Was wissen wir historisch über Jesus – und welche Relevanz hat die Frage nach dem historischen Jesus für den christlichen Glauben? Vortrag von Prof. Dr. Peter Wick, Ruhr-Universität Bochum im Rahmen der Tagung des Johanniterordens (Bayern) in Tutzingen am 31.5.2008 Meine Damen und Herren die Frage, die sie mit diesem Titel gestellt haben, sind gut, sehr gut sogar, weil von ihrer Antwort sehr viel abhängt, nicht nur für die neutestamentliche Wissenschaft, sondern auch für die Kirche und den Glauben. Sie sind aber auch gut, weil die Antworten schwierig sind. An welchen Jesus glaubt denn eigentlich die Kirche? In kirchen- und dogmengeschichtlicher Hinsicht kann eine doppelte Antwort gegeben werden: An den Jesus der Heiligen Schrift! An den Jesus der kirchlichen Lehre, des Dogmas! Meistens waren diese beiden Antworten in einander verwoben, indem man etwa durch die Lehre der Kirche hindurch die Schriften las und Jesus mit dieser Brille wahrnahm. In der Regel kam es so zur Vorordnung des dogmatischen Jesus vor den der Schrift. Meistens wurde dieses Jesusbild dann zugleich mit dem historischen Jesus gleichgesetzt, nämlich so, wie er historisch gelebt hat. Ein ganz großes theologisches Unterfangen des 19. Jahrhunderts war, Jesus von seinen dogmatischen Banden zu befreien. Das Ziel war aber nicht, den Jesus der Heiligen Schriften zu gewinnen, sondern hinter den Dogmen, durch die angebliche Widersprüchlichkeit der neutestamentlichen Schriften hindurch, den wahren Jesus zu rekonstruieren. Der wahre Jesus wurde gemäß dem damaligen wissenschaftlichen Zeitgeist als der historische Jesus gesehen. Auch gerade für dieses Ziel wurde die berühmte historisch-kritische Methode entwickelt. Letztlich war der Eros hinter dieser Methode durchaus von leidenschaftlicher Frömmigkeit geprägt. Man wollte Jesus so in das Gesichtsfeld bekommen, wie er wirklich gewesen war. Skizze: Historischer Jesus Historische Anteile des irdischen Jesus in vereinheitlichter Gestalt Kerygmatischer Jesus Christus (der ersten Kirche) Verkündigter Christus in vereinheitlichter Gestalt Jesus Christus der Heiligen Schriften Jesus Christus der Dogmen Irdischer und Auferstandener Jesus Christus Irdischer und Auferstandener Jesus Christus in vereinheitlichter Gestalt Vereinheitlicht meint hier widerspruchsfrei Der Jesus Christus der Heiligen Schriften ist ein einziger. Alle Schriften des Neuen Testaments berichten von demselben Menschen. Doch sie tun das in einer unterschiedlichen, pluriformen Weise. Ganz verschiedene Perspektiven werden auf Jesus gerichtet. Widersprüchlichkeit wird in Kauf genommen. Paulus verkündigt Jesus Christus als gekreuzigt, gestorben und begraben und als Auferstandener, und das alles „für uns“. Doch Paulus berichtet, abgesehen von einzelnen Worten und das er von einer Frau geboren ist, kaum etwas aus dem Leben von Jesus. Es ist, als ob der irdische Jesus ihn erst dort anfängt zu interessieren, wo er am Kreuz hängt. Der Hebräerbrief berichtet uns davon, dass das entscheidend wichtige am irdischen Geschehen, und hier auch vor allem wieder am Tod Jesus, gar nicht die irdische, sondern die himmlische Bedeutung hinter diesem Geschehen ist. Der als Verbrecher von den Römern hingerichtete Jesus ist vom Himmel her gesehen gar kein Verbrecher, sondern der wahre Hohepriester und das wahre Opfer für die himmlische Stiftshütte. Solche „Informationen“ über den irdischen Jesus sind viel zu schmal, um damit einen historischen Jesus zu rekonstruieren. Dafür braucht man schon die Evangelien. Diese berichten ausführlich vom Leben Jesu vor seinem Tod. Doch auch hier gibt es keine einheitliche Perspektive, sondern deren vier. Jesus ist der vollmächtige, jüdische Lehrer und Toraausleger, der sich in einem Akt der radikalen Barmherzigkeit in den Tod gibt. So stellt ihn Matthäus dar. Jesus ist derjenige, der verheimlicht, wer er ist, der aber den Menschen bis zum letzten, bis und mit dem Tod dient. Das ist für Markus zentral. Seit der Schöpfung hat Gott seine Geschichte mit den Menschen fortgesetzt. Durch die Sünde der Menschen wird die menschliche Geschichte zu einer Unheilsgeschichte. Gott reagiert darauf mit einer Heilsgeschichte, die sich innerhalb der Unheilsgeschichte ereignet und diese zuletzt besiegt. Jesus ist das Zentrum und der Wendepunkt innerhalb dieser Heilsgeschichte. Durch ihn wird nun das Heil Gottes von Israel hinaus zu allen Völkern gebracht. Dies gehört zum Beitrag des Evangelisten des Lukasevangeliums. Der Evangelist Johannes bezeugt Jesus als denjenigen, der schon bei der Schöpfung als Wort Gottes mitgewirkt hat, der Fleisch gewordene Sohn Gottes, der seinen Vater am Kreuz verherrlicht und sich dabei als Opferlamm für die Sünde der Welt opfert. Diese Multiperspektivität der Heiligen Schriften gewinnt einen unerschöpflichen Facettenreichtum für jegliches Jesusbild, aber sie kann nicht ausschließen, dass in dieser Vielfalt Widersprüche auftreten. Das war für Teile der Kirche schon sehr früh unbefriedigend. Deshalb wurde im 2. Jahrhundert das Diatessaron als Evangelienvereinheitlichung geschaffen, das Evangelium dia tessaron, das heißt durch vier. Doch diese Evangelienvereinheitlichung hat sich nicht durchgesetzt. Meistens wurde dann eben „nach“ der Schrift das Jesusbild mit einer dogmatischen Interpretation vereinheitlicht und so gegen Widersprüche geschützt. Doch jede Vereinheitlichung ist immer auch eine Reduktion der Vielfalt. Im 19. Jh. wollten führende liberale Neutestamentler das einheitliche dogmatische Jesusbild dekonstruieren und den wahren ursprünglichen Jesus, der allen Bildern von ihm vorausgeht, rekonstruieren. Dies ging in der Regel nicht nur auf Kosten von Jesus Christus als Sohn Gottes – Sohn Gottes kann mit keiner historischen Methode nachgewiesen werden, weil historische Methoden dafür nicht ausgelegt sind – sondern auch gegen Christus als Erlöser, denn das historische Leben Jesu allein erlöst auch für die alte Kirche noch nicht, dafür braucht es Kreuz und Auferstehung. Die Aufklärung trägt nun ihre Früchte. Der aufgeklärte Mensch wollte von niemand abhängig sein und wollte sein Heil nicht einem anderen verdanken müssen. Der Heiland wurde zum ethischen Vorbild reduziert. Denn das historische Leben Jesu bietet dem modernen Menschen ein radikales Vorbild, das dieser frei wählen kann. Zugleich wurde Jesus auch zum Vorbild des Glaubens. Denn es ging nicht mehr darum, an Jesus als Christus zu glauben, sondern darum, wie Jesus an Gott zu glauben. Viele Theologen fanden so bis am Anfang des 20. Jahrhunderts mit Hilfe der historischkritischen Methode viele historische Jesus“e“. Ich zitiere als Beispiel Paul Wernle, ein Basler Neutestamentler: „Die Gottesglaube bildet den Hintergrund der neuen zentralen Botschaft Jesu, nicht ihren Inhalt“1. Zum Inhalt aber schreibt er: „Wir erfassen sogleich den Kern der Forderung Jesu, wenn wir ihre eigentümliche Fragestellung beachten. Es ist die Frage nach dem rechten Weg zum Reich Gottes oder zum ewigen Leben“. Zusammenfassend hält Wernle fest: „Und das ist das Letzte und Größte und Wunderbarste, wir sollen mitten im Kampf fest in der Gottesliebe und Bruderliebe stehen und uns durch keine Hitze des Kampfes unsre Gottesliebe und Bruderliebe rauben lassen. So heißt Jünger Jesu sein: es mit den wenigen halten, die es ernst nehmen, die vielen suchen und für die Liebe gewinnen wollen, Kämpfer sein und in allem Kampf in der Liebe bleiben.“ Das Zentrale an Jesus ist also nicht sein Glaube, schon gar nicht der Glaube an ihn als Christus, sondern der Inhalt seiner Botschaft, 1 Paul Wernle, Jesus, Tübingen 2. Auflage 1916, 103. Der Ansatz von Wernle wird aber bereits von A. Schweitzer besprochen. welche radikal ethisch ist und zum Kampf für die Gottesliebe und Menschenliebe aufruft. 2 Für Wernle ist schon das Bekenntnis „Jesus ist der Christus“ der Beginn des Dogmatismus. Daraus „wuchsen die ungeheuer langen und schweren Glaubensbekenntnisse hervor, die später zum Merkzeichen des wahren Christentums erhoben wurden. Dahinter trat das Tun des Willens Gottes, traten Liebe, Demut, Menschlichkeit zurück, bis oft zum gänzlichen Vergessen. Es bildete sich die Verzerrung des Evangeliums, dass der ein Jünger Jesu sei, der so und so von ihm denke, die und die Titel ihm gebe und ein Bekenntnis mit den Lippen plappern könne, das nicht einmal geistig verstanden, verarbeitet, persönlich angeeignet worden war. Der Eifer für den rechten Glauben aber führte in der Praxis zu einer Unmenschlichkeit und Liebesarmut, an der das Christentum krankt bis zum heutigen Tag.“3 Markus wurde zum Leitevangelium, da es als kürzestes und schlichtestes nicht theologisch überfrachtet sei (Markusschluss). Es galt als älteste und verlässlichste historische Quelle. Anfangs des 20. Jahrhunderts gab es nun eine doppelte Zäsur. William Wrede veröffentlichte ein Buch über das Messiasgeheimnis im Markusevangelium. In diesem Buch zeigte Wrede, dass die Verhüllung der Messianität Jesu – Jesus sagt in diesem Evangelium nie, dass er der Messias sei – und deren Enthüllung einem durchgehenden theologischen Programm entspricht. Damit war das Mk-Evn als eher wertfreies, historisches Zeugnis verloren, da es offensichtlich auch durch theologische Werte geleitet ist und nicht einfach historisch berichten will. Damals glaubte die Gemeinschaft der Wissenschaftler noch daran, dass es eine wertfreie Wissenschaft gibt und dass es tatsächlich objektive historische Berichte gibt. Ungefähr zeitgleich veröffentlichte Albert Schweitzer seine „Geschichte der Leben Jesu Forschung“ und zeigte mit diesem großen Werk, dass die historische Erforschung des Lebens Jesu nicht zu dem historischen Jesus geführt hat, sondern zu unzähligen Jesusbildern. Letztlich habe jeder Forscher sein eigenes Jesusbild entsprechend seinem ethischen Ideal mit Hilfe der historischen Methoden rekonstruiert. Die Vielheit der historischen Jesusbilder zeigte deren Relativität und somit die Unmöglichkeit, den historischen Jesus zu finden. Ich zitiere aus den Schlussbetrachtungen Schweitzers: „Es ist der Leben-Jesu-Forschung merkwürdig ergangen. Sie zog aus, um den historischen Jesus zu finden, und meinte, sie könnte ihn dann, wie er ist, als Lehrer und Heiland in unsere Zeit hineinstellen. Sie löste die Bande, mit denen er seit Jahrhunderten an den Felsen der Kirchenlehre gefesselt war, und freute sich, als wieder Leben und Bewegung in die Gestalt kam und sie den historischen Menschen Jesus auf sich zukommen sah. Aber er blieb nicht stehen, sondern ging an unserer Zeit vorüber und kehrte in die seinige zurück. Das eben befremdete und erschreckte die Theologie der letzten Jahrzehnte, dass sie ihn mit allem Deuteln und aller Gewalttat in unserer Zeit nicht festhalten konnte, sondern ihn ziehen lassen musste. Er kehrte in die seine zurück mit derselben Notwendigkeit, mit der das befreite Pendel sich in seine ursprüngliche Lage zurückbewegt.4“ Schweitzer fährt fort: „Das historische Fundament des Christentums, wie es die rationalistische, die liberale und die moderne Theologie aufgeführt haben, existiert nicht mehr, was aber nicht heißen will, dass das Christentum deshalb sein historisches Fundament verloren hat. Die Arbeit, welche die historische Theologie durchführen zu müssen glaubte, und die sie in dem Augenblick, wo sie der Vollendung nahe ist, zusammenbrechen sieht, ist nur die Backsteinumkleidung des wahren, unerschütterlichen, historischen Fundaments, das von jeder geschichtlichen Erkenntnis und Rechtfertigung unabhängig ist, weil es eben da ist. Jesus ist unserer Welt etwas, weil eine gewaltige geistige Strömung von ihm ausgegangen ist 2 3 4 Paul Wernle, 204. Paul Wernle, 367. Schweitzer, 632. und auch unsere Zeit durchflutet. Diese Tatsache wird durch eine historische Erkenntnis weder erschüttert noch gefestigt.“5 Dies war der Todesstoss für den „historischen“ Jesus. Allerdings zog sich sein Sterben noch hin, und es brauchte das Trauma des ersten Weltkrieges um die alte Forschungsrichtung ad acta zulegen. Albert Schweitzer hat aber nicht nur kritisiert, sondern eine eigene Position vorgelegt. Sogar wenn Jesus historisch rekonstruierbar wäre, würde das für den Glauben des modernen Menschen kaum etwas bringen. Denn Jesus lebte, redete und handelte mit der Erwartung, dass das Weltende unmittelbar bevorstünde. Deshalb können sein Leben und seine Ethik auch nicht als unmittelbares Vorbild dienen, da seine Ethik von dieser Naherwartung der Parusie geprägt sei, diese sich aber als historisch überholt erwiesen habe. Doch in der Begegnung mit dem unbedingten ethischen Willen Jesu, der auf die sittliche Erneuerung der ganzen Welt ausgerichtet war, kann der eigene Willen verändert und dem ethischen Willen Jesu gleichgestaltet werden. „In Wirklichkeit vermag er für uns nicht eine Autorität der Erkenntnis, sondern nur eine des Willens zu sein.“6 Schweitzer vertritt eine Willensmystik: „Im letzten Grunde ist unser Verhältnis zu Jesus mystischer Art. … Eine Beziehung zu[r Persönlichkeit Jesu] gewinnen wir erst, wenn wir in der Erkenntnis eines gemeinsamen Wollens mit ihr zusammengeführt werden, eine Klärung, Bereicherung und Belebung unseres Willens in dem ihrigen erfahren und uns selbst in ihr wieder finden.“7 Die Geschichte, die Historie spielt dabei keine zentrale Rolle mehr. Diese Erkenntnis und diese mystische Frömmigkeit des ethischen Willens haben dazu beigetragen, dass Schweitzer sein theologisches Schaffen hinter sich ließ und als Arzt nach Lambarene ging, um dort offensichtlich seinen eigenen ethischen Willen, der durch die Begegnung mit dem Willen Jesu geprägt worden war, zu leben. Wer am historischen Jesus gescheitert ist, kehrt zurück zum dogmatischen Jesus oder sucht die mystische Jesusbegegnung oder nimmt einen neuen Anlauf, um doch noch zum historischen Jesus zu kommen. Das zwanzigste Jahrhundert ist von diesen Möglichkeiten und deren Kombinationen geprägt. Das Trauma des ersten Weltkriegs verhalf der dialektischen Theologie unter der Führung von Karl Barth immer mehr zum Durchbruch. Der bekannteste Neutestamentler dieser Epoche tritt mit Rudolf Bultmann auf die Bühne. Für die dialektische Theologie ist Gott der ganz Andere, der allem Menschlichen, besonders aller menschlichen Kultur radikal gegenüber steht und sich nicht in diese einordnen lässt. Die historische Frage nach Jesus, nach dessen Einbettung und Prägung durch die zeitgenössische Kultur wurde für diesen Glauben nicht nur überflüssig, sondern kann an sich nicht zum Ziel führen. Der historische Jesus ist für Bultmann nicht der Christus des Glaubens. Dieser ist der von der ersten Gemeinde nach Ostern verkündigte Christus. Das Neue Testament sei nur an diesem Christus interessiert. Wenn es in den Evangelien vom irdischen Jesus berichtet, ist auch dies nur insofern relevant, wenn sich darin die nachösterliche Verkündigung spiegelt. Bultmann schreibt: „Für denjenigen, dessen Interesse die Persönlichkeit Jesu ist, ist diese Sachlage bedrückend oder vernichtend; für unseren Zweck ist sie nicht von wesentlicher Bedeutung. Denn der Komplex von Gedanken, der in jener ältesten Schicht der Überlieferung vorliegt, ist der Gegenstand unserer Darstellung. Er begegnet uns zunächst als ein Traditionsstück, das aus der Vergangenheit zu uns gelangt ist, und in seiner Befragung suchen wir die Begegnung mit der Geschichte. Als der Träger dieser Gedanken wird uns von der Überlieferung Jesus genannt; nach 5 6 7 Schweitzer, 632. Schweitzer, 636. Schweitzer, 641. überwiegender Wahrscheinlichkeit war er es wirklich. Sollte es anders gewesen sein, so ändert sich damit das, was in dieser Überlieferung gesagt ist, in keiner Weise.“8 Die Kirche soll nach Bultmann weder an den irdischen, noch an den historische Jesus, noch an den Jesus Christus der Schriften oder des Dogmas glauben, sondern an den auferstandenen Christus, wie er von der nachösterlichen Gemeinde verkündigt worden ist. Diesem Ansatz war größter Erfolg beschieden, der bis heute nachwirkt. Mit dem Interesse an dem irdischen Jesus verlor man auch das an Jesus als ethisches Vorbild. Solche Vorstellungen wurden sogar bekämpft, schließlich kann nur der für den Glauben nicht relevante irdische, noch nicht auferstandene Jesus ein solches Vorbild sein, der auferstandene Christus aber ist der Erlöser. Dieser Kampf gegen die imitatio Christi hat sich sogar in der Revision der Lutherbibel von 1984 niedergeschlagen. So übersetzt die ältere Lutherbibel Phil 2,5 folgendermaßen: „Ein jeglicher sei gesinnt, wie Jesus Christus auch war“. Die Revision von 1985 ändert und entfernt sich vom griechischen Text: „Seid so unter euch gesinnt, wie es auch der Gemeinschaft in Christus Jesus entspricht“. Der Aufruf, die Gesinnung von Jesus Christus zum Vorbild zu nehmen, verschwindet durch diese Übersetzung. Eine andere Schattenseite, die zuerst kaum bemerkbar ist, wird aber auf die Dauer umso gravierender. Bultmann förderte einen Glauben an den Christus der Verkündigung auf Kosten eines Glaubens an Jesus Christus. Was ist der Unterschied? Letzterer Glauben richtet sich an eine Person, Bultmanns Glaube an ein Wort. Anders gesagt: Nicht wenn heute Jesus Christus verkündigt wird, führt dies zum Glauben, sondern wenn die Verkündigung des Christus verkündigt wird. Der Unterschied ist klein und doch groß. Der irdische, leiblich lebende, in seiner Zeit stehende Jesus hat an sich keine Bedeutung. Eine solche Theologie negiert die Bedeutung des Leibes. Der Leib und die Geschichte werden letztlich für den Glauben irrelevant. Bultmann wirkt bis heute nach. In meinem Theologiestudium in den achtziger Jahren habe ich bald gemerkt, dass man sehr wohl Christus sagt, dass aber Jesus irgendwie anstößig ist. Ich habe das nicht verstanden, aber es war offensichtlich eine Nachwirkung davon, dass der irdische Jesus nicht der Christus des Glaubens ist. Aufgrund des neuen historischen Fragens ist heute wieder viel mehr von Jesus und seiner Jesusbewegung die Rede. Die Bultmannsche Position fördert die Leibfeindlichkeit der Theologie und verleiht ihr einen doketischen Charakter. Christus wird von einer Person zu einem Prinzip, das geglaubt werden soll. Dies hat Käsemann als Schüler von Bultmann gesehen, und deshalb in den fünfziger Jahren wieder angefangen, begrenzt nach dem historischen Jesus zu fragen. Barth hat darüber gespottet. Und wieder trat ein altes Problem der historischen Jesusforschung ans Licht, welches weiter oben nicht genannt worden ist, aber selbstverständlich in der ersten Runde im 19. Jahrhundert schlechte Früchte trug. Ich zitiere Käsemann: „Jesus hat mit einer unerhörten Souveränität am Wortlaut der Tora und der Autorität des Mose vorübergehen können. Diese Souveränität erschüttert nicht nur die Grundlagen des Spätjudentums und verursacht darum entscheidend seinen Tod, sondern hebt darüber hinaus die Weltanschauung der Antike mit ihrer Antithese von kultisch und profan ... aus den Angeln“ (Käsemann 1964, 208). Wer den historischen Jesus erforschen wollte, negierte in der Regel das Judesein Jesus oder drängte es wenigstens zurück. … Diese so genannte zweite Runde der Frage nach dem historischen Jesus wurde durch die Methoden des Tübinger Neutestamentlers Joachim Jeremias stark mitgeprägt. Wie kann man wissen, ob ein Wort ganz sicher vom historischen Jesus stammt? Jeremias antwortete: Wenn 8 Rudolf Bultmann, Jesus, Tübingen 1983 (zuerst 1926), 14. es sich weder vom Hellenismus noch vom Judentum herleiten lässt. Man nennt dies deshalb das doppelte Differenzkriterium. Sein wichtigstes Ergebnis war, dass „Abba“, lieber Vater als Anrede an Gott von Jesus selbst stammen muss, weil man so eine innige, vertraute Gottesanrede nicht aus dem Judentum herleiten kann. (Vielleicht haben sie noch so eine Predigt gehört: „Jesus befreit die Menschen aus der angstvollen Beziehung der Juden zu Gott als einem strafenden Richter und lehrt sie Gott als liebenden und gnädigen Vater Abba anzurufen.“) Allerdings ist die Position von Jeremias höchst problematisch und latent antijudaistisch, denn so kann nur das Nichtjüdische an Jesus zweifelsfrei historische sein. Die dritte Runde der Frage nach dem historischen Jesus wurde im angelsächsischen Raum ungefähr vor 30 Jahren eingeläutet und wird im deutschsprachigen Raum erst seit zehn, fünfzehn Jahren verstärkt aufgenommen. In dieser Runde wird wieder versucht, den historischen Jesus und sein Leben zu rekonstruieren. Verschiedene Gründe haben dazu geführt. Erstens hat sich die angelsächsische Forschung von der deutschen Exegese emanzipiert und überholt diese. Zweitens ermöglichten neue Methoden neue historische Betrachtungen. Die Sozialgeschichte und Kulturanthropologie seien hier genannt. Zahlreiche neue Erkenntnisse über das Judentum in der Zeit Jesu haben das Verständnis für das historische Umfeld und die Einbettung Jesu in das zeitgenössische Judentum stark vorangebracht. So wissen wir nun, dass es das Judentum, von dem sich Jesus irgendwie abgrenzen konnte, nicht gab, sondern dass das Judentum durch eine große Gruppenbildung geprägt war, von denen im Neuen Testament mit den Pharisäern, den Sadduzäern und den Herodianern nur ein kleiner Teil erwähnt wird. Was Jesus auch immer sagte und tat, er war damit nicht außerhalb des Judentums, sondern ist einer der Repräsentanten der jüdischen Vielfalt in dieser Zeit. Die frühere Forschung fragte nach dem Gegensatz von Judentum und Hellenismus. Heute wissen wir, dass auch das Judentum dieser Zeit ein Teil des Hellenismus war. Die Kombination von jüdischen Gruppierungen und hellenistischen Prägungen eröffnet ein großes Feld von Möglichkeiten, Jesus historisch einzuordnen. Einer der ersten Vertreter der dritten Runde war Morton Smith. Er rekonstruierte Jesus als jüdischer Magier im hellenistischen Umfeld. Archäologische Funde haben die dritte Runde ebenfalls mehrfach beflügelt. Die Erforschung der Ende der vierziger Jahren gefundenen Schriften von Qumran, die gezeigt haben, dass am Toten Meer eine jüdische Gruppe gelebt hat, die ihren eigenen jüdischen Weg in starker Abgrenzung zu anderen Gruppen gelebt hat, war hier sehr wichtig. Seit den achtziger Jahren wird in Galiläa die Stadt Zepphoris ausgegraben. Zepphoris entspricht einer hellenistischrömischen Stadt. Sie wurde vom jüdischen Fürsten Herodes Antipas in der Jugendzeit von Jesus aufgebaut. Von den Hügeln Nazareths hat man einen direkten Blick auf die nur vier Kilometer entfernte Stadt. Ein römisches Theater aus dem ersten Jahrhundert wurde gefunden. Es dauerte nicht lange, bis das erste Buch erschien, das behauptete, dass Josef und sein Sohn Jesus an der Herstellung von Holzarbeiten für dieses Theater beteiligt gewesen sind. Später konnte man das Theater auf das Ende des ersten Jahrhunderts datieren. Die Funde aus dieser hellenistischen Stadt beflügelten die Fantasien, obwohl man Zepphoris und Tiberias am See Genezareth, beides römisch angelegte Städte des Herodes Antipas, aus den Schriften des Josephus kannte. Hat sich durch diese Städte ein Stadt-Landkonflikt entwickelt? Haben die Steuereintreiber, die Zöllner auf dem Land erst recht „gewütet“, um das Geld für die Städte abzuschöpfen? Weshalb berichten die Evangelien nicht davon, dass Jesus eine hellenistische Stadt besucht habe, obwohl zwei von diesen direkt in seinem Wirkungsbereich in Galiläa lagen? War Jesus gegen die Städte? Wirkte er als jüdischer Prophet an der Wiederherstellung eines dörflichen Galiläas? Hat er nicht vor allem Gleichnisse aus dem Bauernleben erzählt? Oder war er eher ein hellenistischer Kyniker und damit von Diogenes geprägt, der verkündete, dass man sich überhaupt nicht um seine körperlichen Bedürfnisse wie Nahrung, Kleidung und Dach über dem Kopf sorgen soll, wie das die Gesellschaft in den Städten besonders tut? Oder war Jesus vielleicht doch eher ein Städter? Schließlich ist sein Ziel Jerusalem. Jerusalem ist damals nicht nur die jüdischste sondern auch die römischste Stadt des vorderen Orients! Solche und andere Theorien wurden in Büchern entfaltet. Weitere archäologische Erkenntnisse zu Galiläa haben unterdessen bereits vielen dieser Theorien den Boden unter den Füßen weggezogen. In den USA haben sich Neutestamentler zum „Jesus-Seminar“ zusammengeschlossen. Mit Hilfe eines demokratischen Abstimmungsverfahrens wollten sie festlegen, welche Worte ganz sicher vom historischen Jesus sind. Sie konnten sich auf 18% einigen. Ekkehard Stegemann, Neutestamentler in Basel und Wolfgang Stegemann, Neutestamentler in Neuendettelsau werden im Herbst dieses Jahres ein umfassendes Buch zu diesem Thema veröffentlichen. Sie kommen wiederum auf das Ergebnis von Albert Schweitzer. Der historische Jesus wurde nicht gefunden, sondern viele solche wurden nach der Idealvorstellung der jeweiligen Wissenschaftler konstruiert. Und doch gibt es auch übergreifende Ergebnisse: Es wird heute nicht mehr bestritten, dass Jesus historisch als Teil des Judentums verstanden werden muss. Deshalb stellt sich heute die Frage wieder umso schärfer: Was wissen wir historisch über Jesus? Die Antwort lautet: Wir wissen heute viel mehr über das historische Umfeld von Jesus als noch vor dreißig Jahren. Doch wenn wir mit diesem Wissen den historischen Jesus rekonstruieren wollen, dann zeigt der Forschungsüberblick, dass wir ihn nicht rekonstruieren sondern konstruieren. Und es gibt heute wieder viele solcher Konstruktionen. Oder anders formuliert: Das neue historische Wissen hilft, Jesus historisch besser zu begreifen. Wer aber damit Jesus historisch ein für allemal greifen will, greift offensichtlich wie im neunzehnten Jahrhundert wieder daneben. Nach wie vor gilt: Nur Annäherungen an den historischen Jesus sind möglich, mehr nicht, sonst „geht er wieder vorüber und kehrt in seine Zeit zurück“. Doch sind diese auch notwendig? Welche Relevanz hat die Frage nach dem historischen Jesus für den christlichen Glauben? Bevor ich diese Frage nochmals betrachte, möchte ich fragen: Welcher Jesus hat am Meisten Relevanz für den christlichen Glauben? Welcher Jesus bleibt auch durch die Wirren der menschlichen Erkenntniswege hindurch stets derselbe? Es ist der Jesus Christus der Heiligen Schriften, des Kanons. Aspekte, Episoden, Worte, Gleichnisse und Lehrreden, Helles und Dunkles über das Leben Jesu, aber auch über seinen Tod und seine Auferstehung berichten die Evangelien. Vier verschiedene Zugänge, die doch eindeutig zu erkennen geben, dass es sich um eine einzige Person Jesus Christus handelt, bieten die Evangelien und auch jeder dieser Zugänge für sich öffnet je zahlreiche Perspektiven auf ihn. Es ist eine Vielfalt, die den Glauben seit bald zweitausend Jahren schöpfen lässt, ohne dass der Reichtum dieser Quelle geschmälert werden könnte. Diese neutestamentliche Vielfalt zur einen Person erwies sich als Kraftquelle quer durch alle Jahrhunderte hindurch in den extremsten Situationen der Menschheit. Doch diese Vielfalt lässt sich durch die Vernunft nicht auf einen Punkt bringen, sie lässt sich nicht widerspruchsfrei systematisieren. Die Spannungen zwischen verschiedenen Stellen im NT sind dafür zu groß. „ Zum Glück nicht“ muss die Antwort des Glaubens sein, sonst hätten wir den systematisierten Jesus Christus im Griff (und nicht er uns in seiner Hand). Der Jesus Christus der Heiligen Schriften ist eine spannungsvolle Person, und gerade deshalb bietet diese Person auch Halt in den spannungsvollsten Lebenslagen. Von den Schriften her ist es möglich, Jesus als Freund der Jungen, als Sieger und Held, als Revolutionär und als Befreier zu interpretieren, insofern diese Interpretationen mit der Bibel begründet werden können. Dies gilt in den „Extremsituationen“ des Konf-Unterrichts, im Trauma nach dem ersten Weltkrieg, in den Erfahrungen der Befreiungstheologie. Gerade deshalb müssen diese Jesusbilder sich aber auch von den Heiligen Schriften her befragen und im Zweifelsfall widerlegen lassen. Doch wozu der Jesus Christus des Dogmas? Jedes Dogma über Jesus Christus, jede Glaubenslehre reduziert etwas von dieser Vielfalt der neutestamentlichen Schriften. So ist ein Dogma immer auch gefährlich, weil es durch die Reduktion der Aspekte immer Wichtiges aus dem Blickfeld verliert. Dennoch sind Dogmen in diesem allgemeinen Sinn für Kirche und Glauben unverzichtbar. Denn Dogmen bringen komplexe Inhalte auf den Punkt und erlauben, dass gleichgesinnte Menschen sich zu einer christlichen Gemeinschaft zusammenschließen. Die Heiligen Schriften und die kirchlichen Dogmen zu Jesus Christus werden immer wieder hervorheben, dass Jesus Christus als von einer Frau geborener Mensch der Sohn Gottes ist, dass er der Messias Israels und aller Völker und der Retter und Erlöser der Menschheit ist. Seit Paulus wird er immer als Gekreuzigter, Begrabener und Auferstandener im Zentrum des Glaubens stehen. Doch auch der irdische Jesus in den Schriften bleibt eine stete Bereicherung und Stärkung für den Glauben, weil mit den Geschichten des irdischen Jesus verkündet wird, wie er mit konkreten Menschen umgegangen ist, wie er geheilt und gelehrt hat, wie seine Worte bleibende Bedeutung, Zuspruch und Trost in sich bergen. Und darin taucht immer wieder der Anspruch auf, den sein radikales irdisches Leben und Lehren auf das Leben der Glaubenden hat, damals auf seine Nachfolger, und bis heute auf die Glaubenden und die Kirche. Gerade der irdische Jesus ist bleibendes ethisches Vorbild für den Glauben hier in dieser Welt. So rufen die biblischen Berichte über das Leben Jesu bis heute auch zur Nachahmung auf, zur imitatio Christi. Braucht es aber so noch die Frage nach einem historischen Jesus? Könnte diese Frage nicht als Irrweg der Wissenschaft abgetan werden, gerade auch weil sie ja offensichtlich immer in Rekonstruktionen einer Vielzahl unterschiedlicher Jesusbilder mündet? Ein Ja wäre verlockend und dennoch falsch. Denn es gibt einen theologischen Grund trotz allem nach dem historischen Jesus zu fragen. Im Johannesevangelium heißt es programmatisch: „Und das Wort wurde Fleisch“. Das fleischgewordene Wort ist Jesus Christus, der durch die Kirche seit ihrer Entstehung wieder durch das Wort verkündet wird. Aber es ist eben nicht mehr nur die Verkündigung von wirkmächtigen, weisen Worten, sondern von einem Wort, das selbst fleischgeworden ist und durch die Auferstehung das Fleisch nicht „loswerden“ wollte. Jesus Christus war ganz Mensch, leiblicher Mensch und hat als solcher gelebt und gewirkt. Sein Vorbild ist nie ein schön geistiges Prinzip, sondern ein hart durchlittener Lebensweg. Dort, wo wir Menschen wirklich herausgefordert sind, in unserem alltäglichen körperlich gebundenen Leben, darin hat auch er gelebt und das Heil gewirkt und zwar nur dort. Sein Leben und Sterben und seine Auferstehung ist in einer ganz bestimmten historischen Situation, unter einmaligen historischen Bedingungen geschehen. All das ist unwiederholbar, ein einmaliges Geschenk von Gott. Unser aller Leben findet ebenfalls unter einmaligen, historischen Bedingungen statt und kann nur unter diesen gelebt werden, nicht in einem „wäre es nicht besser, wenn …“. Sein ethisches Vorbild ist nicht als Prinzip über dem Leben, sondern konkret im konkreten Leben gegeben worden, in aller sozialen und menschlichen Bedingtheit. Und dort und gerade nur dort will es nachgeahmt werden. Die Frage nach dem historischen Jesus fragt nach den historischen Umständen und Bedingungen des Lebens Jesu. Ihre Resultate müssen immer sehr bedingt bleiben. Aber diese Frage ermahnt dazu, dass christliche Leben in aller historischer Bedingtheit zu leben und dort das unbedingte Heil Gottes in Jesus Christus zu verkünden. Kontaktadresse: [email protected]