Protokollbeispiele zu Teil 2 aus früheren Semestern

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Institut für Deutsch als Fremdsprachenphilologie der Universität Heidelberg Grundkurs Einführung in die
Literaturwissenschaft Teil 2 im Wintersemester 2001/02
Dozent: Dr. F. Heuer
Protokollantin: Malgorzata Stolarzewicz
Protokoll über die Sitzung vom 12.12.2001
1. Dramaturgie
Der Begriff Dramaturgie bezeichnet zwei verschiedene Dinge: zum einen die Instanz an jedem Theater, die für
die Wahl und die Einrichtung der Texte zuständig ist. Ein Dramaturg ist für die Bearbeitung eines dramatischen
Textes für die Inszenierung zuständig. Es wird darauf aufmerksam gemacht, dass man die Texte der Dramen
wie die Partituren der Opern betrachten kann. Die Texte der Dramen werden dargestellt, in Szene gesetzt oder
mindestens vor der Wahl für die Aufführung mit verteilten Rollen vorgelesen. weil sie immer auch in Klang
umgesetzt werden müssen. Auch hier begegnen – wie in der Verslehre besprochen (die Erfindung der Schrift als
Verlust für das Gedächtnis) - Probleme der Mnemotechnik (Gedächtnistechnik). Die menschliche Fähigkeit,
Texte auswendig zu behalten, hat seit langem nachgelassen. Der Schauspieler bleibt hier aber durch die
Notwendigkeit der szenischen Umsetzung des Textes, besonders herausgefordert. Aber auch für die
Vergleichung vieler zur Auswahl stehender Dramen mit Blick auf die Gesetze und Erfordernisse einer
Aufführung - wie ein Drama dargestellt werden soll, damit es die bestmögliche Wirkung hat - bedarf es der
Übung der Mnemotechnik.
Dramaturgie heißt zum andern das kritische Erfragen der Regeln der Poetik des Dramas, wenn uns
interessiert, was das Drama zum Kunstwerk macht und welche Art von Erfahrung ein solches Kunstwerk
erschließt. In Deutschland befasste sich mit diesem Thema Gotthold Ephraim Lessing, der 1767 am
neugegründeten Hamburgischen Deutschen Nationaltheater als Theaterkritiker tätig war. Aus seinen kritischen
Beiträgen entwickelte Lessing eine Theorie und Poetik des Dramas, die Hamburgische Dramaturgie.
Aristoteles lieferte mit seiner Poetik (de arte poetica), die etwa 100 Jahre später als die Tragödien von Aischylos,
Sophokles und Euripides vorgetragen und niedergeschrieben wurde, die erste philosophisch kritische
literaturwissenschaftliche Schrift. Die Frage nach der Kunst wird zu einem Problem der belehrenden Erkenntnis.
Wie sein Lehrer Platon stellt auch Aristoteles die Frage nach dem Verhältnis von Kunst und Erkenntnis und
nach der Möglichkeit der Rechtfertigung der Kunst vor der Erkenntnis. Doch auch ihn leitet zugleich eine
pragmatische Frage: was erwartet das Publikum und was sind die Maßstäbe, nach denen Tragödien beurteilt
werden können? Als Einstieg in die Analyse des Dramas, in die Frage nach den Baugesetzen des Dramas eignen
sich die Begriffe des Aristoteles nicht zuletzt deshalb, weil sie zugleich, ebenfalls mnemotechnisch, eine Stütze
bieten, im Vergleich der Abwandlung grundlegender Merkmale viele Texte im Gedächtnis bequemer zu
versammeln.
Die beiden Theaterstücke, die zu Beginn des zweiten Teils des Kurses bearbeitet werden, sind „Antigone“ von
Sophokles und „Medeia“ von Euripides. Beide entstanden in der zweiten Hälfte des 5. Jahrhunderts v. Chr. und
wurden in Athen uraufgeführt.
2) Das Theater und der Staat:
486 v. Ch. – beschloss die Ratversammlung in Athen, dass auch die Komödien staatlich gefördert werden, d.h.
die Aufführungen von Komödien wurden aus öffentlichen Geldern, durch Steuerpflicht, finanziert. Der
Seminarleiter macht darauf aufmerksam, wie athenische Dichter die Freiheit des Wortes genossen, da keine
Themen verboten werden durften. Einer der griechischen Komödiendichter Aristophanes, jünger als Aischylos,
Sophokles und Euripides, kann als ein Beispiel für diese Freiheit des Wortes betrachtet werden. Mitten in einem
existenzbedrohenden Krieg verfasste er eine Komödie über diesen ersten politischen Krieg. Seine Komödie
„Lysistrate“ (411 v. Ch.) spielt in dem zwischen Sparta und Athen geführten Krieg (431-404), und zwar ein
Krieg um die bessere politische Verfassung. Der komische Aspekt des Dramas besteht darin, dass die Frauen der
beiden miteinander kämpfenden Städte sich gegen ihre Männer verbünden und unter der Führung von Lysistrate
die Vereinbarung treffen, dass sie sich den ehelichen Pflichten so lange entziehen werden, bis der Krieg beendet
ist. Das Stück endet, anders als in der später katastrophal verlaufenden Geschichte, mit einem versöhnenden
Friedensschluss. Die Tatsache, dass eine solche Komödie während des Krieges ohne Bestrafung des Autors
wegen Wehrkraftzersetzung aufgeführt werden konnte, ist ein ewiges Zeugnis der in Athen lebendig
gewordenen demokratischen Freiheit zu betrachten.
3) Der erste politische Krieg in Europa als Thema für den Historiker Thukydides
Aischylos beschäftigte sich in seinen Tragödien auch mit historischen Personen und Ereignissen (Die Perser).
Seine Perspektive war jedoch die Perspektive des Künstlers, des Tragödiendichters. Thukydides war der erste
Geschichtsschriftsteller in Europa, der einen politischen Krieg beschrieb, den Peloponnesischen Krieg: Auf der
einen Seite, Sparta, kämpften Aristokraten. Die leitende Ideologie beschreibt später Platon in der Politeia (Der
Staat): Nur die haben das Recht, den Staat zu regieren, die sich als die besten und kundigsten zu einer
einheitlichen Gemeinschaft (Partei) miteinander verbinden. Auf der anderen Seite kämpfen die radikalen
Demokraten aus Athen: In einem Staat soll jeder, aktiv und passiv, die gleiche Stimme und das gleiche
Wahlrecht besitzen. Dieser erste politische Krieg zeigt also einen Konflikt, wie ihn auch das 20. Jahrhundert
noch beherrschte: die Diktatur eines Einparteien-Systems gegen eine offene Demokratie. Der Seminarleiter
verwies auf Alexis de Tocqueville, den späteren und einzig ebenbürtigen Franzosen, der nach der Französischen
Revolution »L’ancien régime et la révolution» (Das alte Regime und die Revolution) und „Die Demokratie in
Amerika“ verfasste.
4) Platon und Aristoteles als politische Denker
Der Ursprung des Rechts und der Ursprung der Gewalt sind different: Die Gewalt, mit der die Exekutive wie der
Henker verfährt, ist nicht die Quelle der Verfügung über das Recht. Der Richter, der ein Urteil fällt, ist
unabhängig in der Begrenzung der Anwendung der Gewalt, der Ausübung der Exekutive. Mit ihrer strengen
Trennung von exekutiver, legislativer und richterlicher Gewalt begründen die antiken Philosophen rechtlich
verfasste Staaten, deren politische Organisation nicht der Ausübung einer Religion wie der apostolischen
Weltreligionen untergeordnet sein konnte, aus denen sich also keine Theokratien (wie insbesondere im
Christentum und im Islam entwickelt) herausbilden konnten, wenn der einige Gott als einige Quelle von Recht
und Gewalt gedacht wird. Platons Gedanke einer philosophisch begründeten und verfassten Aristokratie warf das
strukturelle Problem der Trennung von politisch rechtsstaatlicher und religiös ideologischer Organisation aber
auch im antiken Denken als Streit um die bestmögliche Staatsverfassung auf. Und in diesen Streit hat Platon
auch die theoretisch-kritische Frage nach der Kunst, bzw. nach der Berechtigung der Kunst, d.h. einer Dichtung
im Sinne der Tragödie einbezogen.
Aristoteles fragt anders nach dem eigenen Ursprung und Wesen der Mimesis (später zu eng und aus verändertem
Verstehen übersetzt als imitatio, Nachahmung, von Martin Opitz als Nachäffung verdeutscht), was als eine
eigene Art der Bildung und Erschließung von Erfahrungsraum Spielraum des Erfahrens, geschaffen von
Architektur, Skulptur, Malerei, Tanz, Musik, Sprache und deren Zusammen auf der Bühne des Theaters
betrachtet werden sollte. So ist die Mimesis einer Handlung die Erkenntnis und Erschließung einer neuer Sicht
menschlichen Handelns. Infolge solcher Erkenntnis verändert sich die menschliche Betrachtung der Welt, d.h.
man sieht mehr und anders. Eine solche Erkenntnis macht dem Publikum Spaß und das Theater war und ist so
populär, weil die Tragödie die Mimesis einer Handlung in Werk setzt.
5) Hausaufgabe.
Arbeitsunterlagen Seite 35 -36
Heinrich von Kleist, Von der Überlegung. Eine Paradoxe, wurde vom Seminarleiter vorgelesen.
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GK: Einführung in die Literaturwissenschaft, Teil II
Dozent: Dr. F. Heuer
Protokoll der Sitzungen 19.12.01, 21.12.01 und 9.01.02
Protokollantinnen: Jovita und Judita Degutyte
In der Sitzung wurde zunächst über Kunst und Wissenschaft gesprochen. Beide, Kunst und Wissenschaft, finden
und erfinden, erschließen und beschreiben. Sobald die Wissenschaft selbständig neben die Kunst tritt, erhebt sich
die Frage, ob die Kunst neben den Wissenschaften einen singulären, von den Wissenschaften unabhängigen, also
nicht einholbaren Ursprung der Erschließung von Raum und Zeit der Erfahrenheit des Menschen in seinem
Menschsein beanspruchen kann. Philosophen wie Hegel und Platon bestreiten das; philosophische Denker wie
Heidegger, Nietzsche, Schiller und Aristoteles treten dafür ein. Die Wissenschaft von der Kunst, die
Kunsttheorie fragt im Sinne der letzteren dann nach der singulären Morphologie der Künste.
Die Wissenschaften, schon die ersten Grammatiker, bleiben immer an die Orientierung einer Enzyklopädie
gebunden. Auch wenn sich die einzelnen Disziplinen der Wissenschaften, wie heute jeder sieht, immer mehr
spezialisieren, miteinander versammeln sie den Umkreis alles Erkannten und zu Wissenden. Und ihr Ziel war
insofern auch von Beginn an schon, das im Erforschen und Erkennen Erworbene an die nächste Generation
weiterzugeben; das hält Wissenschaften zuletzt auch an den Universitäten zusammen und verbindet sie. Der erste
Systematiker der Wissenschaften ist Aristoteles. Aristoteles ist auch der erste, der nach der singulären
Morphologie der Kunst fragt, in der uns erhaltenen Schrift über die Dichtkunst, über die Poetik.
Die Zeugnisse der Dichtkunst, die poetischen Werke, aber erschließen und erinnern nicht nur Geschichte, sie
verlangen auch selbst der Bewahrung, in der Übung der Veranstaltung ihres Anwesens bis hin zur
Traditionspflege. Das wird in den wissenschaftlichen Disziplinen, die sich mit Sprache und Literatur
beschäftigen, in besonderer Weise zur Aufgabe. Zu pflegen ist das allen Völkern und Kulturen gemeinsame Erbe
dessen, was die Künstler in ihren Werken gezeigt und erschlossen haben auch im Sichern der Aufbewahrung
dieser Werke selbst. Das den Kunstwerken gemeinsame singuläre Erschließen von Wahrheit (griechisch: aletheia
im Sinne von Unverborgenheit) nennt die Poetik des Aristoteles Mimesis.
Begriffe der Poetik von Aristoteles (Weitere Erläuterungen zu dem den Arbeitsunterlagen anliegenden
Doppelblatt)
Mimesis: die Übersetzung von imitatio, Nachahmung, umfasst nicht im vollen Sinn, was künstlerische
Darstellung als Mimesis erschließt. Nachahmung (imitatio) lässt nicht verstehen, was, ursprünglich und
ausschließlich, nur die Kunst, hier als Dichtung, zu leisten vermag. Die mimesis praxeos ist als Kunst der
Tragödie, indem sie Handeln im sich ereignenden Vollzug des Handelns von Handelnden zum Vorschein bringt,
der Wahrheit (aletheia) näher als die Erforschung von Begebenheiten und Taten der Geschichte durch den
Historiker (eines der Empirie verpflichteten Wissenschaftlers) – so die ausdrückliche Erklärung der Poetik von
Aristoteles. Wenn, wie Aristoteles auch sagt, Mimesis als ein Erkennen Vergnügen bereitet, so leitet sie also ein
Erkennen dessen an, was Kunst erst als Kunst ans Licht bringt und ins Licht stellt.
Solches Denken bleibt der griechisch ursprünglichen Auffassung von Wahrheit als aletheia verpflichtet, auch
dort, wo Platon im 10. Buch der Politeia (Der Staat) den Dichter, neben dem Schaffen eines Handwerkers,
polemisch mit einem Gaukler vergleichen lässt: Der eine hat ein solides Vorwissen (Idee), von dem, was er zu
tun hat, wenn er einen Streitwagen baut, der andere macht es doch nicht besser als der Gaukler, der einen
Spiegel herumträgt und frech behauptet, „seht her, ich zeige euch, was ein Streitwagen ist“. Das polemische
Beispiel macht nur Sinn, wenn Wahrheit (als aletheia) aus dem Wissen um das Gelichtetsein des Anwesenden,
aus der ins Licht gestellten Unverborgenheit von Anwesendsein gedacht wird.
Spoudaion - ist eine solche Handlung, die den edlen Eifer für etwas Höheres, sehr Wichtiges erregt, für etwas,
das aller Aufmerksamkeit und Mühe wert ist, beispielsweise:
- Der Entschluss der Antigone ihren Bruder zu begraben, obwohl der Herrscher Kreon es gesetzlich verboten
hat.
Teleion - ist, nach der Zielorientiertheit, unter der das Dasein des Menschen als Menschen ein Endliches ist, eine
in sich abgeschlossene Handlung, die nichts offen lässt, sondern ein Ende endgültig macht, beispielsweise:
- an der Verschwörung auf dem Rütli nimmt Wilhelm Tell nicht teil. Er schwört mit den anderen nicht mit.
Aber sein Handeln, was ihm widerfährt und was er vollbringt, erschließt ein Endgültiges.
Katharsis - Reinigung der menschlichen Gemütserregung in Affekten wie phobos ( Furcht) und eleos (Mitleid)
im Bereich dessen, was die Mimesis in der Bewegung einer tragischen Handlung erschließt. Übersetzung und
Interpretation sind sehr umstritten. Goethe als Morphologe (wie Aristoteles) sieht gewiss richtig, dass die
Handelnden in und aus ihrem Handeln diese Gemütserregung selbst erfahren, dass deren Darstellung, die die
Zuschauer (und Leser) zur Anteilnahme herausfordert, also ebenso wenig wie die Katharsis aus der Berechnung
der möglichen Wirkung auf den Zuschauer begründet werden kann. Das Reinigende und Versöhnende lässt sich
auch von der im Tanz und der Musik begegnenden Mimesis her verstehen. Beide, Tanz und Musik, erweitern
und vertiefen die Empfänglichkeit der erfahrenen Erregung, und versöhnen zugleich, indem sie einen
gemeinsamen menschlichen Sinn im Einschwingen in gemeinsame Metrik und Rhythmik erschließen, den freien
Spielraum einer gemeinsamen menschlichen Sinnlichkeit mitteilend fühlbar machen.
Bauelemente der Tragödie:
Das Ganze einer in sich abgeschlossenen Handlung wird sichtbar an
Anfang.........................................Mitte...........................................................Ende
Analytisch definiert ist Anfang alles, was weder Mitte noch Ende ist. Mitte ist, was weder Anfang noch Ende ist.
Ende ist, was weder Anfang noch Mitte ist. Wer nach Veranschaulichung sucht, wird mit dem Blick auf die
Tragödie diese Definitionen so formulieren:
Anfang einer Handlung ist, was nicht mit Notwendigkeit aus anderem hervorgeht, aus dem selbst aber
notwendigerweise etwas erfolgen muss.
Mitte einer Handlung steht mit Notwendigkeit zwischen einem Vorausgehenden und dem zunächst Folgenden.
Ende einer Handlung ist, was selbst aus anderem folgt, mit Notwendigkeit oder in der Regel, ohne dass aus ihm
etwas weiteres mehr entsteht.
Ziehen wir aus der Kritik der reinen Vernunft von Kant den Grundsatz der Kausalität, einen Erkenntnis der
Natur als Erscheinung unter Verstandesgesetzen begründenden synthetischen Satz a priori heran: Alles was
geschieht, hat eine Ursache, nach der eine Regel folgt, dann erschiene das, was uns der Begriff „Anfang einer
Handlung“ oder Ende einer Handlung“ veranschaulichen soll, immer nur als „Mitte“. Wir müssen also darauf
achten, wie uns die Dichtung einen Begriff wie „Anfang einer Handlung“ dennoch evident zu machen vermag –
als eine Erfahrung, die unüberholbar und unhintergehbar zum Dasein des Menschen als Menschen, so wie es
sich für uns erschließt, dazu gehört.
Veranschaulichung des Begriffs Anfang an Beispielen:
Antigone muss ihren Bruder Polyneikes nicht begraben. Ihre Schwester Ismene entscheidet anders. Und auch der
Seher Teiresias, der Kreon zur Umkehr bewegt, äußert seinen Unwillen nicht dadurch, dass er Kreons Gesetz in
einem Akt öffentlicher Provokation missachtet und übertritt.
Medeia musste nicht in die verzweifelte Lage gebracht werden, in der auch der Chor der korinthischen Frauen
ihr gelobt, zu schweigen, wenn sie das Werk ihrer Rache beginnt, von der sie als Seherin und Enkelin des
Lichtgottes Helios nicht mehr zurücktreten könnte, auch, wenn sie weiß, dass sie ihre Kinder verlieren wird.
Hamlet: der Geist des ermordeten Vaters erscheint dem Sohn, dem, was ihm nicht mehr aus dem Kopf gehen
kann, unumkehrbar den Weg weist, den er nunmehr zugehen hat.
Seltsamer Zufall, dass ein Fräulein, Minna von Barnhelm, in das Land des siegreichen Feindes reist, um dort
einen Verlobten zu finden, der sich nicht mehr meldet und der zudem, in finanzieller Verlegenheit, gerade seinen
Ring verpfändet hat, dass sich dieses Fräulein in dem Gasthaus einmietet, dessen Wirt jenen Ring als Pfand
genommen hat.
In Wilhelm Tell geschieht der Anfang rettenden Handelns, und niemand merkt etwas. Baumgarten ist auf der
Flucht, muss gerettet werden. Niemand will es wagen, ihn über den stürmischen See zu bringen. Tell aber erklärt
spontan, dass dem wegen Totschlags eines Landvogts (eines Repräsentanten der Regierung) Flüchtenden
geholfen sein muss. Nicht nur die Umstehenden („Wann wird ein Retter kommen diesem Lande“) sind sich nicht
dessen bewusst, sondern auch Tell selbst merkt nicht („Dem Friedlichen gewährt man gern den Frieden“), was
mit einer solchen Rettungstat in Gang gesetzt worden ist.
In der Wildente von Henrik Ibsen beschließt ein alter reicher Mann, der Konsul Werle, sich aufs Neue zu
verheiraten, und zwar mit seiner Haushälterin, was in der Gesellschaft merkwürdig wirkt. Warum auch lädt er
seinen Sohn Gregers, der voller Misstrauen und Antipathie gegenüber seinem Vater fortgezogen ist, gerade jetzt
ein, um die neue Verbindung gesellschaftlich zu legitimieren? In einem explosiven Gemisch (race und milieu)
bereitet sich unter konfliktscheuen und bequemen Menschen so der moment für eine unheilvolle Reaktion vor:
ein Kind, Hedwig, die Hjalmar Ekdal untergeschobene Tochter des Konsuls Werle, verunglückt dabei auf
sinnlose Weise.
In dem Lehrstück Die Maßnahme ist das Entgültige schon geschehen. Die Wiederholung der entscheidenden
Begebenheiten vor einem Parteigericht soll demonstrieren, dass die Tötung des jungen Genossen unnötig
gewesen wäre, wenn dieser sich streng nach dem rationalen Plan einer Aufgabe hätte disziplinieren können,
anstatt sich von seinen Affekten, Mitleid und Ekel, überwältigen zu lassen. In seinem Lehrstück als einem
Beispiel für das Theater des wissenschaftlichen Zeitalters will Brecht zeigen, dass das Ende nicht
notwendigerweise aus dem Vorausgehenden folgt.
Offen bleibt, was den jungen Studenten Oswald in Eiszeit von Tankred Dorst dazu bewogen hat, ein Attentat auf
eine politische Symbolfigur – in dem Alten wird der Schriftsteller und Nobelpreisträger Kurt Hamsun gestaltet –,
zu dem er bei gegebenem Anlass nicht fähig war, nunmehr nachzuholen. Denn die Zeiten sind anders. Auch ist
der Alte jetzt fast taub und in einem Altersheim. In dessen Garten lernen beide sich kennen. Mit der
mitgebrachten Granate sprengt sich Oswald zuletzt sinnlos selbst in die Luft. Endgültig ist dieses Ende schon –
aber eine Verbindung mit dem Anfang zu einem sich für ein Verstehen erschließenden Ganzen stellt sich nicht
her.
Wesensbestandteile einer tragischen Handlung sind Pathos, Peripetie und Anagnorisis.
Pathos rückt die Bewegung des Handelns in den Schatten des herandrohenden Todes und stellt das Tun in die
Spannung zwischen Gelingen und endgültigem tödlichem Misslingen. Antigone beschließt Ihren Bruder zu
begraben, obwohl sie weiß, dass sie deswegen zum Tode verurteilt wird. Das rückt alle Bewegungen der
Handlung in den Schatten einer tödlichen Bedrohung. Hamlet erfährt diese plötzliche Verschattung des Lebens
aus dem Ekel vor der kurz nach dem Tod seines Vater gefeierten Wiedervermählung seiner Mutter mit dem
Bruder seines Vater und dessen nächtliche geisterhafte Erscheinung. Aber auch in einem Drama, dass Lessing
eine Komödie nennt, gerät Tellheims Selbstverständnis in eine tödlich gefährliche Krise, sichtbar wenn Minna
von Barnhelm vor dem plötzlich ausbrechenden Lachen des Menschenhasses erschrickt.
Peripetie- ist der Umschlag (die Wendung) der Handlung in ihr Gegenteil, entweder mit Notwendigkeit oder
Wahrscheinlichkeit ins Glück oder Unglück.
Kreon verändert sich durch den Widerstand, den er erfährt, in Furcht erregender Weise. Bei Sophokles (nicht
mehr bei den modernen Dramatikern Brecht und Anouilh) vermag er, wenn auch zu spät, sein Gesetz und sein
Wort zurückzunehmen.
Anagnorisis ist der Umschlag aus Unwissenheit (Agnoia) in das Vernehmen des Tuns, das vernehmende
Einholen des vorausgeeilten Wortes. Der Umschlag des Unvernehmens ins Vernehmen kann sich auf vielfache
Weise ereignen, etwa auch wenn sich zum Töten und Tod Bestimmte wie in der Iphigenie bei den Taurern von
Euripides (ebenso in Goethes Iphigenie auf Tauris) als Geschwister erkennen.
Diese Wesensbestandteile der tragischen Handlung müssen dynamisch verstanden werden. Sie machen das
Ganze der Handlung als Ganzes erst evident und verbinden Anfang und Ende miteinander. Ein schlechter
Dichter ist der, sagt Aristoteles, der die Tragik durch Bühneneffekte erreichen will. Der Blick in den
herandrohenden Tod verleiht einem Handlungsgeschehen Dynamik. „Tod auf offener Bühne“, wie Manfred
Fuhrmann Aristoteles falsch übersetzt und wie ihn die griechischen Tragiker auch gar nicht darstellen, wäre nur
ein Augenblick der Handlung, statisch, wie wenn man sich damit begnügte, Peripetie mit Wendepunkt zu
übersetzen.
Was ist dramatisch erscheinendes Handeln? Schiller spricht von Präcipitation. Man handelt zuerst, und erst
danach nimmt man wahr, was schon getan worden ist, und denkt darüber nach. Das handelnde Wort eilt dem
Vernehmen voraus. Heinrich von Kleist sagt in der Paradoxe „Von der Überlegung“, die in diesem
Zusammenhang ausführlich besprochen wurde: „Die Überlegung, wisse, findet ihren Zeitpunkt weit
schicklicher nach, als vor der Tat.“ Das handelnde und im Handeln neue Verbindung stiftende Wort kann,
einmal ausgesprochen – beispielsweise bei unfreiwilligen Liebesgeständnissen, wie sie die modernen Dichter
gern darstellen - nicht mehr zurückgenommen werden.
Aristoteles nennt drei Möglichkeiten, wie die Stellung von Peripetie und Anagnorisis zueinander verschiedene
Wege des Aufbaus und der Vollendung einer Handlung erschließen:
1) Das Tun vollendet sich in Unwissen. Das Tun und tritt nach der Vollendung ins Wissen. Das führt die
Handelnden ins Unglück, wie in der Antigone von Sophokles
2) Das Tun vollendet sich in vollem Wissen wie in der Medeia von Euripides. Auch dies führt ins Unglück.
Interessant ist aber gerade in diesem Typus, die Dynamik von Peripetie und Anagnorisis zu verfolgen. Denn
ohne das Verständnis für das auch von Kleist phänomenologisch plausibel erklärte eigentlich Dramatische
in dem, was die Dichter am menschlichen Handeln interessiert, lässt sich das Zusammenspiel aller
Wesensbestandteile in dieser Tragödie des Euripides nicht beschreiben.
3) Das Tun vollendet sich nicht in Unwissen, sondern tritt vor der Vollendung ins Wissen. Auch diese
Konstellation, obwohl wie in der Iphigenie bei den Taurern von Euripides oder Minna von Barnhelm von
Lessing oder Wilhelm Tell von Schiller nicht im Unheil endend, nennt Aristoteles nach griechischer
Vorstellungsart Tragödien – offenkundig, weil auch hier das Pathos Wesensbestandteil der Handlung ist.
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Protokoll der Sitzung vom 18.Januar
Protokollantin: Runan Wan
Zu Beginn der Sitzung wird ein Abschnitt aus dem 80.Stück der Hamburgischen Dramaturgie (1767-1768) von
Lessing vorgelesen: „Wozu die sauere Arbeit der dramatischen Form? wozu ein Theater erbauet, Männer und
Weiber verkleidet, Gedächtnisse gemartert, die ganze Stadt auf einen Platz geladen? ....“ Die rhetorischen Sätze
führen auf zwei Hauptgedanken von Lessings für die Poetik des Dramas grundlegenden Schrift, die bei dieser
Gelegenheit kurz vorgestellt wurde.
1. Was ist der spezifische Zweck der Tragödie? Lessing antwortet hier: Die Dramatische Form ist die einzige,
in der sich Mitleid und Frucht erregen lässt, um die Katharsis zu bewirken. Für Lessing ist bei dieser
Konzentration auf die Katharsis noch ein anderer Leitgedanke maßgeblich: Erziehung, Ausbildung der
Sensibilität und Emotionalität des Menschen durch die Kunst. 2. Die Deutschen müssen, um sich zu kulturell
mündigen Gemeinwesen zu emanzipieren, nach dem Vorbild der Griechen (wie der neueren Franzosen und
Engländer) ein eigenes Nationaltheater schaffen. Die Aufklärung versucht, durch das Theater ein literarisches
Publikum, gebildete Menschen und dann überhaupt eine aufgeklärte, politische mündige Gemeinschaft zu
erzeugen (verwiesen wurde auf die Erwartungen vom Theater in Goethes Roman Wilhelm Meisters Lehrjahre).
Lessing wird zu dem von einer Bürgerschaft aus Patriziern gestifteten deutschen Nationaltheater mit der
Aufgabe berufen, die Aufführungen mit regelmäßig erscheinenden Theaterkritiken (Rezensionen) zu begleiten.
Daraus entsteht die „Hamburgische Dramaturgie“. Vorausgegangen war für Lessing der Briefwechsel über das
Trauerspiel mit Mendelssohn und Nicolai.
Der älteste und wichtigste Zeuge für Lessings in der Form des Gedankenaustauschs über bemerkenswerte
Beobachtungen und Gesetzlichkeiten sowie der Erörterung im Ausgang von kritischen Beobachtungen zu
einzelnen Theaterstücken ausgehenden Entwicklung einer zeitgemäßen Poetik des Dramas ist Aristoteles. Wir
stellten uns hier auch wieder die Frage nach dem möglichen Gewinn, die vom Theater im antiken Athen
ausgehenden Analysen und Begriffsbildungen des Aristoteles für das Theater so entfernter Epochen
heranzuziehen. Denn zu offenkundig ist, wie sich das abendländische Theater mit abendländischen Menschen
gegenüber der Antike verändert hat und wie sich das Theater von der Zeit Shakespeares bis in unsere Tage noch
weiter veränderte.
Lessing will die aristotelische Poetik als Schule der Kritik nutzen. Wenn er Pierre Corneille angreift mit dem
Ziel, dessen Aristoteles-Interpretationen zu widerlegen, so geht es ihm dennoch nur um aktuelle Gesetze für das
Theater. Nicht die Berufung auf die Autorität des Aristoteles ist entscheidend, sondern es gilt, die Überlegungen
von Aristoteles im Zusammenhang der Frage nach den Regeln eines zeitgemäßen Theaters so zu kommentieren,
dass neben dem verbindlich bleibenden auch die Eigengesetzlichkeiten veränderter Zeitbedingungen sichtbar
werden.
Bei dieser Gelegenheit wurde nochmals auf die für den Wandel der geschichtlichen Epochen so eigentümliche
Verschiebung der Optik hingewiesen – auch der Aristoteleskenner Lessing übergeht beispielsweise, dass
Aristoteles ausdrücklich die Mimesis einer Handlung als Ursprung und als Ziel der Tragödie benennt, die
Katharsis als Eigenschaft einer solchen Handlung. Für Lessing ist aber ein anderer Leitgedanke maßgeblich,
wenn er nach dem Zweck der Tragödie fragt. Solcher Epochenwandel wird dort am deutlichsten sichtbar, wo ein
verändertes Verstehen unvermerkt bleibt, und dies ist umso erstaunlicher, wenn es selbst einem so souveränen
Aristoteleskenner wie Lessing begegnet. Zwei oft zitierte Gesetzmäßigkeiten werden als Beispiele für solchen
unvermerkt vollzogenen Wandel des Verstehen herausgezogen, zugleich um diese Gesetzmäßigkeiten bekannt
zu machen.
Die Tragödie erregt Affekte, Furcht und Mitleid, und bewirkt deren Katharsis (Reinigung). Lessing spricht von
der Reinigung der Leidenschaften und deren Verwandlung in tugendhafte Fertigkeiten. Die Affekte Furcht und
Mitleid beobachtet er in ihrem Zusammenwirken: die Furcht für den Helden ist auf uns selbst bezogenes Mitleid,
und das Mitleid ist auf uns selbst bezogene Furcht, so dass der im Affekt, in erregtem Gemütszustand
Mitleidende sich immer mit dem von seinen Leidenschaften fortgetriebenen Charakter, als Zuschauer mit dem
Menschen auf der Bühne, identifiziert. Mitleid durch Furcht und Furcht durch Mitleid gereinigt, das bewirkt also
auf den Zuschauer bezogen das rechte, das mittlere Maß der Affekte. Zu tugendhaftem Handeln gehört das
rechte Maß im Spiel der Affekte, keine Affektfreiheit, die zur Apathie führen müsste, zu einem Menschen, der
nirgends Anteil nimmt und nichts erreichen kann. In dieser Richtung denkt Lessing, wenn er sagt, der
mitleidigste Mensch ist der beste Mensch.
Aristoteles denkt aber in ganz anderer Richtung: Arche und Telos der Tragödie sind Darstellung einer Handlung.
Wesengrund ist, das Gründende und abgründige menschlichen Handelns ans Licht zu bringen, wenn sich das
Handeln von einem dem Menschen wesentlichen Ziel in Anspruch nehmen lässt. Furcht und Mitleid werden
durch das Handeln provoziert; phobos und eleos werden in den Stücken der griechischen Tragiker durch das
handelnde Wort herausgefordert. Dann ist das handelnde Wort sich selbst vorweg (Praecipitation), die Erregung
der Affekte Furcht und Mitleid findet der Zuschauer in der verschiedenen Bewegung der handelnden Figuren
und in den Reaktionen des Chores auf dem Theater vor sich dargestellt – von der Dynamik des Handelns soll der
Tragödiendichter ausgehen, beobachtet Aristoteles, nicht von den Charakteren.
Für die Lehre von den drei Einheiten beruft sich Pierre Corneille, wie Lessing gezeigt hat, zu Unrecht auf
Aristoteles. Aber man kann Lessing entgegenhalten, dass Corneille ein Theater vor sich hat, die moderne
Guckkastenbühne, die zumindest die bei Aristoteles gar nicht genannte Einheit des Ortes als Forderung an den
Theaterdichter plausibel macht.
Die Einheit der Zeit thematisiert Aristoteles in den Definitionen von Anfang, Mitte und Ende der Handlung und
dem, was durch die drei Wesensbestandteile der Handlung, Pathos, Peripetie und Anagnorisis als Anfang
unhintergehbar und als Ende unüberholbar wird, so dass die Einheit der Zeit in der Einheit der Handlung
gründet.
Ein wesentliches und durch Lessing verbindlich gewordenes Prinzip aller Kunstkritik ist, bei der Frage nach den
Regeln von den einzelnen Werken in deren Singularität auszugehen. Durch Singularität ragen die Werke des
Genies heraus. Was aber ist Genie? Zitiert wurde die Definition aus der Kritik der Urteilskraft von Kant: Genie
ist das Vermögen, durch das die Natur der Kunst die Regel gibt. Lessing sagt, das Genie liebt die Einfalt, der
Witz die Verwicklung. Wie das Genie erfindet Genie und die Motivation einer Handlung aus dem Charakter der
Handelnden entwickelt, zeigt Lessing am Beispiel seiner Kritik der Rodogune von Pierre Corneille
(Hamburgische Dramaturgie 29. bis 32. Stück). Natürlich ist die Motivation einer Handlung, wenn die Erregung
des Gemüts aus der Kausalität einer Leidenschaft entwickelt wird. Lessing geht, wie gesagt, nicht mehr von der
Handlung, sondern vom Charakter (Ethos) aus.
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Protokoll der Sitzung vom 23. 01. 2002
Protokollantin: Carlota Soto de la Cruz
Ansagen Lesung von Prof. Dr. Peter Michelsen, "Hermann und Dorothea", 29.01.02 um 18 Uhr, IDF SR 012.
Gastvortrag von Prof. Dr. Jutta Limbach: Schiller, "Verbrechen, Schuld, und Sühne im Spiegel seiner
Rechtsanschauung" , 29.01.2002, 19 Uhr, Hörsaal 13 der Neuen Universität.
Über epische und dramatische Dichtung
Im Gegensatz zu dem aristotelischen Theater will das epische Theater von Brecht den Abstand zwischen Bühne
und Zuschauerraum verringern. Der Zuschauer soll sich immer bewußt bleiben, daß nur Spiel ist, was er sieht; er
soll über Sinn und Zweck der gezeigten Vorgänge nachdenken. Außerdem verlangt die nichtaristotelische
Dramatik vom Zuschauer anstelle sich hingebender Einfühlung in die Figuren kritische Distanz, bewirkt durch
Verfremdungseffekte. Der Zuschauer soll eine nachdenkliche Haltung einnehmen, prüfen, wie das, was er sieht,
rationaler geschehen könnte, und aus der Einsicht in die Veränderbarkeit der Verhältnisse auch den Mut und den
Entschluß zur Weltveränderung fassen. Brecht nennt das demonstrierende Theater des wissenschaftlichen
Zeitalters ein epische Theater, weil er das Dramatische für schädlich hält; es befördere die Lust am Konsum von
Illusionen.
In Goethes und Schillers Aufsatz Über epische und dramatische Dichtung geht es um das Gemeinsame und das
Trennende beider literarischer Gattungen, damit Dichter und Publikum die Gattungsgesetze respektieren lernen.
Sie folgen hierin der Poetik des Aristoteles, die sie um die fehlenden Bestandteile ergänzen wollen. Wichtig ist
ihnen, Regeln zu finden, ob sich Stoffe und Motive besser für die epische oder mehr für die dramatische
Behandlungsart eignen. Der in den Arbeitsunterlagen abgedruckte Aufsatz wurde gelesen und kommentiert.
Was ist mit dem beiden Dichtarten gemeinsamen Gesetz der Einheit und der Entfaltung gemeint?
Unter Einheit ist offenkundig das in sich Abgeschlossensein eines Ganzen zu verstehen (Anfang, Mitte und Ende
in der Funktionalität der einzelnen Bestandteile); unter Entfaltung das, was nach der Wahl von Thema und
Motiven auf verschiedene Weise eine Ganzheit erschließt.
Das wurde im Anschluß an Goethes Definition der Novelle erprobt: Was ist die Novelle anders, erklärt Goethe
1827 in einem Gespräch mit Eckermann, als „eine sich ereignete unerhörte Begebenheit". Diese Definition lässt
an Aristoteles denken. Denn was der Novelle die in sich abgeschlossene Einheit und Ganzheit einer
selbständigen Gestalt verleiht, wird mit Blick auf den größeren Umfang der miteinander verbundenen
Gegebenheiten in einer dramatischen Handlung bestimmt: Mythos wird eine dramatische Handlung in der
Verknüpfung von Begebenheiten (systasis ton pragmaton) zu einer Einheit.
Hier soll eine einzige Begebenheit (pragma, event) diese Einheit stiften, was offenbar gelingt, indem ein so noch
nicht vorgekommenes Neues, etwas Unerhörtes sich dem Gedächtnis so schlagartig einprägt, dass die Faktizität
des Einmaligen zur Stiftung einer endgültig in sich abgeschlossenen Gestalt genügt. Von dieser auffälligen Art
des neu Ereigneten hat die Novelle (Diminutivform von italienisch novo = neu) ihren Namen. In Unverhofftes
Wiedersehen von Johann Peter Hebel wie in der Falkennovelle aus dem Decamerone von Giovanni Boccaccio
sehen wir die poetische Dynamik, die eine solche Kurzform zu einer eigenen und selbständigen Ganzheit macht,
am Werk, mit Pathos, einer auf einen Moment konzentrierten Peripetie und einer mit dieser verbundenen
Anagnorisis.
Goethes Definition leuchtet ein. Dennoch, eine allgemein verbindliche Definition der Novelle läßt sich wegen
der Wandlungen in Theorie und Praxis nicht geben. Häufig begegnende Formelemente kann man aufzählen, man
wird aber immer Novellen finden können, die sich ihnen nicht unterwerfen. Die Verwandtschaft der Novelle
zum Drama ist größer als die zum Roman – dies ist zum Beispiel eine die Überlegungen von Theodor Storm
herausfordernde Beobachtung. Solcher Wandel der Konzeptionen in der Verwendung von Schemata und
Begriffen verwirrt aber nur dann, wenn wir nicht festhalten, dass ein Beschreiben, das die Konturen der
Phänomene morphologisch verstehen will, von der Synchronie ausgehen muß. Geschichte aber bietet eine
Diachronie sich wandelnder oder auch nur sich ablösender Herausforderungen des Verstehens.
Geschichte als Wandel in der Zeit fordert unser Fragen gerade auch deshalb heraus, weil sich über Verlusten
und neu Entdecktem wie über den oft überraschenden Umgang mit Überliefertem nichts Verbindendes
entdecken lässt.
Gustav Freytag gibt Ende des 19. Jahrhunderts mit seinem von Wilhelm Dilthey besprochenen Buch Die Technik
des Dramas (Einleitung der Neuausgabe!) eben in der Zeit, in dem die von Aristoteles zuerst beschriebene
verbindlich gebliebene Grundform der Erfahrung des Dramatischen an ihr Ende gelangt, die umfangreichste
Ausarbeitung der auf Aristoteles zurückgehenden Poetik des Dramas. Und auch hier lässt sich der unmerkliche
Wandel des Verstehens erkennen, wenn man beispielweise Freytags ausführliche Behandlung der Expositionen
dramatischer Handlungen betrachtet. Nach dem, was Aristoteles über das Singuläre eines von einer dramatischen
Handlung vorgegebenen Anfang sagt, erkennen wir im anders gerichteten Fragen nach der Exposition jenes
wissenschaftliche Denken wieder, dem es insbesondere um die determinierenden Verhältnisse von Ursache und
Wirkung geht. So will es aber eine moderne, von positivistischer Soziologie und Psychologie inspirierte
wissenschaftliche Frage (J.S. Mill; H. Taine) nach der Geschichte, nach dem Menschen und nach der Funktion
der Kunst. In dem Essay von Emile Zola "Le roman experimental" ist diese experimentelle Haltung einer auf
Therapie des Menschen und der Gesellschaft sich verpflichtende Literatur umgesetzt. Hier beginnt die Epoche
des Naturalismus.
Schon Goethes Roman Die Wahlverwandtschaften (1809) spielt die Reaktion chemischer Verbindungen gegen
Trennung und Neubildung menschlicher Verbindungen aus – aber gerade in umgekehrter Richtung als
Bezeugung menschlicher Freiheit.
Für den Naturalisten sind alle Handlungen determiniert durch Zeit (race), Raum (milieu) und den kritischen
Punkt (moment), in dem eine Gemengelage explosiv miteinander reagiert. Das technische Denken der
Wissenschaften wendet sich mehr und mehr auf alle Bereiche der Welt des Menschen, auch auf den der Kunst,
deren Funktion wissenschaftlich analytisch betrachtet wird.
Zur Veranschaulichung wurde die Motivation des Handlungsablaufs in Schillers Wilhelm Tell mit der Motivation
des Geschehens in Die Wildente von Ibsen verglichen.
Über den Begriff Motive der Handlung gehen wir auf Goethes und Schiller Unterscheidung der Gesetze von
epischer und dramatischer Dichtung zurück. Zwei Motive sind hier besonders interessant:
Vorwärtsschreitende Motive befördern die Bewegung der Handlung auf deren Ende hin und sind typisch für
das Drama.
Rückwärtsschreitende Motive entfernen die Handlung von ihrem Ziel, wie im ersten Gesang der Ilias von
Homer, die mit Hektors Tod durch die Hand des Achill enden wird, wenn der beleidigte Achill den
Kriegsschauplatz verlässt, den Krieg bestreiken will und sich weinend an den Meeresstrand setzt.
Erzählzeit und erzählte Zeit
Diese Unterscheidung hat die neuere Poetik des Erzählens in ihrer strukturbildenden Kraft thematisiert
Erzählzeit ist die Zeit des Erzählens, die Zeit, die sich erschließt, wenn der Erzähler seinen Zuhörer oder Leser
zum Vortrag oder zur Beschäftigung mit dem Erzählten versammelt. Erzählzeit bezeichnet die Dauer des Lesens
oder Erzählens, die man, wenn man will, auch an der Uhr ablesen kann.
Erzählte Zeit erschließt sich als die Zeit aus der Verwirklichung der Handlung, bezeichnet als den Zeitumfang,
über den sich die erzählte Handlung erstreckt.
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Grundkurs: Einführung in die Literaturwissenschaft Teil 2
Protokoll der Sitzung vom 25.01.02
Dozent: Dr. F. Heuer
Protokollantin: M. Kärner
Thema: Poetik des Dramas und Poetik des Erzählens
Die Bedeutung des Wortes Poetik wurde von der Antike bis zur Aufklärung als Lehre von der Technik der
Dichtung verstanden, die in gewissen Sinne erlernbar sei. Aristoteles äußerte sich über die Tragödie sehr
ausführlich, über das Epos nur kurz. Für beides aber gilt nach der Poetik von Aristoteles: Dichtung erschließt
etwas, was die Wissenschaften nicht erschließen können. Sie erschließt Wahrheit (aletheia) des menschlichen
Handelns aus einem Aspekt, der dem methodischen Fragen der Wissenschaften, also auch dem Historiker
verborgen bleibt. Wissenschaften wie auch die Historie gehen Zeit messend (Zeit segmentierend) von der Zeit
aus; die Dichter gehen in beiden Dichtungsarten von der Handlung aus, die ihrerseits Zeit erst erschließt
(Gegenwart als vollkommene Gegenwart, Vergangenheit als vollkommene Vergangenheit, wie Goethe und
Schiller in ihrem Aufsatz Über epische und dramatische Dichtung erklären).
Seit dem „Sturm und Drang“ wird die Poetik nicht mehr als eine Lehre mit verbindlichen Regeln und
praktischen Anweisungen respektiert. Dabei gerät aber auch das, was man unter aristotelischer Poetik versteht,
ins Schwanken. Goethe und Schiller wollen mit ihrem Aufsatz der Auflösung der Gattungsregeln
entgegenwirken.
Die Meinungen über die Verbindlichkeit der Kunst schwanken seit Platon. In diesem Zusammenhang wird nach
dem Verhältnis von Kunst und Erkenntnis oder von Kunst und Wahrheit gefragt, wobei zu beachten ist, dass
auch der Begriff der Wahrheit selbst schwankend ist. Griechisch aletheia meint nicht das gleiche wie die in der
Scholastik gedachte adaequatio rei et intellectus, d.h. Wahrheit (veritas) als nachprüfbare Richtigkeit in der
Übereinstimmung einer Sache mit dem Begriff von ihr. Und das englische truth, im Deutschen in trauen,
Vertrauen vorhanden, weist wiederum auf einen anderen Sinn ursprünglichen Erfahrens als eben das deutsche
Wort Wahrheit.
Nietzsche sagte, dass die Kunst mehr wert sei als die Wahrheit.
Aber Nietzsche hat
anderes im Blick als Lessing, der an Aristoteles anknüpfend weiß, dass die Dichter etwas zu Tage bringen, das
sonst auf keine andere Weise erreicht werden könnte. Wenn sich Schiller in den beiden ersten Briefen Über die
ästhetische Erziehung des Menschen dafür rechtfertigt, dass er sich als Zeitbürger im Zeitalter der Französischen
Revolution mit der Kunst und dem Gesetz der Schönheit beschäftigt, schreibt er, zeigen zu wollen, dass der Weg
in die Freiheit über die Schönheit führt.
In der Renaissance wird die Poetik von Aristoteles wiederentdeckt. In neuem Wissen um die Stellung des
Theaters in der antiken Polis werden Theatergründungen in Verbindung mit der Bildung eines neuen
Bewusstseins politischer Repräsentation gesehen. Bis in unsere Zeit wird über Kunst und Poetik immer wieder
unter politischen Aspekten diskutiert. Man kann z.B. Thomas Mann, Brecht, Max Frisch, Dürrenmatt und auch
Tankred Dorst nicht verstehen, ohne den politischen Hintergrund des 20.Jahrhunderts zu kennen.
Theater wurde und wird verstanden als eine politische Institution. Und so ist es in der europäischen Geschichte
immer wieder Gegenstand scharfer kultureller Auseinandersetzungen gewesen. Aus den ersten nachchristlichen
Jahrhunderten kennt man mehrere Beispiele dafür, dass jemand nur dann getauft werden konnte, wenn er zuvor
dem Theater abgeschworen hatte. Mit der Ausbreitung des Christentums verschwand das Theater der Antike
zunächst.
Auch Wertschätzung, Rang und Popularität der verschiedenen literarischen Gattungen bleiben im Lauf der
Geschichte nicht gleich. Seit dem 19.Jahrhundert konkurriert der Roman mit dem Theater um den literarischen
Rang. Romane werden publikumswirksamer als das Theater. Das schlägt sich auch, von den Romantikern
inspiriert, in der erst in den letzten beiden Jahrhunderten zu voller Breite entwickelten Theorie des Erzählens
nieder. Heute konkurriert Literatur mit den neuen Medien Film und Fernsehen, und die verfilmte Literatur
fordert die Kritik zu neuen Fragen und Aufgaben heraus.
Nach diesen allgemeinen Orientierungen wurde das Thema wieder auf die Besprechung von Goethes und
Schillers Aufsatz Über epische und dramatische Dichtung gelenkt, ein klassischer Beitrag zur Poetik, der
offenkundig die in der aristotelischen Poetik nur unvollständig behandelte Poetik des Erzählens ergänzen will.
Das Prinzip von Roman und Tragödie ist das gleiche: beide stellen als Dichtungen Handlungen nach den Regeln
der Mimesis dar. Ein Epos ist umfangreicher als eine Tragödie; es kann viele Handlungen, auch solche, die
gleichzeitig stattfinden, miteinander verbinden und trotzdem überschaubar bleiben. Wie Goethe und Schiller
hatte auch Aristoteles Homer, die Ilias und die Odyssee vor sich – Schiller nennt bei Gelegenheit den
Prosaroman einen Halbbruder des Versepos (Halbbruder bezeichnet im Schwäbischen den Bastard, so wie
Halbdackel hier ein böseres Schimpfwort als Dackel ist).
Auch epische Dichtungen können von Begebenheiten erzählen, die phobos und eleos erregen. Aber in einer
Erzählung sind die Distanzen anders als in der Tragödie. Zwischen das Publikum (den Zuhörer oder Leser) und
die ereigneten Begebenheiten tritt hier ein Erzähler, der alles schon erfahren hat, der zu Beginn seines Erzählens
immer schon am Ende des erzählen Geschehens war.
Eine Tragödie ist dazu geschaffen, auf die Bühne zu kommen. Die Begebenheiten einer Erzählung kann man oft
gar nicht auf die Bühne bringen, was ganz deutlich wird, wenn der Erzähler seinen Stoff mit Kunstverstand
ausgewählt hat. „Unverhofftes Wiedersehen“ von Johann Peter Hebel ist nicht als ein Theaterstück darzustellen
und wohl auch kaum angemessen zu verfilmen.
Epiker und Dramatiker sind beide den allgemeinen poetischen Gesetzen verpflichtet, besonders dem Gesetz der
Einheit und der Entfaltung. Das wurde an den schon bekannten Strukturregeln veranschaulicht. (Es muss
Anfang, Mitte und Ende geben, wobei die einzelnen Teil so miteinander verknüpft werden müssen, dass das
Ganze leidet, wenn ein Teil weggelassen wird. Und zum Gesetz der Entfaltung: auch eine Erzählung ist ohne
Pathos, Peripetie und Anagnorisis nicht zu entwickeln. Auch dies lehrt schon die kurze Erzählung von Hebel).
In der Poetik der Erzählens unterscheidet man zwischen Erzählzeit und erzählter Zeit. Die besondere Art der
Zeiterschließung unterscheidet epische und dramatische Dichtung wesentlich und von Grund auf:
Der dramatische Dichter stellt die Zeit vollkommen gegenwärtig, der epische aber vollkommen vergangen dar.
Schon Homer macht in der Erzählung vom Empfang des Odysseus am Hof des Phäakenkönigs Alkinoos die
epische Dichtung und die Spielregeln für den Vortrag einer Erzählung selbst wiederum zum Thema des
Erzählens, und er lässt in seinem Epos, dessen Held Odysseus selbst wiederum als Erzähler, als Ich-Erzähler,
auftreten. Laurence Sterne zieht im 18. Jahrhundert in seinem Roman The Life & Opinions of Tristram Shandy
alle Register, wie sich ein Erzähler-Ich selbst zum Thema machen kann, bis hin zur Genese aller der
Merkwürdigkeiten, die es an sich vorfindet, im elterlichen Zeugungsakt – hier: dass die Mutter den Vater im
entscheidenden Augenblick gefragt habe, ob er denn auch die Uhr aufgezogen habe. Einen solchen
humoristischen Roman nennen die Engländer eine Shaggy Dog Story.
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Einführung in die Literaturwissenschaft, Teil II
Dozent: Dr. F. Heuer
Protokoll der Sitzung vom 30. 1. 2002
Protokollanten: Pablo Orellana, Daniela Janeva
Wir arbeiten als Literaturwissenschaftler morphologisch und historisch, achten also gegenüber der Abfolge
der Zeitalter auf die Verwandlung der die Werke der Literatur zur jeweiligen singulären Einheit
organisierenden Gestaltgesetze. Mit der Poetik von Aristoteles erscheint zum ersten Mal eine Literaturtheorie,
die morphologisch denkt (Das Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile). Die Poetik zeigt, dass Mimesis in
anderer, heterogener Weise Erfahrung erschließt (auch die Zeit selbst) als die von den möglichen Segmenten des
Messens ausgehende wissenschaftliche, prinzipiell experimentelle Forschung.
Es ist erstaunlich, wie sich seit dem Naturalismus auch die Dichtung in der Wahl ihrer Stoffe und Verfahren
von den Prinzipien wissenschaftlichen Arbeitens her verstehen will. Die Dichter des Naturalismus orientieren
sich dazu an dem im 19. Jahrhundert wissenschaftstheoretisch begründeten Positivismus: John Stuart Mill,
Hippolyte Taine. Claude Bernard gibt mit seinem Programm einer experimentellen Medizin die Anregungen und
Orientierungen für die richtungweisende literarische Programmschrift von Emile Zola: Le roman expérimentale.
Der Experimentator interessiert sich für speziell ausgewählte und definit bestimmte Bestandteile eines
Gemenges (auf Menschen übertragen: race), außerdem für die dynamischen Eigenschaften des Feldes, in das er
die zu beobachtende Menge eingrenzt (auf Menschen übertragen: milieu), und zuletzt für den kritischen Punkt,
in dem die versammelten Faktoren zu einer Reaktion gelangen oder gebracht werden können und in einen
anderen Zustand übergehen: moment. Auf die Literatur übertragen heißt das: Wie ein in moderner
experimenteller Medizin geschulter Arzt sollen Roman und Drama den Menschen unter den determinierenden
Bedingungen seiner Naturanlagen und seines gesellschaftlichen Umfelds zeigen – zeigen für eine
wissenschaftlich rational sensibilisierte Aufmerksamkeit, die wissenschaftlich experimentell in Konstellationen
berechenbarer Faktoren eingreifen kann. Hier setzt dann das Projekt eines Theaters des wissenschaftlichen
Zeitalters von Brecht an.
Der literarische Naturalismus stieß auf Widerstand, es entstanden antinaturalistische Strömungen. Aber auch
diese Gegenströmungen fühlten sich durch die experimentellen Verfahren des Artistischen, wie sie die
Umsetzung eines solchen Programms entwickelte, nicht nur herausgefordert, sondern auch beeinflusst. Zum
Studium empfohlen wurde hier: Peter Szondi: Theorie des modernen Dramas (ed. suhrkamp), ein Buch, dass zu
Einführung in die poetologischen Fragen der modernen Literatur ebenso grundlegend ist wie das früher genannte
von Hugo Friedrich: Die Struktur der modernen Lyrik.
Peter Szondi fragt, wie sich unter Menschen, die durch Vererbung (race) und Milieu determiniert sind, Konflikte
entstehen, die sich für dramatische Darstellung eignen. „Die Wildente“ von Ibsen wird als analytisches Drama
bezeichnet, aber die Charaktere, die wir vorfinden sind phlegmatisch und haben sich so mit ihren
Lebensverhältnissen arrangiert, dass sie daran nichts ändern und daher auch nicht erinnert werden wollen. Da
muss, wie Peter Szondi an den Theaterstücken der Naturalisten beobachtet, ein Katalysator, ein von außen
kommender neugieriger Beobachter oder ein überreizter Störenfried wie Gregers Werle hinzukommen, damit
etwas in Bewegung gerät. Was in der „Wildente“ zuletzt geschieht, der Tod der Hedwig, die mit dem, was
Gregers von ihr verlangt, ihr Lieblingstier zu erschießen, überfordert wird, ist ein Unglücksfall; er erschließt, wie
ein Arzt resümiert, kein Ethos, kein Erkennen und verändert nichts.
Dürrenmatt wirft in seinen dramaturgischen Schriften (Auszug in Arbeitsunterlagen: S.38) Brecht vor, sein
Theatermodell sei darauf angelegt, zu zeigen, „wie man Problemen lösen kann“ Dürrenmatt setzt dagegen:
„Wenn ich als Dramatiker Geschichten zu ende denke, kann ich Probleme zeigen, aber lösen muss ich sie nicht“.
Mit der grotesken Komödie „Die Physiker“ gibt Dürrenmatt mit einem Drama, einer zu ende gedachten
Geschichte, ein Beispiel dafür, wie ausschließlich problemorientierte scheitern.
Als Beispiel für die im Sinne einer wissenschaftlichen Theorie verfassten Lehrstücke von Brecht wird „Die
Maßnahme“ besprochen. Das Theaterstück zeigt ein warnendes und die Akteure wie die Zuschauer
disziplinierendes Beispiel, wie man nicht handeln soll. Es demonstriert das Ende einer missglückten
Problemlösung. Dem jungen Genossen misslingt es, in unbedingtem Gehorsam gegenüber den
„wissenschaftlichen“ Lehren des Klassenkampfs seine Affekte zu unterdrücken und sein Leben für die
kommunistische Agitation zu erhalten. Brecht will also durch sein Theater der Verfremdung, durch
Verfremdungseffekte (V-Effekte) die Identifikation mit Leidenden und im Sinne der Schaffung einer besseren
Welt falsch Handelnden verhindern. In dem jungen Genossen zeigt er jemanden, der seine Affekte nicht unter
die Kontrolle des steuernden Bewusstseins bringen kann. Der junge Genosse macht der 3 Fehler Zuerst kann er
sein spontanes philanthropisches Mitleid nicht unterdrücken. Dann treibt in sein spontan aufsteigender Ekel
davon, wenn er mit einem Kaufmann einen für die Revolution nötigen Waffenkauf tätigen kann. Zuletzt
gefährdet er die Arbeit der Agitatoren, indem er im Affekt einen Polizisten niederschlägt, so dass die Agitatoren
insgesamt in Gefahr geraten, identifiziert zu werden. er nach allen diesen Fehler sterben sollte, da er zu
gefährlich für die Partei war. Dieses Werk ist für die Kritiker als die authentische Tragödie des 20. Jahrhunderts,
da hier wir Pathos, Peripetie und Anagnorisis finden.
In ihrem Aufsatz Über epische und dramatische Dichtung unterscheiden Goethe und Schiller fünferlei Arten
von Motiven: vorwärtsscheitende, rückwärtsschreitende, vorgreifende, zurückgreifende und retardierende.
Was heißt Motiv? - Motiv kommt von lateinisch movere = bewegen, bedeutet also ein Bewegung schaffendes
und in verschiedene Richtung lenkendes und entfaltendes, dynamisch geladenes Element. Was wir in der Musik
seit Carl Maria von Weber (Der Freischütz) und Richard Wagner und dann auch in der Literatur als Leitmotiv
verstehen, ist dagegen statisch, ein wenn auch variierbares, aber in der Struktur fester Bestandteil, der in
bestimmten Situationen einer sich fortbewegenden Handlung das Verstehen dirigierend eintritt.
Die vorgreifenden, zurückgreifenden und retardierenden Motive verwenden sowohl der epische wie der
dramatische Dichter. Alkinoos rüstet für die Heimkehr des Odysseus ein Schiff und lässt die Gastgeschenke
zusammentragen – die Vision des sterbenden Freiherrn von Attinghausen verheißt den glücklichen Ausgang des
dramatischen Geschehens. In beiden Fällen handelt es sich um ein vorgreifendes Motiv. Vorwärtsscheitende
und rückwärtsschreitende Motive aber bestimmen die Bewegungsrichtung in dem darzustellenden Geschehen.
Vom Tod Hektors, des stärksten Beschützers von Troja, will die Ilias erzählen; Achill aber, der Hektor töten
wird, lässt Homer im ersten Gesang seines Epos weinend und mit dem festen Vorsatz, den Krieg zu bestreiken,
vom Kriegsschauplatz gehen. Das Motiv entfernt also die Handlung von ihrem Ende, ist rückwärtsschreitend.
Solche Motive sind wenig geeignet für den Dramendichter, der vorwärtsschreitende Motive braucht: Antigone
wird entgegen dem Gesetz Polyneikes, koste es, was es wolle, begraben.
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Grundkurs: Einführung in die Literaturwissenschaft - Teil II
Dozent : Dr. F. Heuer
Protokoll der Sitzung vom 01.02.02
Protokollantin: Ngo Kim Anh
1. Am Anfang der Sitzung wurden die Argumente erörtert, die den Umgang mit den Begriffen epische und
dramatische Dichtung, mit denen Aristoteles, Goethe und Schiller die literarischen Gattungen streng
voneinander abgrenzen, in der modernen Literatur wieder schwierig und zweideutig machen, wenn Brecht sein
Theater ein „episches Theater“ nennt und das Erzählen sich von Techniken der filmischen Aufzeichnung
anregen lässt.
2. Mit dem Ende des 19. Jahrhunderts beginnen und entwickeln sich die heute diskutierten Konzeptionen der
Erzähltheorie und deren Begriffe. Wenn Goethe und Schiller epische und dramatische Dichtung voneinander
abgrenzen, so leiten sie gewissermaßen die Gesetze von der Natur des Menschen ab. Nur die Kunst kann den
Menschen als Menschen zeigen und betrachten. Die epische Dichtung zeigt, wie sich Zeit als vollkommen
vergangen erschließt, dramatische Dichtung erschließt Zeit als vollkommen gegenwärtig. Solche
Formulierungen sprechen aus klassischem morphologischem Denken. Das Zeitverständnis des Naturalismus
orientiert sich aber an der Zeitmessung der Naturwissenschaften, sieht auf die an der Uhr abzulesende Zeit. Das
hat Folgen für die in der Theorie des Erzählens entwickelte und zur Beobachtung der Erzähltechniken sehr
anregende Unterscheidung von Erzählzeit und erzählter Zeit.
Wird beobachtet, wie sich beide zueinander verhalten, so lassen sich die verschiedenen Erzählweisen deutlich
voneinander abgrenzen.
Hält sich der Erzähler genau an den zeitlichen Ablauf des Geschehens, folgt er ausschließlich dem Gang der
Ereignisse in der erzählten Zeit, dann wird sein Erzählen zum Bericht. Ein Bericht kann die Zeit raffen oder er
kann sie dehnen, wie die Zeitlupe beim Filmen – er braucht dann, auch wenn er nur berichtet, zum Erzählen
mehr Zeit als der erzählte Vorgang für sich selbst in Anspruch nimmt.
Der Erzähler hat aber, da er sich in einer eigenen Zeit, eben der Erzählzeit, und in einem eigenen Raum, dem
Erzählraum, den er mit seinem Zuhörer oder Leser teilt, bewegt, auch die Möglichkeit, im Raum der erzählten
Begebenheiten anzuhalten, sich umzusehen und das, was er sieht, für seinen Leser oder Zuhörer zu beschreiben.
Auch die Beschreibung gehört zu den Erzählweisen, die besonderer Beobachtung wert sind.
Nun findet sich aber auch, dass ein Erzähler wie ein Zuschauer im Theater so fasziniert wird, dass er
gewissermaßen atemlos die Dramatik im Ablauf des Geschehens verfolgt. Dann geht der Bericht in größter Nähe
zu den sich ereignenden Begebenheiten in szenische Darstellung über.
Geschieht dieses Fasziniertwerden als Innehalten vor dem, was sich dem Anschauen darbietet, dann wird die
Beschreibung zum Bild, das den Erzähler herausfordert, im Raum des Bildes anschauend zu verweilen. In
Goethes Roman „Die Wahlverwandtschaften“ gibt das Tableau mit der von Ottilie dargestellten Maria mit dem
Jesusknaben ein Beispiel.
Der Erzähler kann jedoch auch Zeit und Raum der erzählten Begebenheit ganz verlassen und sich direkt dem
Leser zuwenden, entweder in einem Gespräch mit dem Leser, einer Erörterung, oder indem er dem Leser
Material zu der erzählten Geschichte übergibt, Tagebücher, Briefe und alle Art von Dokumenten als
Informationsmaterial.
Interessant sind neben den Dialogen, die ein Erzähler natürlich auch wiedergeben kann, die Gespräche, in denen
der Erzähler alles, was er mit dem Leser direkt verhandeln kann, auch wieder in die Erzählung hineinzuverlegen
weiß.
3. Aus dem Gesagten ergibt sich: Die Erzählweisen machen aufmerksam auf verschiedene mögliche Rollen, in
denen der Autor seinen Erzähler auftreten lassen kann, mit je verschiedenen Möglichkeiten, die dem Erzähler in
diesen Rollen, als auktorialer Erzähler oder als personaler Erzähler oder als Ich-Erzähler zur Verfügung
stehen.
Welche Rolle aber auch gewählt wird, Rollenwechsel bleiben eingeschlossen, so wie schon Homer als Erzähler
bei dem Fest am Hof des Alkinoos einen anderen Erzähler, Demodokos, und schließlich Odysseus selbst als IchErzähler auftreten lässt.
Und welche Rolle auch gewählt wird, Zeit und Raum des Erzählens erlauben alle Möglichkeiten von Abstand
und Nähe zur Zeit- und Raumerfahrung im Bereich des Erzählten.
In „Kleider machen Leute“ von Gottfried Keller oder in „Die Wahlverwandtschaften“ von Goethe ist der
Standpunkt des Erzählens ein external view point, beinahe ein weit über die erzählte Welt erhobener olympian
view point. Fast immer ist sichtbar, dass das Geschehene zurückliegt: vision par derrière.
Aber in Kleists Novelle „Das Bettelweib von Locarno“ zwingt uns der Erzähler, der sich eingangs und am Ende
als auktorialer Erzähler vorstellt und verabschiedet, beim Verfolgen der unheimlichen Erscheinungen dem
Zeitablauf gebannt zu folgen: vision avec. Aber diese Zeitwahrnehmung verbindet sich keineswegs mit einem
internal view point, da die Empfänglichkeit, die Sensibilität der beteiligten Figuren für das, was vorgeht, ganz
verschlossen bleibt.
Den internal point of view wählt aber ganz zweifellos der personale Erzähler in Kafkas Erzählung “Ein
Hungerkünstler” und der Erzähler in dem Roman „Die Grenze“ von Gottfried Meinhold.
4. Eine Steigerung des internal point of view ins Extrem bildet das moderne Erzählen in der Technik aus, die
als innerer Monolog und stream of consciousness beschrieben wird. Die Erzählung „Leutnant Gustl“ (1900)
von Arthur Schnitzler gibt ein erstes konsequentes Beispiel für diese stream of consciousness-Technik. Der
Held, mit Kant möchte man formulieren, ein so vielfärbiges Selbst wie die Vorstellungen in ihm wechseln, wird
nur als ein Bündel von Dummheit, vagabundierenden trivialen Wünschen, Angst und Aggression durch die
Leutnantsuniform zusammengehalten. Nur das Vorbeiziehen der Kette von Assoziationen, die der Wechsel der
Erregungen in dem Gefäß, als das er in seiner Uniform steckt, ist als Fallstudie von Interesse und auf keine
andere Weise erzählbar. Was diesem Leutnant an Satzgebilden durch den Kopf zieht, wird man kaum noch als
innerer Monolog beschreiben können, aber auch nur bedingt als stream of consciousness, weil die Einheit
eines Bewusstseins sich hier gar nicht mehr zu versammeln weiß.
5. Was ist der Unterschied zwischen einem auktorialen und einem personalen Erzähler ?
Der personale Erzähler verzichtet auf alle Einmengungen in die Erzählung. Er ist so tief in dem erzählten
Geschehen versunken und versenkt sich so intensiv in das Gegenwärtigsein der Charaktere in deren erzählter
Welt, dass seine Anwesenheit dem Leser nicht mehr bewusst wird. Er verschafft dem Leser die Illusion, sich mit
der Hauptperson durch das Geschehen zu bewegen, mit ihr wahrzunehmen, zu empfinden, zu verstehen und zu
überlegen. Er stellt die Illusion einer Unmittelbarkeit von Dabeisein her, hinter der das Vermittelnde seines
Erzählens ganz zurücktritt. In der Erzählung „Ein Hungerkünstler“ von Franz Kafka befindet sich der Erzähler
selbst auf dem Schauplatz des Geschehens und betrachtet die dargestellte Welt mit den Augen einer Erzählfigur,
die jedoch nicht selbst erzählt, sondern in deren Bewusstsein sich das Geschehen gleichsam spiegelt.
auktorialer Erzähler: Der auktoriale Erzähler ist eine eigenständige Gestalt, die sich, vom Autor geschaffen,
dem Leser gegenüber kundgibt. Der auktoriale Erzähler gibt zu verstehen, dass er mehr wahrnimmt, übersieht
und weiß als die in das Geschehen einbezogenen Figuren. Er mengt sich also mit Beobachtungen und
Kommentaren ein, wendet sich auch direkt mit Kommentaren an den Leser oder liefert ihm etwa Dokumente,
über deren Zusammenhang mit dem Geschehen, beispielsweise zu Beurteilung von Personen, Verhaltensweisen
oder Schicksalen sich der Leser selbst Gedanken machen soll. Er sorgt dafür, dass der Leser nicht vergisst, dass
das Erzählen ein eigenes Vollbringen ist, eine eigene Zeit (Erzählzeit) und einen eigenen Raum (Erzählerdistanz)
schafft und dimensioniert. Goethe, Gottfried Keller, Thomas Mann, aber auch Kleist sind Vertreter solcher
Erzählformen.
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Grundkurs: Einführung in die Literaturwissenschaft, Teil 2, WS. 01/02
Dozent: Dr. F. Heuer
Protokollantinnen: Alona Schnira und Sunny Parrott
Sitzungsprotokoll vom 06.02.2002
Dr. Heuer hat wieder darauf hingewiesen, dass wir das Arbeitsblatt mit den Aufzeichnungen zu Strukturen und
Begriffen der Erzählkunst (view point-Theorie, typische Erzählformen nach Franz Stanzel) aufmerksam
durchlesen sollen.
Das Thema der Sitzung ist Erzählsituation und Erzählweisen.
Es wurde auch kurz noch einmal über Kunst und Erkenntnis gesprochen. Nur die Kunst kann Zeit als Gegenwart
und als Vergangenheit vollkommen erschließen. Welche Art von Dichtung stellt die Zeit als vollkommen
gegenwärtig, und welche als vollkommen vergangen dar? Die Zeitraum der poetischen Darstellung ist für den
dramatischen Dichter die vollkommene Gegenwart und für den epischen Dichter die vollkommene
Vergangenheit.
Lessing vergleicht in Laokoon die Dichtung mit Malerei und bildender Kunst. Hier geht auch er von der Zeit und,
offenbar durch den Zwang der Phänomene selbst, von der durch die poetische Mimesis von Handlung sich
erschließenden Zeit aus. Die bildenden Künstler, die die Dynamik einer sich von einem Anfang bis zu einem Ende
bewegenden Handlung nicht in den einzelnen Momenten des sich Ereignenden sukzessiv festhalten können,
wählen nur den prägnantesten Augenblick eines Ganzen aus. Sie halten denjenigen Moment fest, der
vorausblickend und zurückblickend mit dem Ganzen eines sich erschließenden Daseins von Geschehen schwanger
geht. Wer gezielt eine Folge von Affekten erregen kann, so wie der eine Zeit als Folge von Augenblicken
darstellende Dichter, kann gespannt der Präcipitation (dem Sturz) der Handlung folgen oder einem sich
entwickelnden Charakter (Lessing als Dramendichter).
Die Empfänglichkeit für das Gesetzmäßige poetischer Mimesis wird offenkundig zunächst auf die Gesetze und
Grenzen der sich erschließenden Zeit gelenkt, in dem Raum und Spielraum Lichtenden menschlichen Handelns
(Ethos im Sinne der Poetik von Aristoteles). Hier bewegt sich Lessing, wenn er nach den Grenzen der Dichtkunst
und der bildenden Kunst und Malerei fragt.
Typische Erzählsituationen: auktorialer Erzähler
Der Kursleiter hat den von Stanzel gebildeten Begriff auktorialer Erzähler erklärt. Der auktoriale Erzähler kann
die Souveränität der Situation seines Erzählens voll ausschöpfen. Er gibt sich in seinem Tun sowohl dem, was er
zu erzählen hat, wie seinem Leser gegenüber, frei und überlegen. Er gibt zu erkennen, dass er immer schon das
Ende der Geschichte erfahren hat: es liegt hinter ihm zurück (vision par derrière). Er gibt zu verstehen, dass er
von einem Standpunkt außerhalb des Geschehens die Sache vor sich hat (external view point). Dieser auktoriale
Erzähler ist eine eigenständige Gestalt, die vom Autor geschaffen worden ist, wie die Charaktere des Romans.
Gewinnt dieser Erzähler eine Übersicht wie ein Gott über alles, was Menschen begegnen kann, so überschaut er
alle Zeit und alle Räume. Das wird olympian view point genannt. Der Erzähler weiß dann auch Dinge, die der
Zuhörer oder Leser nicht wissen kann oder nicht wissen soll, etwa aus Schonung oder Diskretion.
Der auktoriale Erzähler nimmt als Mittelsmann der Geschichte einen Platz an der Schwelle zwischen der fiktiven
Welt des Romans und der Wirklichkeit des Autors und des Lesers ein. Die entsprechende Grundform des
Erzählens der auktorialen Erzählsituation ist die berichtende Erzählweise.
Bei der auktorialen Erzählsituation lässt sich immer fragen: Wie steht der Erzähler zu seinem Leser? Wie steht der
Erzähler zu der Welt, zu den Figuren und zu den Begebenheiten seiner Geschichte? Der Erzähler kann den Leser
an die Hand nehmen und mit ihm fragend und belehrend um die Geschichte herum gehen; er kann sich sogar
direkt an den Leser wenden und mit ihm die Geschichte oder Probleme, die ihn beschäftigen, erörtern. Er kann
den Leser aber auch mit dem, was an den Begebenheiten seiner Geschichte oder deren Figuren betroffen macht,
allein lassen. „Das Bettelweib von Locarno“ von Kleist gibt ein Beispiel für eine auktoriale Erzählsituation.
Erzählt wird aus dem Rückblick (vision par derrière), Beginn und Schluß bezeugen einen external point of view.
Aber mit dem rätselhaften Geschehen lässt der Erzähler seinen Zuhörer allein, er rückt ihm das Bedrängende der
ereigneten Begebenheit geradezu auf den Leib.
Typische Erzählsituationen: personalen Erzähler
Ein Beispiel für diesen ebenfalls von Franz Stanzel gebildeten Begriff, als Gegenbegriff zu auktorialer Erzähler,
bietet die Erzählung „Ein Hungerkünstler“. Franz Kafka braucht in diesem Werk einen personalen Erzähler. Das
Schicksal dieses Hungerkünstlers lässt sich nur in einer personalen Erzählsituation zur Darstellung bringen. Der
Erzähler versetzt sich ganz in die Perspektive seiner Gestalt, in deren Augen, Ohren, Nase und Mund, Fühlen und
Denken, Freude und Leid. Die Person, von der erzählt wird, bleibt ein hier wie in dem Roman „Die Grenze“ von
Gottfried Meinhold ein ER. Aber der Erzähler zwingt seinen Leser in die erlebte Zeit dieses „ER“, der er folgt,
auch wo dieses „ER“ innehält, sich erinnert, Fragen erörtert etc. (vision avec), und versetzt ihn in den in dieser
erlebten Zeit sich erschließenden Raum, in die Bewegung der Erlebnisraumerfahrung (internal view point).
Dem olympian view point entsprechend ist auch hier ein entgegengesetzter Extremfall denkbar und in der
modernen Literatur umgesetzt: Stream of Consciousness ist diese Erzählsituation genannt worden. 1900 gibt
Arthur Schnitzler mit seiner Erzählung „Leutnant Gustl“ ein wegweisendes Beispiel. Der Kursleiter zieht eine
Parallele zwischen einem Stream of Consciousness-Erzähler und einem Psychiater, der sein Einsehen nutzt, um
„eine Stunde aus dem Leben seines Patienten“ zu protokollieren. Schnitzler war Arzt und Psychiater. Der Künstler
Schnitzler sieht sich vor der Aufgabe, Menschen begegnen zu lassen, die, gehalten von irgendeiner Rolle wie hier
der ebenso eitlen wie gefährlichen Uniform eines Leutnants, zu einem so vielfärbigen Selbst geworden sind, wie
die Vorstellungen in ihnen wechseln und verfließen.
Ein entsprechendes aber in andere Richtung gesehenes Problem beschreibt der im Französischen gebildete Begriff
monologue interieur. Auch hier geht es um die problematisch gewordene Integration dessen, was das Erinnern
bedrängt, in die Einheit einer erzählbaren Geschichte. Ein Extremfall dieser Erzählsituation findet sich in „Der
Italiener“ von Thomas Bernhard gestaltet. Die Erzählung gibt zugleich ein Beispiel für den dritten, hin und wieder
umstrittenen, von Franz Stanzel gebildeten Begriff für eine typische Erzählsituation:
Typische Erzählsituationen: Ich-Erzähler
Um sich ein Bild von der Breite der Gestaltungsmöglichkeiten dieser Erzählsituation zu machen, genügt es, an
einige Beispiele zu erinnern: an Homer, der am Hof des Alkinoos Odysseus von dem, was er erduldet hat, selbst
erzählen lässt, an das von Goethe in den „Unerhaltungen deutscher Ausgewanderten“ wiedererzählte Abenteuer
„aus den Memoiren des Marschalls Bassompierre“, an den Roman „homo faber“ von Max Frisch oder eben an den
genannten Erzählversuch von Thomas Bernhard, in dem ein Erinnern an eine Stunde von Eindrücken im Umgang
mit Menschen zu Papier kommt, denen man das Peinliche eines Zusammenbringens von Erinnertem und
Gegenwärtigem ersparen möchte.
Erzählweisen
Bericht: Der auktoriale Erzähler gibt beim Bericht eine Folge von Begebenheiten wieder. Dieser Erzähler folgt
dem Ablauf der Zeit. Goethe und Schiller orientieren sich mit ihrem Begriff der Erschließung von Zeit als
vollkommen vergangen an der Morphologie poetischer Mimesis. Die moderne Erzähltheorie orientiert sich
physiologisch. Erzählzeit als zum Erzählen benötigte Zeit kann die gleiche Zeit beanspruchen wie der Ablauf der
Begebenheiten, von denen der Erzähler berichtetet. So gesehen kann er wie bei der Zeitlupe die Erzählzeit
dehnen, oder aber die Zeit auch raffen, mit einem Satz über den Verlauf von Jahren berichten.
Kleist wählt in „Das Bettelweib von Locarno“ den Bericht, aber dieser Bericht hält sich in der Optik des
Geschehens selbst. Es wird kurz berichtet, wie das Bettelweib von Locarno wegen der unmenschlichen
Gleichgültigkeit zu Tode kommt. Gemütsbewegungen wie Phobos (Furcht) oder Eleos (Mitleid) werden auch von
der Perspektive des Erzählers her gar nicht angesprochen. Der Gast des Schlosses, das Ehepaar und sogar der
Hund erfahren dann Phobos aus der gespenstischen Wiederholung des Ablaufs der Geräusche. Aber das
Konstatieren des Zeitablaufs verbleibt in Perspektiven der Agnoia (des Unvernehmens oder Unwissens, der sich
wiederholenden Unempfänglichkeit eines Nicht-Wahrhabens-Wollens.) Die Menschen gleiten in die
Wahrnehmungsmöglichkeiten eines Tieres zurück. Die zuletzt auf animalischer Stufe bezeugte Wahrnehmung
löst ein Erschrecken (phobos) aus, das zur Katastrophe, einer Peripetie ohne Anagnorisis führt. Die hier
herrschende Agnoia gelangt auch über den Erzähler zu keiner Anagnorisis. Der Erzähler schweigt sich aus.
Kleist ist ein dramatischer Erzähler, der aus der Dynamik des erschreckenden Perspektiventwicklung in der
Handlung erzählt. Er zwingt seinen Zuhörer (Leser) in die Dynamik der Peripetie. Wenn der Hund auf das
gespenstischen Geräusch reagiert, geht der Bericht in szenische Darstellung über – wie sie hier allerdings nur ein
Erzähler präsentieren kann.
Szenische Darstellung Mit dieser Erzählweise präsentiert der Erzähler eine Szene, deren Ablauf so dynamisch,
dass er zusammen mit seinem Zuhörer zum faszinierten Zuschauer wird, eine Szene also, die auf der Bühne
dargestellt werden könnte. Beim Lesen tritt das Geschehen der Handlung dem Leser unmittelbar vor Augen. Es
wurde gefragt, wo sich Beispiele für eine szenische Darstellung in Goethes „Wahlverwandtschaften“ finden.
Wichtig zu wissen ist, dass nicht alle Dialoge szenische Darstellungen sein können.
Gespräche werden als eine selbständige Erzählweise begriffen. Der Versuch, sie in Gedanken auf eine Bühne zu
übertragen, macht sofort die Unmöglichkeit deutlich, weil ihnen ein gewisses dramatisches Element
notwendigerweise fehlt, nämlich das dramatische sich Vorwegeilen des handelnden Wortes. Innerhalb eines
Gesprächs können alle möglichen Erzählweisen von den im Gespräch Versammelten wieder aufgenommen
werden, diese selbst können sich in allen typischen Erzählsituationen präsentieren.
Beschreibung: In einer Beschreibung hält der berichtende Erzähler an und schaut sich am Ort des Geschehens um,
mit einem flüchtigen Blick wie bei der kurzen Beschreibung der Ruinen des Schlosses bei Locarno und dessen
Umgebung zu Beginn von Kleists Erzählung oder mit der Ausführlichkeit, mit der uns Goethe mit dem
Lebensraum der Personen seines Romans bekannt macht.
Bild: Ein Bild verhält sich zu einer Beschreibung wie eine szenische Darstellung zu einem Bericht. Die von dem
Angeschauten ausgehende Faszination zwingt den Erzähler mit seinem Zuhörer oder Leser in dessen unmittelbare
Gegenwart. Erinnert wurde an das Tableau in Goethes Roman „Die Wahlverwandtschaften“, Ottilie als Maria mit
dem Jesusknaben.
Erörterung Sie kann als vielfach verwendete Erzählweise ein Sonderfall des auktorialen Erzählens werden, wenn
sich der Erzähler mit größer Distanz zu den Begebenheiten der erzählten Zeit unmittelbar an den Leser wendet
und über die Geschichte spricht, sich also völlig in die Erzählzeit begibt. Erörtern kann aber auch ein IchErzähler, dem die Distanz zu seinem Erzählten so sehr abgeht, dass er sich in der personalen Perspektive seines
Erinnerns verliert und in ihr Argumente gegeneinander stellt – beispielhaft bei Max Frisch in „homo faber“.
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Grundkurs: Einführung in die Literaturwissenschaft Teil II
Dozent: Dr. F. Heuer
Protokollantin: Qian Ran
8.Sitzung am 16.Juli 2003
- Hausaufgaben: Beispiele suchen für die Erzählweisen Szenische Darstellung und Bild in Kleider machen
Leute von Gottfried Keller
Dr. Heuer macht uns aufmerksam auf die Phänomene einer Poetik des Erzählens. Im Hintergrund bleibt die
Frage: Was bringen Künstler und Dichter hervor und wie erschließen sie in ihren Werken die Kunst und die
Zeit? In der Wissenschaft erschließt sich die Zeit in der Messung, bei Heidegger begegnet die Zeit in der Sorge
(Sein und Zeit) wie in allen Bereichen des Ethischen. In seiner Ästhetik lehrt Hegel, die Kunst ist als
ursprüngliche Quelle von Wahrheit an ihr Ende gekommen, sie ist für uns etwas Vergangenes. Der Seminarleiter
ermutigt, diese Aussage im Zweifel zu ziehen.
Die Poetik des Erzählens ist eine erst im 20. Jahrhundert ausgearbeitete Theorie. Wir schauen auch hier auf die
Konturen des Spiels, beobachten die unveränderlichen Gesetze des Spiels und des Spielraums und zugleich den
geschichtlichen Wandel der Homer von Kafka oder Gottfried Keller von Thomas Bernhard trennt. Wie ist eine
Spielregel möglich? Was ist ein Erzähler?
Der Erzähler lässt sich beschreiben und charakterisieren von seinem Tun her, vom Umgang mit der Zeit des
Erzählens her und vom Umgang mit dem Spielraum des Erzählens her.
vom Tun her (Typische Situationen des Erzählens; nach Franz K. Stanzel: Typische Formen des Romans)
- auktorialer Erzähler, z.B. Thomas Mann
Dieser Erzähler scheint auf den ersten Blick mit dem Autor identisch zu sein. Bei genauer Betrachtung wird
jedoch fast immer eine eigentümliche Verfremdung der Persönlichkeit des Autors in der Gestalt des
Erzählers sichtbar. Er weiß weniger, manchmal auch mehr, als vom Autor erwarten wäre, er vertritt
gelegentlich Meinungen, die nicht unbedingt auch die des Autors sein müssen. Dieser Erzähler ist also eine
eigenständige Gestalt, die ebenso vom Autor geschaffen worden ist, wie die Charakter des Romans. Er
nimmt als Mittelsmann der Geschichte einen Platz sozusagen an der Schwelle zwischen der von der
Dichtkunst erschlossenen Welt des Romans und der Wirklichkeit des Autors und des Lesers ein.
- personaler Erzähler, z.B. Kafka
Er verzichtet auf Einmengungen in die Erzählung, tritt er so weit hinter den Charakteren seiner Erzählungen
zurück, dass seine Anwesenheit dem Leser nicht mehr bewusst wird. Dann öffnet sich dem Leser die
Illusion, er befände sich selbst auf dem Schauplatz des Geschehens oder er betrachte die dargestellte Welt
mit den Augen einer Romanfigur.
- Ich-Erzähler (als Beispiele liegen uns vor: Goethe: Aus den Memoiren des Marschall von
Bassompierre und Thomas Bernhard: Der Italiener
Für das Kunstgesetz des Erzählens gilt die Regel: „Ich“ Erzähler selbst hat das Geschehen erlebt, mit erlebt,
oder beobachtet.
von der Zeit her
- vision avec(der Zeitbewegung des Geschehens folgend)
- vision par derrière (auf jene Bewegung zurückblickend)
vom Spielraum her
- external view point (außerhalb der Bewegung des Handlungsgeschehens)
im Sonderfall: olympian point of view
- internal view point (innerhalb der Bewegung des Handlungsgeschehens)
im Sonderfall: stream of consciousness (monologue interieur). Der englische und der französische
Fachterminus legen immer noch eine Einheit stiftende Integrationsfigur nahe. Kant erwägt in der Kritik
der reinen Vernunft den Fall, dass die oberste Einheit der Apperzeption ausfällt: Wir erhielten dann ein
so vielfärbiges Selbst, wie die Vorstelllungen in ihm wechselten. Man möchte an die Erzählung
Leutnant Gustl von Arthur Schnitzler denken (1900), in der ein Wechsel von Angst, Langeweile,
erotischen Wunschvorstellungen und Aggressionen nur noch von der Uniform eines Leutnants
zusammengebündelt werden.
Erzählweisen
- Bericht: Der Erzähler verfolgt den Ablauf der Begebenheiten der Handlung – er folgt dem Zeitablauf
des Geschehens, die Zeit raffend und/oder dehnend
- Beschreibung: Der Erzähler hält an, bleibt in der Geschichte stehen und betrachtet die Orte und
Gegenstände im Spielraum seiner Geschichte
Diese beide Erzählweisen(Bericht und Beschreibung) sind die Urformen der Erzählkunst.
- Szenische Darstellung: Der Erzähler lässt sich von der Dynamik der Begebenheiten der Geschichte,
dem Erleben der Figuren mitreißen wie der Zuschauer im Theater.
- Bild: Der Erzähler hält einen prägnanten Augenblick des Geschehens wie ein Bildhauer oder wie der
Maler ein Bild fasst, gegebenenfalls auch aus dem innehaltenden Blick der handelnden Personen. Die
dem Bild eigene Faszinationskraft wird unmittelbar wirksam.
- Erörterung: In ihr kann sich der Erzähler im Nachdenken über die Geschichte (über die Figuren,
Probleme u.s.w.) unmittelbar an den Leser wenden.
- Gespräche. In ihnen kann alles, was dem Erzähler an Möglichkeiten des Erzählens offen steht,
wiederum an Personen der Geschichte im Zusammensein von Gesprächen aller möglichen Anlässe
delegiert werden. Wer an die Besonderheit einer szenischen Darstellung denkt, wird sogleich erkennen,
dass den Gesprächen unter den Erzählweisen ein eigener Rang zukommt
- Präsentation von Materialien: Hier übergibt der Erzähler selbst oder eine seiner Figuren den Rohstoff
gewissermaßen unbearbeitet an den Leser oder Zuhörer, mit der Aufforderung, sich selbst an die Arbeit
der weiteren Erschließung des eröffneten Raumes zu machen.
Zuletzt wurde die für die Beschreibung von Erzählungen produktive Unterscheidung von Erzählzeit und
erzählter Zeit eingeführt, die noch weiter veranschaulicht werden soll.
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