Was wissen wir historisch über Jesus - Ruhr

Werbung
Was wissen wir historisch über Jesus – und welche Relevanz hat die Frage nach dem
historischen Jesus für den christlichen Glauben?
Vortrag von Prof. Dr. Peter Wick, Ruhr-Universität Bochum
im Rahmen der Tagung des Johanniterordens (Bayern) in Tutzingen am 31.5.2008
Meine Damen und Herren
die Frage, die sie mit diesem Titel gestellt haben, sind gut, sehr gut sogar, weil von ihrer
Antwort sehr viel abhängt, nicht nur für die neutestamentliche Wissenschaft, sondern auch für
die Kirche und den Glauben. Sie sind aber auch gut, weil die Antworten schwierig sind.
An welchen Jesus glaubt denn eigentlich die Kirche? In kirchen- und dogmengeschichtlicher
Hinsicht kann eine doppelte Antwort gegeben werden: An den Jesus der Heiligen Schrift! An
den Jesus der kirchlichen Lehre, des Dogmas! Meistens waren diese beiden Antworten in
einander verwoben, indem man etwa durch die Lehre der Kirche hindurch die Schriften las
und Jesus mit dieser Brille wahrnahm. In der Regel kam es so zur Vorordnung des
dogmatischen Jesus vor den der Schrift. Meistens wurde dieses Jesusbild dann zugleich mit
dem historischen Jesus gleichgesetzt, nämlich so, wie er historisch gelebt hat.
Ein ganz großes theologisches Unterfangen des 19. Jahrhunderts war, Jesus von seinen
dogmatischen Banden zu befreien. Das Ziel war aber nicht, den Jesus der Heiligen Schriften
zu gewinnen, sondern hinter den Dogmen, durch die angebliche Widersprüchlichkeit der
neutestamentlichen Schriften hindurch, den wahren Jesus zu rekonstruieren. Der wahre Jesus
wurde gemäß dem damaligen wissenschaftlichen Zeitgeist als der historische Jesus gesehen.
Auch gerade für dieses Ziel wurde die berühmte historisch-kritische Methode entwickelt.
Letztlich war der Eros hinter dieser Methode durchaus von leidenschaftlicher Frömmigkeit
geprägt. Man wollte Jesus so in das Gesichtsfeld bekommen, wie er wirklich gewesen war.
Skizze:
Historischer Jesus
Historische Anteile des
irdischen Jesus in
vereinheitlichter Gestalt
Kerygmatischer Jesus
Christus (der ersten
Kirche)
Verkündigter Christus in
vereinheitlichter Gestalt
Jesus Christus der
Heiligen Schriften
Jesus Christus der
Dogmen
Irdischer und
Auferstandener Jesus
Christus
Irdischer und
Auferstandener Jesus
Christus in
vereinheitlichter Gestalt
Vereinheitlicht meint hier widerspruchsfrei
Der Jesus Christus der Heiligen Schriften ist ein einziger. Alle Schriften des Neuen
Testaments berichten von demselben Menschen. Doch sie tun das in einer unterschiedlichen,
pluriformen Weise. Ganz verschiedene Perspektiven werden auf Jesus gerichtet.
Widersprüchlichkeit wird in Kauf genommen. Paulus verkündigt Jesus Christus als
gekreuzigt, gestorben und begraben und als Auferstandener, und das alles „für uns“. Doch
Paulus berichtet, abgesehen von einzelnen Worten und das er von einer Frau geboren ist,
kaum etwas aus dem Leben von Jesus. Es ist, als ob der irdische Jesus ihn erst dort anfängt zu
interessieren, wo er am Kreuz hängt. Der Hebräerbrief berichtet uns davon, dass das
entscheidend wichtige am irdischen Geschehen, und hier auch vor allem wieder am Tod
Jesus, gar nicht die irdische, sondern die himmlische Bedeutung hinter diesem Geschehen ist.
Der als Verbrecher von den Römern hingerichtete Jesus ist vom Himmel her gesehen gar kein
Verbrecher, sondern der wahre Hohepriester und das wahre Opfer für die himmlische
Stiftshütte. Solche „Informationen“ über den irdischen Jesus sind viel zu schmal, um damit
einen historischen Jesus zu rekonstruieren.
Dafür braucht man schon die Evangelien. Diese berichten ausführlich vom Leben Jesu vor
seinem Tod. Doch auch hier gibt es keine einheitliche Perspektive, sondern deren vier. Jesus
ist der vollmächtige, jüdische Lehrer und Toraausleger, der sich in einem Akt der radikalen
Barmherzigkeit in den Tod gibt. So stellt ihn Matthäus dar. Jesus ist derjenige, der
verheimlicht, wer er ist, der aber den Menschen bis zum letzten, bis und mit dem Tod dient.
Das ist für Markus zentral. Seit der Schöpfung hat Gott seine Geschichte mit den Menschen
fortgesetzt. Durch die Sünde der Menschen wird die menschliche Geschichte zu einer
Unheilsgeschichte. Gott reagiert darauf mit einer Heilsgeschichte, die sich innerhalb der
Unheilsgeschichte ereignet und diese zuletzt besiegt. Jesus ist das Zentrum und der
Wendepunkt innerhalb dieser Heilsgeschichte. Durch ihn wird nun das Heil Gottes von Israel
hinaus zu allen Völkern gebracht. Dies gehört zum Beitrag des Evangelisten des
Lukasevangeliums. Der Evangelist Johannes bezeugt Jesus als denjenigen, der schon bei der
Schöpfung als Wort Gottes mitgewirkt hat, der Fleisch gewordene Sohn Gottes, der seinen
Vater am Kreuz verherrlicht und sich dabei als Opferlamm für die Sünde der Welt opfert.
Diese Multiperspektivität der Heiligen Schriften gewinnt einen unerschöpflichen
Facettenreichtum für jegliches Jesusbild, aber sie kann nicht ausschließen, dass in dieser
Vielfalt Widersprüche auftreten. Das war für Teile der Kirche schon sehr früh unbefriedigend.
Deshalb wurde im 2. Jahrhundert das Diatessaron als Evangelienvereinheitlichung geschaffen,
das Evangelium dia tessaron, das heißt durch vier. Doch diese Evangelienvereinheitlichung
hat sich nicht durchgesetzt. Meistens wurde dann eben „nach“ der Schrift das Jesusbild mit
einer dogmatischen Interpretation vereinheitlicht und so gegen Widersprüche geschützt. Doch
jede Vereinheitlichung ist immer auch eine Reduktion der Vielfalt.
Im 19. Jh. wollten führende liberale Neutestamentler das einheitliche dogmatische Jesusbild
dekonstruieren und den wahren ursprünglichen Jesus, der allen Bildern von ihm vorausgeht,
rekonstruieren. Dies ging in der Regel nicht nur auf Kosten von Jesus Christus als Sohn
Gottes – Sohn Gottes kann mit keiner historischen Methode nachgewiesen werden, weil
historische Methoden dafür nicht ausgelegt sind – sondern auch gegen Christus als Erlöser,
denn das historische Leben Jesu allein erlöst auch für die alte Kirche noch nicht, dafür braucht
es Kreuz und Auferstehung. Die Aufklärung trägt nun ihre Früchte. Der aufgeklärte Mensch
wollte von niemand abhängig sein und wollte sein Heil nicht einem anderen verdanken
müssen. Der Heiland wurde zum ethischen Vorbild reduziert. Denn das historische Leben
Jesu bietet dem modernen Menschen ein radikales Vorbild, das dieser frei wählen kann.
Zugleich wurde Jesus auch zum Vorbild des Glaubens. Denn es ging nicht mehr darum, an
Jesus als Christus zu glauben, sondern darum, wie Jesus an Gott zu glauben.
Viele Theologen fanden so bis am Anfang des 20. Jahrhunderts mit Hilfe der historischkritischen Methode viele historische Jesus“e“. Ich zitiere als Beispiel Paul Wernle, ein Basler
Neutestamentler: „Die Gottesglaube bildet den Hintergrund der neuen zentralen Botschaft
Jesu, nicht ihren Inhalt“1. Zum Inhalt aber schreibt er: „Wir erfassen sogleich den Kern der
Forderung Jesu, wenn wir ihre eigentümliche Fragestellung beachten. Es ist die Frage nach
dem rechten Weg zum Reich Gottes oder zum ewigen Leben“. Zusammenfassend hält Wernle
fest: „Und das ist das Letzte und Größte und Wunderbarste, wir sollen mitten im Kampf fest
in der Gottesliebe und Bruderliebe stehen und uns durch keine Hitze des Kampfes unsre
Gottesliebe und Bruderliebe rauben lassen. So heißt Jünger Jesu sein: es mit den wenigen
halten, die es ernst nehmen, die vielen suchen und für die Liebe gewinnen wollen, Kämpfer
sein und in allem Kampf in der Liebe bleiben.“ Das Zentrale an Jesus ist also nicht sein
Glaube, schon gar nicht der Glaube an ihn als Christus, sondern der Inhalt seiner Botschaft,
1
Paul Wernle, Jesus, Tübingen 2. Auflage 1916, 103. Der Ansatz von Wernle wird aber bereits von A.
Schweitzer besprochen.
welche radikal ethisch ist und zum Kampf für die Gottesliebe und Menschenliebe aufruft. 2
Für Wernle ist schon das Bekenntnis „Jesus ist der Christus“ der Beginn des Dogmatismus.
Daraus „wuchsen die ungeheuer langen und schweren Glaubensbekenntnisse hervor, die
später zum Merkzeichen des wahren Christentums erhoben wurden. Dahinter trat das Tun des
Willens Gottes, traten Liebe, Demut, Menschlichkeit zurück, bis oft zum gänzlichen
Vergessen. Es bildete sich die Verzerrung des Evangeliums, dass der ein Jünger Jesu sei, der
so und so von ihm denke, die und die Titel ihm gebe und ein Bekenntnis mit den Lippen
plappern könne, das nicht einmal geistig verstanden, verarbeitet, persönlich angeeignet
worden war. Der Eifer für den rechten Glauben aber führte in der Praxis zu einer
Unmenschlichkeit und Liebesarmut, an der das Christentum krankt bis zum heutigen Tag.“3
Markus wurde zum Leitevangelium, da es als kürzestes und schlichtestes nicht theologisch
überfrachtet sei (Markusschluss). Es galt als älteste und verlässlichste historische Quelle.
Anfangs des 20. Jahrhunderts gab es nun eine doppelte Zäsur. William Wrede veröffentlichte
ein Buch über das Messiasgeheimnis im Markusevangelium. In diesem Buch zeigte Wrede,
dass die Verhüllung der Messianität Jesu – Jesus sagt in diesem Evangelium nie, dass er der
Messias sei – und deren Enthüllung einem durchgehenden theologischen Programm
entspricht. Damit war das Mk-Evn als eher wertfreies, historisches Zeugnis verloren, da es
offensichtlich auch durch theologische Werte geleitet ist und nicht einfach historisch
berichten will. Damals glaubte die Gemeinschaft der Wissenschaftler noch daran, dass es eine
wertfreie Wissenschaft gibt und dass es tatsächlich objektive historische Berichte gibt.
Ungefähr zeitgleich veröffentlichte Albert Schweitzer seine „Geschichte der Leben Jesu
Forschung“ und zeigte mit diesem großen Werk, dass die historische Erforschung des Lebens
Jesu nicht zu dem historischen Jesus geführt hat, sondern zu unzähligen Jesusbildern.
Letztlich habe jeder Forscher sein eigenes Jesusbild entsprechend seinem ethischen Ideal mit
Hilfe der historischen Methoden rekonstruiert. Die Vielheit der historischen Jesusbilder zeigte
deren Relativität und somit die Unmöglichkeit, den historischen Jesus zu finden.
Ich zitiere aus den Schlussbetrachtungen Schweitzers: „Es ist der Leben-Jesu-Forschung
merkwürdig ergangen. Sie zog aus, um den historischen Jesus zu finden, und meinte, sie
könnte ihn dann, wie er ist, als Lehrer und Heiland in unsere Zeit hineinstellen. Sie löste die
Bande, mit denen er seit Jahrhunderten an den Felsen der Kirchenlehre gefesselt war, und
freute sich, als wieder Leben und Bewegung in die Gestalt kam und sie den historischen
Menschen Jesus auf sich zukommen sah. Aber er blieb nicht stehen, sondern ging an unserer
Zeit vorüber und kehrte in die seinige zurück. Das eben befremdete und erschreckte die
Theologie der letzten Jahrzehnte, dass sie ihn mit allem Deuteln und aller Gewalttat in unserer
Zeit nicht festhalten konnte, sondern ihn ziehen lassen musste. Er kehrte in die seine zurück
mit derselben Notwendigkeit, mit der das befreite Pendel sich in seine ursprüngliche Lage
zurückbewegt.4“
Schweitzer fährt fort: „Das historische Fundament des Christentums, wie es die
rationalistische, die liberale und die moderne Theologie aufgeführt haben, existiert nicht
mehr, was aber nicht heißen will, dass das Christentum deshalb sein historisches Fundament
verloren hat. Die Arbeit, welche die historische Theologie durchführen zu müssen glaubte,
und die sie in dem Augenblick, wo sie der Vollendung nahe ist, zusammenbrechen sieht, ist
nur die Backsteinumkleidung des wahren, unerschütterlichen, historischen Fundaments, das
von jeder geschichtlichen Erkenntnis und Rechtfertigung unabhängig ist, weil es eben da ist.
Jesus ist unserer Welt etwas, weil eine gewaltige geistige Strömung von ihm ausgegangen ist
2
3
4
Paul Wernle, 204.
Paul Wernle, 367.
Schweitzer, 632.
und auch unsere Zeit durchflutet. Diese Tatsache wird durch eine historische Erkenntnis
weder erschüttert noch gefestigt.“5
Dies war der Todesstoss für den „historischen“ Jesus. Allerdings zog sich sein Sterben noch
hin, und es brauchte das Trauma des ersten Weltkrieges um die alte Forschungsrichtung ad
acta zulegen.
Albert Schweitzer hat aber nicht nur kritisiert, sondern eine eigene Position vorgelegt. Sogar
wenn Jesus historisch rekonstruierbar wäre, würde das für den Glauben des modernen
Menschen kaum etwas bringen. Denn Jesus lebte, redete und handelte mit der Erwartung, dass
das Weltende unmittelbar bevorstünde. Deshalb können sein Leben und seine Ethik auch
nicht als unmittelbares Vorbild dienen, da seine Ethik von dieser Naherwartung der Parusie
geprägt sei, diese sich aber als historisch überholt erwiesen habe. Doch in der Begegnung mit
dem unbedingten ethischen Willen Jesu, der auf die sittliche Erneuerung der ganzen Welt
ausgerichtet war, kann der eigene Willen verändert und dem ethischen Willen Jesu
gleichgestaltet werden. „In Wirklichkeit vermag er für uns nicht eine Autorität der
Erkenntnis, sondern nur eine des Willens zu sein.“6 Schweitzer vertritt eine Willensmystik:
„Im letzten Grunde ist unser Verhältnis zu Jesus mystischer Art. … Eine Beziehung zu[r
Persönlichkeit Jesu] gewinnen wir erst, wenn wir in der Erkenntnis eines gemeinsamen
Wollens mit ihr zusammengeführt werden, eine Klärung, Bereicherung und Belebung unseres
Willens in dem ihrigen erfahren und uns selbst in ihr wieder finden.“7 Die Geschichte, die
Historie spielt dabei keine zentrale Rolle mehr. Diese Erkenntnis und diese mystische
Frömmigkeit des ethischen Willens haben dazu beigetragen, dass Schweitzer sein
theologisches Schaffen hinter sich ließ und als Arzt nach Lambarene ging, um dort
offensichtlich seinen eigenen ethischen Willen, der durch die Begegnung mit dem Willen Jesu
geprägt worden war, zu leben.
Wer am historischen Jesus gescheitert ist, kehrt zurück zum dogmatischen Jesus oder sucht
die mystische Jesusbegegnung oder nimmt einen neuen Anlauf, um doch noch zum
historischen Jesus zu kommen. Das zwanzigste Jahrhundert ist von diesen Möglichkeiten und
deren Kombinationen geprägt.
Das Trauma des ersten Weltkriegs verhalf der dialektischen Theologie unter der Führung von
Karl Barth immer mehr zum Durchbruch. Der bekannteste Neutestamentler dieser Epoche tritt
mit Rudolf Bultmann auf die Bühne. Für die dialektische Theologie ist Gott der ganz Andere,
der allem Menschlichen, besonders aller menschlichen Kultur radikal gegenüber steht und
sich nicht in diese einordnen lässt. Die historische Frage nach Jesus, nach dessen Einbettung
und Prägung durch die zeitgenössische Kultur wurde für diesen Glauben nicht nur überflüssig,
sondern kann an sich nicht zum Ziel führen. Der historische Jesus ist für Bultmann nicht der
Christus des Glaubens. Dieser ist der von der ersten Gemeinde nach Ostern verkündigte
Christus. Das Neue Testament sei nur an diesem Christus interessiert. Wenn es in den
Evangelien vom irdischen Jesus berichtet, ist auch dies nur insofern relevant, wenn sich darin
die nachösterliche Verkündigung spiegelt. Bultmann schreibt: „Für denjenigen, dessen
Interesse die Persönlichkeit Jesu ist, ist diese Sachlage bedrückend oder vernichtend; für
unseren Zweck ist sie nicht von wesentlicher Bedeutung. Denn der Komplex von Gedanken,
der in jener ältesten Schicht der Überlieferung vorliegt, ist der Gegenstand unserer
Darstellung. Er begegnet uns zunächst als ein Traditionsstück, das aus der Vergangenheit zu
uns gelangt ist, und in seiner Befragung suchen wir die Begegnung mit der Geschichte. Als
der Träger dieser Gedanken wird uns von der Überlieferung Jesus genannt; nach
5
6
7
Schweitzer, 632.
Schweitzer, 636.
Schweitzer, 641.
überwiegender Wahrscheinlichkeit war er es wirklich. Sollte es anders gewesen sein, so
ändert sich damit das, was in dieser Überlieferung gesagt ist, in keiner Weise.“8
Die Kirche soll nach Bultmann weder an den irdischen, noch an den historische Jesus, noch
an den Jesus Christus der Schriften oder des Dogmas glauben, sondern an den auferstandenen
Christus, wie er von der nachösterlichen Gemeinde verkündigt worden ist. Diesem Ansatz
war größter Erfolg beschieden, der bis heute nachwirkt. Mit dem Interesse an dem irdischen
Jesus verlor man auch das an Jesus als ethisches Vorbild. Solche Vorstellungen wurden sogar
bekämpft, schließlich kann nur der für den Glauben nicht relevante irdische, noch nicht
auferstandene Jesus ein solches Vorbild sein, der auferstandene Christus aber ist der Erlöser.
Dieser Kampf gegen die imitatio Christi hat sich sogar in der Revision der Lutherbibel von
1984 niedergeschlagen. So übersetzt die ältere Lutherbibel Phil 2,5 folgendermaßen: „Ein
jeglicher sei gesinnt, wie Jesus Christus auch war“. Die Revision von 1985 ändert und
entfernt sich vom griechischen Text: „Seid so unter euch gesinnt, wie es auch der
Gemeinschaft in Christus Jesus entspricht“. Der Aufruf, die Gesinnung von Jesus Christus
zum Vorbild zu nehmen, verschwindet durch diese Übersetzung.
Eine andere Schattenseite, die zuerst kaum bemerkbar ist, wird aber auf die Dauer umso
gravierender. Bultmann förderte einen Glauben an den Christus der Verkündigung auf Kosten
eines Glaubens an Jesus Christus. Was ist der Unterschied? Letzterer Glauben richtet sich an
eine Person, Bultmanns Glaube an ein Wort. Anders gesagt: Nicht wenn heute Jesus Christus
verkündigt wird, führt dies zum Glauben, sondern wenn die Verkündigung des Christus
verkündigt wird. Der Unterschied ist klein und doch groß. Der irdische, leiblich lebende, in
seiner Zeit stehende Jesus hat an sich keine Bedeutung. Eine solche Theologie negiert die
Bedeutung des Leibes. Der Leib und die Geschichte werden letztlich für den Glauben
irrelevant. Bultmann wirkt bis heute nach. In meinem Theologiestudium in den achtziger
Jahren habe ich bald gemerkt, dass man sehr wohl Christus sagt, dass aber Jesus irgendwie
anstößig ist. Ich habe das nicht verstanden, aber es war offensichtlich eine Nachwirkung
davon, dass der irdische Jesus nicht der Christus des Glaubens ist. Aufgrund des neuen
historischen Fragens ist heute wieder viel mehr von Jesus und seiner Jesusbewegung die
Rede.
Die Bultmannsche Position fördert die Leibfeindlichkeit der Theologie und verleiht ihr einen
doketischen Charakter. Christus wird von einer Person zu einem Prinzip, das geglaubt werden
soll.
Dies hat Käsemann als Schüler von Bultmann gesehen, und deshalb in den fünfziger Jahren
wieder angefangen, begrenzt nach dem historischen Jesus zu fragen. Barth hat darüber
gespottet.
Und wieder trat ein altes Problem der historischen Jesusforschung ans Licht, welches weiter
oben nicht genannt worden ist, aber selbstverständlich in der ersten Runde im 19. Jahrhundert
schlechte Früchte trug. Ich zitiere Käsemann: „Jesus hat mit einer unerhörten Souveränität am
Wortlaut der Tora und der Autorität des Mose vorübergehen können. Diese Souveränität
erschüttert nicht nur die Grundlagen des Spätjudentums und verursacht darum entscheidend
seinen Tod, sondern hebt darüber hinaus die Weltanschauung der Antike mit ihrer Antithese
von kultisch und profan ... aus den Angeln“ (Käsemann 1964, 208). Wer den historischen
Jesus erforschen wollte, negierte in der Regel das Judesein Jesus oder drängte es wenigstens
zurück. …
Diese so genannte zweite Runde der Frage nach dem historischen Jesus wurde durch die
Methoden des Tübinger Neutestamentlers Joachim Jeremias stark mitgeprägt. Wie kann man
wissen, ob ein Wort ganz sicher vom historischen Jesus stammt? Jeremias antwortete: Wenn
8
Rudolf Bultmann, Jesus, Tübingen 1983 (zuerst 1926), 14.
es sich weder vom Hellenismus noch vom Judentum herleiten lässt. Man nennt dies deshalb
das doppelte Differenzkriterium. Sein wichtigstes Ergebnis war, dass „Abba“, lieber Vater als
Anrede an Gott von Jesus selbst stammen muss, weil man so eine innige, vertraute
Gottesanrede nicht aus dem Judentum herleiten kann. (Vielleicht haben sie noch so eine
Predigt gehört: „Jesus befreit die Menschen aus der angstvollen Beziehung der Juden zu Gott
als einem strafenden Richter und lehrt sie Gott als liebenden und gnädigen Vater Abba
anzurufen.“)
Allerdings ist die Position von Jeremias höchst problematisch und latent antijudaistisch, denn
so kann nur das Nichtjüdische an Jesus zweifelsfrei historische sein.
Die dritte Runde der Frage nach dem historischen Jesus wurde im angelsächsischen Raum
ungefähr vor 30 Jahren eingeläutet und wird im deutschsprachigen Raum erst seit zehn,
fünfzehn Jahren verstärkt aufgenommen. In dieser Runde wird wieder versucht, den
historischen Jesus und sein Leben zu rekonstruieren. Verschiedene Gründe haben dazu
geführt. Erstens hat sich die angelsächsische Forschung von der deutschen Exegese
emanzipiert und überholt diese. Zweitens ermöglichten neue Methoden neue historische
Betrachtungen. Die Sozialgeschichte und Kulturanthropologie seien hier genannt. Zahlreiche
neue Erkenntnisse über das Judentum in der Zeit Jesu haben das Verständnis für das
historische Umfeld und die Einbettung Jesu in das zeitgenössische Judentum stark
vorangebracht. So wissen wir nun, dass es das Judentum, von dem sich Jesus irgendwie
abgrenzen konnte, nicht gab, sondern dass das Judentum durch eine große Gruppenbildung
geprägt war, von denen im Neuen Testament mit den Pharisäern, den Sadduzäern und den
Herodianern nur ein kleiner Teil erwähnt wird. Was Jesus auch immer sagte und tat, er war
damit nicht außerhalb des Judentums, sondern ist einer der Repräsentanten der jüdischen
Vielfalt in dieser Zeit. Die frühere Forschung fragte nach dem Gegensatz von Judentum und
Hellenismus. Heute wissen wir, dass auch das Judentum dieser Zeit ein Teil des Hellenismus
war. Die Kombination von jüdischen Gruppierungen und hellenistischen Prägungen eröffnet
ein großes Feld von Möglichkeiten, Jesus historisch einzuordnen. Einer der ersten Vertreter
der dritten Runde war Morton Smith. Er rekonstruierte Jesus als jüdischer Magier im
hellenistischen Umfeld.
Archäologische Funde haben die dritte Runde ebenfalls mehrfach beflügelt. Die Erforschung
der Ende der vierziger Jahren gefundenen Schriften von Qumran, die gezeigt haben, dass am
Toten Meer eine jüdische Gruppe gelebt hat, die ihren eigenen jüdischen Weg in starker
Abgrenzung zu anderen Gruppen gelebt hat, war hier sehr wichtig. Seit den achtziger Jahren
wird in Galiläa die Stadt Zepphoris ausgegraben. Zepphoris entspricht einer hellenistischrömischen Stadt. Sie wurde vom jüdischen Fürsten Herodes Antipas in der Jugendzeit von
Jesus aufgebaut. Von den Hügeln Nazareths hat man einen direkten Blick auf die nur vier
Kilometer entfernte Stadt. Ein römisches Theater aus dem ersten Jahrhundert wurde gefunden.
Es dauerte nicht lange, bis das erste Buch erschien, das behauptete, dass Josef und sein Sohn
Jesus an der Herstellung von Holzarbeiten für dieses Theater beteiligt gewesen sind. Später
konnte man das Theater auf das Ende des ersten Jahrhunderts datieren.
Die Funde aus dieser hellenistischen Stadt beflügelten die Fantasien, obwohl man Zepphoris
und Tiberias am See Genezareth, beides römisch angelegte Städte des Herodes Antipas, aus
den Schriften des Josephus kannte. Hat sich durch diese Städte ein Stadt-Landkonflikt
entwickelt? Haben die Steuereintreiber, die Zöllner auf dem Land erst recht „gewütet“, um
das Geld für die Städte abzuschöpfen? Weshalb berichten die Evangelien nicht davon, dass
Jesus eine hellenistische Stadt besucht habe, obwohl zwei von diesen direkt in seinem
Wirkungsbereich in Galiläa lagen? War Jesus gegen die Städte? Wirkte er als jüdischer
Prophet an der Wiederherstellung eines dörflichen Galiläas? Hat er nicht vor allem
Gleichnisse aus dem Bauernleben erzählt? Oder war er eher ein hellenistischer Kyniker und
damit von Diogenes geprägt, der verkündete, dass man sich überhaupt nicht um seine
körperlichen Bedürfnisse wie Nahrung, Kleidung und Dach über dem Kopf sorgen soll, wie
das die Gesellschaft in den Städten besonders tut? Oder war Jesus vielleicht doch eher ein
Städter? Schließlich ist sein Ziel Jerusalem. Jerusalem ist damals nicht nur die jüdischste
sondern auch die römischste Stadt des vorderen Orients! Solche und andere Theorien wurden
in Büchern entfaltet. Weitere archäologische Erkenntnisse zu Galiläa haben unterdessen
bereits vielen dieser Theorien den Boden unter den Füßen weggezogen.
In den USA haben sich Neutestamentler zum „Jesus-Seminar“ zusammengeschlossen. Mit
Hilfe eines demokratischen Abstimmungsverfahrens wollten sie festlegen, welche Worte ganz
sicher vom historischen Jesus sind. Sie konnten sich auf 18% einigen.
Ekkehard Stegemann, Neutestamentler in Basel und Wolfgang Stegemann, Neutestamentler
in Neuendettelsau werden im Herbst dieses Jahres ein umfassendes Buch zu diesem Thema
veröffentlichen. Sie kommen wiederum auf das Ergebnis von Albert Schweitzer. Der
historische Jesus wurde nicht gefunden, sondern viele solche wurden nach der
Idealvorstellung der jeweiligen Wissenschaftler konstruiert. Und doch gibt es auch
übergreifende Ergebnisse: Es wird heute nicht mehr bestritten, dass Jesus historisch als Teil
des Judentums verstanden werden muss.
Deshalb stellt sich heute die Frage wieder umso schärfer: Was wissen wir historisch über
Jesus? Die Antwort lautet: Wir wissen heute viel mehr über das historische Umfeld von Jesus
als noch vor dreißig Jahren. Doch wenn wir mit diesem Wissen den historischen Jesus
rekonstruieren wollen, dann zeigt der Forschungsüberblick, dass wir ihn nicht rekonstruieren
sondern konstruieren. Und es gibt heute wieder viele solcher Konstruktionen. Oder anders
formuliert: Das neue historische Wissen hilft, Jesus historisch besser zu begreifen. Wer aber
damit Jesus historisch ein für allemal greifen will, greift offensichtlich wie im neunzehnten
Jahrhundert wieder daneben. Nach wie vor gilt: Nur Annäherungen an den historischen Jesus
sind möglich, mehr nicht, sonst „geht er wieder vorüber und kehrt in seine Zeit zurück“.
Doch sind diese auch notwendig? Welche Relevanz hat die Frage nach dem historischen Jesus
für den christlichen Glauben?
Bevor ich diese Frage nochmals betrachte, möchte ich fragen: Welcher Jesus hat am Meisten
Relevanz für den christlichen Glauben? Welcher Jesus bleibt auch durch die Wirren der
menschlichen Erkenntniswege hindurch stets derselbe? Es ist der Jesus Christus der Heiligen
Schriften, des Kanons. Aspekte, Episoden, Worte, Gleichnisse und Lehrreden, Helles und
Dunkles über das Leben Jesu, aber auch über seinen Tod und seine Auferstehung berichten
die Evangelien. Vier verschiedene Zugänge, die doch eindeutig zu erkennen geben, dass es
sich um eine einzige Person Jesus Christus handelt, bieten die Evangelien und auch jeder
dieser Zugänge für sich öffnet je zahlreiche Perspektiven auf ihn. Es ist eine Vielfalt, die den
Glauben seit bald zweitausend Jahren schöpfen lässt, ohne dass der Reichtum dieser Quelle
geschmälert werden könnte. Diese neutestamentliche Vielfalt zur einen Person erwies sich als
Kraftquelle quer durch alle Jahrhunderte hindurch in den extremsten Situationen der
Menschheit. Doch diese Vielfalt lässt sich durch die Vernunft nicht auf einen Punkt bringen,
sie lässt sich nicht widerspruchsfrei systematisieren. Die Spannungen zwischen verschiedenen
Stellen im NT sind dafür zu groß. „ Zum Glück nicht“ muss die Antwort des Glaubens sein,
sonst hätten wir den systematisierten Jesus Christus im Griff (und nicht er uns in seiner
Hand). Der Jesus Christus der Heiligen Schriften ist eine spannungsvolle Person, und gerade
deshalb bietet diese Person auch Halt in den spannungsvollsten Lebenslagen. Von den
Schriften her ist es möglich, Jesus als Freund der Jungen, als Sieger und Held, als
Revolutionär und als Befreier zu interpretieren, insofern diese Interpretationen mit der Bibel
begründet werden können. Dies gilt in den „Extremsituationen“ des Konf-Unterrichts, im
Trauma nach dem ersten Weltkrieg, in den Erfahrungen der Befreiungstheologie. Gerade
deshalb müssen diese Jesusbilder sich aber auch von den Heiligen Schriften her befragen und
im Zweifelsfall widerlegen lassen.
Doch wozu der Jesus Christus des Dogmas? Jedes Dogma über Jesus Christus, jede
Glaubenslehre reduziert etwas von dieser Vielfalt der neutestamentlichen Schriften. So ist ein
Dogma immer auch gefährlich, weil es durch die Reduktion der Aspekte immer Wichtiges aus
dem Blickfeld verliert. Dennoch sind Dogmen in diesem allgemeinen Sinn für Kirche und
Glauben unverzichtbar. Denn Dogmen bringen komplexe Inhalte auf den Punkt und erlauben,
dass gleichgesinnte Menschen sich zu einer christlichen Gemeinschaft zusammenschließen.
Die Heiligen Schriften und die kirchlichen Dogmen zu Jesus Christus werden immer wieder
hervorheben, dass Jesus Christus als von einer Frau geborener Mensch der Sohn Gottes ist,
dass er der Messias Israels und aller Völker und der Retter und Erlöser der Menschheit ist.
Seit Paulus wird er immer als Gekreuzigter, Begrabener und Auferstandener im Zentrum des
Glaubens stehen. Doch auch der irdische Jesus in den Schriften bleibt eine stete Bereicherung
und Stärkung für den Glauben, weil mit den Geschichten des irdischen Jesus verkündet wird,
wie er mit konkreten Menschen umgegangen ist, wie er geheilt und gelehrt hat, wie seine
Worte bleibende Bedeutung, Zuspruch und Trost in sich bergen. Und darin taucht immer
wieder der Anspruch auf, den sein radikales irdisches Leben und Lehren auf das Leben der
Glaubenden hat, damals auf seine Nachfolger, und bis heute auf die Glaubenden und die
Kirche. Gerade der irdische Jesus ist bleibendes ethisches Vorbild für den Glauben hier in
dieser Welt. So rufen die biblischen Berichte über das Leben Jesu bis heute auch zur
Nachahmung auf, zur imitatio Christi.
Braucht es aber so noch die Frage nach einem historischen Jesus? Könnte diese Frage nicht
als Irrweg der Wissenschaft abgetan werden, gerade auch weil sie ja offensichtlich immer in
Rekonstruktionen einer Vielzahl unterschiedlicher Jesusbilder mündet? Ein Ja wäre
verlockend und dennoch falsch.
Denn es gibt einen theologischen Grund trotz allem nach dem historischen Jesus zu fragen. Im
Johannesevangelium heißt es programmatisch: „Und das Wort wurde Fleisch“. Das
fleischgewordene Wort ist Jesus Christus, der durch die Kirche seit ihrer Entstehung wieder
durch das Wort verkündet wird. Aber es ist eben nicht mehr nur die Verkündigung von
wirkmächtigen, weisen Worten, sondern von einem Wort, das selbst fleischgeworden ist und
durch die Auferstehung das Fleisch nicht „loswerden“ wollte.
Jesus Christus war ganz Mensch, leiblicher Mensch und hat als solcher gelebt und gewirkt.
Sein Vorbild ist nie ein schön geistiges Prinzip, sondern ein hart durchlittener Lebensweg.
Dort, wo wir Menschen wirklich herausgefordert sind, in unserem alltäglichen körperlich
gebundenen Leben, darin hat auch er gelebt und das Heil gewirkt und zwar nur dort. Sein
Leben und Sterben und seine Auferstehung ist in einer ganz bestimmten historischen
Situation, unter einmaligen historischen Bedingungen geschehen. All das ist unwiederholbar,
ein einmaliges Geschenk von Gott. Unser aller Leben findet ebenfalls unter einmaligen,
historischen Bedingungen statt und kann nur unter diesen gelebt werden, nicht in einem „wäre
es nicht besser, wenn …“. Sein ethisches Vorbild ist nicht als Prinzip über dem Leben,
sondern konkret im konkreten Leben gegeben worden, in aller sozialen und menschlichen
Bedingtheit. Und dort und gerade nur dort will es nachgeahmt werden.
Die Frage nach dem historischen Jesus fragt nach den historischen Umständen und
Bedingungen des Lebens Jesu. Ihre Resultate müssen immer sehr bedingt bleiben. Aber diese
Frage ermahnt dazu, dass christliche Leben in aller historischer Bedingtheit zu leben und dort
das unbedingte Heil Gottes in Jesus Christus zu verkünden.
Kontaktadresse: [email protected]
Herunterladen