Gabriele Amann & Rudolf Wipplinger (Hrsg.) Sexueller Missbrauch – Überblick zur Forschung, Beratung und Therapie Ein Handbuch, Tübingen: Dgvt-Verlag, 1997. 2. Termini zum Themenbereich sexueller Missbrauch -trotz seiner umfangreichen Verwendung wird der Terminus sexueller Missbrauch von mehreren Autoren in Frage gestellt, da dieser mehrdeutig verstanden werden kann -der Ausdruck Missbrauch weist darauf hin, dass eine Person richtig oder falsch gebraucht werden kann -die Bezeichnung des Gebrauchtwerdens ist jedoch für Personen allgemein fragwürdig, da Individuen keinesfalls als Gebrauchsgegenstände fungieren können -eher sexuelle Gewalt oder sexuelle Ausbeutung 3. Definition zum Themenbereich 3.1 Kriterien für eine Definition von sexuellem Missbrauch -in der Literatur findet man verschiedene Kriterien, die für eine Definition von sexuellem Missbrauch als wesentlich betrachtet werden, so z.B. die Altersdifferenz zwischen Opfer und Täter (oft auch Abhängigkeitsbeziehung), die Art der sexuellen Handlung und die Absicht der Täter bzw. die Bedürfnisbefriedigung der Mächtigeren 3.2 Eine mögliche Klassifikation der Definitionen bzgl. ihres Bedeutungsumfanges 3.2.1 Enge Definitionen -enge Definitionen sind präzise formuliert und scheinen einen möglichen sexuellen Missbrauch gegenüber anderen Handlungen streng abzugrenzen sowie die wesentlichen Kriterien zu enthalten -enge Definitionen beschreiben sexuellen Missbrauch im Definiens vorwiegend als körperlichen Kontakt zwischen Tätern und Opfer, wie oralen, analen oder genitalen Geschlechtsverkehr -viele Definitionen kritisch, wie z.B. Angaben von Alter oder die Tatsache, dass sexueller Missbrauch einen Orgasmus des Täters oder des Kindes erfordert -das gemeinsame Kriterium der angeführten Definitionen ist, dass als sexueller Missbrauch nur Handlungen angesehen werden, die mit einem direkten Körperkontakt zwischen Täter und Opfer verbunden sind -diese Kriterien erfassen jedoch nur einen äußerst geringen Teil von Handlungen, die üblicherweise als sexueller Missbrauch gesehen werden -Altersgrenze bei Opfern schwankt zwischen 14 und 18 Jahren – Altersunterschied mind. 5 Jahre -mit der Einführung der Altersdifferenz wird versucht, die Asymmetrie zwischen Erwachsenen und Kind durch ein objektiv überprüfbares Kriterium festzulegen -Brockhaus und Kolshorn (1993) plädieren dafür, auf das Kriterium der Altersdifferenz gänzlich zu verzichten, da gleichaltrige Kinder und Jugendliche durchaus auf einem unterschiedlichen physischen, psychischen und kognitiven Entwicklungsniveau sein können -oft wird durch das Kriterium des Zwangs oder Drucks ergänzt -darüber hinaus sind jedoch auch Situationen denkbar, bei denen weder Zwang noch Druck sondern viel subtilere Mechanismen zur Anwendung kommen (Belohnungen, im Spiel etc.) 1 -Insgesamt gesehen werden enge Definitionen zwar dem Anspruch gerecht, dass sie eine möglichst homogene und trennscharfe Stichprobe garantieren, was bei vielen empirischen Untersuchungen von zentraler Bedeutung ist, der Nachteil besteht jedoch darin, dass sie nicht alle Merkmale eines sexuellen Missbrauchs erfassen und so eine Vielzahl von sexuellen Handlungen ausschließen, indem sie diese nicht als sexuellen Missbrauch klassifizieren 3.2.2 Weite Definitionen -Weite Definitionen versuchen im Gegensatz zu engen Definitionen das Phänomen des sexuellen Missbrauchs in seinem gesamten Umfang zu beschreiben, mit dem Ziel, das jede geschlechtliche Handlung, wie obszöne Anreden, Belästigungen, Exhibitionismus, Anleitung zur Prostitution, die Herstellung von pornographischen Material usw., eingeschlossen ist -Problem: Aufzählungen fast nie vollständig -Beispiel: sexuelle Befriedigung des Täters – darüber hinaus müssen jedoch noch weitere Bedürfnisse berücksichtigt werden, die sich die Täter im Rahmen eines sexuellen Missbrauchs erfüllen, z.B. narzisstische Bedürfnisse, die sich auf Macht, Anerkennung erstrecken, ja sogar das Bedürfnis nach Nähe und Körperkontakt -weite Definitionen eines sexuellen Missbrauchs haben den Vorteil, dass sie sexuelle Handlungen nicht nur auf so genannte Kontakthandlungen beschränken, sondern auch Handlungen einbeziehen, die nicht mit einem unmittelbaren Körperkontakt verbunden sind -Problematisch an weiten Definitionen ist hingegen, dass die Klassifikation einer Handlung als sexueller Missbrauch oftmals schwierig sein kann, z.B. wenn ein Vater mit seiner Tochter badet -denn zur Bestimmung eines sexuellen Missbrauchs sind neben der eigentlichen Handlung noch weitere Kriterien erforderlich, z.B. die Intentionen des Täters, die jedoch nur schwer operationalisiert werden können 3.2.3 Gesellschaftliche Definitionen -Autoritäts- und Gewaltstrukturen, die der Erwachsene im Umgang mit den Kindern zur Verfügung hat, stehen in den gesellschaftlichen Definitionen im Vordergrund -das Machtgefälle zwischen Erwachsenen und Kindern bzw. Jugendlichen wird besonders betont -sexuelle Gewalt liegt für die Autoren dann vor, wenn eine Person von einer anderen zur Befriedigung von bestimmten Bedürfnissen benutzt wird -diese Bedürfnisse sind entweder sexuell oder nicht-sexuell, die jedoch in sexualisierter Form ausgelebt werden -dabei kommt es zu Handlungen, die kulturell mit Sexualität assoziiert sind -die sexuellen Handlungen erfolgen ohne Einwilligung der betroffenen Person und wurzeln in den bestehenden Ressourcen- bzw. Machtunterschieden -positiv kann an den gesellschaftlichen Definitionen hervorgehoben werden, dass sie das Machtgefälle und den Machtmissbrauch zwischen Opfer und Täter als zentrale Aspekte betonen 3.2.4 Feministische Definitionen -in feministischen Definitionen wird besonders betont, dass ein sexueller Missbrauch gegen weibliche Opfer, d.h. gegen Mädchen, gerichtet ist und die Täter dem männlichen Geschlecht angehören 2 -sexueller Missbrauch wird entsprechend als die Ausnutzung eines männlichen Macht- und Autoritätsverhältnisses verstanden, als sexualisierte Gewaltanwendung, die ihre Wurzeln in einer patriarchalischen Gesellschaftsstruktur haben -feministische Definitionen sind den als gesellschaftlich zu klassifizierenden Definitionen sehr ähnlich, bei ihnen kommt jedoch neben dem Macht- und Autoritätsgefälle zwischen Täter und Opfer die explizite Hervorhebung der geschlechtlichen Zuweisung von männlichen Tätern und weiblichen Opfern hinzu -aufgrund ihrer Kriterien sprechen feministische Definitionen es jedoch Jungen und Opfern von weiblichen Täterinnen ab, sexuell missbraucht worden zu sein 3.2.5 Entwicklungspsychologische Definitionen -es werden insbesondere entwicklungsbedingte Faktoren des Kindes hervorgehoben -Kindern und Jugendlichen fehlen aufgrund ihres Entwicklungsstandes wesentliche kognitive Fähigkeiten die gesamte Tragweite der sexuellen Handlungen zu überblicken und zu erfassen und damit den sexuellen Handlungen zuzustimmen -Kernstück: bei dem Opfer handelt es sich um eine entwicklungsmäßig unreife Person -diese Unreife kann sich auf die emotionale, psychische und kognitive Ebene beziehen -generell fällt bei entwicklungspsychologischen Definitionen auf, dass diese neben dem Aspekt der Entwicklung zumeist auch gesellschaftliche Faktoren enthalten -im Vordergrund stehen jedoch die entwicklungsbedingten Faktoren des Kindes -der Hauptverdienst entwicklungspsychologischen Definitionen ist darin zu sehen, dass diese die entwicklungsbedingte Unreife, die das Kind daran hindert, die sexuellen Handlungen, mit denen es konfrontiert wird, zu verstehen und denen es u.a. deshalb nicht zustimmen kann, als das wesentliche Kriterium für einen sexuellen Missbrauch in den Mittelpunkt stellen 3.2.6 Klinische Definitionen -bei der klinischen Definition wollen wir in erster Linie erfahren, welche spezifischen Symptome und Störungen ein sexueller Missbrauch nach sich zieht, um einen sexuellen Missbrauch als solchen zu erkennen, zum anderen um die Zuordnung der betroffenen Patienten zu einer dementsprechenden Behandlung zu ermöglichen 4. Abschließende Definition -die vielen verschiedenen Definitionen, Klassifizierungen etc. weisen darauf hin, dass die Erforschung des Phänomens des sexuellen Missbrauchs noch keinen ausreichenden wissenschaftlichen Entwicklungsstand erreicht hat sowie andererseits noch keine allgemein anerkannte Theorie entwickelt wurde, die von allen Wissenschaftlern in diesem Bereich akzeptiert wird und in welche sich der sexuelle Missbrauch systematisch integrieren lässt -insgesamt gesehen, wird die Auswahl einer engen, weiten oder einer sonstigen Definition des sexuellen Missbrauchs immer im Zusammenhang mit dem jeweiligen Handlungs- und Entscheidungskontext erfolgen sowie stark von der Einstellung der Therapeuten und der Forscher gegenüber dem Thema sexueller Missbrauch geprägt sein 3 Elisabeth Trube-Becker Historische Perspektive sexueller Kontakte zwischen Erwachsenen und Kindern bzw. Jugendlichen und die soziale Akzeptanz dieses Phänomens von der Zeit der Römer und Griechen bis heute -seit Menschengedenken, d.h. seit es Menschen gibt, ist das Kind als Eigentum der Eltern angesehen und in jeder Weise auch sexuell ausgenutzt worden -die Macht des Erwachsenen über das Kind ist selbstverständlich und schon deshalb wird nicht darüber geredet -die Dunkelziffer ist gerade bei der sexuellen Ausbeutung von Kindern in der Familie sehr groß, die Ursachen dafür sind: Häufig ist ein Kleinkind Opfer der Tat, es vermag noch nicht auszusagen. -das größere Kind scheut sich Angaben zu machen, vor allem dann, wenn der Vater der Täter ist -nicht selten wird das Mädchen als der schuldige Teil angesehen, sogar als Lügnerin hingestellt und als kleine Hure beschimpft -die Mutter hat Angst den Ernährer der Familie zu verlieren -der Arzt, wenn er überhaupt damit befasst wird, erkennt die Symptome und deren Ursachen nicht -obwohl es die sexuelle Gewalt in jeder Form gegen Kindern seit Menschengedenken gibt, handelt es sich bei der Kinderpornographie um eine sexuelle Ausbeutung, die erst in den letzten 20 Jahren unseres Jahrhunderts aufgekommen ist, schon weil sie an Fotographie und Videotechnik gebunden ist Cécile Ernst Zu den Problemen der epidemiologischen Erforschung des sexuellen Missbrauchs Was ist Epidemiologie? -Epidemiologie im ursprünglichen Sinn des Wortes befasst sich mit der Untersuchung der Verteilung von Krankheiten und Krankheitsfolgen in der Bevölkerung und mit den Faktoren, welche diese Verteilung beeinflussen -die deskriptive Epidemiologie beschreibt die genannten Variablen (chronische und akute Krankheiten, Lebensereignisse) und deren Häufigkeit -die Häufigkeit definiert sich anhand von zwei Begriffen: Prävalenz und Inzidenz -als Prävalenz bezeichnet man die Anzahl der „Fälle“, d.h. der „Träger“ einer Variablen, welche zu einem bestimmten Zeitpunkt oder innerhalb einer bestimmten Periode in einer Bevölkerung, welche dieser Variable ausgesetzt ist, festgestellt werden -im Zusammenhang mit dem sexuellen Missbrauch von Kindern ist diese Periode die Kindheit -die Inzidenz ist ein Maß für das Neuauftreten von „Fällen“ in einer dem Risiko ausgesetzten Bevölkerung während eines bestimmten Zeitraumes -die analytische Epidemiologie sucht anhand von zwei Methoden, durch Kohortenstudien oder durch Fall-Kontrollstudien, die Bedingungen und Folgen der oben genannten Variablen zu erfassen Zur deskriptiven Epidemiologie des sexuellen Missbrauchs im Kindesalter 4 Inzidenz und Dunkelziffer -zur Schätzung hinsichtlich der Inzidenz ist die Epidemiologie somit auf aktenkundige „Fälle“ angewiesen: auf gerichtliche Verurteilungen, auf Akten der Jugendämter etc. -jedoch ergibt sich, dass nur ein geringer Bruchteil der Ereignisse zu einer Anzeige und/oder Behandlung geführt hat -es ist also hinsichtlich der Inzidenz mit einer großen Dunkelziffer zu rechnen -Häufigkeitsangaben aufgrund von Schätzungen sind daher im Bereich des sexuellen Kindesmissbrauchs mit größter Vorsicht anzuwenden Zusammenfassung -die analytische Epidemiologie zeigt im Rahmen der psychiatrischen oder psychologischen Beurteilung von Kohorten, dass spätere psychiatrische Diagnosen oder hohe Belastungsindizes in erster Linie an ein negatives Familienmilieu gebunden sind, welches sexuellen Missbrauch bedingt oder ermöglicht -derzeit besteht keine wissenschaftliche Grundlage für den Schluss aus einem bestimmten Störungs- oder Krankheitsbild auf sexuellen Missbrauch im Kindesalter Ulrike Brockhaus & Maren Kolshorn Die Ursachen sexueller Gewalt -grob vereinfacht unterscheiden wir zwischen traditionellen Ansätzen, die sexuelle Gewalt als ein individuelles Problem einzelner, krankhafter Täter und provokativer Opfer ansehen, und dem feministischen Ursachenverständnis -danach ist sexuelle Gewalt ein „patriarchaler Normalfall“ und liegt vor allem in dem herrschenden Machtungleichgewicht zwischen den Geschlechtern begründet Von Triebtätern und verführerischen Opfern – Traditionelle Erklärungsansätze 1. es wird angenommen, dass männliche Sexualität biologisch bedingt aggressiver ist als weibliche und mehr auf Angriff gerichtet. Frauen hingegen wollen „erobert“ werden und so manche wünschen sich mit Gewalt „genommen“ zu werden. Sexuelle Gewalt kann aus diesem Verständnis höchstens aus einem Missverständnis entstehen, da es für Männer oft nur schwer zu erkennen sei, wann eine Frau wirklich willig ist oder nicht 2. Weiter wird vermutet, dass Männer einen viel stärkeren Sexualtrieb haben als Frauen – einige gar einen krankhaft starken (Triebtäter). Deshalb komme es leicht zu sexuellen Gewalttaten, wenn eine Frau oder ein Kind den Mann reize 3. wenn Männer einen soviel stärkeren Sexualtrieb haben als Frauen, sind sie, so die Annahme, auch leichter sexuell frustriert und sehen sich gezwungen, mit Gewalt zu holen, was sie sonst nicht bekommen – zur Not auch bei einem Kind. Die Schuld für die Tat liegt letztlich an er Partnerin, da sie sich ihm verweigert hat 4. Frauen und Mädchen sind nach diesen Vorstellungen die eigentlich Schuldigen an sexuellen Übergriffen. Nicht nur, weil sie den Täter sexuell frustrieren, sondern auch, weil sie ihn durch aufreizende Kleidung oder leichtsinniges Verhalten zur Tat provozierten 5. Traditionell wird sexuelle Gewalt schließlich noch auf angebliche psychische Probleme und Krankheiten oder soziale Auffälligkeiten der Täter zurückgeführt (schwere Kindheit, alkoholabhängig, gestörte Familienstruktur als Ursache etc.) 5 Der „patriarchale Normalfall“ – Feministischer Ansatz -begreifen wir, dass sexuelle Gewalt – weltweit und nicht erst neuerdings – ein weitverbreites Phänomen ist, bei dem Machtausübung von Männern an Frauen und Kindern (v.a. an Mädchen) eine zentrale Rolle spielt, so wird deutlich, dass eine angemessene Antwort auf die Frage nach den Ursachen nur gefunden werden kann, wenn sexuelle Gewalt im gesellschaftlichen Kontext der Machtstrukturen zwischen den Geschlechtern analysiert wird -die feministische Grundlage ist, dass sexuelle Gewalt im wesentlichen durch eine patriarchale Kultur bedingt ist und gleichzeitig dazu beiträgt, eben diese patriarchale Kultur aufrechtzuerhalten -patriarchale Gesellschaften sind durch die Vorherrschaft des Männlichen gekennzeichnet -strukturell ist sie in der geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung verankert -die feministische These der patriarchalen Bedingtheit sexueller Gewalt konnte bereits empirisch untermauert werden Handlungsmotivation -ein Mensch zeigt nur dann ein bestimmtes Verhalten, wenn er oder sie in irgendeiner Weise dazu motiviert ist -wie bereits dargestellt, liegen sexuell gewalttätigen Handlungen meist nicht-sexuelle Motive zugrunde, die vom Täter in sexualisierter Weise befriedigt werden -was die Motivation sexuell ausgebeuteter Kinder zur Gegenwehr betrifft, gilt es zu bedenken, dass sich die Opfer häufig in einer ambivalenten Situation befinden: der Missbrauch selbst ist aversiv, doch enthält die Beziehung zum Täter oft auch positive Aspekte (Aufmerksamkeit, Freundschaft u.ä.) -nicht jede Motivation führt zu einer entsprechenden Handlung -nicht jeder Mann, der den Impuls verspürt, ein Kind nach seinem Willen zu zwingen, wird zum Täter, und nicht alle, die eine Interventionsnotwendigkeit erkennen, greifen auch ein -Zwischen Motivation und Verhalten finden eine Reihe von Zwischenschritten statt Begünstigende und hemmende Repräsentationen -eine Motivation führt nur dann zu einem entsprechenden Verhalten, wenn die zentralen Werte eines Individuums, seine Einstellungen, Vorstellungen und inneren Selbstverpflichtungen, sowie die (z.T. verinnerlichten) Verhaltenserwartungen, die von außen an es herangetreten werden, das Verhalten begünstigen oder ihm zumindest nicht entgegenstehen -mit dem, wie Menschen eine Situation wahrnehmen und definieren, sind eine Reihe von weiteren Werthaltungen, Rollenzuschreibungen, Meinungen und Vorstellungen (=Repräsentationen) verbunden -die Repräsentationen fördern oder hemmen bestimmte Verhaltensweisen -entscheidend für das Verhalten ist die Gewichtung -die traditionellen Geschlechtsrollen und die Mythen fungieren als sexuelle Gewalt begünstigende Faktoren Handlungsmöglichkeiten -nicht alles, was man tun möchte, kann man auch tun -auf sexuelle Gewalt bezogen bedeutet das, dass Täter, Opfer und potentiell intervenierende Personen jeweils in einen Abwägeprozess eintreten 6 Hans-Christian Harten Zur Zementierung der Geschlechterrollen als mögliche Ursache für sexuellen Missbrauch – Sozialisationstheoretische Überlegungen zur Missbrauchsforschung -der Umgang mit der Sexualität und den sexuellen Wünschen, Bedürfnissen, Erwartungen und Ansprüchen anderer wird in einem langen Sozialisationsprozess gelernt; zu diesem Prozess gehören auch Konflikte, Erwartungs- und Wahrnehmungsdiskrepanzen sowie Verwirrungen und Gefühle (Kanin 19984) -die Unfähigkeit Konflikte auszuhalten und auszutragen ist vielmehr eine der wichtigsten Ursachen sexueller Gewalt -Missbrauch von Kindern lässt sich als Ausdruck mangelnder pädagogischer Kompetenzen des Erwachsenen deuten -Defizit an pädagogischer Empathie -die Grundlagen pädagogischer Empathie werden im allgemeinen Prozess der Entwicklung und Sozialisation aufgebaut; sie beinhalten vor allem die Fähigkeit der Reversibilität und des Rollenwechsels, die Fähigkeit, sich in einen anderen hineinzuversetzen und das Kind als ein anderes Wesen mit eigenen Bedürfnissen wahrzunehmen und anzuerkennen -die Entfaltung und Realisierung pädagogischer Kompetenzen ist an konkrete Erfahrungen des Umgangs mit Kindern gebunden -solche Erfahrungen fehlen Männern in weit höherem Maß als Frauen -Frauen primär Zuständigkeit für familiäre Erziehung -darin liegt einer der Gründe dafür, dass sexueller Missbrauch ganz überwiegend von Männern ausgeht, obwohl Frauen durch den häufigen Umgang mit dem Körper des Kindes viel mehr Gelegenheit dazu hätten Persönlichkeitsstruktur der Täter -man hat es danach mit zwei Faktoren zu tun, die miteinander verbunden sind: zum einen allgemeine Störungen in der Persönlichkeitsstruktur (kognitive Wahrnehmungsstörungen, Störungen der Rollen- und Interaktionskompetenz), zum anderen konkrete Erfahrungsdefizite, die in den soziokulturellen Strukturen des Geschlechterverhältnisses begründet liegen -hinter dem pädophilen Wunsch verbirgt sich, in einer psychoanalytischen Deutung, die Weigerung, selbst erwachsen zu werden; darin kommt die Angst vor dem erwachsenen Beziehungspartner und damit auch die Angst vor wirklich auf Reziprozität (Wechselseitigkeit) beruhenden Beziehungen zum Ausdruck -da Jungen sich von der Mutter abgrenzen und unterscheiden müssen, ist ihre Identität stärker als bei Mädchen durch das Geschlecht definiert -Identitätsprobleme im Sozialisationsprozess werden von ihnen deshalb auch in sehr viel höherem Maße über die Betonung ihrer Geschlechtlichkeit bewältigt -dies ist ein Schlüssel zum Verständnis der bei Männern stärker ausgeprägten Tendenz zur Sexualisierung der sozialen Wahrnehmung -sexuelle Kompetenz und Leistungsfähigkeit und ihre Belohnung und Bestätigung durch die Frau wird zur wichtigsten Quelle eines männlichen Narzissmus, der nach Beweisen einer gelungenen Identität sucht -mehrere Modelle zur Erklärung sexueller Gewalt: lerntheoretische Modelle (Nachahmung), Identifikation mit dem Aggressor u.s.w. 7 Franz Moggi Sexuelle Kindesmisshandlung: Traumatisierungsmerkmale, typische Folgen und ihre Ätiologie -im allgemeinen wird zwischen zwei Arten von Folgen sexueller Kindesmisshandlung unterschieden (Browne&Finkelhor, 1986): unter Initialwirkungen werden unmittelbare Reaktionen des Kindes auf die sexuelle Kindesmisshandlung verstanden, die innerhalb der ersten zwei Jahre auftreten (Kurzzeitfolgen) als Langzeitfolgen sexueller Kindesmisshandlung werden langfristige Konsequenzen im Erwachsenenalter bezeichnet Initialwirkungen -Einteilung der unmittelbaren Folgen bei Mädchen in vier Symptomgruppen: Emotionale Reaktionen (Ängste, Phobien, Posttraumatische Belastungsstörung, Depression, niedriger Selbstwert, Suizidalität, Schuld- und Schamgefühle, Ärgerneigung, Feindseligkeit und selbstschädigendes Verhalten) Unangemessenes Sexualverhalten (Exzessive Neugier an Sexualität, frühe sexuelle Beziehungen, offenes Masturbieren und unangemessenes sexualisiertes Verhalten im Sozialkontakt) Auffälligkeiten im Sozialverhalten (Weglaufen von Zuhause, Schulschwierigkeiten, Fernbleiben vom Unterricht, Rückzugsverhalten, Hyperaktivität, deliquentes Verhalten, aggressives Verhalten wie mutwilliges Zerstören von Eigentum, physische Angriffe) Somatische und psychosomatische Folgen (Verletzungen im genitalen, analen und oralen Bereich, Schwangerschaften während der Adoleszenz, Geschlechtskrankheiten, psychosomatische Beschwerden wie z.B. Kopfschmerzen, Atembeschwerden, Ess- und Schlafstörungen. Langzeitfolgen - Emotionale und kognitive Störungen (Depression, Ängstlichkeit, Furcht, Scham- und Schuldgefühle, Einsamkeitsgefühle, autodestruktives Verhalten und Suizidalität, negative Selbstwahrnehmung, niedriges Selbstwertgefühl, internale, stabile und persönliche Kausalattribution negativer Ereignisse, externale Kontrollüberzeugungen bei positiven Ereignissen, niedrige Selbstwirksamkeitserwartung) - Posttraumatische Belastungsstörung - Dissoziative Störungen (Amnesien, Multiple Persönlichkeitsstörung) - Persönlichkeitsstörungen (Borderline-Persönlichkeitsstörungen) - Somatisierung (Psychosomatische Symptome) - Schlafstörungen - Essstörungen (Bulimie, Anorexie) - Sexuelle Störungen (Sexuelle Funktionsstörungen, unbefriedigende Sexualität, Promiskuität, sexuelle Orientierungsstörungen) - Substanzgebundenes Suchtverhalten - Störungen interpersonaler Beziehungen (Feindseligkeit gegenüber den Eltern, Furcht oder Feindseligkeit gegenüber Männern, Unzufriedenheit in intimen Beziehungen, Misstrauen, Reviktimisierung) - Probleme der sozialen Anpassung (z.B. Prostitution) 8 -insgesamt lässt sich kein typisches „Missbrauchssyndrom“ ableiten -fest steht: sexuelle Kindesmisshandlung stellt ein negatives Belastungsereignis dar, dass die Wahrscheinlichkeit zur Entwicklung psychischer Störungen im Kindes- und Erwachsenenalter offenbar erhöht Wolfgang Berner Sexualpsychopathologie des sexuellen Missbrauchs -nicht jedes sexuelle Interesse an Kindern ist der Pädophilie gleichzusetzen und nicht jede pädohile Neigung dem sexuellen Missbrauch -Untersuchungen von Kindesmissbrauchern in Gefängnissen; alle ähnliche Merkmale (nach Barnard): eigene körperliche Misshandlungen oder erlebter sexueller Missbrauch Alkohol- und Drogenmissbrauch ständiges Beschäftigtsein mit sexuellen Themen Eheprobleme, Beziehungsdefizite Zur Pädophilie -manche Menschen fühlen sich durch Kinder erotisch stimuliert und wissen gleichzeitig genau, dass die betroffenen Kinder ihre erotischen Gefühle nie so erwidern können -Dilemma: sie wollen der aggressiv erlebten Auseinandersetzung mit der Mutter ausweichen, suchen immer zartere und kleinere Mädchen, um durch die Dominanz über sie erregt zu werden und müssen dann feststellen, dass ihnen selbst in diesen Kindern wieder die Mutter begegnet, die sie fürchten Hannes Kinzl Die Bedeutung der Familienstruktur für die Langzeitfolgen von sexuellem Missbrauch -eine dysfunktionale Familienstruktur begünstigt nicht nur das Vorkommen von intrafamiliärem sexuellem Missbrauch, sondern erhöht auch für das Kind das Risiko, Opfer eines außerfamiliären sexuellen Missbrauchs zu werden -es besteht eine weitgehende Übereinstimmung darüber, dass es kein psychisches Symptom gibt, dass ausschließlich durch eine sexuelle Missbrauchserfahrung zu erklären ist Hannes Kinzl Sexueller Missbrauch und Essstörungen -eine sexuelle Missbrauchserfahrung dürfte bei stabilen familiären Beziehungserfahrungen nur selten in der Lage sein, ein gestörtes Essverhalten auszulösen Shirley Feldmann-Summers & Kenneth S. Pope Die Erfahrung des „Vergessens“ eines Missbrauchs Vergessener Missbrauch 9 -Studie: von den 79 Probanden, die angaben, irgendeine Form eines Kindesmissbrauchs erfahren zu haben, berichteten 32 (40,5%), von einer Zeitspanne, in der sie sich an den Missbrauch teilweise oder zur Gänze nicht mehr erinnern konnten -52,7% der insgesamt 36 Probanden, die über einen sexuellen Missbrauch durch einen Verwandten berichteten, gaben an, dass sie den Missbrauch teilweise oder zur Gänze vergessen hatten -90% derjenigen, die über eine Zeitspanne einer fehlenden Erinnerung berichtet hatten, gaben wenigstens ein Ereignis oder einen Umstand an, von dem sie glaubten, dass diese das Wiedererinnern an den Missbrauch ausgelöst hatten Christine Hein & Ulrike Ehlert Zur Diagnostik sexuellen Missbrauchs und daraus resultierenden psychischen Auffälligkeiten -die Identifikation von Opfern sexueller Gewalt stellt eine besondere Schwierigkeit der klinisch-psychologischen Diagnostik dar -aufgrund der Tabuisierung, Scham- und Schuldgefühle, der Angst vor Stigmatisierung, Protektion des Täters u.a.m. werden sexuelle Traumata häufig verschwiegen (und Verdrängung) -im deutschen Sprachraum existieren nur wenige standardisierte diagnostische Methoden zur Erfassung sexueller Gewalterfahrungen in der Kindheit und/oder im Erwachsenenalter -Untersuchungen zur Identifikation biologischer Marker sowie die Beurteilung psychophysiologischer Auffälligkeiten befinden sich im Anfangsstadium Renate Volbert & Max Steller Methoden und Probleme der Glaubwürdigkeitsbegutachtung bei Verdacht auf sexuellen Missbrauch -nachdem in der Diskussion früherer Jahre betont wurde, dass Hinweise auf sexuellen Missbrauch von Kindern häufig übersehen oder tatsächlich Äußerungen von Kindern über sexuellen Missbrauch nicht geglaubt wurden, ist in den letzten Jahren vermehrt thematisiert worden, dass es nicht selten zu einer Überinterpretation und zu der falschen Annahme eines sexuellen Missbrauchs komme -beide Arten von Fehlern gehen zu Lasten der betroffenen Kinder, und der letztgenannte Fehler führt auch zu negativen Konsequenzen für den beschuldigten Erwachsenen -darum kriterienorientierte Aussageanalysen -Hauptgegenstand ist die Aussage des Kindes zur Abklärung -nicht die Glaubwürdigkeit des Zeugen ist ausschlaggebend, sondern die Glaubhaftigkeit der Aussage (Steller 1992) Vorgehen bei der Glaubwürdigkeitsbegutachtung -das praktische Vorgehen bei der psychologischen Begutachtung der Glaubhaftigkeit von Zeugenaussagen beinhaltet eine Persönlichkeitsanalyse des Zeugen, eine Analyse seiner möglichen Motive für eine Falschbezichtung und andere möglicher Fehlerquellen sowie eine inhaltliche Analyse der Aussage selbst (Kriterienorientierte Inhaltsanalyse) 10 -bei der Persönlichkeitsanalyse liegt der Schwerpunkt in der Feststellung der intellektuellen und sprachlichen Kompetenz des Zeugen unter besonderer Berücksichtigung seiner sexuelbezogenen Kenntnisse und Erfahrungen -eine gezielte Motivanalyse soll mögliche Quellen für eine intentionale Falschbezichtung aufdecken -verschiedene Interviewverfahren Verdachtsbildung aufgrund von Signalen -einige Verhaltensweisen werden häufig einseitig auf sexuellen Missbrauch zurückgeführt -daneben findet sich die fälschliche Verwendung von Auswirkungsbeschreibungen (Folgen) sexueller Missbrauchserfahrungen als „Symptomlisten“ mit angeblichem Indikatorwert -dieselben Auffälligkeiten im Erleben oder Verhalten oder dieselben psychosomatischen Beschwerden von Kindern können aber sehr vielfältige Ursachen haben -die Zusammenschau vorhandener empirischen Untersuchungen zeigt deutlich, dass ein sexuelles Missbrauchssyndrom nicht existiert -wird ein Kind aber mit einer auf der Interpretation von Verhaltensäußerungen basierenden Voreinstellungen, ein sexueller Missbrauch sei passiert, befragt, kann ein suggestiver Prozess in Gang gesetzt werden Luise Greuel Anatomische Puppen – Zur Kontroverse um ein diagnostisches Hilfsmittel -sexueller Missbrauch als solches kann mit psychologischen Methoden grundsätzlich nicht diagnostiziert werden; diagnostiziert werden können allenfalls Besonderheiten im Erleben und Verhalten betroffener Kinder, also mögliche Folgen eines sexuellen Missbrauchs Einsatzmöglichkeiten anatomischer Puppen -eine diagnostische Funktion zur Abklärung eines Verdachts auf sexuellen Kindesmissbrauch wird ihnen nicht zugeschrieben -dennoch werden sie in der Praxis eingesetzt (Stimulusmaterial in Spielsituationen) Renate Volbert Sexuelles Verhalten von Kindern: Normale Entwicklung oder Indikator für sexuellen Missbrauch? Empirische Befunde zu sexuellen Auffälligkeiten nach sexuellem Missbrauch -vorliegende empirische Untersuchungen bestätigen grundsätzlich die Annahme, dass sexuelle Auffälligkeiten in spezifischer Form auf einen sexuellen Missbrauch hinweisen -sie zeigen, dass sexueller Missbrauch mit einer Zunahme von sexuellem Verhalten nach dem Missbrauch korreliere -die Zunahme von sexuellen Auffälligkeiten scheine von Missbrauchscharakteristika wie der Anzahl der Täter abzuhängen Berliner (1986) unterscheidet drei Ebenen von sexualisiertem Verhalten: 11 1. Erzwingen von sexuellem Verhalten, wobei körperliche Gewalt, verbale Drohungen oder sozialer Zwang zur Durchsetzung des Verhaltens genutzt werden 2. frühreifes sexuelles Verhalten, wie versuchter oder durchgeführter Geschlechtsverkehr 3. unangemessenes sexuelles Verhalten, z.B. anhaltendes Masturbieren in der Öffentlichkeit Gabriele Amann & Rudolf Wipplinger Prävention von sexuellem Missbrauch – Ein Überblick Formen von Prävention - primäre Prävention (mit dem Ziel einer Reduktion des Auftretens von neuen Fällen eines neuen Missbrauchs) - sekundäre Prävention (sobald wie möglich Missbrauch zu erkennen und zu beenden sowie dessen negativen Auswirkungen und Folgen möglichst zu minimieren) - tertiäre Prävention (Langzeitfolgen zu reduzieren und die Betroffenen bei deren Bewältigung unterstützen) - 12