L`Emilia Galotti di Lessing

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Lessings Emilia Galotti
Die Tragödie der Macht
Die klassischen Meisterwerke der Weltliteratur haben eines gemeinsam: Selbst
über Jahrhunderte hinweg bleiben sie aktuell, werden gelesen, inszeniert,
interpretiert, geliebt, angefochten oder gar gehasst, sind Spiegel oder Zerrbild sowohl
ihrer
Epoche, als der aktuellen Realität ihrer jeweiligen Leser, Zuschauer und
Darsteller. Lessings Trauerspiel Emilia Galotti ist hierfür exemplarisch.
Lessing gilt als der mutigste Vertreter der deutschen Literatur des
Achtzehenten Jahrhunderts, ein polygraphischer Dichter und kulturell höchst
vielseitig interessierter Intellektueller, ein kühner und ungezähmter Geist, dessen
gesamtes Leben und Wirken von einem antikonformistischen Freiheitsstreben
geprägt war. Er, Sohn eines mittellosen lutherischen Priesters, hat sich kritisch mit
der herrschenden theologischen Lehrmeinung seiner Zeit auseinandergesetzt, und,
unter strikter Ablehnung jeglicher Form von Unterwerfung unter die Autorität
institutioneller Machtverhältnisse und religiöser Dogmen, für die Meinungs- und
Gedankenfreiheit des Individuums plädiert.
Die Besonderheit Lessings besteht
jedoch vor allem darin, dass er niemals blind den Tendenzen seiner Zeit gefolgt ist.
Dies gilt auch und insbesondere für die in der zweiten Hälfte des Achtzehenten
Jahrhunderts vorherrschende philosophisch-politische Strömung, die Aufklärung: Die
Militanz des Aufklärers Lessing drückt sich in erster Linie in der kontinuierlichen
Suche nach einer Authentizität jenseits aller epochalen Leitbilder und Ikonen aus.
Und in eben dieser „Curiositas“, dem Interesse für das Gegenüber, der Toleranz
gegenüber dem Andersdenkenden, sowie dem Willen und der Fähigkeit, sich in die
Motivationen des Gegners hineinzuversetzen, liegt das Geheimnis Lessings, seine
Besonderheit und seine Einzigartigkeit.
In Lessings bekanntestem Werk, dem Trauerspiel Emilia Galotti, finden sein
Freiheitsplädoyer und seine Macht- und Dogmenkritik ihren dichterischen Ausdruck:
Die Handlung mutet eher typisch für die Entstehungszeit des Werks an: Der Prinz
eines italienischen Kleinstaats (der Handlungsort der Tragödie wurde nach Italien
verlegt, um die unvermeidbare Zensur durch den seinerzeit regierenden Herzogs zu
umgehen) verliebt sich in ein junges Mädchen, das jedoch bereits an einen Grafen
versprochen ist, einen Mann, der sich nicht nur durch seine adlige Abstammung
auszeichnet, sondern vor allem durch eine wahrhaft noble Gesinnung. Schlechte
Berater und ein blindes Verlangen, das weder moralische Grenzen noch den Respekt
für seine Untergebenen kennt, treiben den Prinzen dazu, den Grafen töten zu lassen
und Emilia zu entführen, welche zunächst ihrem Schicksal standhält, letztlich jedoch
unter mysteriösen und tragischen Umständen ums Leben kommt: Sie stürzt sich auf
den Dolch, den ihr Vater in den Händen hält und lässt so den Zuschauer im Unklaren
darüber, ob es sich bei ihrem Tod um Mord oder Selbsttötung handelt. Dieser
gewollte und gewagte Zweifel, die wahre Innovation der Lessingschen Tragödie,
spiegelt sich exemplarisch im berühmten Monolog Emilias in der vorletzten Szene
des Dramas wieder: „Gewalt! Gewalt! Wer kann der Gewalt nicht trotzen? Was
Gewalt heißt, ist nichts: Verführung ist die wahre Gewalt. – Ich habe Blut, mein
Vater; so jugendliches, so warmes Blut als eine.“ Sicher, in Emilias Adern fließt das
jugendliche und warme Blut aller jungen Frauen, jedoch ist sie die erste Vertreterin
ihres Geschlechts, die dies offen proklamiert. Beim damaligen Publikum führte diese
mutige Bekenntnis zu Orientierungslosigkeit und gar zu Bestürzung, war man doch
seinerzeit gewohnt, jungen Schauspielerinnen zu applaudieren, die sich auf der
Bühne als Ikonen der Tugendhaftigkeit präsentierten, bereit, sich für die eigene
Unschuld aufzuopfern, um diese Haltung unmittelbar nach Vorstellungsschluss
abzulegen und dem galanten Werben aristokratischer Zuschauer bereitwillig
nachzugeben. Dieser noch heute faszinierende Appell an die eigene ethische und
erotische Integrität führte Goethe zu der Deutung, dass Emilia in den Prinzen verliebt
gewesen sein oder sich zumindest zutiefst und unwiderruflich von ihm angezogen
fühlen musste. Es scheint, dass Goethe, Weimarer Minister und Dichter des Ancien
Régime, auf dieser Auslegung bestand, die in gewissem Sinne den Prinzen entlastet
und die Emilia Galotti des Achtzehnten Jahrhunderts zu einer – wenn auch noblen –
Vorläuferin der heutigen Escorts degradiert.
Die These einer derartigen
Interpretation Goethes ist allerdings nicht unumstritten: Wäre er tatsächlich dieser
Auffassung gewesen, hätte dann sein dem Selbstmord geweihter Werther tatsächlich
kurz vor dem Tode ausgerechnet Lessings Emilia Galotti gelesen, um in der
absoluten ethischen Integrität und der beispiellosen Humanität jener jungen Martyrin
Trost zu finden?
In Deutschland wird Lessings Trauerspiel noch heute vielfach inszeniert, und
es verwundert etwas, dass die - der Initiative und der Intuition Alessandro Berdinis zu
verdankende - italienische Uraufführung erst 238 Jahre nach Entstehen des Werkes
zustande kam. In der deutschen Theaterszene bildet diese Tragödie Gegenstand einer
nie abreißenden lebhaften Auseinandersetzung, die zu teilweise unkonventionellen
Umsetzungen auf der Bühne geführt hat: In einer kürzlich in Berlin inszenierten
Aufführung wurden beispielsweise die Leiden Emilia Galottis in Form einer
Komödie präsentiert – ganz im Sinne Dürenmatts und seiner These, dass unsere
heutige Zeit nicht mehr der Tragödie sondern höchstenfalls der Tragikomödie würdig
sei. Dies darf jedoch getrost bezweifelt werden. Die Debatte um Lessing und Emilia
erfreut sich jedenfalls weiterhin großem Interesse und höchster Aktualität, und auch
das italienische Theater ist nun endlich bereit, die Herausforderung der
Auseinandersetzung mit diesem zeitlosen und unsterblichen Tragödienklassiker
anzunehmen.
(Marino Freschi)
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