Grundkurs: Einführung in die Literaturwissenschaft, Teil 2, WS. 01/02

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Institut für Deutsch als Fremdsprachenphilologie der Universität Heidelberg Grundkurs
Einführung in die Literaturwissenschaft Teil 2 im Wintersemester 2001/02
Dozent: Dr. F. Heuer
Protokollantin: Malgorzata Stolarzewicz
Protokoll über die Sitzung vom 12.12.2001
Ansagen:
-- Der Termin für das Tutorium mit Corina Fonyódi soll neu festgelegt werden: entweder
dienstags oder mittwochs oder donnerstags, jeweils ab 16.30 Uhr. Der Termin des Tutoriums mit
Margarita Boiadjiewa bleibt unverändert (montags 16.30).
-- Die Textausgaben der Dramen, die in dem zweiten Teil des Kurses bearbeitet werden, liegen in
preiswerten Taschenbuchausgaben von Reclam vor; je nach Wunsch auch in zweisprachigen
Ausgaben, der griechischen Klassiker („Medeia“, „Antigone“) und der neueren („Hamlet“).
-- Es ist möglich, die auf Videokassetten gespeicherten Theaterinszenierungen über den
Kursleiter auszuleihen, so dass die Stücke auch in Kleingruppen angeschaut werden können; zu
zweit ist das auch im Zentralen Sprachlabor oder in der UB möglich.
1. Dramaturgie
Der Begriff Dramaturgie bezeichnet zwei verschiedene Dinge: zum einen die Instanz an jedem
Theater, die für die Wahl und die Einrichtung der Texte zuständig ist. Ein Dramaturg ist für die
Bearbeitung eines dramatischen Textes für die Inszenierung zuständig. Es wird darauf
aufmerksam gemacht, dass man die Texte der Dramen wie die Partituren der Opern betrachten
kann. Die Texte der Dramen werden dargestellt, in Szene gesetzt oder mindestens vor der Wahl
für die Aufführung mit verteilten Rollen vorgelesen. weil sie immer auch in Klang umgesetzt
werden müssen. Auch hier begegnen – wie in der Verslehre besprochen (die Erfindung der
Schrift als Verlust für das Gedächtnis) - Probleme der Mnemotechnik (Gedächtnistechnik). Die
menschliche Fähigkeit, Texte auswendig zu behalten, hat seit langem nachgelassen. Der
Schauspieler bleibt hier aber durch die Notwendigkeit der szenischen Umsetzung des Textes,
besonders herausgefordert. Aber auch für die Vergleichung vieler zur Auswahl
stehender
Dramen mit Blick auf die Gesetze und Erfordernisse einer Aufführung - wie ein Drama
dargestellt werden soll, damit es die bestmögliche Wirkung hat - bedarf es der Übung der
Mnemotechnik.
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Dramaturgie heißt zum andern das kritische Erfragen der Regeln der Poetik des Dramas,
wenn uns interessiert, was das Drama zum Kunstwerk macht und welche Art von Erfahrung ein
solches Kunstwerk erschließt. In Deutschland befasste sich mit diesem Thema Gotthold Ephraim
Lessing, der 1767 am neugegründeten Hamburgischen Deutschen Nationaltheater als
Theaterkritiker tätig war. Aus seinen kritischen Beiträgen entwickelte Lessing eine Theorie und
Poetik des Dramas, die Hamburgische Dramaturgie. Aristoteles lieferte mit seiner Poetik (de
arte poetica), die etwa 100 Jahre später als die Tragödien von Aischylos, Sophokles und
Euripides vorgetragen und niedergeschrieben wurde, die erste philosophisch kritische
literaturwissenschaftliche Schrift. Die Frage nach der Kunst wird zu einem Problem der
belehrenden Erkenntnis. Wie sein Lehrer Platon stellt auch Aristoteles die Frage nach dem
Verhältnis von Kunst und Erkenntnis und nach der Möglichkeit der Rechtfertigung der Kunst
vor der Erkenntnis. Doch auch ihn leitet zugleich eine pragmatische Frage: was erwartet das
Publikum und was sind die Maßstäbe, nach denen Tragödien beurteilt werden können? Als
Einstieg in die Analyse des Dramas, in die Frage nach den Baugesetzen des Dramas eignen sich
die Begriffe des Aristoteles nicht zuletzt deshalb, weil sie zugleich, ebenfalls mnemotechnisch,
eine Stütze bieten, im Vergleich der Abwandlung grundlegender Merkmale viele Texte im
Gedächtnis bequemer zu versammeln.
Die beiden Theaterstücke, die zu Beginn des zweiten Teils des Kurses bearbeitet werden, sind
„Antigone“ von Sophokles und „Medeia“ von Euripides. Beide entstanden in der zweiten Hälfte
des 5. Jahrhunderts v. Chr. und wurden in Athen uraufgeführt.
2) Das Theater und der Staat:
486 v. Ch. – beschloss die Ratversammlung in Athen, dass auch die Komödien staatlich
gefördert werden, d.h. die Aufführungen von Komödien wurden aus öffentlichen Geldern, durch
Steuerpflicht, finanziert. Der Seminarleiter macht darauf aufmerksam, wie athenische Dichter die
Freiheit des Wortes genossen, da keine Themen verboten werden durften. Einer der griechischen
Komödiendichter Aristophanes, jünger als Aischylos, Sophokles und Euripides, kann als ein
Beispiel für diese Freiheit des Wortes betrachtet werden. Mitten in einem existenzbedrohenden
Krieg verfasste er eine Komödie über diesen ersten politischen Krieg. Seine Komödie
„Lysistrate“ (411 v. Ch.) spielt in dem zwischen Sparta und Athen geführten Krieg (431-404),
und zwar ein Krieg um die bessere politische Verfassung. Der komische Aspekt des Dramas
besteht darin, dass die Frauen der beiden miteinander kämpfenden Städte sich gegen ihre Männer
verbünden und unter der Führung von Lysistrate die Vereinbarung treffen, dass sie sich den
ehelichen Pflichten so lange entziehen werden, bis der Krieg beendet ist. Das Stück endet, anders
als in der später katastrophal verlaufenden Geschichte, mit einem versöhnenden Friedensschluss.
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Die Tatsache, dass eine solche Komödie während des Krieges ohne Bestrafung des Autors wegen
Wehrkraftzersetzung aufgeführt werden konnte, ist ein ewiges Zeugnis der in Athen lebendig
gewordenen demokratischen Freiheit zu betrachten.
3) Der erste politische Krieg in Europa als Thema für den Historiker Thukydides
Aischylos beschäftigte sich in seinen Tragödien auch mit historischen Personen und Ereignissen
(Die Perser). Seine Perspektive war jedoch die Perspektive des Künstlers, des Tragödiendichters.
Thukydides war der erste Geschichtsschriftsteller in Europa, der einen politischen Krieg
beschrieb, den Peloponnesischen Krieg: Auf der einen Seite, Sparta, kämpften Aristokraten. Die
leitende Ideologie beschreibt später Platon in der Politeia (Der Staat): Nur die haben das Recht,
den Staat zu regieren, die sich als die besten und kundigsten zu einer einheitlichen Gemeinschaft
(Partei) miteinander verbinden. Auf der anderen Seite kämpfen die radikalen Demokraten aus
Athen: In einem Staat soll jeder, aktiv und passiv, die gleiche Stimme und das gleiche Wahlrecht
besitzen. Dieser erste politische Krieg zeigt also einen Konflikt, wie ihn auch das 20. Jahrhundert
noch beherrschte: die Diktatur eines Einparteien-Systems gegen eine offene Demokratie. Der
Seminarleiter verwies auf Alexis de Tocqueville, den späteren und einzig ebenbürtigen
Franzosen, der nach der Französischen Revolution »L’ancien régime et la révolution» (Das alte
Regime und die Revolution) und „Die Demokratie in Amerika“ verfasste.
4) Platon und Aristoteles als politische Denker
Der Ursprung des Rechts und der Ursprung der Gewalt sind different: Die Gewalt, mit der die
Exekutive wie der Henker verfährt, ist nicht die Quelle der Verfügung über das Recht. Der
Richter, der ein Urteil fällt, ist unabhängig in der Begrenzung der Anwendung der Gewalt, der
Ausübung der Exekutive. Mit ihrer strengen Trennung von exekutiver, legislativer und
richterlicher Gewalt begründen die antiken Philosophen rechtlich verfasste Staaten, deren
politische Organisation nicht der Ausübung einer Religion wie der apostolischen Weltreligionen
untergeordnet sein konnte, aus denen sich also keine Theokratien (wie insbesondere im
Christentum und im Islam entwickelt) herausbilden konnten, wenn der einige Gott als einige
Quelle von Recht und Gewalt gedacht wird. Platons Gedanke einer philosophisch begründeten
und verfassten Aristokratie warf das strukturelle Problem der Trennung von politisch
rechtsstaatlicher und religiös ideologischer Organisation aber auch im antiken Denken als Streit
um die bestmögliche Staatsverfassung auf. Und in diesen Streit hat Platon auch die theoretischkritische Frage nach der Kunst, bzw. nach der Berechtigung der Kunst, d.h. einer Dichtung im
Sinne der Tragödie einbezogen.
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Aristoteles fragt anders nach dem eigenen Ursprung und Wesen der Mimesis (später zu eng und
aus verändertem Verstehen übersetzt als imitatio, Nachahmung, von Martin Opitz als Nachäffung
verdeutscht), was als eine eigene Art der Bildung und Erschließung von Erfahrungsraum
Spielraum des Erfahrens, geschaffen von Architektur, Skulptur, Malerei, Tanz, Musik, Sprache
und deren Zusammen auf der Bühne des Theaters betrachtet werden sollte. So ist die Mimesis
einer Handlung die Erkenntnis und Erschließung einer neuer Sicht menschlichen Handelns.
Infolge solcher Erkenntnis verändert sich die menschliche Betrachtung der Welt, d.h. man sieht
mehr und anders. Eine solche Erkenntnis macht dem Publikum Spaß und das Theater war und ist
so populär, weil die Tragödie die Mimesis einer Handlung in Werk setzt.
5) Hausaufgabe.
Arbeitsunterlagen Seite 35 -36
Heinrich von Kleist, Von der Überlegung. Eine Paradoxe, wurde vom Seminarleiter vorgelesen.
GK: Einführung in die Literaturwissenschaft, Teil II
Dozent: Dr. F. Heuer
Protokoll der Sitzungen 19.12.01, 21.12.01 und 9.01.02
Protokollantinnen: Jovita und Judita Degutyte
In der Sitzung wurde zunächst über Kunst und Wissenschaft gesprochen. Beide, Kunst und
Wissenschaft, finden und erfinden, erschließen und beschreiben. Sobald die Wissenschaft
selbständig neben die Kunst tritt, erhebt sich die Frage, ob die Kunst neben den Wissenschaften
einen singulären, von den Wissenschaften unabhängigen, also nicht einholbaren Ursprung der
Erschließung von Raum und Zeit der Erfahrenheit des Menschen in seinem Menschsein
beanspruchen kann. Philosophen wie Hegel und Platon bestreiten das; philosophische Denker wie
Heidegger, Nietzsche, Schiller und Aristoteles treten dafür ein. Die Wissenschaft von der Kunst,
die Kunsttheorie fragt im Sinne der letzteren dann nach der singulären Morphologie der Künste.
Die Wissenschaften, schon die ersten Grammatiker, bleiben immer an die Orientierung einer
Enzyklopädie gebunden. Auch wenn sich die einzelnen Disziplinen der Wissenschaften, wie
heute jeder sieht, immer mehr spezialisieren, miteinander versammeln sie den Umkreis alles
Erkannten und zu Wissenden. Und ihr Ziel war insofern auch von Beginn an schon, das im
Erforschen und Erkennen Erworbene an die nächste Generation weiterzugeben; das hält
Wissenschaften zuletzt auch an den Universitäten zusammen und verbindet sie. Der erste
Systematiker der Wissenschaften ist Aristoteles. Aristoteles ist auch der erste, der nach der
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singulären Morphologie der Kunst fragt, in der uns erhaltenen Schrift über die Dichtkunst, über
die Poetik.
Die Zeugnisse der Dichtkunst, die poetischen Werke, aber erschließen und erinnern nicht nur
Geschichte, sie verlangen auch selbst der Bewahrung, in der Übung der Veranstaltung ihres
Anwesens bis hin zur Traditionspflege. Das wird in den wissenschaftlichen Disziplinen, die sich
mit Sprache und Literatur beschäftigen, in besonderer Weise zur Aufgabe. Zu pflegen ist das
allen Völkern und Kulturen gemeinsame Erbe dessen, was die Künstler in ihren Werken gezeigt
und erschlossen haben auch im Sichern der Aufbewahrung dieser Werke selbst. Das den
Kunstwerken gemeinsame singuläre Erschließen von Wahrheit (griechisch: aletheia im Sinne von
Unverborgenheit) nennt die Poetik des Aristoteles Mimesis.
Begriffe der Poetik von Aristoteles (Weitere Erläuterungen zu dem den Arbeitsunterlagen
anliegenden Doppelblatt)
Mimesis: die Übersetzung von imitatio, Nachahmung, umfasst nicht im vollen Sinn, was
künstlerische Darstellung als Mimesis erschließt. Nachahmung (imitatio) lässt nicht verstehen,
was, ursprünglich und ausschließlich, nur die Kunst, hier als Dichtung, zu leisten vermag. Die
mimesis praxeos ist als Kunst der Tragödie, indem sie Handeln im sich ereignenden Vollzug des
Handelns von Handelnden zum Vorschein
bringt, der Wahrheit (aletheia) näher als die
Erforschung von Begebenheiten und Taten der Geschichte durch den Historiker (eines der
Empirie verpflichteten Wissenschaftlers) – so die ausdrückliche Erklärung der Poetik von
Aristoteles. Wenn, wie Aristoteles auch sagt, Mimesis als ein Erkennen Vergnügen bereitet, so
leitet sie also ein Erkennen dessen an, was Kunst erst als Kunst ans Licht bringt und ins Licht
stellt.
Solches Denken bleibt der griechisch ursprünglichen Auffassung von Wahrheit als aletheia
verpflichtet, auch dort, wo Platon im 10. Buch der Politeia (Der Staat) den Dichter, neben dem
Schaffen eines Handwerkers, polemisch mit einem Gaukler vergleichen lässt: Der eine hat ein
solides Vorwissen (Idee), von dem, was er zu tun hat, wenn er einen Streitwagen baut, der
andere macht es doch nicht besser als der Gaukler, der einen Spiegel herumträgt und frech
behauptet, „seht her, ich zeige euch, was ein Streitwagen ist“. Das polemische Beispiel macht nur
Sinn, wenn Wahrheit (als aletheia) aus dem Wissen um das Gelichtetsein des Anwesenden, aus
der ins Licht gestellten Unverborgenheit von Anwesendsein gedacht wird.
Spoudaion - ist eine solche Handlung, die den edlen Eifer für etwas Höheres, sehr Wichtiges
erregt, für etwas, das aller Aufmerksamkeit und Mühe wert ist, beispielsweise:
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-
Der Entschluss der Antigone ihren Bruder zu begraben, obwohl der Herrscher Kreon es
gesetzlich verboten hat.
Teleion - ist, nach der Zielorientiertheit, unter der das Dasein des Menschen als Menschen ein
Endliches ist, eine in sich abgeschlossene Handlung, die nichts offen lässt, sondern ein Ende
endgültig macht, beispielsweise:
-
an der Verschwörung auf dem Rütli nimmt Wilhelm Tell nicht teil. Er schwört mit den
anderen nicht mit. Aber sein Handeln, was ihm widerfährt und was er vollbringt, erschließt
ein Endgültiges.
Katharsis - Reinigung der menschlichen Gemütserregung in Affekten wie phobos ( Furcht) und
eleos (Mitleid) im Bereich dessen, was die Mimesis in der Bewegung einer tragischen Handlung
erschließt. Übersetzung und Interpretation sind sehr umstritten. Goethe als Morphologe (wie
Aristoteles) sieht gewiss richtig, dass die Handelnden in und aus ihrem Handeln diese
Gemütserregung selbst erfahren, dass deren Darstellung, die die Zuschauer (und Leser) zur
Anteilnahme herausfordert, also ebenso wenig wie die Katharsis aus der Berechnung der
möglichen Wirkung auf den Zuschauer begründet werden kann. Das Reinigende und
Versöhnende lässt sich auch von der im Tanz und der Musik begegnenden Mimesis her
verstehen. Beide, Tanz und Musik, erweitern und vertiefen die Empfänglichkeit der erfahrenen
Erregung, und versöhnen zugleich, indem sie einen gemeinsamen menschlichen Sinn im
Einschwingen in gemeinsame Metrik und Rhythmik erschließen, den freien Spielraum einer
gemeinsamen menschlichen Sinnlichkeit mitteilend fühlbar machen.
Bauelemente der Tragödie:
Das Ganze einer in sich abgeschlossenen Handlung wird sichtbar an
Anfang.........................................Mitte...........................................................Ende
Analytisch definiert ist Anfang alles, was weder Mitte noch Ende ist. Mitte ist, was weder Anfang
noch Ende ist. Ende ist, was weder Anfang noch Mitte ist. Wer nach Veranschaulichung sucht,
wird mit dem Blick auf die Tragödie diese Definitionen so formulieren:
Anfang einer Handlung ist, was nicht mit Notwendigkeit aus anderem hervorgeht, aus dem
selbst aber notwendigerweise etwas erfolgen muss.
Mitte einer Handlung steht mit Notwendigkeit zwischen einem Vorausgehenden und dem
zunächst Folgenden.
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Ende einer Handlung ist, was selbst aus anderem folgt, mit Notwendigkeit oder in der Regel,
ohne dass aus ihm etwas weiteres mehr entsteht.
Ziehen wir aus der Kritik der reinen Vernunft von Kant den Grundsatz der Kausalität, einen
Erkenntnis der Natur als Erscheinung unter Verstandesgesetzen begründenden synthetischen Satz
a priori heran: Alles was geschieht, hat eine Ursache, nach der eine Regel folgt, dann erschiene
das, was uns der Begriff „Anfang einer Handlung“ oder Ende einer Handlung“ veranschaulichen
soll, immer nur als „Mitte“. Wir müssen also darauf achten, wie uns die Dichtung einen Begriff
wie „Anfang einer Handlung“ dennoch evident zu machen vermag – als eine Erfahrung, die
unüberholbar und unhintergehbar zum Dasein des Menschen als Menschen, so wie es sich für uns
erschließt, dazu gehört.
Veranschaulichung des Begriffs Anfang an Beispielen:
Antigone muss ihren Bruder Polyneikes nicht begraben. Ihre Schwester Ismene entscheidet
anders. Und auch der Seher Teiresias, der Kreon zur Umkehr bewegt, äußert seinen Unwillen
nicht dadurch, dass er Kreons Gesetz in einem Akt öffentlicher Provokation missachtet und
übertritt.
Medeia musste nicht in die verzweifelte Lage gebracht werden, in der auch der Chor der
korinthischen Frauen ihr gelobt, zu schweigen, wenn sie das Werk ihrer Rache beginnt, von der
sie als Seherin und Enkelin des Lichtgottes Helios nicht mehr zurücktreten könnte, auch, wenn
sie weiß, dass sie ihre Kinder verlieren wird.
Hamlet: der Geist des ermordeten Vaters erscheint dem Sohn, dem, was ihm nicht mehr aus dem
Kopf gehen kann, unumkehrbar den Weg weist, den er nunmehr zugehen hat.
Seltsamer Zufall, dass ein Fräulein, Minna von Barnhelm, in das Land des siegreichen Feindes
reist, um dort einen Verlobten zu finden, der sich nicht mehr meldet und der zudem, in
finanzieller Verlegenheit, gerade seinen Ring verpfändet hat, dass sich dieses Fräulein in dem
Gasthaus einmietet, dessen Wirt jenen Ring als Pfand genommen hat.
In Wilhelm Tell geschieht der Anfang rettenden Handelns, und niemand merkt etwas.
Baumgarten ist auf der Flucht, muss gerettet werden. Niemand will es wagen, ihn über den
stürmischen See zu bringen. Tell aber erklärt spontan, dass dem wegen Totschlags eines
Landvogts (eines Repräsentanten der Regierung) Flüchtenden geholfen sein muss. Nicht nur die
Umstehenden („Wann wird ein Retter kommen diesem Lande“) sind sich nicht dessen bewusst,
sondern auch Tell selbst merkt nicht („Dem Friedlichen gewährt man gern den Frieden“), was mit
einer solchen Rettungstat in Gang gesetzt worden ist.
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In der Wildente von Henrik Ibsen beschließt ein alter reicher Mann, der Konsul Werle, sich aufs
Neue zu verheiraten, und zwar mit seiner Haushälterin, was in der Gesellschaft merkwürdig
wirkt. Warum auch lädt er seinen Sohn Gregers, der voller Misstrauen und Antipathie gegenüber
seinem Vater fortgezogen ist, gerade jetzt ein, um die neue Verbindung gesellschaftlich zu
legitimieren? In einem explosiven Gemisch (race und milieu) bereitet sich unter konfliktscheuen
und bequemen Menschen so der moment für eine unheilvolle Reaktion vor: ein Kind, Hedwig, die
Hjalmar Ekdal untergeschobene Tochter des Konsuls Werle, verunglückt dabei auf sinnlose
Weise.
In dem Lehrstück Die Maßnahme ist das Entgültige schon geschehen. Die Wiederholung der
entscheidenden Begebenheiten vor einem Parteigericht soll demonstrieren, dass die Tötung des
jungen Genossen unnötig gewesen wäre, wenn dieser sich streng nach dem rationalen Plan einer
Aufgabe hätte disziplinieren können, anstatt sich von seinen Affekten, Mitleid und Ekel,
überwältigen zu lassen. In seinem Lehrstück als einem Beispiel für das Theater des
wissenschaftlichen Zeitalters will Brecht zeigen, dass das Ende nicht notwendigerweise aus
dem Vorausgehenden folgt.
Offen bleibt, was den jungen Studenten Oswald in Eiszeit von Tankred Dorst dazu bewogen hat,
ein Attentat auf eine politische Symbolfigur – in dem Alten wird der Schriftsteller und
Nobelpreisträger Kurt Hamsun gestaltet –, zu dem er bei gegebenem Anlass nicht fähig war,
nunmehr nachzuholen. Denn die Zeiten sind anders. Auch ist der Alte jetzt fast taub und in einem
Altersheim. In dessen Garten lernen beide sich kennen. Mit der mitgebrachten Granate sprengt
sich Oswald zuletzt sinnlos selbst in die Luft. Endgültig ist dieses Ende schon – aber eine
Verbindung mit dem Anfang zu einem sich für ein Verstehen erschließenden Ganzen stellt sich
nicht her.
Wesensbestandteile einer tragischen Handlung sind Pathos, Peripetie und Anagnorisis.
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Pathos rückt die Bewegung des Handelns in den Schatten des herandrohenden Todes und stellt
das Tun in die Spannung zwischen Gelingen und endgültigem tödlichem Misslingen. Antigone
beschließt Ihren Bruder zu begraben, obwohl sie weiß, dass sie deswegen zum Tode verurteilt
wird. Das rückt alle Bewegungen der Handlung in den Schatten einer tödlichen Bedrohung.
Hamlet erfährt diese plötzliche Verschattung des Lebens aus dem Ekel vor der kurz nach dem
Tod seines Vater gefeierten Wiedervermählung seiner Mutter mit dem Bruder seines Vater und
dessen nächtliche geisterhafte Erscheinung. Aber auch in einem Drama, dass
Lessing eine
Komödie nennt, gerät Tellheims Selbstverständnis in eine tödlich gefährliche Krise, sichtbar
wenn Minna von Barnhelm vor dem plötzlich ausbrechenden Lachen des Menschenhasses
erschrickt.
Peripetie- ist der Umschlag (die Wendung) der Handlung in ihr Gegenteil, entweder mit
Notwendigkeit oder Wahrscheinlichkeit ins Glück oder Unglück.
Kreon verändert sich durch den Widerstand, den er erfährt, in Furcht erregender Weise. Bei
Sophokles (nicht mehr bei den modernen Dramatikern Brecht und Anouilh) vermag er, wenn
auch zu spät, sein Gesetz und sein Wort zurückzunehmen.
Anagnorisis ist der Umschlag aus Unwissenheit (Agnoia) in das Vernehmen des Tuns, das
vernehmende Einholen des vorausgeeilten Wortes. Der Umschlag des Unvernehmens ins
Vernehmen kann sich auf vielfache Weise ereignen, etwa auch wenn sich zum Töten und Tod
Bestimmte wie in der Iphigenie bei den Taurern von Euripides (ebenso in Goethes Iphigenie auf
Tauris) als Geschwister erkennen.
Diese Wesensbestandteile der tragischen Handlung müssen dynamisch verstanden werden. Sie
machen das Ganze der Handlung als Ganzes erst evident und verbinden Anfang und Ende
miteinander. Ein schlechter Dichter ist der, sagt Aristoteles, der die Tragik durch Bühneneffekte
erreichen will. Der Blick in den herandrohenden Tod verleiht einem Handlungsgeschehen
Dynamik. „Tod auf offener Bühne“, wie Manfred Fuhrmann Aristoteles falsch übersetzt und wie
ihn die griechischen Tragiker auch gar nicht darstellen, wäre nur ein Augenblick der Handlung,
statisch, wie wenn man sich damit begnügte, Peripetie mit Wendepunkt zu übersetzen.
Was ist dramatisch erscheinendes Handeln? Schiller spricht von Präcipitation. Man handelt
zuerst, und erst danach nimmt man wahr, was schon getan worden ist, und denkt darüber nach.
Das handelnde Wort eilt dem Vernehmen voraus. Heinrich von Kleist sagt in der Paradoxe „Von
der Überlegung“, die in diesem Zusammenhang ausführlich besprochen wurde:
„Die
Überlegung, wisse, findet ihren Zeitpunkt weit schicklicher nach, als vor der Tat.“ Das handelnde
und im Handeln neue Verbindung stiftende Wort kann, einmal ausgesprochen – beispielsweise
bei unfreiwilligen Liebesgeständnissen, wie sie die modernen Dichter gern darstellen - nicht
mehr zurückgenommen werden.
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Aristoteles nennt drei Möglichkeiten, wie die Stellung von Peripetie und Anagnorisis zueinander
verschiedene Wege des Aufbaus und der Vollendung einer Handlung erschließen:
1) Das Tun vollendet sich in Unwissen. Das Tun und tritt nach der Vollendung ins Wissen. Das
führt die Handelnden ins Unglück, wie in der Antigone von Sophokles
2) Das Tun vollendet sich in vollem Wissen wie in der Medeia von Euripides. Auch dies führt
ins Unglück. Interessant ist aber gerade in diesem Typus, die Dynamik von Peripetie und
Anagnorisis zu verfolgen. Denn ohne das Verständnis für das auch von Kleist
phänomenologisch plausibel erklärte eigentlich Dramatische in dem, was die Dichter am
menschlichen Handeln interessiert, lässt sich das Zusammenspiel aller Wesensbestandteile in
dieser Tragödie des Euripides nicht beschreiben.
3) Das Tun vollendet sich nicht in Unwissen, sondern tritt vor der Vollendung ins Wissen. Auch
diese Konstellation, obwohl wie in der Iphigenie bei den Taurern von Euripides oder Minna
von Barnhelm von Lessing oder Wilhelm Tell von Schiller nicht im Unheil endend, nennt
Aristoteles nach griechischer Vorstellungsart Tragödien – offenkundig, weil auch hier das
Pathos Wesensbestandteil der Handlung ist.
Protokoll der Sitzung vom 18. Januar 2001
Protokollantin: Runan Wan
Zu Beginn der Sitzung wird ein Abschnitt aus dem 80.Stück der Hamburgischen Dramaturgie
(1767-1768) von Lessing vorgelesen: „Wozu die sauere Arbeit der dramatischen Form? wozu ein
Theater erbauet, Männer und Weiber verkleidet, Gedächtnisse gemartert, die ganze Stadt auf
einen Platz geladen? ....“ Die rhetorischen Sätze führen auf zwei Hauptgedanken von Lessings für
die Poetik des Dramas grundlegenden Schrift, die bei dieser Gelegenheit kurz vorgestellt wurde.
1. Was ist der spezifische Zweck der Tragödie? Lessing antwortet hier: Die Dramatische Form
ist die einzige, in der sich Mitleid und Frucht erregen lässt, um die Katharsis zu bewirken. Für
Lessing ist bei dieser Konzentration auf die Katharsis noch ein anderer Leitgedanke maßgeblich:
Erziehung, Ausbildung der Sensibilität und Emotionalität des Menschen durch die Kunst. 2. Die
Deutschen müssen, um sich zu kulturell mündigen Gemeinwesen zu emanzipieren, nach dem
Vorbild der Griechen (wie der neueren Franzosen und Engländer) ein eigenes Nationaltheater
schaffen. Die Aufklärung versucht, durch das Theater ein literarisches Publikum, gebildete
Menschen und dann überhaupt eine aufgeklärte, politische mündige Gemeinschaft zu erzeugen
(verwiesen wurde auf die Erwartungen vom Theater in Goethes Roman Wilhelm Meisters
10
Lehrjahre). Lessing wird zu dem von einer Bürgerschaft aus Patriziern gestifteten deutschen
Nationaltheater mit der Aufgabe berufen, die Aufführungen mit regelmäßig erscheinenden
Theaterkritiken (Rezensionen) zu begleiten. Daraus entsteht die „Hamburgische Dramaturgie“.
Vorausgegangen war für Lessing der Briefwechsel über das Trauerspiel mit Mendelssohn und
Nicolai.
Der älteste und wichtigste Zeuge für Lessings in der Form des Gedankenaustauschs über
bemerkenswerte Beobachtungen und Gesetzlichkeiten sowie der Erörterung im Ausgang von
kritischen Beobachtungen zu einzelnen Theaterstücken ausgehenden Entwicklung einer
zeitgemäßen Poetik des Dramas ist Aristoteles. Wir stellten uns hier auch wieder die Frage nach
dem möglichen Gewinn, die vom Theater im antiken Athen ausgehenden Analysen und
Begriffsbildungen des Aristoteles für das Theater so entfernter Epochen heranzuziehen. Denn zu
offenkundig ist, wie sich das abendländische Theater mit abendländischen Menschen gegenüber
der Antike verändert hat und wie sich das Theater von der Zeit Shakespeares bis in unsere Tage
noch weiter veränderte.
Lessing will die aristotelische Poetik als Schule der Kritik nutzen. Wenn er Pierre Corneille
angreift mit dem Ziel, dessen Aristoteles-Interpretationen zu widerlegen, so geht es ihm dennoch
nur um aktuelle Gesetze für das Theater. Nicht die Berufung auf die Autorität des Aristoteles ist
entscheidend, sondern es gilt, die Überlegungen von Aristoteles im Zusammenhang der Frage
nach den Regeln eines zeitgemäßen Theaters so zu kommentieren, dass neben dem verbindlich
bleibenden auch die Eigengesetzlichkeiten veränderter Zeitbedingungen sichtbar werden.
Bei dieser Gelegenheit wurde nochmals auf die für den Wandel der geschichtlichen Epochen so
eigentümliche Verschiebung der Optik hingewiesen –
auch der Aristoteleskenner Lessing
übergeht beispielsweise, dass Aristoteles ausdrücklich die Mimesis einer Handlung als Ursprung
und als Ziel der Tragödie benennt, die Katharsis als Eigenschaft einer solchen Handlung. Für
Lessing ist aber ein anderer Leitgedanke maßgeblich, wenn er nach dem Zweck der Tragödie
fragt. Solcher Epochenwandel wird dort am deutlichsten sichtbar, wo ein verändertes Verstehen
unvermerkt bleibt, und dies ist umso erstaunlicher, wenn es selbst einem so souveränen
Aristoteleskenner wie Lessing begegnet. Zwei oft zitierte Gesetzmäßigkeiten werden als
Beispiele für solchen unvermerkt vollzogenen Wandel des Verstehen herausgezogen, zugleich
um diese Gesetzmäßigkeiten bekannt zu machen.
Die Tragödie erregt Affekte, Furcht und Mitleid, und bewirkt deren Katharsis (Reinigung).
Lessing spricht von der Reinigung der Leidenschaften und deren Verwandlung in tugendhafte
Fertigkeiten. Die Affekte Furcht und Mitleid beobachtet er in ihrem Zusammenwirken: die Furcht
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für den Helden ist auf uns selbst bezogenes Mitleid, und das Mitleid ist auf uns selbst bezogene
Furcht, so dass der im Affekt, in erregtem Gemütszustand Mitleidende sich immer mit dem von
seinen Leidenschaften fortgetriebenen Charakter, als Zuschauer mit dem Menschen auf der
Bühne, identifiziert. Mitleid durch Furcht und Furcht durch Mitleid gereinigt, das bewirkt also
auf den Zuschauer bezogen das rechte, das mittlere Maß der Affekte. Zu tugendhaftem Handeln
gehört das rechte Maß im Spiel der Affekte, keine Affektfreiheit, die zur Apathie führen müsste,
zu einem Menschen, der nirgends Anteil nimmt und nichts erreichen kann. In dieser Richtung
denkt Lessing, wenn er sagt, der mitleidigste Mensch ist der beste Mensch.
Aristoteles denkt aber in ganz anderer Richtung: Arche und Telos der Tragödie sind Darstellung
einer Handlung. Wesengrund ist, das Gründende und abgründige menschlichen Handelns ans
Licht zu bringen, wenn sich das Handeln von einem dem Menschen wesentlichen Ziel in
Anspruch nehmen lässt. Furcht und Mitleid werden durch das Handeln provoziert; phobos und
eleos werden in den Stücken der griechischen Tragiker durch das handelnde Wort
herausgefordert. Dann ist das handelnde Wort sich selbst vorweg (Praecipitation), die Erregung
der Affekte Furcht und Mitleid findet der Zuschauer in der verschiedenen Bewegung der
handelnden Figuren und in den Reaktionen des Chores auf dem Theater vor sich dargestellt – von
der Dynamik des Handelns soll der Tragödiendichter ausgehen, beobachtet Aristoteles, nicht von
den Charakteren.
Für die Lehre von den drei Einheiten beruft sich Pierre Corneille, wie Lessing gezeigt hat, zu
Unrecht auf Aristoteles. Aber man kann Lessing entgegenhalten, dass Corneille ein Theater vor
sich hat, die moderne Guckkastenbühne, die zumindest die bei Aristoteles gar nicht genannte
Einheit des Ortes als Forderung an den Theaterdichter plausibel macht.
Die Einheit der Zeit thematisiert Aristoteles in den Definitionen von Anfang, Mitte und Ende der
Handlung und dem, was durch die drei Wesensbestandteile der Handlung, Pathos, Peripetie und
Anagnorisis als Anfang unhintergehbar und als Ende unüberholbar wird, so dass die Einheit der
Zeit in der Einheit der Handlung gründet.
Ein wesentliches und durch Lessing verbindlich gewordenes Prinzip aller Kunstkritik ist, bei der
Frage nach den Regeln von den einzelnen Werken in deren Singularität auszugehen. Durch
Singularität ragen die Werke des Genies heraus. Was aber ist Genie? Zitiert wurde die Definition
aus der Kritik der Urteilskraft von Kant: Genie ist das Vermögen, durch das die Natur der Kunst
die Regel gibt. Lessing sagt, das Genie liebt die Einfalt, der Witz die Verwicklung. Wie das
Genie erfindet Genie und die Motivation einer Handlung aus dem Charakter der Handelnden
entwickelt, zeigt Lessing am Beispiel seiner Kritik der Rodogune von Pierre Corneille
(Hamburgische Dramaturgie 29. bis 32. Stück). Natürlich ist die Motivation einer Handlung,
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wenn die Erregung des Gemüts aus der Kausalität einer Leidenschaft entwickelt wird. Lessing
geht, wie gesagt, nicht mehr von der Handlung, sondern vom Charakter (Ethos) aus.
Protokoll der Sitzung vom 23. 01. 2002
Protokollantin: Carlota Soto de la Cruz
Ansagen Lesung von Prof. Dr. Peter Michelsen, "Hermann und Dorothea", 29.01.02 um 18 Uhr,
IDF SR 012. Gastvortrag von Prof. Dr. Jutta Limbach: Schiller, "Verbrechen, Schuld, und Sühne
im Spiegel seiner Rechtsanschauung" , 29.01.2002, 19 Uhr, Hörsaal 13 der Neuen Universität.
Über epische und dramatische Dichtung
Im Gegensatz zu dem aristotelischen Theater will das epische Theater von Brecht den Abstand
zwischen Bühne und Zuschauerraum verringern. Der Zuschauer soll sich immer bewußt bleiben,
daß nur Spiel ist, was er sieht; er soll über Sinn und Zweck der gezeigten Vorgänge nachdenken.
Außerdem verlangt die nichtaristotelische Dramatik vom Zuschauer anstelle sich hingebender
Einfühlung in die Figuren kritische Distanz, bewirkt durch Verfremdungseffekte. Der Zuschauer
soll eine nachdenkliche Haltung einnehmen, prüfen, wie das, was er sieht, rationaler geschehen
könnte, und aus der Einsicht in die Veränderbarkeit der Verhältnisse auch den Mut und den
Entschluß zur Weltveränderung fassen. Brecht nennt das demonstrierende Theater des
wissenschaftlichen Zeitalters ein epische Theater, weil er das Dramatische für schädlich hält; es
befördere die Lust am Konsum von Illusionen.
In Goethes und Schillers Aufsatz Über epische und dramatische Dichtung geht es um das
Gemeinsame und das Trennende beider literarischer Gattungen, damit Dichter und Publikum die
Gattungsgesetze respektieren lernen. Sie folgen hierin der Poetik des Aristoteles, die sie um die
fehlenden Bestandteile ergänzen wollen. Wichtig ist ihnen, Regeln zu finden, ob sich Stoffe und
Motive besser für die epische oder mehr für die dramatische Behandlungsart eignen. Der in den
Arbeitsunterlagen abgedruckte Aufsatz wurde gelesen und kommentiert.
Was ist mit dem beiden Dichtarten gemeinsamen Gesetz der Einheit und der Entfaltung gemeint?
Unter Einheit ist offenkundig das in sich Abgeschlossensein eines Ganzen zu verstehen (Anfang,
Mitte und Ende in der Funktionalität der einzelnen Bestandteile); unter Entfaltung das, was nach
der Wahl von Thema und Motiven auf verschiedene Weise eine Ganzheit erschließt.
Das wurde im Anschluß an Goethes Definition der Novelle erprobt: Was ist die Novelle anders,
erklärt Goethe 1827 in einem Gespräch mit Eckermann, als „eine sich ereignete unerhörte
Begebenheit". Diese Definition lässt an Aristoteles denken. Denn was der Novelle die in sich
13
abgeschlossene Einheit und Ganzheit einer selbständigen Gestalt verleiht, wird mit Blick auf den
größeren Umfang der miteinander verbundenen Gegebenheiten in einer dramatischen Handlung
bestimmt: Mythos wird eine dramatische Handlung in der Verknüpfung von Begebenheiten
(systasis ton pragmaton) zu einer Einheit.
Hier soll eine einzige Begebenheit (pragma, event) diese Einheit stiften, was offenbar gelingt,
indem ein so noch nicht vorgekommenes Neues, etwas Unerhörtes sich dem Gedächtnis so
schlagartig einprägt, dass die Faktizität des Einmaligen zur Stiftung einer endgültig in sich
abgeschlossenen Gestalt genügt. Von dieser auffälligen Art des neu Ereigneten hat die Novelle
(Diminutivform von italienisch novo = neu) ihren Namen. In Unverhofftes Wiedersehen von
Johann Peter Hebel wie in der Falkennovelle aus dem Decamerone von Giovanni Boccaccio
sehen wir die poetische Dynamik, die eine solche Kurzform zu einer eigenen und selbständigen
Ganzheit macht, am Werk, mit Pathos, einer auf einen Moment konzentrierten Peripetie und
einer mit dieser verbundenen Anagnorisis.
Goethes Definition leuchtet ein. Dennoch, eine allgemein verbindliche Definition der Novelle
läßt sich wegen der Wandlungen in Theorie und Praxis nicht geben. Häufig begegnende
Formelemente kann man aufzählen, man wird aber immer Novellen finden können, die sich ihnen
nicht unterwerfen. Die Verwandtschaft der Novelle zum Drama ist größer als die zum Roman –
dies ist zum Beispiel eine die Überlegungen von Theodor Storm herausfordernde Beobachtung.
Solcher Wandel der Konzeptionen in der Verwendung von Schemata und Begriffen verwirrt aber
nur dann, wenn wir nicht festhalten, dass ein Beschreiben, das die Konturen der Phänomene
morphologisch verstehen will, von der Synchronie ausgehen muß. Geschichte aber bietet eine
Diachronie sich wandelnder oder auch nur sich ablösender Herausforderungen des Verstehens.
Geschichte als Wandel in der Zeit fordert unser Fragen gerade auch deshalb heraus, weil sich
über Verlusten und neu Entdecktem wie über den oft überraschenden Umgang mit Überliefertem
nichts Verbindendes entdecken lässt.
Gustav Freytag gibt Ende des 19. Jahrhunderts mit seinem von Wilhelm Dilthey besprochenen
Buch Die Technik des Dramas (Einleitung der Neuausgabe!) eben in der Zeit, in dem die von
Aristoteles zuerst beschriebene verbindlich gebliebene Grundform der Erfahrung des
Dramatischen an ihr Ende gelangt, die umfangreichste Ausarbeitung der auf Aristoteles
zurückgehenden Poetik des Dramas. Und auch hier lässt sich der unmerkliche Wandel des
Verstehens erkennen, wenn man beispielweise Freytags ausführliche Behandlung
der
Expositionen dramatischer Handlungen betrachtet. Nach dem, was Aristoteles über das Singuläre
eines von einer dramatischen Handlung vorgegebenen Anfang sagt, erkennen wir im anders
gerichteten Fragen nach der Exposition jenes wissenschaftliche Denken wieder, dem es
14
insbesondere um die determinierenden Verhältnisse von Ursache und Wirkung geht. So will es
aber eine moderne, von positivistischer Soziologie und Psychologie inspirierte wissenschaftliche
Frage (J.S. Mill; H. Taine) nach der Geschichte, nach dem Menschen und nach der Funktion der
Kunst. In dem Essay von Emile Zola "Le roman experimental" ist diese experimentelle Haltung
einer auf Therapie des Menschen und der Gesellschaft sich verpflichtende Literatur umgesetzt.
Hier beginnt die Epoche des Naturalismus.
Schon Goethes Roman Die Wahlverwandtschaften (1809) spielt die Reaktion chemischer
Verbindungen gegen Trennung und Neubildung menschlicher Verbindungen aus – aber gerade in
umgekehrter Richtung als Bezeugung menschlicher Freiheit.
Für den Naturalisten sind alle Handlungen determiniert durch Zeit (race), Raum (milieu) und den
kritischen Punkt (moment), in dem eine Gemengelage explosiv miteinander reagiert. Das
technische Denken der Wissenschaften wendet sich mehr und mehr auf alle Bereiche der Welt
des Menschen, auch auf den der Kunst, deren Funktion wissenschaftlich analytisch betrachtet
wird.
Zur Veranschaulichung wurde die Motivation des Handlungsablaufs in Schillers Wilhelm Tell mit
der Motivation des Geschehens in Die Wildente von Ibsen verglichen.
Über den Begriff Motive der Handlung gehen wir auf Goethes und Schiller Unterscheidung der
Gesetze von epischer und dramatischer Dichtung zurück. Zwei Motive sind hier besonders
interessant:
Vorwärtsschreitende Motive befördern die Bewegung der Handlung auf deren Ende hin und
sind typisch für das Drama.
Rückwärtsschreitende Motive entfernen die Handlung von ihrem Ziel, wie im ersten Gesang
der Ilias von Homer, die mit Hektors Tod durch die Hand des Achill enden wird, wenn der
beleidigte Achill den Kriegsschauplatz verlässt, den Krieg bestreiken will und sich weinend an
den Meeresstrand setzt.
Erzählzeit und erzählte Zeit
Diese Unterscheidung hat die neuere Poetik des Erzählens in ihrer strukturbildenden Kraft
thematisiert
Erzählzeit ist die Zeit des Erzählens, die Zeit, die sich erschließt, wenn der Erzähler seinen
Zuhörer oder Leser zum Vortrag oder zur Beschäftigung mit dem Erzählten versammelt.
Erzählzeit bezeichnet die Dauer des Lesens oder Erzählens, die man, wenn man will, auch an der
Uhr ablesen kann.
15
Erzählte Zeit erschließt sich als die Zeit aus der Verwirklichung der Handlung, bezeichnet als
den Zeitumfang, über den sich die erzählte Handlung erstreckt.
Grundkurs: Einführung in die Literaturwissenschaft Teil 2
Protokoll der Sitzung vom 25.01.02
Dozent: Dr. F. Heuer
Protokollantin: M. Kärner
Thema: Poetik des Dramas und Poetik des Erzählens
Die Bedeutung des Wortes Poetik wurde von der Antike bis zur Aufklärung als Lehre von der
Technik der Dichtung verstanden, die in gewissen Sinne erlernbar sei. Aristoteles äußerte sich
über die Tragödie sehr ausführlich, über das Epos nur kurz. Für beides aber gilt nach der Poetik
von Aristoteles: Dichtung erschließt etwas, was die Wissenschaften nicht erschließen können. Sie
erschließt Wahrheit (aletheia) des menschlichen Handelns aus einem Aspekt, der dem
methodischen Fragen der Wissenschaften, also auch dem Historiker verborgen bleibt.
Wissenschaften wie auch die Historie gehen Zeit messend (Zeit segmentierend) von der Zeit aus;
die Dichter gehen in beiden Dichtungsarten von der Handlung aus, die ihrerseits Zeit erst
erschließt
(Gegenwart
als
vollkommene
Gegenwart,
Vergangenheit
als
vollkommene
Vergangenheit, wie Goethe und Schiller in ihrem Aufsatz Über epische und dramatische
Dichtung erklären).
Seit dem „Sturm und Drang“ wird die Poetik nicht mehr als eine Lehre mit verbindlichen Regeln
und praktischen Anweisungen respektiert. Dabei gerät aber auch das, was man unter
aristotelischer Poetik versteht, ins Schwanken. Goethe und Schiller wollen mit ihrem Aufsatz der
Auflösung der Gattungsregeln entgegenwirken.
Die Meinungen über die Verbindlichkeit der Kunst schwanken seit Platon. In diesem
Zusammenhang wird nach dem Verhältnis von Kunst und Erkenntnis oder von Kunst und
Wahrheit gefragt, wobei zu beachten ist, dass auch der Begriff der Wahrheit selbst schwankend
ist. Griechisch aletheia meint nicht das gleiche wie die in der Scholastik gedachte adaequatio rei
et intellectus, d.h. Wahrheit (veritas) als nachprüfbare Richtigkeit in der Übereinstimmung einer
Sache mit dem Begriff von ihr. Und das englische truth, im Deutschen in trauen, Vertrauen
vorhanden, weist wiederum auf einen anderen Sinn ursprünglichen Erfahrens als eben das
deutsche Wort Wahrheit.
Nietzsche sagte, dass die Kunst mehr wert sei als die Wahrheit.
Aber
Nietzsche hat anderes im Blick als Lessing, der an Aristoteles anknüpfend weiß, dass die Dichter
16
etwas zu Tage bringen, das sonst auf keine andere Weise erreicht werden könnte. Wenn sich
Schiller in den beiden ersten Briefen Über die ästhetische Erziehung des Menschen dafür
rechtfertigt, dass er sich als Zeitbürger im Zeitalter der Französischen Revolution mit der Kunst
und dem Gesetz der Schönheit beschäftigt, schreibt er, zeigen zu wollen, dass der Weg in die
Freiheit über die Schönheit führt.
In der Renaissance wird die Poetik von Aristoteles wiederentdeckt. In neuem Wissen um die
Stellung des Theaters in der antiken Polis werden Theatergründungen in Verbindung mit der
Bildung eines neuen Bewusstseins politischer Repräsentation gesehen. Bis in unsere Zeit wird
über Kunst und Poetik immer wieder unter politischen Aspekten diskutiert. Man kann z.B.
Thomas Mann, Brecht, Max Frisch, Dürrenmatt und auch Tankred Dorst nicht verstehen, ohne
den politischen Hintergrund des 20.Jahrhunderts zu kennen.
Theater wurde und wird verstanden als eine politische Institution. Und so ist es in der
europäischen Geschichte immer wieder Gegenstand scharfer kultureller Auseinandersetzungen
gewesen. Aus den ersten nachchristlichen Jahrhunderten kennt man mehrere Beispiele dafür, dass
jemand nur dann getauft werden konnte, wenn er zuvor dem Theater abgeschworen hatte. Mit der
Ausbreitung des Christentums verschwand das Theater der Antike zunächst.
Auch Wertschätzung, Rang und Popularität der verschiedenen literarischen Gattungen bleiben im
Lauf der Geschichte nicht gleich. Seit dem 19.Jahrhundert konkurriert der Roman mit dem
Theater um den literarischen Rang. Romane werden publikumswirksamer als das Theater. Das
schlägt sich auch, von den Romantikern inspiriert, in der erst in den letzten beiden Jahrhunderten
zu voller Breite entwickelten Theorie des Erzählens nieder. Heute konkurriert Literatur mit den
neuen Medien Film und Fernsehen, und die verfilmte Literatur fordert die Kritik zu neuen Fragen
und Aufgaben heraus.
Nach diesen allgemeinen Orientierungen wurde das Thema wieder auf die Besprechung von
Goethes und Schillers Aufsatz Über epische und dramatische Dichtung gelenkt, ein klassischer
Beitrag zur Poetik, der offenkundig die in der aristotelischen Poetik nur unvollständig behandelte
Poetik des Erzählens ergänzen will.
Das Prinzip von Roman und Tragödie ist das gleiche: beide stellen als Dichtungen Handlungen
nach den Regeln der Mimesis dar. Ein Epos ist umfangreicher als eine Tragödie; es kann viele
Handlungen, auch solche, die gleichzeitig stattfinden, miteinander verbinden und trotzdem
überschaubar bleiben. Wie Goethe und Schiller hatte auch Aristoteles Homer, die Ilias und die
Odyssee vor sich – Schiller nennt bei Gelegenheit den Prosaroman einen Halbbruder des
17
Versepos (Halbbruder bezeichnet im Schwäbischen den Bastard, so wie Halbdackel hier ein
böseres Schimpfwort als Dackel ist).
Auch epische Dichtungen können von Begebenheiten erzählen, die phobos und eleos erregen.
Aber in einer Erzählung sind die Distanzen anders als in der Tragödie. Zwischen das Publikum
(den Zuhörer oder Leser) und die ereigneten Begebenheiten tritt hier ein Erzähler, der alles schon
erfahren hat, der zu Beginn seines Erzählens immer schon am Ende des erzählen Geschehens
war.
Eine Tragödie ist dazu geschaffen, auf die Bühne zu kommen. Die Begebenheiten einer
Erzählung kann man oft gar nicht auf die Bühne bringen, was ganz deutlich wird, wenn der
Erzähler seinen Stoff mit Kunstverstand ausgewählt hat. „Unverhofftes Wiedersehen“ von
Johann Peter Hebel ist nicht als ein Theaterstück darzustellen und wohl auch kaum angemessen
zu verfilmen.
Epiker und Dramatiker sind beide den allgemeinen poetischen Gesetzen verpflichtet, besonders
dem Gesetz der Einheit und der Entfaltung. Das wurde an den schon bekannten Strukturregeln
veranschaulicht. (Es muss Anfang, Mitte und Ende geben, wobei die einzelnen Teil so
miteinander verknüpft werden müssen, dass das Ganze leidet, wenn ein Teil weggelassen wird.
Und zum Gesetz der Entfaltung: auch eine Erzählung ist ohne Pathos, Peripetie und Anagnorisis
nicht zu entwickeln. Auch dies lehrt schon die kurze Erzählung von Hebel).
In der Poetik der Erzählens unterscheidet man zwischen Erzählzeit und erzählter Zeit. Die
besondere Art der Zeiterschließung unterscheidet epische und dramatische Dichtung wesentlich
und von Grund auf:
Der dramatische Dichter stellt die Zeit vollkommen gegenwärtig, der epische aber vollkommen
vergangen dar.
Schon Homer macht in der Erzählung vom Empfang des Odysseus am Hof des Phäakenkönigs
Alkinoos die epische Dichtung und die Spielregeln für den Vortrag einer Erzählung selbst
wiederum zum Thema des Erzählens, und er lässt in seinem Epos, dessen Held Odysseus selbst
wiederum als Erzähler, als Ich-Erzähler, auftreten. Laurence Sterne zieht im 18. Jahrhundert in
seinem Roman The Life & Opinions of Tristram Shandy alle Register, wie sich ein Erzähler-Ich
selbst zum Thema machen kann, bis hin zur Genese aller der Merkwürdigkeiten, die es an sich
vorfindet, im elterlichen Zeugungsakt – hier: dass die Mutter den Vater im entscheidenden
18
Augenblick gefragt habe, ob er denn auch die Uhr aufgezogen habe. Einen solchen
humoristischen Roman nennen die Engländer eine Shaggy Dog Story.
Einführung in die Literaturwissenschaft, Teil II
Dozent: Dr. F. Heuer
Protokoll der Sitzung vom 30. 1. 2002
Protokollanten: Pablo Orellana, Daniela Janeva
Vorbereitung auf die Klausuraufgaben:
Die Begriffe der Poetik des Dramas sind an Beispielen zu veranschaulichen. Aus den im Grundkurs
herangezogen Dramen wurden folgende ausgewählt:
Sophokles: Antigone; - Shakespeare: Hamlet; - Schiller: Wilhelm Tell; -Ibsen: Die Wildente;
Dürrenmatt: Der Besuch der alten Dame
Für die Veranschaulichung der Poetik des Erzählens kommen neben den Beispielen in den
Arbeitsunterlagen hinzu: Goethe: Die Wahlverwandtschaften; - Gottfried Keller: Kleider
machen Leute; Kafka: Ein Hungerkünstler
Wir arbeiten als Literaturwissenschaftler morphologisch und historisch, achten also gegenüber
der Abfolge der Zeitalter auf die Verwandlung der die Werke der Literatur zur jeweiligen
singulären Einheit organisierenden Gestaltgesetze. Mit der Poetik von Aristoteles erscheint zum
ersten Mal eine Literaturtheorie, die morphologisch denkt (Das Ganze ist mehr als die Summe
seiner Teile). Die Poetik zeigt, dass Mimesis in anderer, heterogener Weise Erfahrung erschließt
(auch die Zeit selbst) als die von den möglichen Segmenten des Messens ausgehende
wissenschaftliche, prinzipiell experimentelle Forschung.
Es ist erstaunlich, wie sich seit dem Naturalismus auch die Dichtung in der Wahl ihrer Stoffe
und Verfahren von den Prinzipien wissenschaftlichen Arbeitens her verstehen will. Die Dichter
des Naturalismus orientieren sich dazu an dem im 19. Jahrhundert wissenschaftstheoretisch
begründeten Positivismus: John Stuart Mill, Hippolyte Taine. Claude Bernard gibt mit seinem
Programm einer experimentellen Medizin die Anregungen und Orientierungen für die
richtungweisende literarische Programmschrift von Emile Zola: Le roman expérimentale.
Der Experimentator interessiert sich für speziell ausgewählte und definit bestimmte Bestandteile
eines Gemenges (auf Menschen übertragen: race), außerdem für die dynamischen Eigenschaften
des Feldes, in das er die zu beobachtende Menge eingrenzt (auf Menschen übertragen: milieu),
und zuletzt für den kritischen Punkt, in dem die versammelten Faktoren zu einer Reaktion
19
gelangen oder gebracht werden können und in einen anderen Zustand übergehen: moment. Auf
die Literatur übertragen heißt das: Wie ein in moderner experimenteller Medizin geschulter Arzt
sollen Roman und Drama den Menschen unter den determinierenden Bedingungen seiner
Naturanlagen und seines gesellschaftlichen Umfelds zeigen – zeigen für eine wissenschaftlich
rational sensibilisierte Aufmerksamkeit, die wissenschaftlich experimentell in Konstellationen
berechenbarer Faktoren eingreifen kann. Hier setzt dann das Projekt eines Theaters des
wissenschaftlichen Zeitalters von Brecht an.
Der literarische Naturalismus stieß auf Widerstand, es entstanden antinaturalistische
Strömungen. Aber auch diese Gegenströmungen fühlten sich durch die experimentellen
Verfahren des Artistischen, wie sie die Umsetzung eines solchen Programms entwickelte, nicht
nur herausgefordert, sondern auch beeinflusst. Zum Studium empfohlen wurde hier: Peter
Szondi: Theorie des modernen Dramas (ed. suhrkamp), ein Buch, dass zu Einführung in die
poetologischen Fragen der modernen Literatur ebenso grundlegend ist wie das früher genannte
von Hugo Friedrich: Die Struktur der modernen Lyrik.
Peter Szondi fragt, wie sich unter Menschen, die durch Vererbung (race) und Milieu determiniert
sind, Konflikte entstehen, die sich für dramatische Darstellung eignen. „Die Wildente“ von Ibsen
wird als analytisches Drama bezeichnet, aber die Charaktere, die wir vorfinden sind
phlegmatisch und haben sich so mit ihren Lebensverhältnissen arrangiert, dass sie daran nichts
ändern und daher auch nicht erinnert werden wollen. Da muss, wie Peter Szondi an den
Theaterstücken der Naturalisten beobachtet, ein Katalysator, ein von außen kommender
neugieriger Beobachter oder ein überreizter Störenfried wie Gregers Werle hinzukommen, damit
etwas in Bewegung gerät. Was in der „Wildente“ zuletzt geschieht, der Tod der Hedwig, die mit
dem, was Gregers von ihr verlangt, ihr Lieblingstier zu erschießen, überfordert wird, ist ein
Unglücksfall; er erschließt, wie ein Arzt resümiert, kein Ethos, kein Erkennen und verändert
nichts.
Dürrenmatt wirft in seinen dramaturgischen Schriften (Auszug in Arbeitsunterlagen: S.38) Brecht
vor, sein Theatermodell sei darauf angelegt, zu zeigen, „wie man Problemen lösen kann“
Dürrenmatt setzt dagegen: „Wenn ich als Dramatiker Geschichten zu ende denke, kann ich
Probleme zeigen, aber lösen muss ich sie nicht“. Mit der grotesken Komödie „Die Physiker“ gibt
Dürrenmatt mit einem Drama, einer zu ende gedachten Geschichte, ein Beispiel dafür, wie
ausschließlich problemorientierte scheitern.
Als Beispiel für die im Sinne einer wissenschaftlichen Theorie verfassten Lehrstücke von Brecht
wird „Die Maßnahme“ besprochen. Das Theaterstück zeigt ein warnendes und die Akteure wie
20
die Zuschauer disziplinierendes Beispiel, wie man nicht handeln soll. Es demonstriert das Ende
einer missglückten Problemlösung. Dem jungen Genossen misslingt es, in unbedingtem
Gehorsam gegenüber den „wissenschaftlichen“ Lehren des Klassenkampfs seine Affekte zu
unterdrücken und sein Leben für die kommunistische Agitation zu erhalten. Brecht will also
durch sein Theater der Verfremdung, durch Verfremdungseffekte (V-Effekte) die Identifikation
mit Leidenden und im Sinne der Schaffung einer besseren Welt falsch Handelnden verhindern. In
dem jungen Genossen zeigt er jemanden, der seine Affekte nicht unter die Kontrolle des
steuernden Bewusstseins bringen kann. Der junge Genosse macht der 3 Fehler Zuerst kann er
sein spontanes philanthropisches Mitleid nicht unterdrücken. Dann treibt in sein spontan
aufsteigender Ekel davon, wenn er mit einem Kaufmann einen für die Revolution nötigen
Waffenkauf tätigen kann. Zuletzt gefährdet er die Arbeit der Agitatoren, indem er im Affekt
einen Polizisten niederschlägt, so dass die Agitatoren insgesamt in Gefahr geraten, identifiziert zu
werden. er nach allen diesen Fehler sterben sollte, da er zu gefährlich für die Partei war. Dieses
Werk ist für die Kritiker als die authentische Tragödie des 20. Jahrhunderts, da hier wir Pathos,
Peripetie und Anagnorisis finden.
In ihrem Aufsatz Über epische und dramatische Dichtung unterscheiden Goethe und Schiller
fünferlei Arten von Motiven: vorwärtsscheitende, rückwärtsschreitende, vorgreifende,
zurückgreifende und retardierende.
Was heißt
Motiv? - Motiv kommt von
lateinisch movere = bewegen, bedeutet also ein
Bewegung schaffendes und in verschiedene Richtung lenkendes und entfaltendes, dynamisch
geladenes Element. Was wir in der Musik seit Carl Maria von Weber (Der Freischütz) und
Richard Wagner und dann auch in der Literatur als Leitmotiv verstehen, ist dagegen statisch, ein
wenn auch variierbares, aber in der Struktur fester Bestandteil, der in bestimmten Situationen
einer sich fortbewegenden Handlung das Verstehen dirigierend eintritt.
Die vorgreifenden, zurückgreifenden und retardierenden Motive verwenden sowohl der epische
wie der dramatische Dichter. Alkinoos rüstet für die Heimkehr des Odysseus ein Schiff und lässt
die Gastgeschenke zusammentragen – die Vision des sterbenden Freiherrn von Attinghausen
verheißt den glücklichen Ausgang des dramatischen Geschehens. In beiden Fällen handelt es sich
um ein vorgreifendes Motiv. Vorwärtsscheitende und rückwärtsschreitende Motive aber
bestimmen die Bewegungsrichtung in dem darzustellenden Geschehen. Vom Tod Hektors, des
stärksten Beschützers von Troja, will die Ilias erzählen; Achill aber, der Hektor töten wird, lässt
Homer im ersten Gesang seines Epos weinend und mit dem festen Vorsatz, den Krieg zu
bestreiken, vom Kriegsschauplatz gehen. Das Motiv entfernt also die Handlung von ihrem Ende,
ist rückwärtsschreitend. Solche Motive sind wenig geeignet für den Dramendichter, der
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vorwärtsschreitende Motive braucht: Antigone wird entgegen dem Gesetz Polyneikes, koste es,
was es wolle, begraben.
Grundkurs: Einführung in die Literaturwissenschaft - Teil II
Dozent : Dr. F. Heuer
Protokoll der Sitzung vom 01.02.02
Protokollantin: Ngo Kim Anh
1. Am Anfang der Sitzung wurden die Argumente erörtert, die den Umgang mit den Begriffen
epische und dramatische Dichtung, mit denen Aristoteles, Goethe und Schiller die literarischen
Gattungen streng voneinander abgrenzen, in der modernen Literatur wieder schwierig und
zweideutig machen, wenn Brecht sein Theater ein „episches Theater“ nennt und das Erzählen
sich von Techniken der filmischen Aufzeichnung anregen lässt.
2. Mit dem Ende des 19. Jahrhunderts beginnen und entwickeln sich die heute diskutierten
Konzeptionen der Erzähltheorie und deren Begriffe. Wenn Goethe und Schiller epische und
dramatische Dichtung voneinander abgrenzen, so leiten sie gewissermaßen die Gesetze von der
Natur des Menschen ab. Nur die Kunst kann den Menschen als Menschen zeigen und betrachten.
Die epische Dichtung zeigt, wie sich Zeit als vollkommen vergangen erschließt, dramatische
Dichtung erschließt Zeit als vollkommen gegenwärtig. Solche Formulierungen sprechen aus
klassischem morphologischem Denken. Das Zeitverständnis des Naturalismus orientiert sich aber
an der Zeitmessung der Naturwissenschaften, sieht auf die an der Uhr abzulesende Zeit. Das hat
Folgen für die in der Theorie des Erzählens entwickelte und zur Beobachtung der
Erzähltechniken sehr anregende Unterscheidung von Erzählzeit und erzählter Zeit.
Wird beobachtet, wie sich beide zueinander verhalten, so lassen sich die verschiedenen
Erzählweisen deutlich voneinander abgrenzen.
Hält sich der Erzähler genau an den zeitlichen Ablauf des Geschehens, folgt er ausschließlich
dem Gang der Ereignisse in der erzählten Zeit, dann wird sein Erzählen zum Bericht. Ein Bericht
kann die Zeit raffen oder er kann sie dehnen, wie die Zeitlupe beim Filmen – er braucht dann,
auch wenn er nur berichtet, zum Erzählen mehr Zeit als der erzählte Vorgang für sich selbst in
Anspruch nimmt.
22
Der Erzähler hat aber, da er sich in einer eigenen Zeit, eben der Erzählzeit, und in einem eigenen
Raum, dem Erzählraum, den er mit seinem Zuhörer oder Leser teilt, bewegt, auch die
Möglichkeit, im Raum der erzählten Begebenheiten anzuhalten, sich umzusehen und das, was er
sieht, für seinen Leser oder Zuhörer zu beschreiben. Auch die Beschreibung gehört zu den
Erzählweisen, die besonderer Beobachtung wert sind.
Nun findet sich aber auch, dass ein Erzähler wie ein Zuschauer im Theater so fasziniert wird, dass
er gewissermaßen atemlos die Dramatik im Ablauf des Geschehens verfolgt. Dann geht der
Bericht in größter Nähe zu den sich ereignenden Begebenheiten in szenische Darstellung über.
Geschieht dieses Fasziniertwerden als Innehalten vor dem, was sich dem Anschauen darbietet,
dann wird die Beschreibung zum Bild, das den Erzähler herausfordert, im Raum des Bildes
anschauend zu verweilen. In Goethes Roman „Die Wahlverwandtschaften“ gibt das Tableau mit
der von Ottilie dargestellten Maria mit dem Jesusknaben ein Beispiel.
Der Erzähler kann jedoch auch Zeit und Raum der erzählten Begebenheit ganz verlassen und sich
direkt dem Leser zuwenden, entweder in einem Gespräch mit dem Leser, einer Erörterung, oder
indem er dem Leser Material zu der erzählten Geschichte übergibt, Tagebücher, Briefe und alle
Art von Dokumenten als Informationsmaterial.
Interessant sind neben den Dialogen, die ein Erzähler natürlich auch wiedergeben kann, die
Gespräche, in denen der Erzähler alles, was er mit dem Leser direkt verhandeln kann, auch
wieder in die Erzählung hineinzuverlegen weiß.
3. Aus dem Gesagten ergibt sich: Die Erzählweisen machen aufmerksam auf verschiedene
mögliche Rollen, in denen der Autor seinen Erzähler auftreten lassen kann, mit je verschiedenen
Möglichkeiten, die dem Erzähler in diesen Rollen, als auktorialer Erzähler oder als personaler
Erzähler oder als Ich-Erzähler zur Verfügung stehen.
Welche Rolle aber auch gewählt wird, Rollenwechsel bleiben eingeschlossen, so wie schon
Homer als Erzähler bei dem Fest am Hof des Alkinoos einen anderen Erzähler, Demodokos, und
schließlich Odysseus selbst als Ich-Erzähler auftreten lässt.
Und welche Rolle auch gewählt wird, Zeit und Raum des Erzählens erlauben alle Möglichkeiten
von Abstand und Nähe zur Zeit- und Raumerfahrung im Bereich des Erzählten.
In „Kleider machen Leute“ von Gottfried Keller oder in „Die Wahlverwandtschaften“ von
Goethe ist der Standpunkt des Erzählens ein external view point, beinahe ein weit über die
23
erzählte Welt erhobener olympian view point. Fast immer ist sichtbar, dass das Geschehene
zurückliegt: vision par derrière.
Aber in Kleists Novelle „Das Bettelweib von Locarno“ zwingt uns der Erzähler, der sich
eingangs und am Ende als auktorialer Erzähler vorstellt und verabschiedet, beim Verfolgen der
unheimlichen Erscheinungen dem Zeitablauf gebannt zu folgen: vision avec. Aber diese
Zeitwahrnehmung verbindet sich keineswegs mit einem internal view point, da die
Empfänglichkeit, die Sensibilität der beteiligten Figuren für das, was vorgeht, ganz verschlossen
bleibt.
Den internal point of view wählt aber ganz zweifellos der personale Erzähler in Kafkas
Erzählung “Ein Hungerkünstler” und der Erzähler in dem Roman „Die Grenze“ von Gottfried
Meinhold.
4. Eine Steigerung des internal point of view ins Extrem bildet das moderne Erzählen in der
Technik aus, die als innerer Monolog und stream of consciousness beschrieben wird. Die
Erzählung „Leutnant Gustl“ (1900) von Arthur Schnitzler gibt ein erstes konsequentes Beispiel
für diese stream of consciousness-Technik. Der Held, mit Kant möchte man formulieren, ein so
vielfärbiges Selbst wie die Vorstellungen in ihm wechseln, wird nur als ein Bündel von
Dummheit, vagabundierenden trivialen Wünschen, Angst und Aggression durch die
Leutnantsuniform zusammengehalten. Nur das Vorbeiziehen der Kette von Assoziationen, die der
Wechsel der Erregungen in dem Gefäß, als das er in seiner Uniform steckt, ist als Fallstudie von
Interesse und auf keine andere Weise erzählbar. Was diesem Leutnant an Satzgebilden durch den
Kopf zieht, wird man kaum noch als innerer Monolog beschreiben können, aber auch nur
bedingt als stream of consciousness, weil die Einheit eines Bewusstseins sich hier gar nicht
mehr zu versammeln weiß.
5. Was ist der Unterschied zwischen einem auktorialen und einem personalen Erzähler ?
Der personale Erzähler verzichtet auf alle Einmengungen in die Erzählung. Er ist so tief in dem
erzählten Geschehen versunken und versenkt sich so intensiv in das Gegenwärtigsein der
Charaktere in deren erzählter Welt, dass seine Anwesenheit dem Leser nicht mehr bewusst wird.
Er verschafft dem Leser die Illusion, sich mit der Hauptperson durch das Geschehen zu bewegen,
mit ihr wahrzunehmen, zu empfinden, zu verstehen und zu überlegen. Er stellt die Illusion einer
Unmittelbarkeit von Dabeisein her, hinter
der das Vermittelnde seines Erzählens ganz
zurücktritt. In der Erzählung „Ein Hungerkünstler“ von Franz Kafka befindet sich der Erzähler
selbst auf dem Schauplatz des Geschehens und betrachtet die dargestellte Welt mit den Augen
24
einer Erzählfigur, die jedoch nicht selbst erzählt, sondern in deren Bewusstsein sich das
Geschehen gleichsam spiegelt.
auktorialer Erzähler: Der auktoriale Erzähler ist eine eigenständige Gestalt, die sich, vom Autor
geschaffen, dem Leser gegenüber kundgibt. Der auktoriale Erzähler gibt zu verstehen, dass er
mehr wahrnimmt, übersieht und weiß als die in das Geschehen einbezogenen Figuren. Er mengt
sich also mit Beobachtungen und Kommentaren ein, wendet sich auch direkt mit Kommentaren
an den Leser oder liefert ihm etwa Dokumente, über deren Zusammenhang mit dem Geschehen,
beispielsweise zu Beurteilung von Personen, Verhaltensweisen oder Schicksalen sich der Leser
selbst Gedanken machen soll. Er sorgt dafür, dass der Leser nicht vergisst, dass das Erzählen ein
eigenes Vollbringen ist, eine eigene Zeit (Erzählzeit) und einen eigenen Raum (Erzählerdistanz)
schafft und dimensioniert. Goethe, Gottfried Keller, Thomas Mann, aber auch
Kleist sind
Vertreter solcher Erzählformen.
Grundkurs: Einführung in die Literaturwissenschaft, Teil 2, WS. 01/02
Dozent: Dr. F. Heuer
Protokollantinnen: Alona Schnira und Sunny Parrott
Sitzungsprotokoll vom 06.02.2002
Dr. Heuer hat wieder darauf hingewiesen, dass wir das Arbeitsblatt mit den Aufzeichnungen zu
Strukturen und Begriffen der Erzählkunst (view point-Theorie, typische Erzählformen nach Franz
Stanzel) aufmerksam durchlesen sollen.
Das Thema der Sitzung ist Erzählsituation und Erzählweisen.
Es wurde auch kurz noch einmal über Kunst und Erkenntnis gesprochen. Nur die Kunst kann Zeit
als Gegenwart und als Vergangenheit vollkommen erschließen. Welche Art von Dichtung stellt die
Zeit als vollkommen gegenwärtig, und welche als vollkommen vergangen dar? Die Zeitraum der
poetischen Darstellung ist für den dramatischen Dichter die vollkommene Gegenwart und für
den epischen Dichter die vollkommene Vergangenheit.
Lessing vergleicht in Laokoon die Dichtung mit Malerei und bildender Kunst. Hier geht auch er
von der Zeit und, offenbar durch den Zwang der Phänomene selbst, von der durch die poetische
25
Mimesis von Handlung sich erschließenden Zeit aus. Die bildenden Künstler, die die Dynamik
einer sich von einem Anfang bis zu einem Ende bewegenden Handlung nicht in den einzelnen
Momenten des sich Ereignenden sukzessiv festhalten können, wählen nur den prägnantesten
Augenblick eines Ganzen aus. Sie halten denjenigen Moment fest, der vorausblickend und
zurückblickend mit dem Ganzen eines sich erschließenden Daseins von Geschehen schwanger
geht. Wer gezielt eine Folge von Affekten erregen kann, so wie der eine Zeit als Folge von
Augenblicken darstellende Dichter, kann gespannt der Präcipitation (dem Sturz) der Handlung
folgen oder einem sich entwickelnden Charakter (Lessing als Dramendichter).
Die Empfänglichkeit für das Gesetzmäßige poetischer Mimesis wird offenkundig zunächst auf die
Gesetze und Grenzen der sich erschließenden Zeit gelenkt, in dem Raum und Spielraum
Lichtenden menschlichen Handelns (Ethos im Sinne der Poetik von Aristoteles). Hier bewegt sich
Lessing, wenn er nach den Grenzen der Dichtkunst und der bildenden Kunst und Malerei fragt.
Typische Erzählsituationen: auktorialer Erzähler
Der Kursleiter hat den von Stanzel gebildeten Begriff auktorialer Erzähler erklärt. Der auktoriale
Erzähler kann die Souveränität der Situation seines Erzählens voll ausschöpfen. Er gibt sich in
seinem Tun sowohl dem, was er zu erzählen hat, wie seinem Leser gegenüber, frei und überlegen.
Er gibt zu erkennen, dass er immer schon das Ende der Geschichte erfahren hat: es liegt hinter ihm
zurück (vision par derrière). Er gibt zu verstehen, dass er von einem Standpunkt außerhalb des
Geschehens die Sache vor sich hat (external view point). Dieser auktoriale Erzähler ist eine
eigenständige Gestalt, die vom Autor geschaffen worden ist, wie die Charaktere des Romans.
Gewinnt dieser Erzähler eine Übersicht wie ein Gott über alles, was Menschen begegnen kann, so
überschaut er alle Zeit und alle Räume. Das wird olympian view point genannt. Der Erzähler weiß
dann auch Dinge, die der Zuhörer oder Leser nicht wissen kann oder nicht wissen soll, etwa aus
Schonung oder Diskretion.
Der auktoriale Erzähler nimmt als Mittelsmann der Geschichte einen Platz an der Schwelle
zwischen der fiktiven Welt des Romans und der Wirklichkeit des Autors und des Lesers ein. Die
entsprechende Grundform des Erzählens der auktorialen Erzählsituation ist die berichtende
Erzählweise.
Bei der auktorialen Erzählsituation lässt sich immer fragen: Wie steht der Erzähler zu seinem
Leser? Wie steht der Erzähler zu der Welt, zu den Figuren und zu den Begebenheiten seiner
Geschichte? Der Erzähler kann den Leser an die Hand nehmen und mit ihm fragend und belehrend
um die Geschichte herum gehen; er kann sich sogar direkt an den Leser wenden und mit ihm die
Geschichte oder Probleme, die ihn beschäftigen, erörtern. Er kann den Leser aber auch mit dem,
was an den Begebenheiten seiner Geschichte oder deren Figuren betroffen macht, allein lassen.
„Das Bettelweib von Locarno“ von Kleist gibt ein Beispiel für eine auktoriale Erzählsituation.
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Erzählt wird aus dem Rückblick (vision par derrière), Beginn und Schluß bezeugen einen external
point of view. Aber mit dem rätselhaften Geschehen lässt der Erzähler seinen Zuhörer allein, er
rückt ihm das Bedrängende der ereigneten Begebenheit geradezu auf den Leib.
Typische Erzählsituationen: personalen Erzähler
Ein Beispiel für diesen ebenfalls von Franz Stanzel gebildeten Begriff, als Gegenbegriff zu
auktorialer Erzähler, bietet die Erzählung „Ein Hungerkünstler“. Franz Kafka braucht in diesem
Werk einen personalen Erzähler. Das Schicksal dieses Hungerkünstlers lässt sich nur in einer
personalen Erzählsituation zur Darstellung bringen. Der Erzähler versetzt sich ganz in die
Perspektive seiner Gestalt, in deren Augen, Ohren, Nase und Mund, Fühlen und Denken, Freude
und Leid. Die Person, von der erzählt wird, bleibt ein hier wie in dem Roman „Die Grenze“ von
Gottfried Meinhold ein ER. Aber der Erzähler zwingt seinen Leser in die erlebte Zeit dieses „ER“,
der er folgt, auch wo dieses „ER“ innehält, sich erinnert, Fragen erörtert etc. (vision avec), und
versetzt ihn in den in dieser erlebten Zeit sich erschließenden Raum, in die Bewegung der
Erlebnisraumerfahrung (internal view point).
Dem olympian view point entsprechend ist auch hier ein entgegengesetzter Extremfall denkbar und
in der modernen Literatur umgesetzt: Stream of Consciousness ist diese Erzählsituation genannt
worden. 1900 gibt Arthur Schnitzler mit seiner Erzählung „Leutnant Gustl“ ein wegweisendes
Beispiel. Der Kursleiter zieht eine Parallele zwischen einem Stream of Consciousness-Erzähler
und einem Psychiater, der sein Einsehen nutzt, um „eine Stunde aus dem Leben seines Patienten“
zu protokollieren. Schnitzler war Arzt und Psychiater. Der Künstler Schnitzler sieht sich vor der
Aufgabe, Menschen begegnen zu lassen, die, gehalten von irgendeiner Rolle wie hier der ebenso
eitlen wie gefährlichen Uniform eines Leutnants, zu einem so vielfärbigen Selbst geworden sind,
wie die Vorstellungen in ihnen wechseln und verfließen.
Ein entsprechendes aber in andere Richtung gesehenes Problem beschreibt der im Französischen
gebildete Begriff monologue interieur. Auch hier geht es um die problematisch gewordene
Integration dessen, was das Erinnern bedrängt, in die Einheit einer erzählbaren Geschichte. Ein
Extremfall dieser Erzählsituation findet sich in „Der Italiener“ von Thomas Bernhard gestaltet.
Die Erzählung gibt zugleich ein Beispiel für den dritten, hin und wieder umstrittenen, von Franz
Stanzel gebildeten Begriff für eine typische Erzählsituation:
Typische Erzählsituationen: Ich-Erzähler
Um sich ein Bild von der Breite der Gestaltungsmöglichkeiten dieser Erzählsituation zu machen,
genügt es, an einige Beispiele zu erinnern: an Homer, der am Hof des Alkinoos Odysseus von dem,
was er erduldet hat, selbst erzählen lässt, an das von Goethe in den „Unerhaltungen deutscher
Ausgewanderten“ wiedererzählte Abenteuer „aus den Memoiren des Marschalls Bassompierre“, an
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den Roman „homo faber“ von Max Frisch oder eben an den genannten Erzählversuch von Thomas
Bernhard, in dem ein Erinnern an eine Stunde von Eindrücken im Umgang mit Menschen zu
Papier kommt, denen man das Peinliche eines Zusammenbringens von Erinnertem und
Gegenwärtigem ersparen möchte.
Erzählweisen
Bericht: Der auktoriale Erzähler gibt beim Bericht eine Folge von Begebenheiten wieder. Dieser
Erzähler folgt dem Ablauf der Zeit. Goethe und Schiller orientieren sich mit ihrem Begriff der
Erschließung von Zeit als vollkommen vergangen an der Morphologie poetischer Mimesis. Die
moderne Erzähltheorie orientiert sich physiologisch. Erzählzeit als zum Erzählen benötigte Zeit
kann die gleiche Zeit beanspruchen wie der Ablauf der Begebenheiten, von denen der Erzähler
berichtetet. So gesehen kann er wie bei der Zeitlupe die Erzählzeit dehnen, oder aber die Zeit auch
raffen, mit einem Satz über den Verlauf von Jahren berichten.
Kleist wählt in „Das Bettelweib von Locarno“ den Bericht, aber dieser Bericht hält sich in der
Optik des Geschehens selbst. Es wird kurz berichtet, wie das Bettelweib von Locarno wegen der
unmenschlichen Gleichgültigkeit zu Tode kommt. Gemütsbewegungen wie Phobos (Furcht) oder
Eleos (Mitleid) werden auch von der Perspektive des Erzählers her gar nicht angesprochen. Der
Gast des Schlosses, das Ehepaar und sogar der Hund erfahren dann Phobos aus der gespenstischen
Wiederholung des Ablaufs der Geräusche. Aber das Konstatieren des Zeitablaufs verbleibt in
Perspektiven der Agnoia (des Unvernehmens oder Unwissens, der sich wiederholenden
Unempfänglichkeit
eines
Nicht-Wahrhabens-Wollens.)
Die
Menschen
gleiten
in
die
Wahrnehmungsmöglichkeiten eines Tieres zurück. Die zuletzt auf animalischer Stufe bezeugte
Wahrnehmung löst ein Erschrecken (phobos) aus, das zur Katastrophe, einer Peripetie ohne
Anagnorisis führt. Die hier herrschende Agnoia gelangt auch über den Erzähler zu keiner
Anagnorisis. Der Erzähler schweigt sich aus.
Kleist
ist
ein
dramatischer
Erzähler,
der
aus
der
Dynamik
des
erschreckenden
Perspektiventwicklung in der Handlung erzählt. Er zwingt seinen Zuhörer (Leser) in die Dynamik
der Peripetie. Wenn der Hund auf das gespenstischen Geräusch reagiert, geht der Bericht in
szenische Darstellung über – wie sie hier allerdings nur ein Erzähler präsentieren kann.
Szenische Darstellung Mit dieser Erzählweise präsentiert der Erzähler eine Szene, deren Ablauf so
dynamisch, dass er zusammen mit seinem Zuhörer zum faszinierten Zuschauer wird, eine Szene
also, die auf der Bühne dargestellt werden könnte. Beim Lesen tritt das Geschehen der Handlung
dem Leser unmittelbar vor Augen. Es wurde gefragt, wo sich Beispiele für eine szenische
Darstellung in Goethes „Wahlverwandtschaften“ finden. Wichtig zu wissen ist, dass nicht alle
Dialoge szenische Darstellungen sein können.
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Gespräche werden als eine selbständige Erzählweise begriffen. Der Versuch, sie in Gedanken auf
eine Bühne zu übertragen, macht sofort die Unmöglichkeit deutlich, weil ihnen ein gewisses
dramatisches Element notwendigerweise fehlt, nämlich das dramatische sich Vorwegeilen des
handelnden Wortes. Innerhalb eines Gesprächs können alle möglichen Erzählweisen von den im
Gespräch Versammelten wieder aufgenommen werden, diese selbst können sich in allen typischen
Erzählsituationen präsentieren.
Beschreibung: In einer Beschreibung hält der berichtende Erzähler an und schaut sich am Ort des
Geschehens um, mit einem flüchtigen Blick wie bei der kurzen Beschreibung der Ruinen des
Schlosses bei Locarno und dessen Umgebung zu Beginn von Kleists Erzählung oder mit der
Ausführlichkeit, mit der uns Goethe mit dem Lebensraum der Personen seines Romans bekannt
macht.
Bild: Ein Bild verhält sich zu einer Beschreibung wie eine szenische Darstellung zu einem Bericht.
Die von dem Angeschauten ausgehende Faszination zwingt den Erzähler mit seinem Zuhörer oder
Leser in dessen unmittelbare Gegenwart. Erinnert wurde an das Tableau in Goethes Roman „Die
Wahlverwandtschaften“, Ottilie als Maria mit dem Jesusknaben.
Erörterung Sie kann als vielfach verwendete Erzählweise ein Sonderfall des auktorialen Erzählens
werden, wenn sich der Erzähler mit größer Distanz zu den Begebenheiten der erzählten Zeit
unmittelbar an den Leser wendet und über die Geschichte spricht, sich also völlig in die Erzählzeit
begibt. Erörtern kann aber auch ein Ich-Erzähler, dem die Distanz zu seinem Erzählten so sehr
abgeht, dass er sich in der personalen Perspektive seines Erinnerns verliert und in ihr Argumente
gegeneinander stellt – beispielhaft bei Max Frisch in „homo faber“.
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