? Schulische Arbeit mit Mädchen und Jungen mit geistiger Behinderung am Beispiel der Mobilität’ (Z: Mi 14.15-15.45; R: 0 119) Am Ende dieser Arbeitstexte sind Arbeitsfragen gelistet, die Sie bearbeiten können. Für einen Schein müssen Sie einen Unterrichtsentwurfs erstellen/ausarbeiten (aus dem Praktikum) und die Arbeitsfragen beantworten. Es ist möglich, dass Sie diese Leistungen in Teamarbeit erbringen. Die Internetseiten werden von mir aktualisiert. Im Seminar benutzte Folien etc. können über Internet abgerufen werden. Auf der Startseite meiner Internetseite finden Sie unter dem Menüpunkt ‚Aktuelles’ jeweils aktuelle Ankündigungen, die sich auf die Seminare, meine Sprechstunden, Terminverschiebungen etc. beziehen. 2 Was ist für mich persönlich wichtig bei der Vorbereitung von meinem Unterricht an der SfG? Worauf würde ich auf keinen Fall verzichten? Was sind meine dringendsten Fragen bzgl. Vorbereitung? Wann wäre ein Unterricht für mich wirklich ‚gut’? Von welchen Grundhaltungen will ich mich in meinem zukünftigen Beruf unbedingt leiten lassen und wovon absolut nicht? Strategien, Taktik, Planung – Vor dem Tun die Planung und vor der Planung die Analyse. Der Begriff Planung findet sich beispielsweise (vgl. DUDEN-Lexikon) in der militärischen Fachsprache: „Umfassende Planung unter Einbeziehung aller wesentlicher Faktoren“. Die Anwendung der Planungsstrategien, ihre Umsetzung in unterrichtlichem Handeln entspricht dann der ‚Taktik’, der „Kunst der Truppenführung auf dem Gefechtsfeld“ – Und in der Tat: Mancher Praktikant oder manche Referendarin fühlt sich wie auf einem Gefechtsfeld. Ein Gegenbeispiel: Der Architekt Gropius sagte: „Exakte Planung legt nicht fest, sondern macht frei für Möglichkeiten der Zukunft“ 1. Die fünf Grundfragen der didaktischen Analyse Im Mittelpunkt des didaktischen Modells von Wolfgang Klafki steht die ‚Didaktische Analyse’. Es wird der Bildungsinhalt der Stunde analysiert. Daher beginnt die Reflexion bei den Unterrichtsinhalten. 3 Es geht um grundsätzliche Fragen, die sich alle Lehrerinnen und Lehrer zu stellen haben, wenn sie Unterricht vorbereiten. Die Fragen lauten: Lohnt sich das, was ich anbiete, für die Schüler? Entspricht es ihrer Lebenswelt/Lebenslage? Ist dieser Inhalt wichtig für ihr Leben? … Und welche Fragen wären mir wichtig, um herauszufinden, was ich inhaltlich anbieten kann? Woran würde ich denn meine Angebote orientieren? Merksatz: Der Lehrer soll in der didaktischen Analyse klären, welcher Bildungsgehalt in den Unterrichtsinhalten stecken könnte. Analyse meint hier: die didaktische Interpretation und Strukturierung des Inhalts (also nicht: der Methoden oder Ziele) Dazu stellt er fünf Grundfragen: 1. Welche Bedeutung hat der betreffende Inhalt im Leben der Kinder der Klasse bzw. welche Bedeutung sollte er bekommen? Wenn ich diese Frage beantworten will, für was müsste ich mich dann interessieren, was müsste Gegenwartsbedeutung Antworten: 4 ich wissen über die Kinder? 2. Hat das Thema eine Zukunftsbedeutung für die Kinder? Bzw. Welcher Art ist die Bedeutung für die Zukunft? Wenn ich diese Frage beantworten will, für was müsste ich mich dann interessieren, was müsste ich wissen über die Kinder? Zukunftsbedeutung Antworten: 3. Welchen allgemeinen Sachverhalt oder allgemeine Exemplarische Bedeutung Problem erschließt der Inhalt, 5 den ich anbiete? An was könnte sich die beispielhafte Bedeutung orientieren? An Wochentagen, Größe der Kinder, meiner Laune … ? 4. Welches sind die Situationen, Phänomene, Fälle, Versuche, usw., in oder an denen die Struktur des Inhaltes den Kinder als interessant, fragwürdig, zugänglich, anschaulich werden kann? Woran orientieren sich denn meine Inszenierungen, mein ‚Drehbuch’, mein Arrangement etc.? Antworten: Zugänglichkeit Antworten: Sachstruktur 6 5. Was ist die Struktur der Thematik, des Inhaltes des Themas, Projektes, Experimentes etc.? Antwort: Warum muss ich beispielsweise ‚Über die Straße gehen (Ampel)’ strukturieren? Ist doch ganz einfach, kenne ich doch genau! 2. Beispiel zur didaktischen Analyse (Nutzung von ÖPNV) Thema: Nutzung von ÖPNV (=öffentlichen Personennahverkehrsmittel) Neueintragung vom 02.05.2004 Lernbereich: „ÖPNV-Benutzerin/Benutzer“ Thema: „Mit dem Bus fahren“ Grobziel: Die Schülerinnen/Schüler sollen mit Hilfe den Bus als ÖPNV nutzen können“ Individualspezifische Feinziele: Nadine, Carin: Sollen das Ziehen des Fahrscheins ohne Hilfe erlernen (durch computerunterstützende bildlich-sprachliche Präsentation) 7 Cindis, Meike, Ursula: Sollen im Rollenspiel mit Hilfe den Kauf von Fahrscheinen erlernen (Handlungsablauf) Hartmut, Carola: Sollen gemeinsam den Handlungsablauf des Ziehens eines Fahrscheins durch (eigene) Fotodokumentation auf der anschaulich-bildlichen Handlungsebene nachvollziehen Aufgabenstellung: Sachstruktur Bitte erstellen Sie eine Sachanalyse (mit Reduktion) zu dem gestellten Unterrichtsthema Aufbau der Unterrichtsreihe Thema: Mit dem Bus fahren Grobziel : Bus nutzen können 1. Unterrichtsgang mit der Videokamera und dem Fotoapparat: ÖPNV der Region aufnehmen 1. Schulung der visuellen Wahrnehmung: öffentliche Verkehrsmittel der Stadt/Umgebung erleben, erkennen und dokumentieren 2. Das sind die ÖPNV der Region (gemeinsame Dokumentation erstellen) 2. Bildliche und symbolisch-abstrakte Wiedererkennung der ÖPNV (mit Computerunterstützung) 3. Das ist mein Weg von Daheim zur Schule (unter Nutzung von Fotos) Kontinuierliche Einheit 3. Erkennen und berücksichtigen von Orientierungsmerkmalen (Weg zur Bushaltestelle, während der Fahrt bis zum Ziel) 4. Wir üben das Ziehen von 4. Handlungsablauf des Ziehens von Fahrscheinen im Bus (Rollenspiel) Fahrscheinen im Bus nachvollziehen 5. Wir üben das Ziehen von Fahrscheinen im Bus (Rollenspiel) 6.-12. Wir besuchen uns gegenseitig (ÖPNV-Bus) 5. Handlungsablauf des Ziehens von Fahrscheinen im Rollenspiel einüben/habitualisieren 6.-12. Handlungsablauf des Ziehens von Fahrscheinen im Bus einüben und die Nützlichkeit der Nutzung eines ÖPNV erleben (hier: Mitschüler besuchen) 8 13. Auf Durchsagen im Bus müssen wir achten 13. Erkennen (auditive Wahrnehmung) und berücksichtigen im Handeln der akustischen Durchsagen (hier: nächste Haltestelle …; Ausstiegshaltestelle; Verspätung etc. …) 14. … 15. … Aufgabenstellung: Gegenwarts-, Zukunfts-, exemplarische Bedeutung Bitte fertigen Sie eine ‚didaktische Analyse’ an Aufgabenstellung: Zugänglichkeit Bitte stellen Sie dar, welche Situationen, Motivationen, etc. Sie sich vorstellen könnten, die die Schülerinnen und Schüler dazu anregen, sich mit der Thematik auseinander zu setzen. Wählen Sie dazu eine Stundeneinheit aus (s.o.) 3. „Es gibt keine Sachanalyse“ (Meyer) L. sitzt am Schreibtisch und verzweifelt. L. soll eine Stunde planen und L weiß nicht, durch welche Einzelschritte die Aufgabe, den morgigen Unterricht zu gliedern, gelingen kann. Soll L. zuerst mal über die Inszenierung nachdenken oder doch lieber eine Sachkenntnis gewinnen oder noch mal grundsätzlich den Kopf schwer machen damit, ob L. überhaupt diesen Inhalt anbieten soll. Macht der überhaupt Sinn für die Schüler? Oder lieber doch produktives Chaos? Was soll die blöde Planerei überhaupt für einen Sinn machen? Irgendwie lernen die Sch. schon ‚Rot, Gelb, Grün’ – also jedenfalls irgendwie… 9 Was würde ich vorschlagen zum Thema ‚Verkehrserziehung’? Warum sagt Hilbert Meyer, es gibt keine ‚Sachanalyse’? Wir alle haben ein Bild der Klasse, der SchülerInnen, der wünschenswerten Kompetenzen und Ziele, der uns möglichen Inszenierung immer schon vor Augen. Unterrichtsvorbereitung ist immer ein ganzheitlicher Akt. Es ist NICHT so, dass wir einzelne Schritte isoliert voneinander planen: Im Gegenteil, wenn wir über die Methoden nachdenken, haben wir auch schon die Sozialformen und die Medien im Kopf, auf unserer ‚inneren Bühne’ sind wir im Klassenzimmer und agieren mit den Schülern, sehen jede/jeden Einzelnen. Fazit: Hilbert Meyer sagt, es gibt keine Sachanalyse, weil ‚Sachanalyse’ suggeriert, man könne die reine ‚Sache’ (hier: Verhalten im Straßenverkehr) analysieren. Die Sache, um die es geht, steht aber immer schon in einem didaktisch-methodischen Kontext. Um das zu verdeutlichen, was H. Meyer hier ausdrücken will, sei vorgestellt, wie ein bildungstheoretischer Ansatz (Klafki) vorgeht: Ermittle den fachwissenschaftlichen Stand (Sachanalyse) Entscheide, welche elementaren Strukturen, Probleme bestehen (didaktische Analyse) Überlege, in welcher Reihenfolge, an welchen Inhalten, Methoden etc. diese Strukturen und Probleme den Schülern vermittelt werden können (methodische Analyse) 10 Was ist an diesem ‚Dreischritt’ problematisch? Hier soll ein bildungstheoretischer Ansatz vorgestellt werden. Dieser geht wie folgt vor: Lebenssituationen der Schülerin/des Schülers Bestehend aus: Kompetenzen zur subjektiven Sinnstiftung der Lebenssituationen Welche Kompetenzen könnten das sein? Was heißt ‚subjektive Sinnstiftung’? 11 Wie wähle ich aus der Vielzahl der Lebenssituationen aus? Sachanalyse hilft uns zu klären, wie ein einmal gefundenes Thema strukturiert werden kann. Wir ‚entflechten’ eine Sache, d.h. wir schauen uns die einzelnen Teile einer Sache genauer an. Es geht also um den Lerngegenstand, um die Aufhellung der Sachstruktur, um das Verhältnis Lehrer-Lerngegenstand. Wir meinen zwar, dass beispielsweise eine ‚Ampel zu überqueren’ so simpel sei (weil das zu unserer Gewohnheit gehört), dass wir keine Sachanalyse durchführen müssten, aber … 3.1. Entflechtung und Reduktion Eine Sachanalyse muss der Lehrerin/dem Lehrer helfen, die Frage zu beantworten, wie das Thema strukturiert ist. Dazu müssen wir zunächst etwas über die ‚Sache’ wissen, um die es geht. Dann sollten wir die Lebenssituationen der Schüler im Blick haben, d.h. ein Unterrichtsthema soll an die Wirklichkeit (vergangene, jetzt, zukünftige … ) der Schülerin/des Schülers anknüpfen, ebenso wie es die Wirklichkeit der Schülerin/des Schülers (Kompetenzen, Bedürfnisse, Wünsche, Grenzen..) berücksichtigt. Wenn wir Unterricht planen, so müssen wir fortwährend Entscheidungen treffen. Diese hängen von uns und unseren Kompetenzen ab, von der Teamsituation, … Entscheidungen können abhängen von Soll die Schülerin/der Schüler an seinen Kompetenzen anknüpfen können und zum erfolgreichen und sinnvollen lernen geführt werden, so muss das 12 Projekt/Vorhaben/Unterrichtsreihe/Unterrichtseinheit/Experiment etc. auf Anforderungen, die an die Schülerin gestellt werden, analysiert werden. Z.B. was kann eine Schülerin, so dass sie einen bestimmten Buchstaben lernen kann, einen Turm bauen, die Leserichtung verfolgen kann, einen Flaschenöffner sachgemäß handhaben kann, eigenes Wohnen trainieren kann, die Straße an der Ampel überqueren kann… Was muss eine Schülerin können, damit sie an der Ampel die Straße mit Hilfe überqueren kann? Dieter Fischer (1978,108) spricht von einer notwendigen „Reduktion“ der entflochtenen Sache/des Unterrichtsangebotes. Damit ist eine Reduktion der Sache (des Themas, des Bildungsgehaltes) auf das Wesentliche der Sache gemeint (ohne dass der Gesamtzusammenhang darunter leidet!!!) und das Wesentliche im Sinne der SchülerInnen 3.2. Beispiel Bitte fertigen Sie eine Sachanalyse (mit Reduktion) zu dem Thema „Verkehrserziehung“ in der Mittelstufe einer SfG an. Ihre Schülerinnen und Schüler hatten bislang keinen Verkehrsunterricht. Die Klasse besteht im Wesentlichen aus Schülerinnen, die zwischen den Handlungsniveaustufen bildlich und abstrakt-symbolisch liegen. Deutlich ist ein eher unsozialer Klassenverband (Einzelkämpfer) mit vielen Verhaltensauffälligkeiten. 13 3.3. Sie wollen in Ihrer Klasse mit Ihrer Kollegin/dem Kollegen eine Unterrichtsreihe von ca. 8 Stunden schlüssig entwickeln 3.4. Bitte erstellen Sie mit Hilfe dieses Rasters eine logisch aufgebaute Unterrichtsreihe und geben Sie die anvisierten Kompetenz(en) und Zielstellungen an: Oberthema der Stunden 1. Grobziel/Kompetenz 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 14 Einfügung am 26.5.2004: A. Vorschlag einer Sachanalyse mit Reduktion Funktion der Ampelanlage - Farben (Rot, Grün) - Bedeutung und Handlung - Druckknopf - Verhalten an der Ampelanlage - … Straßenverkehr - Verkehrsteilnehmer (PKW, LKW, Zweiräder, Menschen, Tiere) und deren Verhalten - Verhalten der Verkehrsteiln. (Geschwindigk., Bewegung) - …. Die Straße an der Fußgängerampel überqueren Überqueren der Straße an der Ampelanlage - Verhalten: Ampel steht auf ‚Rot’: Stehenbleiben Druckknopf bedienen warten, bis die Ampel auf ‚Grün’ schaltet kurz versichern (rechts und links schauen), ob kein VT kommt zügig die Straße überqueren oder - Verhalten: Ampel steht auf ‚Grün’: Versichern, dass kein VT fährt Zügig die Straße überqueren - …. B. Auf dem Fußgängerweg gehen - nicht zu nah an der Straße gehen - auf andere F. achten - nicht laufen und raufen - zügig gehen - …. Vorschlag zur Schichtung der Unterrichtseinheiten Oberthema: Die Straße an der Fußgängerampel überqueren 1. Unterrichtsgang: Besuch bei der Mitschülerin Karin Grobziel: Mobilitätstraining im Straßenverkehr Einführung in/Motivation für das Thema durch sinnbezogene Aktivität 15 2. Die Ampelanlage hat zwei Farben: ‚Rot’ und ‚Grün’ Visualisieren, Erkennen in der Bedeutung der Farben Rot und Grün im Rahmen einer Ampelanlage 3. wie zweite Unterrichtseinheit Vertiefung/Wiederholung anhand von veränderten Medien 4. Die Ampelanlage hat einen ‚Druckknopf’ Visualisieren, Erkennen in der Bedeutung und Handhabung des Druckknopfes 5. Unterrichtsgang: Besuch einer Mitschülerin Handhabung des Druckknopfes kennenlernen 6. Worauf muss ich achten, wenn ich die Straße überquere? Sensibilisierung für Gefahren und Vorsichtsmaßnahmen ....... C. Didaktische Analyse erstellen Exemplarische Bedeutung Das Thema „Wir überqueren eine Straße an der Fußgängerampel“ ist exemplarisch für die Festigung, Erweiterung von ‚Mobilität’. An diesem Beispiel können die Schülerinnen und Schüler der Unterstufe besonders gut die Bedeutung der Mobilität erlernen: eine(n) andere(n) MitschülerIn besuchen, Einkäufe tätigen usw. Flexibel/Mobil zu sein, eigenständig bzw. mit Hilfe Orte erreichen zu können, bedeutet eine Festigung der Selbständigkeit, eine Erweiterung der Tätigkeitsbereiche, eine Unabhängigkeit von festen Orten und Bezugspersonen. Bei der unterrichtlichen Inszenierung können zudem Umgangsweisen mit der Fußgängerampel, dem öffentlichen Verkehr geübt werden, z.B. beobachten, wahrnehmen, erkennen und nutzen der Ampel. Hier zeigt sich auch die Notwendigkeit eines ‚passenden’ Verhaltens innerhalb der Gemeinschaft/Gesellschaft. Das Thema soll eine Einführung in ‚Mobilität’ insgesamt darstellen, wobei diese Thematik im sinne des Spiralprinzips in den kommenden Fördereinheiten umfassender aufgegriffen und aufgearbeitet (=erarbeitet) wird. Die Einsicht, sich adäquat im Straßenverkehr verhalten zu können und so eine Mobilitätserweiterung zu erfahren, soll durch die Nutzung von öffentlichen Verkehrsmitteln (mit dem Bus fahren) erweitert werden. Die Unterrichtsgänge 16 werden zunehmend ‚gesplittet’, d.h. sie werden nicht mehr mit der ganzen Gruppe, sondern mit je drei Schülerinnen durchgeführt im sinne eines ‚Begleittrainings’. Gegenwartsbedeutung Unter dem Gesichtspunkt des Zugangs ist festzuhalten, dass alle Schülerinnen und Schüler der Klasse die Überquerung der Straße an der Fußgängerampel bereits als ‚unthematisches Vorwissen’ in ihrer Lebenswelt erfahren haben und z.T. auch kennen. Hier geht es um einen lebensweltorientierten Unterricht, der Vorwissen thematisch macht bzw. irritiert, um die Mündigkeit der Schülerinnen zu stützen. Den Schülern ist z.T. bekannt, dass und wie sie die Fußgängerampel nutzen, d.h. welche Handlungsabläufe/Verhaltensweisen notwendig sind, damit die Straße ohne Gefahren überquert werden kann. Nicht deutlich bleibt ihnen weiterhin das Ausmaß der Freiheit, der Mobilität, das sie durch die Erweiterung ihrer Räumlichkeit erfahren können (mobil sein: Arbeitsplatz alleine erreichen, Freunde besuchen können, einkaufen, Freizeit gestalten etc.). Zukunftsbedeutung Es gehört zur Allgemeinbildung, zu wissen, wie eine Straße überquert wird, wie eine Fußgängerampel zu nutzen ist. Für die Schüler ist dieses Wissen insofern von Bedeutung, als es ein konkretes Handlungswissen ist, das realitätsnah dargeboten wird und Folgen für die Gestaltung ihrer Lebenswelt erkennen lässt. Es steht zu vermuten, dass viele von ihnen vielleicht später in einem betreuten Wohnverhältnis leben werden; vielleicht kann davon ausgegangen werden, dass einige auf dem ersten Arbeitsplatz eine Arbeit finden bzw. in der WfB arbeiten werden. Sie bleiben abgeschottet, es droht Einsamkeit, Isolation, wenn sie nicht aus ihrer konkreten Arbeits- und Wohnwelt ‚hinaus’ ins Leben gehen können. Mobilität ist ein lebenspraktisches Thema, das Realität als Bedingung prägt: sich von einem Ort zu einem anderen bewegen können (und sei dies noch so ‚klein’ oder nuanciert), ist Voraussetzung für ein ‚bewegtes Leben’. Immobilität bedeutet Erstarrung, Isolation, Verharrung und Ausschluss von der Gemeinschaft. Struktur - In welchem Sinnzusammenhang steht das Thema und wie sind die einzelnen Momente verbunden? - Ist der Inhalt ‚geschichtet’? Gibt es verschiedene Sinn- und Bedeutungsschichten? - Was könnte den Schülerinnen/Schülern den Zugang zur Sache erschweren bzw. erleichtern? Momente - Fußgängerampel kennen und nutzen - Straße überqueren unter Einschätzung von Gefahren - Sinn der Kompetenz erkennen Für das Thema ist es wichtig, dass die Schülerinnen und Schüler der Unterstufe die Fußgängerampel, das Überqueren der Straße als unthematisches Vorwissen/ Handlung/ Verhalten bereits ‚kennen’. Der Wirkzusammenhang selbst, also die hohe Bedeutung der anderen Momente wird und soll eine didaktische Folge des Unterrichts sein. Das Thema weist aus meiner Sicht neben der ‚Sachebene’, d.h. neben der Handlungskompetenz selbst (=Überqueren der Straße) noch eine andere Ebene auf: Visuelle Ebene – wahrnehmen, fixieren der Farben (Rot, Grün) und deren Bedeutungen und die Ebene 17 des Verhaltens (‚geduldiges Warten’: hier werden bei einigen Schülerinnen und Schülern Probleme zu erwarten sein). Zwar sind den Schülern die Bedeutung der Farben einer Fußgängerampel bekannt, aber sie verfügen wahrscheinlich nicht oder nur sehr schwer über die notwendige Geduld des Wartens. Vorausgegangen sein müssen Kenntnisse über das Verhalten auf der Straße. Als Mindestwissen/Handlungskompetenz muss daher das Verhalten auf der Straße nicht nur unthematisch, sondern klar und deutlich bewusst sein. Zugänglichkeit Es gibt generell einmal in der Woche einen ‚Unterrichtsgang’, der sich aufs Einkaufen, Besuch bei der Post etc. bezieht. Bislang wurde jedoch die Überquerung der Straße an der Fußgängerampel nicht thematisiert. Die Schülerinnen/Schüler haben diesen Vorgang mit vollzogen, aber der Lehrer/Zivildienstleistende/Praktikantin hat vorwiegend die Regie dieses Vorgangs übernommen. Die an dieser Unterrichtseinheit gewonnenen Einsichten können im künftigen Unterricht aufgegriffen und erweitert werden: zu dritt (m.H./o.H.) einkaufen gehen, eine Mitschülerin besuchen etc. 4. Zum ‚Hintergrund’ der Didaktischen Analyse In den 60er Jahren entstanden vielfältige bildungstheoretische Reflexionen zur Didakik. Besonders die Arbeiten von Wolfgang Klafki sind beachtet worden: Klafki hatte bei Wolfgang Weniger studiert, einem Göttinger Pädagogen (daher auch: ‚Göttinger Didaktik’ anstatt bildungstheoretische Didaktik). 4.1. Zu der Herkunft, den Autoren der ‚Bildungstheoretischen Didaktik’ Klafki hat einen damals konkurrenzlosen Leitfaden für die Unterrichtspraxis gewonnen. Er wurde 1927 in Ostpreußen geboren und studierte an der PH Hannover, wurde dann Lehrer. Er begann aber dann ein zweites Studium der EZW bei Litt und Weniger. In den 60er Jahren wurde er Prof für EZW in Marburg. Was heißt nun ‚bildungstheoretische’ Didaktik? Wie der Name schon sagt, wird hier versucht, ein Konzept zur Unterrichtsvorbereitung auf der Grundlage einer Theorie der ‚Bildung’ zu entwickeln. Weil diese Didaktik sich auf Unterricht bezieht, nicht jedoch auf eine berufliche Ausbildung, spricht man auch von „Allgemeinbildung“. Klafki hat diesen Begriff untersucht und er beschreibt als klassische bildungstheoretische Grundfrage, womit (mit welchen Inhalten und Gegenständen) man sich beschäftigen und auseinandersetzen müsse, um zu einem Leben in Menschlichkeit, in gegenseitiger Anerkennung. In Freiheit und Gerechtigkeit untereinander, in Glück und 18 Selbsterfüllung zu kommen und dies alles vernunftgeleitet und selbstbestimmt (vgl. Klafki 1986, 461). Merksatz zum Ziel der Bildung: Bildung und Erziehung haben für Klafki die Aufgabe, dem unmündigen Menschen zur Mündigkeit zu verhelfen. Mit dem Ziel der ‚Mündigkeit’ fangen die Probleme an: Wie verstehen wir ‚Mündigkeit’? Sollen oder können wir diesen Begriff auch für die BHP übernehmen? Oder wäre uns die normative Forderung der ‚Selbständigkeit’ oder ‚Selbstbestimmung/Autonomie’ lieber? Was soll denn dann ‚Gebildet-Sein’ heißen? 4.2. Zum Normproblem Die klassische Bildungstheorien (Humboldt 1767-1835; Pestalozzi 1746-1827; Herbart 1776-1841; Schleiermacher 1768-1834) und Klafkis Einsichten weisen vier gemeinsame Charakteristika auf: Bildung als Befähigung zu vernünftiger Selbstbestimmung Das ‚übersetze’/’fülle’ ich so……… Bildung als Bildung jedes einzelnen Individuums innerhalb des gesamten historisch-kulturellen-gesellschaftlichen Zusammenhangs Das ‚übersetze’/’fülle’ ich so…. Bildung der Individualität 19 Das ‚übersetze’/’fülle’ ich so… Bildung im Zusammenhang der Gemeinschaft Das ‚übersetze’/’fülle’ ich so… Merksatz zur Allgemeinbildung: Allgemeinbildung bezeichnet innerhalb der bildungstheoretischen Didaktik die Fähigkeit eines Menschen, kritisch, selbstbewusst, solidarisch und sachkompetent zu denken und zu handeln. Allgemeinbildung sei der Weg, seine Fähigkeiten zur vernunftgeleiteten Selbstbestimmung im Kontext gesellschaftlich-kultureller Wirklichkeit; sie muss aber vom einzelnen Individuum selbst verwirklicht werden in der Auseinandersetzung mit der Gemeinschaft/Gesellschaft (vgl. Klafki 1986). Vernunftgeleitete ‚Selbstbestimmung’ oder ‚Mündigkeit’ sind Schlüsselbegriffe der Aufklärung. Kant (1724-1804), die Leitfigur der Aufklärung in Deutschland definierte Aufklärung wie folgt: „Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen.“ (Kant 1966, 53/A 481). Was heißt das nun für den Unterricht konkret? Wenn wir versuchen, Selbstbestimmung oder Mündigkeit zu definieren, gerät man in Schwierigkeiten oder auch Streit: Ist mündig, wer reaktionäre Politik ablehnt oder wer die Grünen wählt? Ist mündig, wer zwei Fremdsprachen beherrscht oder etwa der, der das Lernen gelernt hat und selbstständig den Umgang mit dem Computer einübt. Oder bezieht sich Mündigkeit und Selbstbestimmung auf die Inanspruchnahme von Rechten und Pflichten? Oder ist schon selbstbestimmt, wer zwischen Kakao und Tee wählen kann? Oder die, die mit Unterstützung gemeindeintegriert wohnt? Auch wenn wir versuchen, wie dies Jank und Meyer (o.Z.) tun, zu beschreiben, wie sie sich von Unmündigkeit und Fremdbestimmung abgrenzen, geraten wir in Dichotomien. Sie sagen: Erziehung und Unterricht habend die Aufgabe, den jungen Menschen zu befähigen, sich von seinen Lehrerinnen/Lehrern zu emanzipieren. Damit könne man dieses Ziel überprüfen, indem man sieht, ob die Schülerin/der 20 Schüler sich von den Pädagogen begründet abwendet und statt ihrer Normen und Bildungsangebote, eigene Normen und Bildungsangebote aufgreift. Klafki hat versucht, eine positive Bestimmung dessen zu überwinden, was Unterricht und Schule unter dem Anspruch von ‚Mündigkeit’ oder ‚vernunftgeleiteter Selbstbestimmung’ bewirken soll, zu umgehen und das führte ihn 1959 zur Forderung nach „kategorialer Bildung“. Grundlagen dieser kategorialen Bildung sind die ‚klassisch bildungstheoretischen’ Überlegungen (s.o.). Dazu gehört, dass Bildung eine Form der Auseinandersetzung des einzelnen Menschen mit der ihn umgebenden Welt ist: also mit der vorfindlichen, historischen, politischen, gesellschaftlichen, ökonomischen etc. Wirklichkeit. Bildung ist also nach Klafki nur in einem funktionierenden, lebendigen kulturellen Traditionszusammenhang möglich. Das ist ein konservativer Zug der bildungstheoretischen Didaktik, auch wenn Klafki selbst seit 1970 versucht hat, sie auf der Grundlage der kritischen Theorie der Gesellschaft (Frankfurter Schule, Adorno, Horkheimer) zu einer „kritischkonstruktiven“ Position weiterzuentwickeln. Worin besteht denn nun der konservative Zug? Dieser wird deutlich an der Tatsache, dass Klafki sich wenig Sorgen machte darüber, woher denn die Unterrichtsinhalte kommen sollen, die Lehrerinnen/Lehrer in der didaktischen Analyse auf ihren Bildungsgehalt hin überprüft? Die Unterrichtsinhalte waren durch Richtlinien, Lehrpläne, Lehrbücher einfach ‚vorgegeben’. Genau das ist auch einer der Hauptpunkte der heftigen Kritik gewesen, der sich sein Modell gegenübersah. Meine Antwort darauf, woher ich die Unterrichtsinhalte in meinem Unterricht nehme, lautet … Der Konservatismus kommt auch daher, dass es den bildungstheoretischen Didaktikern schwer fällt, Mündigkeit, Selbstbestimmung, Allgemeinbildung ‚positiv’ zu bestimmen. Die Kritik nach Jank/Meyer hört sich daher so an: „Man kann den Satz, Bildung sei Befähigung zur vernunftgeleiteten Selbstbestimmung und zur Mündigkeit nicht empirisch belegen. Es ist aus logischen Gründen unmöglich, Selbstbestimmung, Mündigkeit, Allgemeinbildung aus irgendwelchen übergeordneten Prinzipien, Weltanschauungen oder Weltverbesserungsformeln wissenschaftlich 21 abzuleiten. Denn dazu sind immer Zuatzentscheidungen erforderlich, die logisch in der Prämisse nicht drinstecken. Man kann jedoch in historischen Analysen zur Geschichte der Didaktik nachweisen, dass seit der Aufklärung (also: Rousseau, Kant, Pestalozzi, Humboldt, Herbart, Schleiermacher) immer wieder die Idee der Erziehung zur Mündigkeit/Selbstbestimmung auftaucht, verteidigt wurde und vorgelebt worden ist!“ Wir sehen, dass das Normproblem in der Didaktik problematisch ist. Ein konkretes Beispiel: Unbestritten ist, dass es für Schülerinnen/Schüler interessant ist, Musik zu hören/zu machen. Ein Großteil der Schülerinnen/Schüler der SfG werden daher mit Musik aus der Sparte ‚besonders geeignet für Geistigbehinderte’ erfreut. Klassik, Rap oder Rockmusik werden eher selten angeboten, obwohl sie zur Lebenswelt der Schülerinnen/Schüler gehören. Darauf kann man nun mit mehreren plausibel klingenden, aber sich widersprechenden Forderungen für den Musikunterricht antworten: Musikunterricht soll einen großen Bogen um Rap machen, weil es ja gerade darum geht, ihre Erfahrungsfähigkeit zu erweitern. Sie werden aber in ihrem täglichen Leben mit Rap dauern konfrontiert, so ist ihnen die Musik näher zu bringen, die ihnen nicht jeden Tag im Ohr liegt. Musik muß Rap einbeziehen, um die Schülerinnen/Schüler an dieser Musik deren musikalische Dürftigkeit und textliche Armut und daher die Manipulationsmechanismen einer ‚Kulturindustrie’ klar zu machen – mit dem Ziel, die Schüler zur Klassik zu führen Musikunterricht kann auch Rap einbeziehen, wenn es dadurch gelingt, die Schülerinnen/Schüler zu motivieren, sich dann auch mit der Klassik zu beschäftigen. Musik muß Rap einbeziehen, weil sie ein wesentliches Merkmal der Freizeitaktivitäten, der Entspannung von Jugendlichen ist und ihre Erfahrungen, Emotionen, Sehnsüchte ausdrückt. Sie haben ein Recht darauf, ihre Erfahrungswelt um Musikunterricht anerkannt zu wissen, anstatt sie dort als abgewertet zu erleben. Außerdem lernen sie dadurch, sich auszudrücken. Musikunterricht muß primär Unterricht in ‚Rapmusik’ sein, weil sie die musikalische Erfahrungswelt der Schüler bildet, weil der Musikunterricht dadurch für sie lustvoller, lebensbezogener und realistischer erlebt wird und weil ein Großteil der Schülerinnen/Schüler ihr Leben lang sowieso nie in Berührung mit Klassik kommen wird. Was können wir an einem solchen Beispiel erkennen? Es lässt sich erkennen, dass in Wirklichkeit nicht aus der Tatsache, dass die Schülerinnen/Schüler bestimmte außerschulische Vorlieben haben, Folgerungen gezogen werden können. Diese Tatsache ist höchstens dafür von Bedeutung, dass 22 sie einen Ausgangspunkt für die Einbeziehung von Normen darstellt, die damit eigentlich nicht ursächlich zusammenhängen. Welche Normen sind das? An einem solchen Beispiel erkenne ich folgende Ausgangspunkte für Normen … (bitte in einem Satz formulieren) Zum 1. Punkt: Zum 2. Punkt: Zum 3. Punkt: Zum 4. Punkt: Zum 5. Punkt: Was hier geschieht, kann man – wie Jank/Meyer dies auch tun – in einem Schaubild darstellen: Beobachtete und analysierte Tatsachen exakte Schlußfolgerung Handlungsorientierung für die Unterrichtspraxis In Wirklichkeit geschieht aber dieses: Beobachtete und analysierte Tatsachen Handlungsorientierung für die Unterrichtspraxis Bewertung durch Normen, Voreinstellungen, Vorurteile (teils bewusst, teils Unbewusst) 23 Diese drei Felder, also beobachtete Tatsachen, Normen und Handlungsorientierung liegen auf unterschiedlichen logischen Ebenen. Denn wer meint, aus beobachteten Tatsachen ohne Zuhilfenahme von Normen Handlungsorientierungen logisch ableiten zu können, lügt sich etwas in die Tasche. Merksatz zum Normenproblem: Aus der Analyse der Unterrichtswirklichkeit, ihrer Vorbedingungen, Voraussetzungen und Folgen kann nicht unmittelbar auf das pädagogisch Wünschenswerte oder auf eine bestimmte wünschenswerte Orientierung pädagogischen Handelns geschlossen werden. Gerade, weil die bildungstheoretischen Didaktiker um diese Probleme wissen, bleiben sie doch auf dem Prinzip der Erziehung zur Mündigkeit, Selbstbestimmung bestehen. Sie halten dies für ein wichtiges Moment einer ‚konkreten erzieherischen Utopie’. Sie beziehen Bildung zurück auf die Auseinandersetzung mit der vorfindlichen Welt und halten damit die Spannung zwischen Utopie und gesellschaftlicher Wirklichkeit der Unfreiheit in einer Spannung. 4.3. Die drei Ebenen der Didaktik Leider müssen wir uns noch ein wenig mit ‚allgemeiner Theorie’ geschäftigen, das heißt mit den drei Ebenen der Didaktik. Nach-Denken über Unterricht ist nicht dasselbe wie der Unterrichtsprozess oder Unterrichtsvollzug. A Prozessebene: Konkreter Unterrichtsvollzug im Sinne Eines gemeinsamen Handelns von Lehrerinnen Lehrern und Schülerinnen/Schülern über eine Sache B Ebene Analyse und Planung: Analyse von Unterrichtsprozessen und Rahmenbedingungen (Deskription) C Planung von Unterrichtsprozessen und Rahmenbedingungen (Präskription) Ebene -B- ist die sogenannte Metaebene. Das heißt, hier wird allgemeiner über Unterricht nachgedacht. Also nicht über den Unterricht bei Frau Ratzelbatz/Herr Ratzelbatz in der Unterstufe der SfG in Ringelbach, sondern unabhängig von Personen oder Klassen, Stufen und bestimmten Schulen. Hier geht es um Aussagen, die sich nur mittelbar auf Unterrichtsvollzüge beziehen. Beispiel: Individuelle Entwicklungsplanung (Trost): sie wird 24 allgemein diskutiert für alle Schulen, um eine individuelle erzieherische Hilfestellung auch leisten zu können. Merksatz zur Metaebene: Verallgemeinerbare Reflexion über grundsätzliche Strukturmomente von Unterrichtsprozessen, -planung und –analyse und ihre Rahmenbedingungen. Ebene –C- ist die sogenannte Ebene der Analyse und Planung. Hier geht es um die konkrete Unterrichtsplanung von Frau Ratzelbatz/Herr Ratzelbatz in der Unterstufe der SfG in Ringelbach. Sie ist nicht unabhängig von Personen, Klassen etc. Hier geht es um Aussagen, die sich direkt auf Utnerrichtsvollzüge beziehen. Beispiel: Anwendung der IEP (Trost) für die Kinder meiner Klasse. Die Ebene –A- ist die sogenannte Ebene des konkreten Unterrichtsvollzugs. Unsere Wahrnehmungen und Beobachtungen fließen in unsere spätere Reflexion und Analyse oder Planung des Unterrichts ein. Der Unterricht selbst richtet sich weitgehend nach unserer Planung, aber im konkreten Unterricht von Frau Ratzelbatz/Herrn Ratzelbatz ereignet sich Bildung, d.h. Intentionen der Schüler und meine Intentionen ‚brechen’ aneinander (Mollenhauer), so dass ein Drittes, Neues entsteht. Das Neue konnte nur durch meine spezifische Inszenierung des Unterrichts entstehen, aber es lebt nicht allein davon, sondern von der Begegnung zwischen Sch-L-Sa. Merksatz: Bildungstheoretische Didaktik geht von der ‚Dignität der Praxis’ (Schleiermacher) vor der Theorie aus. Das heißt, dass die ‚Begegnung’ zwischen Erzieher, Schüler und Sache grundlegend sind. Aus ihr erwachsen die für Planung/Reflexion notwendigen Einsichten. 5. Kategoriale Bildung Der didaktischen Analyse geht es darum, festzustellen, was den ausgewählten Lerngegenstand zum ‚Lern’gegenstand macht. Dies heißt: es geht um die Erforschung seiner Lernstruktur. Fragen werden relevant wie: Mit welcher Absicht und mit welchen didaktischen Intentionen habe ich diesen Gegenstand als Lerngegenstand ausgewählt? Worin liegt die bildende Bedeutung? Worin liegt die Bedeutung für die Schülerin/den Schüler? … Folgende Fragen habe ich zum Lerngegenstand in Bezug auf den geplanten Unterricht zur Verkehrserziehung … 25 Das Postulat der ‚Selbstbestimmung’ oder ‚Mündigkeit’ als Norm erzieherischen Handelns ist noch derart abstrakt, dass der Pädagogin/dem Pädagogen, die konkrete Entscheidungen auf der Inhalts-, Methoden- und Zielebene zu treffen haben, wenig geholfen ist. Die bildungstheoretische Frage lautet daher: An welchen Inhalten, mit welchen Methoden lernen Schülerinnen/Schüler selbstbewusst/mündig zu werden? Wie diese Frage beantwortet wird, hängt davon ab, ob man deutlich der formalen oder der materialen Bildung zuneigt. Was bedeuten diese Begriffe und worum geht es dabei? Es geht hier um die Frage, ob die/der als gebildet zu bezeichnen ist, die /der ganz bestimmte Inhalte beherrscht. Dazu zählt z.B. den Zahlenraum zu kennen und sich in ihm mathematisch bewegen zu können, die Vokabeln einer Sprache zu beherrschen, Musikrichtungen unterschieden zu können (= materiale Bildungstheorie) etc. oder aber jene/jener, die/der das Lernen gelernt hat (= formale Bildungstheorie). Materiale Bildungstheorien gehen von den Inhalten bzw. der jeweils in Frage stehenden Sache aus; sie fragen, welche Inhalte aus der vielfältigen Wirklichkeit so wertvoll oder wichtig sind, dass Schülerinnen/Schüler sie lernen sollen. Ihr Bezugspunkt ist die Sache oder das ‚Objekt’: Gebildet ist, wer ‚viel’ Wissen angehäuft hat bzw. wer Goethe, Schiller gelesen und Beethovens IX gehört hat und an ihnen sittliche und menschlich gereift ist. Formale Bildungstheorien gehen von den zu erziehenden Schülerinnen/Schülern und ihren subjektiven und/oder objektiven Bedürfnissen aus. Sie fragen, was für die Schüler gegenwärtig, zukünftig wichtig ist. Ihr Bezugspunkt ist das Kind oder das ‚Subjekt’: Gebildet ist, wer die in ihm schlummernden körperlichen, geistigen und seelischen Kräfte tatsächlich entfaltet 26 hat. Oder aber, wer das Lernen gelernt hat, Methoden beherrscht und instrumentelle Fähigkeiten aufgebaut hat. Warum kann man sagen, dass materiale/formale Bildungstheorien die gesellschaftlichen Einflüsse, Erfordernisse nicht einschließen? Welche der Bildungstheorien (formal oder material) vertritt die Geistigbehindertenpädagogik derzeit? Jank/Meyer stellen dies wie folgt dar: Inhaltsauswahl von der Sache her vom Subjekt her Materiale Formale Bildungstheorie Klafki kritisiert beide Ausprägungen als einseitig, wobei er einschränkend sagt: „ … dennoch konnten auch die kritischen Bemerkungen … die Tatsache nicht verleugnen, dass in jedem dieser vier Ansätze ein Wahrheitsmoment sichtbar wird, … „ (Klafki 1963, 38). Und wie ‚entscheidet’ sich Klafki? „Bildung ist kategoriale Bildung in dem Doppelsinn, dass sich dem Menschen eine Wirklichkeit kategorial erschlossen hat und dass eben damit er selbst – dank der selbstvollzogenen kategorialen Einsichten, Erfahrungen, Erlebnisse – für diese Wirklichkeit erschlossen worden ist.“ (Klafki 1963, 44). 27 Merksatz: Er fügt nicht einfach alle Theorien zusammen, sondern sagt, dass sie sich dialektisch aufeinander beziehen müssen. Dies soll die Kategoriale Bildung erreichen und das heißt: Sie soll die objektbezogene Seite (=material; Sache) der Didaktik mit der subjektbezogenen Seite (=formal; Schüler) der Didaktik dialektisch verschränken. „Bildung nennen wir jenes Phänomen, an dem wir – im eigenen Erleben oder im Verstehen anderer Menschen – unmittelbar der Einheit deines objektiven (materialen) und eines subjektiven (formalen) Momentes innewerden. Der Versuch, die erlebte Einheit der Bildung sprachlich auszudrücken, kann nur mit Hilfe dialektisch verschränkter Formulierungen gelingen: Bildung ist Erschlossensein einer dinglichen und geistigen Wirklichkeit für einen Menschen – das ist der objektive oder materiale Aspekt; aber das heißt zugleich: Erschlossensein diese Menschen für diese seine Wirklichkeit – das ist der subjektive oder formale Aspekt zugleich im ‚funktionalen’ wie im ‚methodischen’ Sinne. Entsprechendes gilt für Bildung als ‚Vorgang’: Bildung ist der Inbegriff von Vorgängen, in denen sich die Inhalte einer dinglichen und geistigen Wirklichkeit erschließen und dieser Vorgang ist – von der anderen Seite her gesehen – nichts anderes als das Sich-Erschließen bzw. Erschlossenwerden eines Menschen für jene Inhalte und ihren Zusammenhang als Wirklichkeit. Diese doppelseitige Erschließung geschieht als Sichtbarwerden von allgemeinen, kategorial erhellenden Inhalten auf der objektiven Seite und als Aufgehen allgemeiner Einsichten, Erlebnisse, Erfahrungen auf der Seite des Subjekts“ (Klafki 1963, 43). Es geht also darum, ob das, was wir den Schülerinnen/Schülern von der Welt zeigen wollen, etwas Allgemeines, kategorial Erhellendes darstellt und ob die Schülerinnen/Schüler bei der Arbeit an diesen Inhalten für diese ‚aufgeschlossen’ werden können. Zur Beantwortung dieser Frage schlug Klafki fünf Grundfragen vor, die wir bereits in Kapitel 1. erarbeitet haben. Merksatz didaktische Analyse: Sie soll zeigen, dass die Unterrichtsinhalt dazu geeignet sind, im Sinn der kategorialen Bildung Schülerinnen und Schülern Inhalte der Wirklichkeit zu erschließen und umgekehrt die Schüler für die Inhalte empfänglich zu machen. Für die bildungstheoretische Didaktik ist die didaktische Analyse’ der Dreh- und Angelpunkt jeder Unterrichtsplanung. Dies setzt eine entfaltete Theorie der Bildung voraus. 28 Neueintragung vom 28.06.2004/Stinkes Kategoriale Bildung oder ‚doppelseitige Erschließung’ = Erschlossen sein = ‚Ansich-Fürmich’ = „Du kannst das Kind nicht in die Welt setzen, ohne die Welt in das Kind zu setzen“ (Schleiermacher) – Pädagogische Übersetzung = Assimilation und Akkomodation (Piaget) – Psychologische Übersetzung (unter Vernachlässigung der ‚Inhalte’) = ‚aha’ – Erfahrung (unbewusst oder bewusst) = ‚verkörpertes’ Wissen/Können Subjektseite =Formale Bildung =Reflexive Dimension der Bildung Bildung Objektseite =materiale Bildung =transitive Dimension der Wie ist das Verhältnis zwischen Subjekt- und Objektseite? Es ist ein dialektisches Verhältnis zwischen formaler und materialer Bildung. Dialektisches Verhältnis meint: Aufgehobensein, miteinander verwoben sein. Als Lehrer/in frage ich: Wie eignen sich die Schüler Wissen/ Können/ Fertigkeiten/ Kompetenzen an? Ich muss beide Seiten miteinander verschränken, verweben, d.h. Weder können Inhalte unabhängig von der Schülerin/dem Schüler ‚einfach so’ angeboten werden, noch können allein die Schülerbedürfnisse – wünsche etc. im Mittelpunkt stehen. Worum geht es da? Schülerperspektive Handlungs- und Entwicklungsniveaus Lebenssituation, Lebensperspektive, Bewegung der Selbsterkenntnis Welche Fragen stelle ich? Was brauchen die Schüler/inn/en? … Worum geht es da? =Sach- oder Inhaltsperspektive/ =Wissen Fertigkeiten/ Können/ Kompetenzen Welche Fragen stelle ich? Welche Inhalte sollte ich vermitteln? Was will/muss ich von der Welt zeigen? … 29 5.1. Das Elementare, Fundamentale, Exemplarische Klafki (1957, 1985), Wagenschein (1954), Rumpf (1985) u.a. haben eine solche Theorie der Bildung entfaltet. Ihr gemeinsames Denken geht von der Theorie des Elementaren aus. Mit dem Begriff des Exemplarischen wird dabei versucht, der Stoffülle Herr zu werden: ein Kind kann nicht alles lernen, sondern nur an ausgewählten Beispielen. Aber die bildungstheoretische Didaktik geht davon aus, dass nicht alles ‚bildet’, sondern es kommt auf das Verhältnis von Allgemeinem und dem Besonderen an. Elementar ist der Inhalt bzw. die Erfahrung, der/die einen besondern Fall/Beispiel aufzeigt und damit das dahinter liegende allgemeine Prinzip erfahrbar macht. Fundamental sind Erfahrungen, in denen grundlegende Einsichten auf prägnante Art gewonnen werden. Solche Grunderfahrungen können nur ausgelöst, nicht eigentlich unterrichtlich ‚inszeniert’ werden. Merksatz: Unterrichtsinhalte sind dann erst bildend, wenn sie elementar im Hinblick auf die Sache (im Besonderen ein Allgemeines zeigen) und wenn sie fundamental im Hinblick auf die Schüler sind (Grunderfahrungen und grundlegende Einsichten). Woran erkennen wir aber Inhalte, die elementar und fundamental sind? Klafki sprach von Inhalten, die exemplarisch sein sollten: „Wo wir vom Exemplarischen sprechen können, da liegt ein Verhältnis von Allgemeinem und Besonderem vor, das am klarsten in der Beziehung von ‚Gesetz’ und ‚Fall’ zum Ausdruck kommt“ (Klafki 1985, 93). Aber er sprach daneben auch von dem Typischen, Repräsentativen, Klassischen, Zweckformen. Das Besondere ist ein Beispiel (=Exempel), wie diese Erdbeermilch, diese Straßenüberquerung, diese körperliche Kommunikationsform. Das Allgemeine ist hier immer ein gedanklicher Zusammenhang: Typik, Repräsentativität, Zweckform. Das Allgemeine wird nicht im Besonderen, sondern am Besonderen gewonnen. Das Exemplarische hat zwei wesentliche Grundeinsichten: Am Besonderen wird das Allgemeine sichtbar Der besondere Inhalt steht stellvertretend für viele Es geht also für die Pädagogin/den Pädagogen in ihrer Förderplanung darum, aus der riesigen Menge aller möglicher Unterrichtsinhalte Einschränkungen vorzunehmen und zu begründen, warum bestimmte Inhalte, die unterrichtet werden könnten, trotzdem nicht unterricht werden sollen. Auf der Grundlage der Prinzipien (Elementare, Fundamental, Exemplarische) kann begründet werden, Warum nicht in der Unterstufe, der Mittelstufe und der Abschlussstufe nicht die ‚Post’ bearbeitet werden soll, sondern exemplarisch ‚nur’ etwa in der Mittelstufe um Kommunikationsdienste kennen zu lernen. 30 Warum nicht die Addition an der Berechnung eines Quadrates eingeführt werden soll, sondern an elementaren, überschaubaren, nachvollziehbaren und typischeren Fällen. Warum nicht im Musikunterricht ‚laut’ und ‚leise’ und ‚Takt halten’ an der Zwölftonkomposition von Schönberg bearbeitet werden soll … Exemplarisch zu unterrichten heißt daher nicht, dass wir eine Begründung dafür haben, wo wir alles doch nach eigenem Gusto im Unterricht schon ‚irgendwie’ anbieten können … Die Pädagoginnen/Pädagogen haben zwischen Bildungsinhalt und Bildungsgehalt zu unterscheiden, d.h. also: sie unterscheiden zwischen dem, was sie inhaltlich anbieten (=Bildungsinhalt) und dem Gehalt (= Wert) des Bildungsinhaltes, den sie in der didaktischen Analyse aufzuspüren haben. Den Bildungsinhalt charakterisiert, dass er als einzelner Inhalt immer stellvertretend für viele Kulturinhalte steht; immer soll ein Bildungsinhalt Grundprobleme, Grundverhältnisse, allgemeine Prinzipien, Gesetze, Methoden, Werte etc. sichtbar machen. Die Momente, die eine Erschließung des allgemeinen am Besonderen bewirken, meint der Begriff des Bildungsgehalts. Welche Fragen stellen wir in Bezug auf den Verkehrsunterricht, um die exemplarischen Grundeinsichten zu füllen? Folgendes Beispiel verdeutlicht das ‚Exemplarische’ … 31 Der Lerngegenstand hat im Grunde mehrere Bedeutungen: Die Bedeutung als Eigenwert des Lerngegenstandes und das ist in Bezug auf meinen Unterricht zur Verkehrserziehung …………………………………………………………………………………… …………………………………………………………………………………… …………………………………………………………………………………… Die Bedeutung des Lerngegenstandes, die ihm von der Gesellschaft gegeben wird …und das ist in Bezug auf unseren Unterricht … …………………………………………………………………………………… …………………………………………………………………………………… …………………………………………………………………………………… Die Bedeutung für das Kind …………………………………………………………………………………… …………………………………………………………………………………… …………………………………………………………………………………… Wichtig ist, welchen SINN der Lerngegenstand für das Kind macht. Das heißt, wir fragen danach, worin das Problem liegt, das den Lerngegenstand für die 32 Schülerin/den Schüler fragwürdig, d.h. des Fragens würdig, macht? Welche besonderen Beobachtungen, Versuche, Fragen, Behauptungen usw. machen den Lerngegenstand für meine SchülerInnen Interessen und wecken die Frage nach dem Sinn? Bezogen auf den Unterricht geben wir folgende Antworten … …………………………………………………………………………………… …………………………………………………………………………………… …………………………………………………………………………………… …………………………………………………………………………………… …………………………………………………………………………………… …………………………………………………………………………………… …………………………………………………………………………………… …………………………………………………………………………………… …………………………………………………………………………………… …………………………………………………………………………………… …………………………………………………………………………………… …………………………………………………………………………………… …………………………………………………………………………………… …………………………………………………………………………………… Welche unmittelbar lebensdienliche, lebenspraktische Bedeutung besitzt der Lerngegenstand jetzt und in der Zukunft der SchülerInnen? Welche Rolle spielte er bisher im Leben der Schüler? Welche Rolle wird er später bei der Bewältigung der verschiedenen Lebenssituationen spielen? …………………………………………………………………………………… …………………………………………………………………………………… …………………………………………………………………………………… …………………………………………………………………………………… 33 …………………………………………………………………………………… …………………………………………………………………………………… …………………………………………………………………………………… …………………………………………………………………………………… …………………………………………………………………………………… …………………………………………………………………………………… …………………………………………………………………………………… …………………………………………………………………………………… 5.2. Kritischer Blick „…Jene Bildungsinhalte also, die dem Lehrer in der Gestalt des Lehrplans sich darbieten und deren Bildungsgehalt (oder Bildungswert) es in der didaktischen Analyse aufzuspüren gilt, müssen als eine in bestimmten geistig-geschichtlichen Situationen und im Blick auf bestimmte Kinder verstanden werden“ (Klafki 1963,133) Was setzt Klafki hier voraus? Und welche Probleme entstehen aus dieser Voraussetzung? Meyer/Jank formulieren die Kritik an Klafki treffend in der Frage: „Was haben Michelangelos >Pieta< und ein Stück Marmor gemeinsam? Michelangelo legte aus den Marmorblöcken frei, was immer schon in ihnen drin gesteckt habe. Seine Grenzen waren die des steinernen Materials, seiner eigenen Imaginationskraft und seiner Auseinandersetzung mit Konventionen, während die Grenzen der Lehrerinnen/Lehrer beim ‚Befreien’ des Bildungsgehalts von den Lehrplangestaltern eng gesteckt sind sie nur mehr noch interpretieren können, welche Möglichkeiten ihnen auf der Basis des Lehrplans offen stehen. Das heißt: Klafki überlässt in der didaktischen Analyse die Entscheidung über die Bildungsinhalte den LehrplanAutoren und verweist Lehrerinnen/Lehrer auf die bloß interpretierende Freilegung des Bildungsgehaltes, den die Bildungsinhalte aus den Lehrplänen schon vorgezeichnet haben. 34 Merksatz: Die Didaktische Analyse hilft mir nicht bei Auswahl der Bildungsinhalte, sondern überlässt diese Lehrplangestaltern; Didaktische Analyse dient also der Freilegung des Bildungsgehalts von schon vorgegebenen Inhalten. Das Exemplarische, Fundamentale und Elementare eignet sich gut zur Begründung dafür, warum bestimmte Inhalte nicht unterrichtet werden sollen, also zur negativen Abgrenzung, zum Ausschluss von Inhalten. Aber sie helfen nicht zur Findung von Inhalten, also bestimmte Inhalte konkret auszuwählen. Sie hilft zwar zu entscheiden, dass wir nicht in der Unterstufe dreimal ‚die Post’, in der Mittelstufe noch mal und in der Oberstufe ebenfalls diesen Inhalt unterrichten, aber sie hilft nicht bei der konkreten Auswahl, ob und zu welchem Zeitpunkt und in welcher Weise, welcher inhaltliche Kontext zur Post bearbeitet werden soll. Ein anderes Beispiel: Sie hilft nicht zu klären, warum wir gleich dreimal Erdbeermilch, Bananenmilch, Zitronenmilch etc. herstellen und nicht nur einmal Erdbeermilch und warum dann ausgerechnet Erdbeermilch und nicht ein Zitronengetränk oder Bananenmilch? Es wiederholt sich hier nach Jank/Meyer auf der konkreten Ebene dasselbe Problem wie auf abstrakter Ebene auch: ‚Mündigkeit’ oder ‚Selbstbestimmung’ lässt sich negativ abgrenzen, aber was notwendig ist, um diese zu erreichen und zu sichern, das geht nicht hervor. Merksatz: Bildungstheoretische Didaktik hat ihre Stärken in der begründeten Begrenzung von Unterrichtsinhalten. Aber sie hat Schwächen darin, einzugrenzen, welche Inhalte konkret für Unterricht ausgewählt werden sollen. Diese Schwäche kann man auch als Stärke lesen: die Lehrerin/der Lehrer hat große Freiheitsspielräume und eine entsprechend große Verantwortung für die inhaltlichen Entscheidungen. 6. Exkurs: Kategoriale Bildung innerhalb einer ‚basalen Didaktik’ (G. Feuser) In der Geistigbehindertenpädagogik ist es vor allem Georg Feuser, der Klafki’s Grundeinsichten innerhalb einer ‚basalen Didaktik’ dargelegt hat. (Zu diesem Schwerpunkt folgen noch Ausführungen – Bitte die Aktualisierung auf meiner homepage beachten) 7. Perspektivschema zur Unterrichtsplanung In der zweiten Hälfte der 70er Jahre stellte Klafki aufgrund der erfahrenen Kritik (sein Modell stabilisiere die herrschende Klassenstruktur, da es Schüler dazu anleite, in die bestehende Gesellschaft mit ihren Werten und Normen affirmativ hinein zu erziehen) eine Weiterentwicklung seines bisherigen Modells vor: die kritischkonstruktive Didaktik. 35 Kritisch ist die Position, weil die Didaktik sich den Zielen der Selbstbestimmungsfähigkeit, Mitbestimmungsfähigkeit und Solidaritätsfähigkeit orientieren soll. Schule muss bedenken, dass sie durch gesellschaftliche, rechtliche und sonstige Sachlagen an dem Erreichen dieser Ziele gehindert wird. Sie hat daher die Aufgabe, an der Beseitigung dieser Hinderungen mitzuwirken. Gleichzeitig gehört zu einer ‚kritischen Theorie’ für Klafki auch noch das Gedankengut der klassisch-bürgerlichen Bildungstheoretiker (Schleiermacher, Humboldt) und die Rezeption der kritischen Theorie der Frankfurter Schule (Adorno, Horkheimer). Konstruktiv ist die Didaktik, weil Klafki sich nicht mehr mit Vorschlägen zur Unterrichtsgestaltung zufrieden gibt, sondern so etwas wie eine konkrete Utopie entwerfen will. Die fünf Hauptfragen entwickelte er weiter zu einem sogenannten ‚Perspektivschema’. Neu hinzugekommen ist die Frage nach der form der Darstellung/Zugänglichkeit, die Erweisbarkeit/Überprüfbarkeit, die Lehr-LernProzessstruktur und die Bedingungsanalyse sowie die vier Aufgabenfelder für die Pädagogen: Begründen Thema strukturieren Zugangsmöglichkeiten bestimmen Unterrichtsmethoden strukturieren Im „Vorläufigen Perspektivschema zur Unterrichtsplanung“ (s.u.) soll gelten: Die Thesen vom Primat der Zielentscheidungen und der Interdependenz der unterrichts-strukturellen Momente Entscheidungen über Methoden, Meiden, Inhalte können nicht aus den Zielen ‚abgeleitet’ werden Inhalts- und Methodenentscheidungen stehen in einer Wechselwirkung (allerdings unterschiedlichen) zueinander (Schema wird in der Veranstaltung ausgegeben). 36 Was hat sich in der ‚kritisch-konstruktiven Didaktik’ verändert? 8. Klafki legt nun Wert auf die Bedingungsanalyse als Voraussetzung von Planung. Lernvoraussetzungen, Motivationen, Interessen, etc. der Schülerinnen/Schüler sollen stärker berücksichtigt werden. Was gehört für mich zu einer ‚Bedingungsanalyse’? Unterricht wird als Interaktionsprozess verstanden bzw. als sozialer Prozess. In diesem Prozess sollen die Lernenden mit Unterstützung von Lehrerinnen/Lehrern zur Selbständigkeit geführt werden. Unterrichtsmethode ist für Klafki der Inbegriff der Organisations- und Vollzugsform zielorientierten Unterrichts. Hier spiel die ‚innere Differenzierung’ eine wesentliche Rolle (s.u.). Im Lehr-Lern-Prozess müssen die Prinzipien der Selbstbestimmung, Mitbestimmung und Solidarität in einer Folge wachsender Schwierigkeitsgrade zunehmend verwirklicht werden. Und zwar in der Form offener, schülerzentrierter, projektorientierter Unterricht. Warum ist ein projekt- und schülerorientierter Unterricht geeignet, die Schülerinnen/Schüler zur Selbstbestimmung, Mitbestimmung und Solidarität zu erziehen? 37 Die Orientierung an den Zielen der Selbstbestimmung, Mitbestimmung und Solidaritätsfähigkeit werden jedoch nicht nur durch die Wahl der Methode unterstützt, sondern durch die Auswahl der Themen und Ziele des Unterrichts. Klafki unterscheidet hier in zwei Themengebiete: o Potentiell emanzipatorische Themen (Sexualität, Politik, Drogen usw.) o Instrumentelle Themen (Kenntnisse, Fertigkeiten, Erlebnisse usw.) „Lernen im Sinne kritisch-konstruktiver Didaktik muß in seinem Kern entdeckendes bzw. nachentdeckenes und sinnhaftes, verstehendes Lernen anhand exemplarischer Themen sein, ein Lernen, dem die reproduktive Übernahme von Kenntnissen und alles Trainieren, Üben, Wiederholen von Fertigkeiten eindeutig nachgeordnet oder besser: eingeordnet werden muss, als zwar notwendige, aber nur vom entdeckenden und/oder verstehenden Lernen her pädagogisch begründbare Momente.“ (Klafki 1985, 77). Welche Rolle spielt in der SfG das Trainieren, Üben, Wiederholen etc.? Kann ich die Sicht von Klafki teilen? Für Klafki wird der ‚Primat der Didaktik’ modifiziert zum ‚Primat der Zielentscheidungen im Verhältnis zu allen anderen, den Unterricht mitkonstituierenden Faktoren. Klafki akzentuierte damit: o Was jeweils in welcher Perspektive Thema des Unterrichts sein soll … o Welche Unterrichtsmethoden und Medien eingesetzt werden sollen o Welche Bedeutung den soziokulturell vermittelten Voraussetzungen der einzelnen Schüler und der gesamten Lerngruppe und den institutionellen Rahmenbedingungen innerhalb der Planung und Reflexion von Unterricht zukommen soll Im Zuge der in den 70er Jahren entstandenen Diskussion um die Fragen, welche Inhalte Schülerinnen/Schüler angeboten bekommen sollen, stellte Klafki fest, dass sich Allgemeinbildung nicht in einer bloßen Auflistung von Inhalten (i.S. eines Bildungskanons) erschöpfen dürfe, sondern problembezogen festgehalten werden 38 könnte: Er sprach daher von zentralen ‚Schlüsselproblemen’ . Schlüsselprobleme sollen nicht mit Schlüsselthemen verwechselt werden (i.S. des Exemplarischen). Es handelt sich dabei um Ziele bzw. Kriterien, auf die hin Pädagoginnen/Pädagogen Probleme der Allgemeinbildung neu durchdenken sollen. Nur dasjenige ist ein Schlüsselproblem, was im Diskurs mit ihnen für sie als existentiell eingesehen wurde. Literaturverzeichnis (das Literaturverzeichnis wird noch ergänzt – siehe Aktualisierungen auf der homepage) Adl-Amini, B., Künzli, R. (Hg.) (1991): Didaktische Modelle und Unterrichtsplanung. München. Feuser, G. (): Fischer, D. (1978): Eine methodische Grundlegung. Würzburg Fischer, E., Mertes, J.P. (Hg.)(1991): Unterrichtsanalyse. Bad Honnef. Jank, W., Meyer, H. (1991): Didaktische Modelle. Frankfurt am Main. Klafki, W. (1957): Das pädagogische Problem des Elementaren und die Theorie der kategorialen Bildung. Weinheim. Klafki, W. (1962): Didaktische Analyse als Kern der Unterrichtsvorbereitung. In: Roth, H., Blumenthal, A. (Hg.): Didaktische Analyse. Auswahl – Grundlegende Aufsätze. Die Deutsche Schule, 5-32. Klafki, W. (1963): Studien zur Bildungstheorie und Didaktik. Weinheim, Basel. Klafki, W. (1963a): Kategoriale Bildung. Zur bildungstheoretischen Deutung der modernen Didaktik. In: Klafki, W. (1963): Studien zur Bildungstheorie und Didaktik. Weinheim, Basel, 25-45. Klafki, W. (1976): Erziehungswissenschaft als kritisch-konstruktive Theorie: Hermeneutik – Empirie – Ideologiekritik. In: Klafki, W. (Hg.): Aspekte kritischkonstruktiver Erziehungswissenschaft. Gesammelte Beiträge zur TheoriePraxis-Diskussion. Weinheim, Basel. Klafki, W. (1985): Zur Unterrichtsplanung im Sinne kritisch-konstruktiver Didaktik. In: Klafki, W. (1985): Neue Studien zur Bildungstheorie und Didaktik. Beiträge zur kritisch-konstruktiven Didaktik. Weinheim, Basel, 194-227. Klafki, W. (1985): Exemplarisches Lehren. In: Klafki, W.: Neue Studien zur Bildungstheorie und Didaktik. Beiträge zur kritisch-konstruktiven Didaktik. Weinheim, Basel, 87-107. Strassmeier, W. (1997): Didaktik für den Unterricht mit geistigbehinderten Schülern. München, Basel. Sobisiak, G, (21991): Die Didaktische Analyse. Rheinfelden-Berlin. Stöppler, R. (2002): Mobilitäts- und Verkehrserziehung bei Menschen mit geistiger Behinderung.Bad Heilbrunn/Obb. Wagenschein, M. (1954): Das „exemplarische Lehren“ als ein Weg zur Erneuerung der Höheren Schule. Hamburg. Wagenschein, M. (71982): Verstehen lehren. Genetisch – Sokratisch – Exemplarisch. Weinheim, Basel. 39 40