Kritiken zu Michael Thalheimers Inszenierung der "Emilia Galotti" von G.E. Lessing am Deutschen Theater Berlin, gezeigt bei den 27. Duisburger Akzenten (SS2003) Obsession der Kürze Michael Thalheimers preisgekrönte „Emilia Galotti“ bei den Duisburger Akzenten (Annette Graefe) Was passiert, wenn Liebe zur Obsession wird? Was passiert, wenn man Liebe erzwingen will und deshalb versucht in das Schicksal einzugreifen? Was passiert, wenn man die Versuchung spürt und ihr nicht erliegen will? Kann es nicht nur in einer Tragödie enden? Dass die bevorsteht, ist in der Aufführung des Deutschen Theater Berlin in jedem Moment zu spüren. Konsequent steuern die Figuren in dieser Inszenierung von Lessings „Emilia Galotti“ dem tragischen Ende entgegen. Regisseur Michael Thalheimer lässt Zeit für Gesten und nimmt sich keine für die Sprache. Die Bewegungen der Schauspieler sind überdeutlich, nehmen vorweg und sagen oft mehr, als Sprache es hätte tun können. Die wie aus Maschinenpistolen abgefeuerten Sätze zeigen zwar die Zeitknappheit, die laut Thalheimer das entscheidende Handlungsmotiv ist. Aber sie machen es auch schwer, den Worten zu folgen – besonders für älteres Publikum. Lessings Text tritt – drastisch gekürzt – in den Hintergrund. Stattdessen stehen moderne Beziehungsprobleme und Berührungsängste im Vordergrund. Wie auf einem Laufsteg schreiten die Beteiligten über das edle Parkett (Olaf Altmann). Die Wände werden im Laufe der Inszenierung, die den Nestroy-Preis 2002 erhielt, zu Klapptüren, die sich aber nicht für jeden öffnen, der hinein will. So irrt Nina Hoss als Gräfin Orsina von Tür zu Tür, um zu dem geliebten Prinzen (Sven Lehmann) zu gelangen. Aber keine öffnet sich. Wunderbar gespielt und inszeniert wird die Verzweiflung und Hilflosigkeit, die am ungewollten Ende einer Beziehung steht, greifbar. Die Stärke dieser Inszenierung, im Mai dieses Jahres zu sehen bei den Duisburger Akzenten, ist die Musik, gestaltet von Bernd Wrede. Basierend auf der Filmmusik „Yumei’s Theme“ von Shigeru Umbebayashi („In the mood for love“) leitet sie durch die Inszenierung. Tragisch-schön schafft die Musik eine Atmosphäre, die starke Emotionen hervorruft, aufwühlt, dem Stück Größe verleiht. Sie steht im Kontrast zu der beiläufigen Art und Weise, in der sich die Handlung vollzieht. Ja, da wird zwar schon geschrieen und geschlagen, geküsst und auf Knien gekrochen, aber alles wirkt provokant gleichgültig. Genau das soll Theater laut Thalheimer tun: den Zuschauer provozieren. Wenn er Ingo Hülsmann als Marinelli im Gespräch mit der Gräfin Orsina lange nichts außer langgezogener „Mmh’s“ und „Ähhs“ sagen lässt, provoziert das auf der einen Seite viele Lacher, auf der anderen Seite löst es Empörung aus. Es ist eben nicht die vertraute Emilia aus Lessings altbekanntem Text, die da auf der Bühne steht: In ihrer Sprache und in ihren Gesten wirkt Regina Zimmermann in der Titelrolle manchmal schon so entrückt, als ob sie das alles gar nichts mehr angehen würde. Deshalb kann sie auch nur auf eine andere Art und Weise als die Lessing´sche sterben. Sanft umfasst die umherirrende, weiß-strahlende Emilia der Tod: schwarz-bekleidete Walzertänzer nehmen sie in ihre Mitte, tragen sie fort. Wunderschöne Bilder wie dieses oder wenn Emilia zu Beginn des Stückes im Feuerregen steht, sind es, die diese Aufführung zu etwas Besonderem machen. Provokantes Tempo in Sprache und Handlung Thalheimers Inszenierung der „Emilia Galotti“ gastierte bei den „Duisburger Akzenten“ (Verena Meis) Als das Stück beginnt, ist schon fast alles zu spät: Unterdrückte Gefühle, gefangen im eigenen Körper, kein Ausweg aus dem Raum, scheinbare Verlorenheit. Gedanken werden verschwiegen, Gefühle nicht ausgelebt, Berührungsängste werden zur Qual. Leere: Man schaut auf eine kahle, trichterförmige Bühne (Olaf Altmann), die ihr Ende in einem schwarzen bedrohlichen Loch findet. Quälend laut ertönt die Violinenmelodie (Bert Wrede) nach der Filmmusik aus „In the mood for love“, während eine junge Frau mit festem und entschlossenem Schritt die flammenzüngelnde Bühne überschreitet. Plötzlich regnet ein Feuerwerk auf sie herab. So der Anfang des Lessing´schen Trauerspiels „Emilia Galotti“, inszeniert von Michael Thalheimer, das seine Premiere am 27. September 2001 am Deutschen Theater Berlin feierte und Ende Mai 2003 im Rahmen der 27. Duisburger Akzente „Ichs“ gezeigt wurde. Der Prinz Hettore Gonzaga vergisst im Angesicht Emilias seine Beziehung zur Gräfin Orsina. Und Emilia, die in zwei Stunden einen anderen heiraten will, wird von der Furcht vor ihrer eigenen Verführbarkeit heimgesucht. In Thalheimers Inszenierung bekommt Emilia noch eine Chance. Er zeigt nicht das Lessing´sche Ende, in dem sie vom Vater in Liebe getötet wird. Bei Thalheimer bleibt sie allein zurück, den Revolver am Lauf anpackend: Eine starke, heutige Frau, die mit Hilfe von walzertanzenden Paaren spurlos verschwindet. Jede Figur scheint allzeit bereit, ihr Bekenntnis als komprimierten Text maschinengewehrschnell heraus zu schleudern oder durch gewaltsam ausbrechende Gesten radikal zum Ausdruck zu bringen. Emilia, deren Stimme etwas Beschwörendes an sich hat, spricht geradezu in Zeitlupentempo: Herausragend Regine Zimmermann, die es versteht, dem Zuschauer Verzweiflung und Zwiespalt durch ihre (Körper-)Sprache spüren zu lassen. Der Prinz von Guastalla (Sven Lehmann), ein stolperndes Nervenbündel, und Ingo Hülsmann, sein teuflisch wahnsinniger Kammerherr (Bravorufe des Publikums), beraten sich in einem zungenbrechenden Affentempo. Der Gefühlsausdruck der Figuren erfolgt über Körper, Raum und Musik. Wozu auch Worte? „So viel Worte, so viel Lügen!“, erkennt die abgelegte Geliebte des Prinzen, Gräfin Orsina, gespielt von Nina Hoss: Stumm und schön, klug und statuenhaft, aus der Gefühl und Lust mit Gewalt heraussprühen, und die am Ende mit kräftigem Applaus und Bravorufen belohnt wurde. Es zeigen sich traumhafte Szenen, in denen sich die Figuren, scheinbar verloren im kahlen Raum, die Arme entgegenstrecken und sich doch nicht erreichen: „Tausch der Tränen“ und ein einziger leidenschaftlicher Kuss als Berührungen. Thalheimer gelingt es hervorragend, den explosiven Gefühlsumschwung von Glück in Unglück, Vernunft in Wahnsinn und Hoffnung in Verzweiflung in Szene zu setzen. Seine minimalistische Aufführung, radikal kurze 70 Minuten dauert sie, verliert nichts von ihrem Sog und ihrer Stärke, Zeitzwang und –drang werden zum Handlungsmotiv. Beziehungskonflikte stehen im Mittelpunkt: Bilder der Stille, Sprachausbrüche, eisige Entfernung und scheinbare Nähe – „Ichs“, nicht „Wir“. Lessing mal anders Thalheimers eigenwillige Inszenierung der „Emilia Galotti“ (Maike Rose) Ein Bühnenbild wie ein perspektivisch verzerrtes Gemälde. Durch den Fluchtpunkt betritt Emilia Galotti die Bühne, begleitet von zwei kleinen Flammen, die sich mit ihr bewegen. Mechanisch geht sie entlang der mittleren Linie zum anderen Ende der Bühne auf das Publikum zu, verharrt dort wie erstarrt. Genauso streng ist sie auch gekleidet: ein Etuikleid mit klarem Schnitt. Im Hintergrund läuft klassische Violine im Dreivierteltakt. Der Prinz, eindringlich verkörpert durch Sven Lehmann, taucht auf. Er und Emilia laufen auf und ab, bewegen sich auf zwei parallelen Linien, alles mechanisch. Der Konflikt dieser beider Figuren bildet den Hintergrund für alle Handlungen: Mit allen Mitteln will der Prinz die Hochzeit seiner geliebten Emilia mit dem Grafen Appiani verhindern. Den Auftrag bekommt sein Kammerdiener Marinelli, durch den der Graf schließlich sterben muss. Das Trauerspiel nimmt seinen Lauf. Eigentlich geht es ja nur um Liebe. Doch auch um Gesellschaft - und in dieser Gesellschaft ist die Liebe zum Scheitern verurteilt. Heraus sticht besonders Ingo Hülsmann als Marinelli, der sich als Schlüsselfigur zwischen Intrige und Tragödie bewegt und sämtliche Facetten eines menschlichen Charakters zeigt. Die Protagonisten verstricken sich tiefer und tiefer in ihr unglückliches Schicksal. Immer wieder versuchen sie sich gegenseitig zu berühren, aber wie gleichpolige Magneten schaffen sie es nicht. So kommen die meisten auf den strengen Fluchtlinien der von Olaf Altmann sehr passend entworfenen Bühne, wie im Leben, auch vermehrt ins Trudeln und Stolpern. „Ich habe zu früh Tag gemacht, der Morgen war so schön!“ Ein markanter Satz gleich zu Anfang, welcher noch öfter fallen soll. Der Zuschauer kann sich glücklich schätzen, diesen prägnanten Satz am Anfang klar und deutlich vernommen zu haben, und freut sich, ihn später immer wieder zu erkennen, denn der größte Teil der Dialoge bleibt dem Lessing-Amateur vollkommen unverständlich. So konsequent karg und streng, fast mathematisch, Thalheimer seine Schauspieler und das Bühnenbild erscheinen lässt (es gibt nur zwei Requisiten), so kategorisch rasant sausen dem Zuschauer die Dialoge um die Ohren, beziehungsweise an ihnen vorbei. Kaum zu erwarten, dass diese Inszenierung klassisch nach Lessing endet: Der verzweifelte Odoardo, gespielt von Peter Pagel, muss seine Tochter Emilia (Regine Zimmermann) nicht wie in Lessings Originalvorlage töten, aus seiner Pistole löst sich kein Schuss. Vielmehr tauchen plötzlich von beiden Seiten aus unzähligen Türen in Trauer gekleidete Tänzer auf, die den klassischen Walzer nach der ständig wiederkehrenden Melodie dieses Stücks in Formation tanzen. Ein symbolischer Tod nicht nur eines Opfers der Gesellschaft. Paradox, dass es ein Privileg war, sich einen solchen Reim machen zu können – denn Textkenntnis wurde in dieser tiefgehenden Inszenierung vorausgesetzt! Gefesselte Gefühle Michael Thalheimer überrascht mit einer ungewöhnlichen Inszenierung des Lessing-Klassikers „Emilia Galotti“. (Nadine Szymanski) Noch nie solch einen schauerlichen Kuss gesehen. Leidenschaftlich, begehrend, verschlingend. Wie ein blutrünstiger Vampir hängt sie an seinen hilflosen Lippen, bis er kraftlos zu Boden sinkt. Unter der Regie von Michael Thalheimer wird Lessings bekanntes bürgerliches Trauerspiel „Emilia Galotti“ wieder ganz aktuell. Im Rahmen der 27. Duisburger Akzente zeigte Thalheimer mit seiner Inszenierung, uraufgeführt am 27. September 2001 am Deutschen Theater in Berlin, eine radikale Reduktion des Lessing-Dramas auf der Bühne des Theaters der Stadt Duisburg. Wie im Zeitraffer wird der Zuschauer durch das tragische Geschehen geschleudert. Schnell, hastig und monoton reißen die Darsteller ihre Texte herunter, Schlag auf Schlag fallen die Worte. Ohne Ausdruck, wird nur so viel gesprochen wie nötig, um den Zuschauer beim roten Faden der Handlung zu halten. Thalheimer geht es um etwas anderes. Lange Pausen sind mit Musik gefüllt, mit sehr emotionalen Klängen, die in eindringlicher Lautstärke bis in die obersten Ränge der Tribünen schallen. Oder es ist ganz still. Oder jemand schreit. Was bleibt, ist die Sprache des Körpers. Nichts wird so eindringlich vor Augen geführt wie die lodernde Leidenschaft, vom Geist gefesselt. So viel Gefühl steckt in einzelnen Gesten. Des Prinzen (Sven Lehmann), wenn er, sich nach Emilien (Regine Zimmermann) verzehrend, sehnsuchtsvoll die Arme nach ihr ausstreckt und es nicht wagt, sie zu fassen. Der schönen Emilia, die sich immer wieder von ihm abwendet und es nicht wagt, sich ihm zuzuwenden. Ihres Verlobten, Graf Appiani (Henning Vogt), der sie zärtlich umstreicht und es nicht wagt, ihren Körper zu berühren. Und von Emilias Eltern Odoardo (Peter Pagel) und Claudia (Katrin Klein), die sich weder zur Begrüßung noch zum Abschied in die Arme nehmen können. Immer ist diese Sehnsucht da nach der Nähe des anderen und dieses Begehren nach einer Berührung, zu der es nicht kommt. Die Fesseln fallen, wenn sie alleine sind. In körperlichen Ausbrüchen wird den unterdrückten Gefühlen freien Lauf gelassen, wahnsinnige Verrenkungen und wilde Schreie fahren durch die Leiber. Und sind sie doch einmal versehentlich mit ihren Fingern über fremde Haut gestrichen, durchfährt es sie wie ein Blitz. Erschrocken weichen sie zurück und vergelten es ihrem Körper mit strafenden Schlägen. In solchen Szenen glänzt besonders Ingo Hülsmann in seiner facettenreichen Rolle als Marinelli, der die Fäden in der Hand hält und als Ratgeber des Prinzen das Schicksal spinnt. Er kann giftig wirken wie eine Schlange, hämisch wie ein Teufel oder unschuldig wie ein Lamm. So verschlossen wie die Seelen bleiben die Türen auf der Bühne. Holzvertäfelt sind die Wände seitlich des tiefen Raumes, der nur düster beleuchtet ist. Ebenso farblos sind die Figuren gekleidet, deren Mode aber offensichtlich nicht aus dem 18. Jahrhundert stammt, sondern durchaus in der heutigen Zeit getragen werden kann. Nicht von gestern ist schließlich auch die Thematik, die in der Aufführung so stark zur Geltung kommt. Wie der Prinz in freudiger Erwartung seiner Angebeteten rastlos hin- und herstreicht, sich nervös auf die blutleeren Wangen klatscht - das alles erinnert an ein Date, wenn die Erwartete plötzlich an der Türe schellt. Nichts anmerken lassen. Gefühle zeigen macht verletzlich. Doch Körper und Geist sind untrennbar miteinander verbunden. Die Botschaft mag so lauten, wie Emilia es verzweifelt aus sich herausschreit: „Ich bin aus Fleisch und Blut, auch meine Sinne sind Sinne!“ Wohl deshalb fällt Thalheimers Schluss des Dramas so ganz anders als bei Lessing aus. Dramatisch eingeleitet durch eine Schlüsselszene mit Gräfin Orsina (Nina Hoss) und Emilias Vater. Odoardo, der grundanständige Familienvater, der sich um nichts als seine Ehre schert, trifft auf die verruchte Orsina, die verflossene Geliebte des Prinzen. Nach ihrem Kuss – mit dessen Inbrunst sie zuvor schon Marinelli zu Boden brachte - hat er verloren. Hierdurch erfährt die Inszenierung eine logische Änderung gegenüber der Ursprungsfassung, denn Emilia wird nicht von ihrem Vater umgebracht, der seine Ehre durch sein Todesurteil über die lasterhafte Tochter nicht mehr hätte retten können. „Eine Rose gebrochen, ehe der Sturm sie entblättert“ heißt es bei Lessing. Emilia bleibt aber am Leben. Auf der Bühne steht ein Korb voller blühender Rosen. Ein Omen für eine Zukunft, die Lessing für seine Emilia nicht vorgesehen hatte. Und die Türen stehen jetzt alle offen. Entweder ist nichts verloren oder alles Überzeugende Thalheimer-Inszenierung trotz Verlust der Struktur (Silke Cinja Vierling) Binnen kürzester Zeit verkehrt sich auf fatale Weise Vernunft in Wahnsinn – kaltblütig lässt der Prinz von Guastalla seine Geliebte, Gräfin Orsina, fallen, als er Emilia Galotti begegnet. Zu seinem Bedauern muss er feststellen, dass diese noch am selben Tag den Grafen Appiani heiraten soll. Der Versuch des Kammerherren Marinelli, dies zu verhindern, endet – zumindest bei Lessing – mit einem Mord. Am 27. September 2001 feierte Michael Thalheimers Inszenierung der „Emilia Galotti“ am Deutschen Theater in Berlin Premiere, im Mai diesen Jahres war das Stück im Rahmen der 27. Duisburger Akzente wieder zu sehen. Unter der Regie von Michael Thalheimer entsteht eine faszinierend zeitübergreifende Inszenierung des Trauerspiels. Zeitknappheit scheint das entscheidende Handlungsmotiv zu sein, an dem die Figuren nacheinander scheitern. Emilia“ als braves bürgerliches Mädchen an der Besessenheit des zugrundegehenden Die entstehende Kluft zwischen Wort und Tat versucht der Regisseur durch ausdrucksstarke Körperbewegungen und eine sich fast überschlagenden Sprache darzustellen. So scheinen der Prinz, dargestellt von Sven Lehmann, und Emilia bei ihrer ersten Begegnung durch eine Art Magnetismus voneinander angezogen zu werden. Ihr Körperfluss wird gebremst, während die Arme durch die Anziehungskraft nachgeben. Aus dem Lautsprecher ertönt, mit kleinen Variationen, ein gediegener Walzertakt in Endlosschleife. Im Sog der entstandenen Gefühle wird das Publikum in eine von Dynamik gesprägten Leidenschaft hineingezogen. Die Absichten des Prinzen herzlos finden? Das scheint unmöglich. Herausgerissen aus diesem Bann wird man spätestens als Emilia ihre Schuld gegenüber ihrem Vater eingesteht: “Auch meine Sinne sind Sinne. Ich stehe für nichts.“ Auch die nach strikten Anweisungen, fast roboterartigen Bewegungen stehen dem Geschehen destruktiv gegenüber: Die Männer reißen sich regelmäßig die Klamotten vom Leib, während sie den Text runterrasseln, der bei der Radikalkürzung von 210 Minuten auf knapp 70 übrig geblieben ist. Dennoch gelingt es den Schauspielern die mangelnde Leidenschaft wirkungsvoll in Szene zu setzen. Nina Hoss schafft es aus der Gräfin Orsina eine überzeugende Leidende zu machen, die sich zwar nicht traut die Pistole abzufeuern, die sie an ihre Schläfe hält, es aber versteht sich an Marinelli, interpretiert von Ingo Hülsmann, heranzumachen. Trotz der verloren gegangenen Struktur Lessings, bleibt Thalheimers Inszenierung sehr überzeugend, seine Handlungen scheinen eine zeitgemäße Sprache zu sprechen: die der Hoffnungslosigkeit. Während Lessings „Emilia“ als braves bürgerliches Mädchen an der Besessenheit des zugrundegehenden Adels des 18. Jahrhunderts zerbricht, und ihr Vater glaubt, durch ihren Tod die bürgerliche Ehre zu retten, zeigt das Schlussbild Thalheimers etwas anderes – Emilia, gespielt von Regine Zimmermann, taucht zwischen Walzer tanzenden Paaren unter, als werde sie von der Gesellschaft verschluckt. Was zu Beginn des Theaterabends durch zwei aufflackernde Flammen, zwei hohen Holzwänden und den leeren Bühnenraum, den Emilia wie ein Laufsteg zum Bühnenrand hin beschreitet, angedeutet wird, bestätigt sich im Schlussbild. „Emilia Galoppi“ - Ein Klassiker im Zeitraffer! Eine rasende Lessing-Inszenierung von Michael Thalheimer (Helen Weißenbach) Es war ein Wettlauf mit der Zeit, den das Ensemble des Deutschen Theaters Berlin, im Mai dieses Jahres dem Publikum des Duisburger Schauspielhauses bot. Im Rahmen der Duisburger Akzente präsentierte Michael Thalheimer, der als erfolgreicher und experimentierfreudiger Regisseur gilt, eine exotische Blitzversion des Dramen-Klassikers „Emilia Galotti“ von Lessing aus dem Jahre 1772. In „Windeseile“, auf knapp 70 Minuten zusammengerafft, stets mit Blick auf eine imaginäre Uhr konzentriert sich Thalheimer auf die Hauptcharaktere und lässt moralische Werte des 18. Jahrhunderts außer Acht. Dies setzt beim Publikum eine gewisse Textkenntnis voraus, deren Fehlen dem einen oder anderen Zuschauer ins Gesicht geschrieben stand. Denn wer nicht gleich den Faden verlieren wollte, musste schon konzentriert zuhören um bei diesem Tempo mithalten zu können. Emilia Galotti, Tochter von Odoardo und Claudia, gespielt von Regina Zimmermann, steht kurz vor der Heirat mit dem Grafen Appiani. „Husch, husch“ werden die letzten Vorbereitungen getroffen, die jedoch vom heimtückischen Plan des Prinzen von Guastalla durchkreuzt werden, da dieser ebenfalls ein Auge auf die schöne Emilia geworfen hat. Die geplante Entführung endet tödlich für Appiani und Emilia erreicht allein des Grafen Lustschloss. Von nun an wird nur noch das Nötigste gesagt, die elitär und unnahbar wirkende Gräfin Orsina, überzeugend gespielt von Nina Hoss als betrogene und verlassene Gemahlin des Prinzen, durchschaut den Plan und händigt Odoardo eine Waffe aus, die ihren Zweck am diesem Abend nicht mehr erfüllen wird. Hier endet die Tragödie und nach kurzer Walzereinlage der Berliner Tanzschule fällt der Vorhang und der Zuschauer bleibt abrupt aus der Szene gerissen zurück. Die Konzentration auf das Wesentliche, sowie die Fokussierung auf Körpersprache, Raum und Gefühle wird grandios durch das bewusst spartanische Bühnenbild, sowie den gekonnten Einsatz des Soundtracks aus dem Filmklassiker „ In the mood of love“ (bearbeitet von Bert Wrede) präsentiert. Thalheimer schafft es, den Staub von Lessings Klassiker zu wischen und neuen Schwung in das Stück zu zaubern, womit der Transfer in die Moderne vollbracht ist. Ein nüchterner, Holz getäfelter Raum ist, ohne sichtbare Auswege und Requisiten, fluchtartig nach hinten auf eine schwarze Öffnung zentriert. Wie auf dem „Catwalk“, graziös und anmutig, stets von lieblichen Violinenklängen begleitet, schreiten die Darsteller pfeilgerade bis an den Bühnenrand, wo sie dann in krassem Kontrast zu ihren pantomimischen Bewegungen, „maschinengewehrartig“ ihre Texte hinunterrasseln. Ähnlich abstrakt auch die Wahl der Kostüme, die ebenfalls die Aktualität des Stückes verdeutlicht. In aktuellen Designerkleidern stolzieren die Frauen auf „Highheels“ über die Bühne und die leger gekleideten Herren wirken wie „Businessmen“, die gerade aus einer Seifenoper gesprungen sind. „Theater“, sagt Thalheimer, „soll den Zuschauer erst in die Geschichte locken, um ihn dann zu irritieren, zu provozieren“…und damit hat er Recht behalten! Sein Star-Ensemble bot eine unerwartete, neuartige Fassung und glänzte durch herausragende schauspielerische Leistungen, brillant Ingo Hülsmann als Marinelli, sowie die exzellente musikalische Bearbeitung von Bert Wrede. Letztendlich wurde so das Publikum von dieser neuen Möglichkeit einer Lessing-Interpretation überzeugt.