Vorlesungsunterlage: Friedrich WOLFRAM Einführung in die Religionsphilosophie: G n o s i s (SS 1992, überarbeitet SS 2005) 1. Einleitung 1.1 Drei Texte (Perlenlied, Böhme, Bloch) Beim Überlegen, wie ich am besten in der ersten Stunde eine Vorstellung dessen vermitteln könnte, was in diesem Semester Gegenstand meiner Einführung in die Religionsphilosophie sein wird, bin ich zu dem Ergebnis gekommen, daß als allererstes Texte für sich sprechen sollten. Ich meine nämlich, daß es keine Erkenntnis und kein Verstehen gibt ohne entsprechende vorangehende Verstehenserwartung, ohne Inter-esse, als das zwischen Verstehendem und Verstandenem in der Mitte liegende, Vermittelnde. Dieses Interesse will ich vorweg ansprechen bzw. erfragen. Bevor davon die Rede ist, was "Gnosis" bedeutet, sollen drei Texte für sich sprechen: ein antiker, ein frühneuzeitlicher und einer aus dem 20. Jahrhundert. Nebenbei ist mit diesen drei Texten angedeutet, daß der Gegenstand der Vorlesung kein zeitlich leicht einzugrenzender sein wird. Der erste Text heißt "Gesang des Apostels Judas Thomas im Lande der Inder", besser bekannt unter dem Titel "Perlenlied", und ist uns im Kontext der Thomasakten überliefert, als deren Heimat Syrien anzusehen ist. Diese Akten waren nicht nur bei gnostischen Gruppen sehr beliebt, sondern wurden auch in kirchlichen Kreisen gern gelesen. Die vorliegende Übersetzung aus der syrischen Textfassung stammt vom Wiener Judaisten Kurt Schubert.1 Der zweite Text stammt von Jakob Böhme (1575 - 1624), dem Schuhmacher, Philosophen, Mystiker und Theosophen, und hat den Titel "Neue Wiedergeburt".2 Der dritte Text stammt von Ernst Bloch (1885-1877) und heißt: "Fremdes Zuhause, urvertraute Fremde"; er stammt aus seinem Buch: Spuren, Frankfurt /M. (Bibliothek Suhrkamp) 1969, 80-81.3 Das Perlenlied schildert in Versform (was in dieser Übersetzung nicht berücksichtigt wird) die Fabel von der Entsendung eines Prinzen aus dem Osten zu einem verborgenen Schatz, der Perle, nach Ägypten, die er nach zeitweiligem Vergessen seines Auftrags erringt. Dadurch wird er zugleich zur Heimkehr veranlaßt, die er glücklich besteht. Dahinter und mit dieser Erzählung verflochten steht der gnostische Mythos von der Erlösung der Seele aus der Finsternis zum Lichtreich. Die Fabel ist also zugleich eine Parabel und hat symbolische Bedeutung. Die Acta Thomae liegen in syrischer und griechischer Sprache vor. Der syrische Text wurde auf Grund einer Londoner Handschrift von W.Wright publiziert: Apocryphal Acts of the Apostles, London-Edinburgh 1871, Bd. I, 171 ff. Kleinere Abweichungen des syrischen Texts auf Grund einer Berliner Handschrift sind in der von P.Bedjan besorgten Neuausgabe berücksichtigt (Acta martyrum et sanctorum III, Paris 1892, 3 ff.). Der griechische Text wurde auf Grund von 21 Handschriften hergestellt und von M.Bonnet herausgegeben (R.A.Lipsius et M.Bonnet, Acta Apostolorum Apocrypha II, 2, Leipzig 1903, 99288.). Es steht heute fest, daß die Acta Thomae ursprünglich syrisch abgefaßt waren. Diese Tatsache hindert jedoch nicht, daß vom historischen Standpunkt aus im allgemeinen dem griechischen Text der Vorzug zu geben ist, weil die uns heute überkommene syrische Textform bisweilen großkirchliche Umarbeitungen aufweist. Im Fall des Perlenlieds jedoch neigt die moderne Forschung dazu, dem syrischen Text trotz der ihm anhaftenden Unklarheiten den Vorzug zu geben (Vgl. z.B. A.F.J.Klijn, The Acts of Thomas, Leiden 1962, 273, 274; A.Adam, Die Psalmen des Thomas und das Perlenlied als Zeugnisse vorchristlicher Gnosis, Berlin 1959, 48.) <Handout 1> 2 Jakob Böhme, Ausgewählte Schriften, hrsg.v. Hans Kayser, Leipzig (InselVerlag) 1920, 222-224. <Handout 2> 3 Wichtige Werke Blochs: Geist der Utopie, 1918/1923; Spuren, 1930; Erbschaft dieser Zeit, 1935; Das Prinzip Hoffnung, 1954-1955; Experimentum Mundi, 1975; Gesamtausgabe (Suhrkamp), 1975. <Handout 2> 1 2 Der Böhme-Text ist eine offenkundig religiöse Exhortatio mit deutlichen Anspielungen an die Bilderwelt des Alten (Manna) und Neuen Testaments (Bräutigam, Jungfrau, Umkehr, Wiedergeburt...), in der aber die Welt als Fremde, ja als Gefängnis bezeichnet wird, aus dem auszubrechen sei. Es erschallt der Ruf, daß "durch die Wollust dieser Welt durchzureißen" sei; die Seele soll nach dem Vaterlande forschen, aus dem sie ausgewandert. Ernst Bloch bringt dieses Gefühl des Fremdseins in der Welt in Verbindung mit dem romantischen Lebensgefühl: "Dort wo du nicht bist, wohnt das Glück." und erzählt eine dem Perlenlied vergleichbare alte persische Geschichte, um sie als Beleg für seine Theorie zu deuten: der Mensch ist des Sprungs zum Niegewesenen, bisher gänzlich Fremden fähig. "Wohl dem, der sich unter vorhandenen oder vorgemachten Stillungen nicht diesen appetitus verlegen läßt." Ein altorientalisches Märchen, ein christlicher Mystiker, ein Marxist sind hier zusammengestellt. Es geht diesen dreien um deutlich Verschiedenes, nämlich um Popularisierung eines kosmischen Mythos, um christliche Erneuerung und um den Geist der Utopie; aber es verbindet sie auch etwas. Ist das ein charakteristischer Weltbezug? - vielleicht; aber ist das nicht eine noch völlig unzulängliche Feststellung? Warum werden sie in Verbindung mit "Gnosis", also mit "Erkenntnis", gebracht? Und: Was geht das uns an? Was spricht Sie unmittelbar an? 1.2 Zugänge Mich selbst geht es einfach deswegen etwas an, weil mich die Beziehungen von Philosophie und Religion interessieren. "Gnosis" ist ein Paradigma für die "Wiederkehr der Religion".4 o Biographisch gesprochen, bin ich von der Klassischen Philologie und Judaistik zur Philosophie gestoßen und habe in der Philosophie zunächst das gemacht, was ich am besten konnte, Geschichte der antiken Philosophie mit besonderem Augenmerk auf den Begegnungsraum von griechischem Denken und orientalischer Religiosität. (Womit nicht gesagt sein soll, daß die Griechen areligiös dachten und die Orientalen gedankenlos religiös waren; es gibt aber Akzentunterschiede.) Ich habe mich sehr mit dem Begriff "Glauben" (pístis) im Rahmen der vorchristlichen griechischen Philosophie, also einem zunächst erkenntnistheoretischen und ethischen Begriff, der für die Bildung eines theologischen Glaubensbegriffs Grundlage war, beschäftigt. Es ist allgemein bekannt, daß ein theologischer Begriff "Glauben" der Christen der ersten Jahrhunderte nicht nur mit einem philosophisch-wissenschaftlichen Begriff "Erkenntnis" in Konfrontation gekommen ist, sondern - siehe Paulus an die Korinther - auch mit einem religiösen Begriff "Erkenntnis", "Gnosis" zu kämpfen hatte. Kaum bekannt ist, wieviel die Christen gerade in ihrem Glaubensbegriff von den heidnischen Philosophen gelernt haben. Biographisch-zufällig habe ich die Bekanntschaft mit dem Wiener Gnosis-Forscher Robert Haardt gemacht, dem ich bei der Herausgabe eines Buchs helfen durfte.5 Das war vor fast 40 Jahren. Warum komme ich jetzt darauf zurück? o Die Formulierung "Wiederkehr der Religion" scheint mir ein Phänomen unserer Zeit, wenn auch noch gänzlich unbestimmt, zutreffend zu benennen. In kirchlichen Kreisen kann man heute manchmal das Wort von der "Religiosität ohne Gott" hören, was eine von mehreren Variationen einer großen Rat- und Orientierungslosigkeit ist, die die Theologie heute kennzeichnet. Theologieintern ist ja heute praktisch alles möglich: "Während der eine Theologe religionslos an Gott glauben will (Dietrich Bonhoeffer), bekennt sich der andere zu einem Glauben ohne Gott Zum Thema "Wiederkehr der Religion" wurde im Jahr 1990 in der Evangelischen Akademie in Tutzing am Starnberger See eine "zeitdiagnostische Konsultation" abgehalten. Die Initiative dazu war von den Philosophen Thomas H. Macho (Österreich) und Peter Sloterdijk (Deutschland) ausgegangen. 1991 brachten diese beiden unter dem Titel "Weltrevolution der Seele" ein zweibändiges Leseund Arbeitsbuch der Gnosis von der Spätantike bis zur Gegenwart heraus (Gütersloh, Artemis & Winkler). 5 Robert Haardt, Die Gnosis. Wesen und Zeugnisse. Otto Müller Verlag Salzburg 1967. 4 3 (Dorothee Sölle). Wenn für diesen der personhafte, theistische Gott erst verschwinden muß, damit der größere, wirkliche nicht-theistische 'Gott über Gott' (Paul Tillich) erscheinen kann, hält jener das Wort Gott für unverzichtbar 'gebunden an die singularische und personale Bedeutung' der theistischen Redeweise der Bibel (Helmut Gollwitzer). Und während für den einen aus dem unendlichen Abstand zwischen Mensch und Gott sich die Unmöglichkeit ergibt, von Gott zu reden, es sei denn durch ein Wunder (Karl Barth), statuiert die dogmatische Konstitution des Ersten Vaticanums, 'daß Gott, der Ursprung und das Ziel aller Dinge mit Sicherheit erkannt werden kann' (Vat.Sess.3,c.2)."6 o In dieser Situation plädiere ich vehement für jene Wiederbegegnung von Philosophie und Theologie, die Hans Urs von Balthasar lange vor dem Zweiten Vatikanischen Konzil gefordert hat.7 Intentionsbewegungen zu dieser Wiederbegegnung gibt es in Menge,8 die Sache selbst ist noch ausständig. Dafür boomt die Literatur über "Gnosis", was einerseits die gnostische Literatur breiteren Kreisen zugänglich macht, anderseits der Forschung neue Impulse gibt.9 Gelegentlich wird auch die Grenze, die zwischen besonders cleverem Marketing und grober Unseriosität doch irgendwo gezogen werden sollte, deutlich überschritten.10 Kritische Sichtung von Wildwuchs, der ja durchaus handfeste ideenpolitische Zwecke verfolgen kann,11 ist allein schon der Mühe wert. o Es geht aber um mehr. Es geht um Verständnis für das, was man heute gerne das "Projekt der Moderne" nennt. Um kontroverse Meinungen wie die Eric Voegelins, der das neuzeitliche Denken als "gnostisch" denunziert hat,12 und deren Umkehrung durch Hans Blumenberg, der die Neuzeit als "Überwindung der Gnosis" darstellt.13 Noch aktueller: Jakob Taubes spricht von einem "gnostischen Rezidiv" seit den 20er Jahren unseres Jahrhunderts als Symptom für eine Krise im Selbstverständnis der Gegenwart.14 o Schließlich ist das Thema "Gnosis" auch ein brauchbares Paradigma für viele Probleme, die die Religionsphilosophie immer begleiten, weil sie, die Religionsphilosophie von einem ganzen Kranz von Hilfsdisziplinen umgeben ist, deren laufende neue Erkenntnisse zu integrieren sind: Aus der Diskussion in: S,Moser und E.Pilick (Hrsg.), Gottesbilder heute, Königstein 1979, 129; zitiert von Kurt Wuchterl, Philosophie und Religion, Stuttgart 1982, 10. 7 Hans Urs von Balthasar, Schleifung der Bastionen. Johannes Verlag, Einsiedeln 1952. 8 Z.B. Emerich Coreth SJ, Walter M.Neidl, Georg Pfligersdorffer (Hrsg.), Christliche Philosophie im katholischen Denken des 19. und 20. Jahrhunderts. 3 Bde. Verlag Styria, Graz Wien Köln, 1987. Oder: Richard Schaeffler, Die Wechselbeziehungen zwischen Philosophie und katholischer Theologie. Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt, 1980. 9 Z.B. Gnosis. das Buch der verborgenen Evangelien. Herausgegeben und übersetzt von Werner Hörmann. Pattloch Verlag / Weltbild Verlag, Augsburg 1990. Oder: Die andere Bibel, mit Altem und Neuem Testament. ediert u. hsg.v. Alfred Pfabigan. Eichborn Verlag, Frankfurt am Main 1990. J. Taubes (Hrsg.), Gnosis und Politik, München/Paderborn 1984 (Religionstheorie und Politische Theologie Band 2). P. Koslowski (Hrsg.), Gnosis und Mystik in der Geschichte der Philosophie. Zürich/Darmstadt 1988. 10 M.Baignant/R.Leigh, Verschlußsache Jesus. Die Qumranrollen und die Wahrheit über das frühe Christentum. München 1991. 11 Siehe den Versuch in der Zeitschrift Trenta Giorni, ein winziges Textfragment aus Qumran als Evangeliumstextstelle zu deuten, was den Hintergedanken vermuten läßt, daß die ganze mühselige Arbeit der modernen Bibelwissenschaft vom Tisch gewischt und die fundamentalistischen Anhänger einer Verbalinspiration in ihre angeblichen Rechte gesetzt werden sollen. 12 Eric Voegelin, Wissenschaft, Politik, Gnosis, 1959 13 Hans Blumenberg, Die Legitimität der Neuzeit, 1963. 14 Jakob Taubes, Das stählerne Gehäuse und der Exodus daraus oder ein Streit um Marcion, einst und heute. In: J.Taubes, Hrsg., Religionstheorie und Politische Theologie, Bd. 2: Gnosis und Politik. München 1984. 9-15. 6 4 Religionspsychologie, Religionssoziologie, Religionsgeschichte, Religionsphänomenologie, nicht zu vergessen philosophische Arbeitsfelder wie die Hermeneutik. Darunter finden sich ausgesprochen religionskritische Ansätze. Daneben spielt sich das Verwirrspiel der Dichter ab, die einen nicht zu unterschätzenden Beitrag zum "Diskurs Religion" leisten, angefangen von den großen Mythologen Homer und Hesiod, über dichterisch begabte Philosophen wie Parmenides, der in Hexametern besser philosophieren konnte als andere in Prosa, und Plato mit seinen faszinierenden Kunstmythen. Vermutlich bewirken manche religiöse Sätze im dichterischen Werk eines Peter Turrini oder Peter Handke ebensoviel an religiöser Bewußtseinsbildung wie jahrelanger kirchlicher und staatlich anerkannter Religionsunterricht. Das Perlenlied hat ja auch mindestens den Einfluß gewonnen, den der christliche Mystiker Böhme oder der marxistisch-atheistische Philosoph Bloch hatten und haben. (Der Atheismus Blochs ist, das muß man dazusagen, ein auf Schritt und Tritt biblisch unterfütterter.15) Die Wissenschaft vom Wort (in der Antike wurde "Logik" in diesem umfassenden Sinn verstanden) umfaßt noch andere Bereiche, die nicht zu vergessen sind: die Grammatik, die Linguistik, die Rhetorik. Sie zu vernachlässigen, wäre ein Fehler. Sie werden sich vielleicht im Stillen bereits gefragt haben: Warum sagt er nicht zuallererst, was er unter "Religion" einerseits und unter "Religionsphilosophie" anderseits versteht; wie er diese Begriffe definiert. Das kann ich schon tun, aber es geht mir dabei wie der Naturwissenschaft mit der Natur; wenn sie den Begriff der Natur zufriedenstellend definiert hätte, wäre sie an ihr Ende angelangt. Auch die Religionsphilosophie könnte ihr Werkzeug einpacken und heimgehen, wenn sie wüßte, was das ist, die Religion. Sie ist noch nicht fertig mit ihrer Aufgabenstellung. Religionsphilosophie ist per definitionem eine philosophische Disziplin, deren Gegenstand die Begriffs- und Wesensbestimmung der Religion ist. In engerem Sinn kann man sie bestimmen als philosophische, ausschließlich mit rationalen bzw. wissenschaftlichen Methoden und Argumentationsverfahren operierende Reflexion der Bedingungen, Möglichkeiten und Grenzen von Aussagen der (positiven) Religion(en) und über die Religion(en) einschließlich der kritischen Auseinandersetzung (Religionskritik). Es mag eine Frage des Temperaments sein, ob man darüber zufrieden ist, daß wegen der Ungelöstheit der Probleme weiterhin Gehaltszahlungen vom Wissenschaftsministerium fließen, oder ob man unter der Ungelöstheit leidet. Jedenfalls gibt es ein Grundproblem, das in der Geschichte die größten Kulturkonflikte verursacht, aber auch die größten kulturellen Leistungen, Kulturschöpfungen angeregt hat. In diesem Zusammenhang ist der evangelische Theologe Paul Tillich zu zitieren, der dieses Grundproblem m.E. unübertrefflich beschrieben hat: "In der Religion tritt der Philosophie ein Objekt entgegen, das sich dagegen sträubt, Objekt der Philosophie zu werden. Die Religion macht, je stärker, ursprünglicher, reiner sie ist, desto nachdrücklicher den Anspruch, der verallgemeinernden Begriffsbildung enthoben zu sein. ... Religion fühlt einen Angriff auf ihr innerstes Wesen, wenn sie Religion genannt wird. ... Die Religionsphilosophie ist also der Religion gegenüber in der eigentümlichen Lage, daß sie das Objekt, das sie erfassen will, entweder auflösen oder sich vor ihm auflösen muß. Beachtet sie den Offenbarungsanspruch der Religion nicht, so verfehlt sie ihr Objekt und spricht nicht von der wirklichen Religion. Erkennt sie den Offenbarungsanspruch an, so wird sie zur Theologie. Beide Wege sind für die Religionsphilosophie ungangbar. Der erste führt sie an ihrem Ziel vorbei, der zweite führt nicht nur zur Auflösung der Religionsphilosophie, sondern der Philosophie überhaupt. Gibt es einen Gegenstand, der der Philosophie grundsätzlich verschlossen bleibt, so ist ihr Recht auf jeden Gegenstand fragwürdig geworden. Denn sie würde ja außerstande sein, von sich aus die Grenze zwischen diesem verschlossenen Gegenstand, also der Religion, und den übrigen Gebieten zu ziehen. Ja, es wäre möglich, daß die Offenbarung Anspruch auf alle Gebiete machte; und die Philosophie hätte keine Waffe, sich diesem Anspruch zu widersetzen. Gibt sie sich Kein Zufall, daß ein Buchtitel Blochs lautet: "Atheismus im Christentum. Nur ein Atheist kann ein guter Christ sein, nur ein Christ kann ein guter Atheist sein." (Frankfurt/M.: suhrkamp 1968.) 15 5 an einem Punkte auf, so gibt sie sich überhaupt auf."16 Die verschiedenen aporetischen Wege, auf denen man bisher einen Begriff der Religion zu gewinnen suchte, möchte ich ein andermal behandeln. Das ist ein wichtiger Teil der Wissenschaft. Es geht dabei nämlich nicht darum, sich über die Denkfehler anderer lustig zu machen. (Manche Journalisten gehen so mit den Politikern um: Wenn in der Politik der ganz normale Fall eintritt, daß ein Gesetz novelliert werden muß, dann wird das in den Medien häufig auf die Unfähigkeit der Politiker zurückgeführt, das Gesetz von Anfang an optimal zu formulieren. Wer so kritisiert, verkennt aber das Wesen des Fortschritts, ist ein verkappter Fundamentalist. Die rechten wie die linken Integralisten vertragen es nicht, daß wir das Ganze nur im Fragment haben.) Zur Ausbildung der neuzeitlichen Wissenschaftsidee gehört die docta ignorantia, das Wissen des Nichtwissens, das mehr ist als bloße "erkannte Negativität", vielmehr Erkenntnis aus der Negativität; d.h. weniger zu wissen, daß man nichts weiß, als vielmehr zu wissen, was man nicht weiß, vielleicht sogar, was man nicht wissen kann, und ganz wesentlich, was man nicht zu wissen braucht; diese negative Weisheit, die zu den immer wichtiger werdenden Orientierungen in einer Welt des Wissensüberflusses gehört. Es ist ein konstitutives Moment der Neuzeit, daß sie durch Einschränkung expandiert, durch Reduktionen Progressionen erzielt.17 Diesmal will ich auch nicht näher auf die innere Problematik der Religionsphilosophie eingehen, sondern nur die Frage wiederholen: Wozu treibt man heute eigentlich Religionsphilosophie? Was könnte daran interessant sein? Implizit müßte damit auch beantwortbar sein, warum man sich mit Gnosis beschäftigen soll. Willi Oehlmüller 18 nennt drei Probleme, die bisher ungelöst sind und die Religionsphilosophie interessant machen. (1) Der "garstige breite Graben" (so Lessing) zwischen der religiösen Überlieferung und den Erfahrungen der kritischen Subjektivität in der sich ausbildenden geistig-wissenschaftlichen und gesellschaftlich-politischen Welt wird seit der Aufklärung immer breiter. Wo dieser Zwiespalt erwacht ist, da erweisen sich alle Formen der Vermittlung, die nicht an diesen Erfahrungen der kritischen Subjektivität anknüpfen, als unglaubwürdig und unwirksam. Für die Subjektivität kann die religiöse Überlieferung nur noch dadurch lebendig bleiben, daß sie den einmal begonnenen Aufklärungsprozeß fortsetzt. Nicht durch Beschwörung dessen, was man einmal auf Treu und Glauben hin angenommen hatte, sondern allein durch kritische Erinnerung kann das bewahrt werden, was die unaufgeklärte Aufklärung allzu kurzschlüssig preisgegeben hat. (2) Das Verhältnis des Christentums und der Kirchen zu den nichtchristlichen Religionen bildet ein zweites immer dringlicheres Problem der Religionsphilosophie. In der gegenwärtigen Gesellschaft ist das Christentum nicht mehr wie in der mittelalterlichen res publica christiana die Religion, die die Gesamtgesellschaft integriert, so daß die Heiden im Grunde "draußen" stehen. In dieser Gesellschaft kann man ferner nicht mehr wie im Mittelalter der Meinung sein, daß man mit Hilfe metaphysischer Überlegungen und geschichtsphilosophischer Modelle und Zeitalterschemata das Verhältnis des Christentums als der einen wahren Religion zu den anderen Religionen für alle Paul Tillich, Religionsphilosophie. Stuttgart 1962, 7 ff. Z.B.: Der Verzicht auf das Prinzip der Finalität erschließt erst die volle Wirksamkeit der Anwendung der kausalen Kategorie auf die Natur; die Ausschaltung der Frage nach der Substanz und ihre Ersetzung durch die universale Anwendung der Quantität ermöglicht die mathematische Naturwissenschaft; der Verzicht auf das Phantom der absoluten Genauigkeitsforderung macht eine Exaktheit möglich, die sich selbst Toleranzen ihrer Ungenauigkeit zu setzen vermag. 18 Willi Oehlmüller, Artikel "Religionsphilosophie" in Sacramentum Mundi IV, 250ff. 16 17 6 zureichend erklärt hat. (3) Die Stellung und Funktion der Religion und der Kirchen innerhalb der neuen politischen und gesellschaftlichen Welt bildet ein drittes bis heute ungelöstes Problem der Religionsphilosophie. Nach der Aufklärung, die die Freiheit aller zum Prinzip der Ethik und Politik erklärt und die Verwirklichung solcher sittlicher, gesellschaftlicher und politischer Institutionen fordert, die die Freiheit und das Recht aller Menschen schützen und sichern, ist eine Deutung des Verhältnisses der Religion und der Kirchen zur Politik und Gesellschaft im Sinne der Politischen Theologie der Antike und der mittelalterlichen Vorstellungen unmöglich geworden. Soweit Oehlmüller. Versuchen wir den Zusammenhang mit dem Thema Gnosis herzustellen: Ad (1): Der "garstige breite Graben", der Zwiespalt zwischen alter religiöser Überlieferung und neuer Erfahrungswelt. Hier geht es um den Umgang mit "Alt" und "Neu" - ein eminent religiös besetzter Topos ("Siehe, ich mache alles neu"), im 20. Jahrhundert durch die deutsche und österreichische Jugendbewegung (mit Namen wie Bund Neuland, Neue Jugend, Quickborn...), auch durch politische Bewegungen (Theodor Herzls "Alt-Neuland", Jörg Haiders Ausdruck "Altparteien") aktualisiert, bejubelt und erbittert bekämpft. (In einer Arbeit zur Geschichte der Katholischen Aktion, von Kramer, hrsg. von der Katholischen Akademie der Erzdiözese Wien, wurde bitter Klage geführt über die Abwertung bewährter Traditionen mittels des Ausdrucks "neu".) Theodor Haecker hat einmal die Frage gestellt: "Was ist mehr, eine tote Wahrheit oder eine lebendige Lüge?" Radikal gedacht, ist das Thema der "Geschichtlichkeit" all dessen, was Menschen für wahr halten, in der Tat das Thema "Tod oder Leben", der Gedanke an die ersten und die letzten Dinge. Geschichtsphilosophie wie Geschichtstheologie sind Kinder der Eschatologie.19 Nun hat Thomas H.Macho in einem Essay, der den zweiten Band des schon erwähnten Lese- und Arbeitsbuchs der Gnosis, "Weltrevolution der Seele" einleitet, darauf aufmerksam gemacht, daß es nicht nur lebende und tote Sprachen gibt, sondern auch lebende und tote Weltbilder, lebende und tote Religionen. Der Bildungsbürger freut sich, wenn für ihn das Tote noch nicht ganz tot ist, wenn manche Alltagsworte durch die lateinischen oder griechischen Lektionen an unvermuteter Tiefe gewinnen. "Wir finden das Vergangene im Gegenwärtigen und das Lebendige im Toten. Wer lernt, übt sich in solcher Dialektik. Er betrachtet seine Zeit, um deren Vorgeschichte zu verstehen, und er studiert die Äußerungen der Vergangenheit, um den Geist der Gegenwart zu begreifen."20 Und nicht als erstem ist Thomas Macho aufgefallen, daß nicht alle Gestalten der Geistesgeschichte sich diesem Schematismus fügen. "Es gibt ideenhistorische 'Wiedergänger', Systeme einer Welt- und Lebensanschauung, die sich dem Entweder - Oder von lebendig und tot, vergangen und gegenwärtig, einflußreich und ohnmächtig, mit Eigensinn entziehen; Gedankengebäude, die - allen Abbruchunternehmungen zum Trotz - immer wieder von neuem errichtet werden; Haltungen und Evidenzen, die offenkundig nicht mit dauerhaftem Erfolg überwunden werden können. Selten zwar - doch um so eindrucksvoller - erwachen Ideen, die längst für tot erklärt wurden, plötzlich wieder zum Leben. Was ausgestorben schien, beginnt abermals zu glänzen, sich zu vermehren und menschliches Bewußtsein in seinen Bann zu schlagen. Ein solcher ideengeschichtlicher Wiedergänger ist beispielsweise der Pythagoreismus, der im 20. Jahrhundert eine veritable, noch keineswegs zu Ende gekommene Renaissance erlebt hat; eine andere Wiedergängerin ist die 'idea innata', die im Kontext linguistischer Grundlagenforschung und evolutionärer Epistemologie zu neuen Ehren gelangt ist. Eine von Anfang an vehement bekämpfte, mehrfach ausgerottete und später ebenso gründlich wie Vgl. Karl Löwith, Weltgeschichte und Heilsgeschehen. Die theologischen Voraussetzungen der Geschichtsphilosophie. 1949/1953. In: Karl Löwith, Sämtliche Schriften, Stuttgart 1983. Sowie der spätere Aufsatz von 1963: "Das Verhängnis des Fortschritts", o.c. 392-410. 20 Macho, o.c. 485. 19 7 vergeblich totgesagte Wiedergängerin der Ideen- und Religionsgeschichte ist die Gnosis: und mit ihr eine Vielzahl von Diskussionen und theoretischen Begründungen, Widerlegungen und Plädoyers, Überwindungsdeklaratioen und Auferstehungszeugnissen, die häufig genug vom gnostischen Geist kaum unterschieden werden können. Solche Resistenz des gnostischen Impulses gegen alle Anstrengungen zu seiner Auslöschung verdient unser besonderes Interesse. Auf seltsamen Wegen haben sich die Weisheiten einer spätantiken Religion verbreitet, deren Herkunft bis auf den heutigen Tag dunkel und umstritten geblieben ist. Kein frühchristlicher Bannfluch, kein hochmittelalterliches Autodafé (wie es beispielsweise in Montségur veranstaltet wurde), keine wissenschaftliche Erkenntnis und keine technische Erfindung konnte offenbar jene zeitgenössische Renaissance der Gnosis verhindern, die einerseits zu einer fast nicht mehr überschaubaren Fülle von Fachliteratur, und andererseits zu einer geradezu überwältigenden Vielfalt neognostischer Glaubensgemeinden und Sekten geführt hat. Womöglich ist die Gnosis erst im späten 20. Jahrhundert endgültig zur 'Weltreligion' (Gilles Quispel) aufgestiegen!"21 Ad 2: Das Verhältnis des Christentums zu den nichtchristlichen Religionen. Das Versuchslabor dafür ist längst errichtet, es ist die sog. "Welt der drei Ringe", der drei biblischen Religionen Judentum, Christentum und Islam. Diese drei Religionen sind gewissermaßen eine aus der anderen und die dritte aus den beiden ersteren entstanden. Sie sind Folgen einer Dissidenz und grenzen sich auch so gegeneinander ab, daß sie das Gemeinsame kennen und schätzen und das Nichtgemeinsame als Korruption und Abfallen disqualifizieren. Alle drei weisen eine Aura von Randerscheinungen auf, die mit den Randerscheinungen der jeweils anderen Religion viel gemeinsam haben. Die Geschichte der jeweiligen Orthodoxie ist zugleich die Geschichte der von dieser Ausgegrenzten. Damit ist sie aber auch eine Geschichte von drei kommunizierenden Gefäßen. Es war das besondere Verdienst des Wiener Historiker-Philosophen Friedrich Heer, die europäische Geistesgeschichte in ihrer ganzen Polyphonie darzustellen.22 Es ist nun die Frage, ob das Element, die Stimmen der gnostischen Häresien in dieser Symphonie der Geschichte ausschließlich aus den Quellen des Altertums zu verstehen sind oder spontan immer wieder neu erklingen. Die bedenkenswerte These Peter Sloterdijks geht dahin, letzteres anzunehmen. "Es liegt in der Natur der gnostischen Wissenszustände, daß ihre Seinsweise nicht die einer stetigen Überlieferung ist, sondern die einer sporadischen Neuentdeckung in geeigneten kulturellen Konjunkturen: in den schwersten Krisen der Welt schützen Gnosen aller Art das Leben vor der Versuchung der Anpassung an das, was kein Leben mehr wäre. Wann immer sie sich durch Selbstentzündung neu konstituierte, war 'Gnosis' das Gegenteil einer Weltreligion, die sich in positiven Institutionen und kanonischen Schriften etabliert hätte. Sie flackerte auf und verging als eine Nicht-Welt-Religion im doppelten Sinn des Wortes. Sie blieb ohne expansive Organisation in Raum und Zeit und ohne Glauben daran, daß es der Welt gemäß sei, sich in ihr weltreligionsartig zu institutionalisieren. Daher ist die Geschichte gnostischer Phänomene weithin identisch mit der Folge ihrer wiederholten Selbsterfindungen. Folglich ist 'die Gnosis' auch mit sich selber dissident; die Häretikerjäger der frühen Kirche hatten in gewisser Weise recht, wenn sie den Erfindungsreichtum und die spontanmythologische Unberechenbarkeit der häretischen Systeme beklagten; man hat es bei der älteren Gnosis - wie bei ihren neueren Avataren - tatsächlich eher mit einer Gattung von metaphysical fiction zu tun als mit festgefügter wiederholungsfähiger Dogmatik. Irenäus, Hippolytus, Epiphanius wissen gut, wo sie den Feind zu suchen haben: in jener polymythischen Frechheit der Häretiker, die sich die Freiheit nehmen, selbst zu erdichten, woran sie 'glauben' werden. Die Kirchenmänner denunzieren instinktsicher alle Manifestationen des freien Geistes, der noch im Allerheiligsten erfinderisch zu sein wagte. Sie rufen Alarm angesichts der gnostischen Mythopoiese, die den christlichen Stoff ins Nicht-mehr-Christliche weiterdichtet."23 Macho, o.c. 486 f. Friedrich Heer, Europäische Geistesgeschichte. W.Kohlhammer Verlag Stuttgart 1953. 23 Peter Sloterdijk, Die wahre Irrlehre. Über die Weltreligion der Weltlosigkeit. In: P.Sloterdijk / Th.Macho, op.cit. I, 24. 21 22 8 Gnosis ist für Sloterdijk "nicht der Name einer positiven Konfession; das Wort Gnosis kennzeichnet eine Haltung des metaphysischen Essayismus. Es umschreibt einen Typus logischer und seelischer Experimente an der Grenze der Welt. Gnosis ist ein möglicher Name für die Zukunft dessen, was an den Religionen mehr sein mag als Illusion."24 Ad 3: Die Stellung der Religion und der Kirchen innerhalb der neuen gesellschaftlichen und politischen Welt, nämlich nach der Aufklärung, die die Freiheit aller zum Prinzip der Ethik und der Politik erklärt. Es besteht die Vermutung, daß ein besseres Verständnis für die Gnosis auch ein besseres Verständnis für die Zusammenhänge von Religion und Politik, von Weltanschauung und Weltgestaltung ergeben dürfte. Die Tatsache des Zusammenhangs als solchen, daß es so etwas wie religiös-politische Ideen gibt, die in der Geschichte immer wieder das revolutionäre Potential gezündet haben, hat Friedrich Heer in seinen meisterhaften Arbeiten über das Mittelalter dargestellt. Eine dieser Ideen, die vom heiligen Reich, von der Herstellung des Reiches Gottes hier und jetzt, in den verschiedensten Ausprägungen von chiliastisch inspirierten Aufstandsbewegungen und offiziellen Reichstheologien, bis hin zum Mißbrauch solcher religiös-politischer Sehnsüchte durch faschistische Parteien und Militärjuntas im 20. Jahrhundert, ist vielleicht das wichtigste Beispiel. Es läßt sich zurückverfolgen auf das Denkschema, das Großkirche und Häresien gemeinsam war: das Schema des "In der Welt - nicht von der Welt". Diese Formulierung findet sich im Brief an Diognet, einem Glanzstück früher christlicher apologetischer Literatur, gegen 200 entstanden.25 "Diese Entkräftung des Weltglaubens ist es, was Elan in die frühgnostischfrühchristliche Erfolgsgeschichte bringt."26 Größte Nähe und zugleich unüberbrückbare Distanz von Kirche und Gnosis muß sich anhand der Deutung dieser Formel erweisen lassen. Der Geist der U-topie erwacht mit der Unterscheidung der Orte des Hier und Nicht-Hier. Mit Hilfe des zuvor undenkbaren Unterschieds von In-der-Welt und Von-der Welt kann der menschliche Geist zum ersten Mal sein eigenes Existieren denken; überspitzt gesagt "gibt es" erst seit dem Aufbrechen dieser Unterscheidung das, was wir modern mit Existenz bezeichnen. Das Pneuma, die gnostische Geistseele, die von "oben" kommt, ist das Organ dieses logisch neuartigen Wissens vom Existieren: es ist das Pneuma, welches sich "in der Welt" wie etwas von außen Hineingeratenes sehen kann etwas Differentes, Nichtzugehöriges, Rückzugsfähiges. Die "Entzündung des menschlichen Selbstbewußtseins durch den Grundgedanken des Existierens 'in der Welt'" - ist das Gnosis? Dann wäre der christliche Schreiber des Briefs an Diognet ebenso Gnostiker wie der Jude Philo von Alexandrien, der bereits 200 Jahre vor ihm geschrieben hat: "Denn jeder von uns ist in diese Welt gekommen wie in eine fremde Stadt, an der wir vor unserer Geburt keinen Anteil hatten, und in dieser Stadt hält er sich wie ein Gast auf, bis er die ihm zugemessene Lebensspanne erschöpft hat."27 1.3 Überblick über die Vorlesung und Literaturempfehlung Das bisher Gesagte ist keine wissenschaftstheoretische Einleitung im strengen Sinn, sondern ein Herangehen ans Thema und vorläufiges Begründen des Interesses am Thema. Ich will nun nur noch P.Sloterdijk, op.cit. 27. Griechische Apologeten des zweiten Jahrhunderts. In Auswahl übertragen von Berthe Widmer. Einleitung von Hans Urs von Balthasar. Johannes Verlag Einsiedeln 1958. Der Brief an Diognet 89-106, s. insbes. 97 f. 26 P.Sloterdijk, op.cit. 37. 27 Philo Alexandrinus, Über die Cherubim, 120 f. (Philo von Alexandria, Die Werke in deutscher Übersetzung, hrsg.v. Leopold Cohn, Isaak Heinemann, Maximilian Adler u. Willy Theiler, Bd.3, Walter de Gruyter & Co Berlin 1962, S.202.) Das griechische "paroikein", das in diesem Sinn des "als Fremder in einer Stadt wohnen" auch im NT vorkommt, ist ein staatsrechtlicher Begriff. Interessant, daß Philo im Folgenden den Vergleich weiterspinnt und das volle Bürgerrecht Gott allein zuspricht. (Griech.Originaltext: Philonis Alexandrini opera quae supersunt, vol. I edidit Leopoldus Cohn, Berlin, Georg Reimer, 1896, unveränd.Nachdr. W. de Gruyter 1962, S.198) 24 25 9 eine Vorschau der weiteren Kapitelüberschriften geben, wie ich sie mir fürs erste zurechtgelegt habe. 2. Umfang des Sachgebiets, Definitionsfragen 3. Gnosis als Zentralbegriff der spätantiken Gnosis - Fragen zur Typologie 4. Quellenkunde 5. Zur Geschichte und Methodologie der Forschung 6. Gnosis und Neues Testament 7. Gotteserkenntnis, Schau und Vollendung bei Philo von Alexandrien 8. Plotins Schrift "Gegen die Gnostiker" II 9 (33) 9. Die christlichen Alexandriner 10. Augustins manichäische Phase und sein Einfluß auf die Dogmenentwicklung 11. Gnosis als ideenpolitischer Begriff des 20. Jahrhunderts. Literaturempfehlung zur Orientierung: - Kurt Rudolph, Die Gnosis, Wesen und Geschichte einer spätantiken Religion. Mit zahlreichen Abbildungen und einer Faltkarte, 3., durchgesehene und ergänzte Auflage, Vandenhoek & Ruprecht in Göttingen 1990 (Uni-TB 1577). - Wege der Forschung Bd. 262: Gnosis und Gnostizismus. Hrsg.v.Kurt Rudolph. Wissenschaftliche Buchgesellschaft Darmstadt 1975. 2. Umfang des Sachgebiets, Definitionsfragen 2.1 Der Terminus "Gnosis" "gnosis" gehört zum Verbum ginóskein (ältere Form gignóskein), das im griechischen Sprachgebrauch das verstehende Erfassen eines Gegenstands oder Sachverhalts bedeutet. Dieser Gegenstand kann entweder neu bzw wieder in den Gesichtskreis des Erfassenden treten, so daß ginóskein dann "kennenlernen, erfahren, (wieder)erkennen" bedeutet, oder er kann schon in ihm vorhanden sein, dann bedeutet es "erkennen". Die Endung auf -sko ist eine sog. inchoative Bildung, zeigt etwas Ingressives am Akt des Erfassens an, das aber zurücktreten kann, so daß der Sinn der von "kennen, verstehen, wissen" ist. (Das Perf. égnoka ist weithin von oida verdrängt, und umgekehrt ist das Subst. zu eidénai ("wissen"): eídesis fast ganz durch gnosis oder gnóme verdrängt. Der Sinn von ginóskein in der Reflexion der Griechen und ihr Verständnis des Phänomens der Erkenntnis wird deutlich durch eine doppelte Abgrenzung: a) gegen aisthánesthai, das die Wahrnehmung bezeichnet, ohne daß das in ihr liegende Moment des Verstehens betont zu sein braucht. Da menschliches Wahrnehmen nie ohne Verstehen ist, sind ginóskein und aisthánesthai im gewöhnlichen Sprachgebrauch freilich nicht streng unterschieden, ja aisthánesthai kann geradezu das verstehende Wahrnehmen bezeichnen, <sofern es ein unreflektiertes, instinktives ist.> In der Diskussion des Erkenntnisproblems ist jedoch die Unterscheidung der aísthesis als der Sinneswahrnehmung von der gnosis bzw der durch das ginóskein erworbenen epistéme als der Erkenntnis, die auf den nous oder lógos zurückgeht, befestigt worden, wobei bald mehr der Gegensatz, bald mehr die Zusammengehörigkeit beider Vermögen betont wird.28 Es ist beides in einem, was der Terminus pístis (etwa in der Phrase "pisteuein tois phainoménois" anzeigt; vgl. auch Demokrit: Er relativierte die 28 10 b) gegen dokeîn und doxázein, welche bedeuten: eine Meinung (dóxa) über einen Gegenstand oder Sachverhalt haben ohne Gewähr, daß die Sache wirklich die ist, für die sie gehalten wird. Im Unterschied davon erfaßt das ginóskein die Sachen, wie sie wirklich sind, es erfaßt das ón oder die alétheia. Freilich kann auch eine Meinung richtig (alethés) sein, aber nur der ginóskon hat die Sicherheit, daß er die alétheia erfaßt, daß er epistéme hat; gnosis ist also mit epistéme verwandt (Plato Resp V 476 c ff; 508 e), wird jedoch nicht absolut gebraucht wie epistéme, sondern erfordert einen Objektsgenitiv und bedeutet zunächst nicht die Erkenntnis, sondern den Akt des Erkennens. Da ginóskein das Erkennen dessen, was wirklich ist, bedeutet, gewinnt es den Sinn von "konstatieren"; und da für den Griechen das Auge ein sichererer Zeuge ist als das Ohr (Heracl fr 101 a; Hdt I 8), weil der Gesichtssinn den Vorrang vor dem Gehör hat (Plat Phaedr 250 d; Resp VI 507 c), so ist das Konstatieren zunächst ein solches durch den Augenschein, und schon die Verbindung der Verben ginóskein und eidénai zeigt, daß das Erkennen als eine Weise des Sehens verstanden worden ist; denn eidénai heißt: auf Grund einer Anschauung wissen.29 Wenn man das Verständnis des Erkennens als einer Weise des Sehens im Auge behält, wird Sinn und Bedeutung des griechischen Erkenntnisideals deutlicher. Diesem Verständnis des Erkennens korrespondiert das Verständnis dessen, was die Wirklichkeit konstituiert: es sind die Formen und Gestalten bzw die formgebenden Elemente oder Prinzipien. Deshalb bezieht sich das ginóskein des Forschers und Philosophen eben auf diese; das eîdos (oder die idéa) ermöglicht ebenso die Erkenntnis, wie es den Dingen das Wesen gibt. Ich möchte keinesfalls den Fehler begehen, eine griechische Denkweise generell einer orientalischen oder speziell hebräischen Denkweise gegenüberzustellen. das ist eine in der modernen Theologie leider gang und gäbe gewordene Gewohnheit. Man unterscheidet dabei gern zwischen statisch und dynamisch, abstrakt und konkret, ohne sich zu überlegen, was daraus folgt, wenn ein Jude wie Philon von Alexandrien in eine griechische Schule geht und die Bibel in einer griechischen Übersetzung liest. James Barr hat sich verdient gemacht, solche Unsitten fachlinguistisch zu durchleuchten.30 Sehr wohl möchte ich aber darauf aufmerksam machen, daß in der griechischen Philosophie eine sehr intensive und breite Reflexion und Diskussion der Termini der Erkenntnistheorie vorliegt. Das gilt auch für "gnosis". Ein Beispiel soll das veranschaulichen: Plato Resp 476 c ff. wird unterschieden zwischen bloßen Schaulustigen und Hörbegierigen einerseits, den Philosophen anderseits. Letztere sind dadurch charakterisiert, daß sie das Wahre selbst schauen: "Die Hörbegierigen und Schaulustigen, sprach ich, lieben doch die schönen Töne und Farben und Gestalten und alles, was aus dergleichen gearbeitet ist, die Natur des Schönen selbst aber ist ihre Seele unfähig zu sehen und zu lieben. - So freilich, sagte er, verhält es sich. - Die nun aber dem Schönen selbst zu nahen vermögen und es an sich betrachten, sind die wohl nicht selten? -Gar sehr. - Wer nun schöne Sachen zwar anerkennt, die Schönheit selbst aber weder anerkennt noch auch, wenn ihn jemand zur Erkenntnis derselben führen will (án tis hegêtai epì tèn gnôsin autoû), ihm zu folgen vermag, dünkt dich der wachend oder träumend zu leben? Bedenke nur: Das Träumen, besteht das nicht darin, wenn jemand, es sei nun im Schlaf oder auch wachend, etwas einem Phänomene, indem er feststellte: nómo chroié, nómo glyky, nómo pikrón - Farbe, Süßes, Bitteres gibt es nur aufgrund menschlicher Setzung, Übereinkunft, Konvention. In Wirklichkeit gibt es Atome und den leeren Raum dazwischen. Er läßt aber dazu die aisthéseis / Wahrnehmungen sprechen - Fr. B 125 <II 168,8> Diels: "Armseliger Verstand, von uns nimmst du deine Gewißheiten und uns willst du fällen? Dein Fall wird dein Fällen sein." 29 Vgl. Bruno Snell, Die Ausdrücke für den Begriff des Wissens in der vorplatonischen Philosophie, in: Philolog. Unters. 29, Berlin 1924. Ders., Die Entdeckung des Geistes. Studien zur Entstehung des europäischen Denkens bei den Griechen, Hamburg 1946, 3. erw. Aufl. 1955. 30 James Barr, Bibelexegese und moderne Semantik. Theologische und linguistische Methode in der Bielwissenschaft. Chr.Kaiser Verlag München 1965. 11 Ähnliches nicht für ähnlich, sondern für jenes selbst hält, dem es gleicht? - Ich wenigstens, sprach er, würde sagen, daß ein solcher träume. - Wie aber? Wer ganz im Gegenteil die Schönheit selbst für etwas hält und auch sie selbst sowohl als das an ihr Teilhabende wahrnehmen kann und weder das Teilhabende für sie selbst noch sie selbst für das Teilhabende hält, wie dünkt dich wiederum dieser, wachend zu leben oder auch er schlafend? - Gar sehr, sagte er, wachend. - Dessen Gedanken also, weil er erkennt, würden wir wohl mit Recht sagen, seien Einsicht, des anderen aber Meinung, weil er nur etwas meint oder sich vorstellt. - Allerdings." Wir werfen hier einen Blick auf eine Vorstellungs- und Gedankenwelt. Es wird unterschieden zwischen "schön" und "Schönheit" - an anderen Stellen wird deutlich, daß es dabei einmal um das Allgemeine im Besonderen geht, zum anderen um das Wesen gegenüber der Erscheinung; weiters um das Verhältnis, das als "Teilhabe" bezeichnet wird (was bekanntlich Aristoteles geärgert hat: es erklärt ja nichts). Um die Metapher des Wachens für Erkenntnis und des Schlafs für bloßes Meinen. Erinnern Sie sich an die Textbeispiele von voriger Woche, in denen ebenfalls von Schlaf die Rede war und von einem erweckenden Ruf. Vergleichen wir noch die Stelle Resp VI 508 c ff.: "Die Augen, sprach ich, weißt du wohl, wenn sie einer nicht auf solche Dinge richtet, auf deren Oberfläche das Tageslicht fällt, sondern worauf die nächtlichen Schimmer: so sind sie blödsichtig und scheinen beinahe blind, als ob keine reine Sehkraft in ihnen wäre? - Ganz recht, sagte er. Wenn aber, denke ich, auf das, was die Sonne bescheint: dann sehen sie deutlich, und es zeigt sich, daß in eben diesen Augen die Sehkraft wohnt. - Freilich. - Ebenso nun betrachte dasselbe auch an der Seele. Wenn sie sich auf das heftet, woran Wahrheit und das Seiende (alétheia kaì tò ón) glänzt: so bemerkt und erkennt sie es, und es zeigt sich, daß sie Vernunft (noûn) hat. Wenn aber auf das mit Finsternis Gemischte; das Entstehende und Vergehende: so meint sie nur, und ihr Gesicht verdunkelt sich so, daß sie ihre Vorstellungen (dóxas) bald so und bald so herumwirft und wiederum aussieht, als ob sie keine Vernunft hätte. - Das tut sie freilich. - Dieses also, was dem Erkennbaren die Wahrheit mitteilt (tò tèn alétheian paréchon toîs gignoskoménois) und dem Erkennenden das Vermögen hergibt (kaì tô gignóskonti tèn dynamin apodidòn), sage, sei die Idee des Guten (tèn toû agathoû idéan); aber sofern sie der Erkenntnis und der Wahrheit, und zwar letzterer als erkanntseiender verstanden, Ursache allerdings ist (aitían d' epistémes oûsan kaì aletheías): so wirst du doch, so schön auch diese beiden sind, Erkenntnis und Wahrheit (gnóseos kaì aletheías), nur wenn du dir jenes als ein anderes und noch Schöneres als beide denkst, richtig denken. Erkenntnis aber und Wahrheit (epistémen dè kaì alétheian), so wie dort Licht und Gesicht für sonnenartig zu halten zwar recht war, für die Sonne selbst aber nicht recht, so ist auch hier diese beiden für gutartig zu halten zwar recht, für das Gute selbst aber gleichviel welches von beiden anzusehen nicht recht, sondern noch höher ist die Beschaffenheit des Guten zu schätzen. Eine überschwengliche Schönheit, sagte er, verkündigst du, wenn es Erkenntnis und Wahrheit hervorbringt, selbst aber noch über diesen steht an Schönheit." Hier ist die Erkenntnis mit der Metaphorik des Lichts zusammengebracht und weiters die Differenz von Licht und deren Ursprung, der Sonne, in Parallele gesetzt zur Differenz zwischen Erkenntnis und Wahrheit einerseits, und deren Grund - hier als die Idee des Guten bezeichnet - anderseits. (Im berühmten Höhlengleichnis Platons im selben Buch sitzen die Menschen im Dunkeln und nehmen nur indirekt dem Sonnenlicht verdankte Schattenbilder wahr.) Das ist die Kinderstube der Metaphysik. Ihr geht es nicht um das Erkennen von Zusammenhängen der verschiedenen Sachgebiete, sondern um den Zusammenhang im Erkennen selbst: den Zusammenhang von Seiendem, Wahrheit und deren Grund. Der Gedanke an etwas, das Erkenntnis und Wahrheit an Schönheit übersteigt, wird als "überschwenglich", überwältigend (améchanon kállos) bezeichnet. Plato holt sich von diesem Unausdenkbaren mit einem kleinen Spaß zurück auf die Erde. Er läßt den Dialogpartner fragen. "Du sprichst doch nicht jetzt etwa von der Lust (hedonén)?" "Frevle nicht (euphémei)", wird ihm lächelnd geantwortet. Es bleibt offen, ob die überlieferte Religion der Griechen, die mit dem Wort "Frevle nicht" anklingt (es ist das rituelle Gebot wie im lateinischen "favete linguis", das im Heiligtum vor der religiösen 12 Zeremonie gerufen wurde) interpretierend gestützt oder umgekehrt die philosophische Theorie durch die Religion interpretiert werden soll. Philosophische Erkenntnis konnte jedenfalls als religionskritisch aufgefaßt werden und wurde es auch, wie die Anklageschrift im Prozeß gegen Sokrates, der zu seiner Verurteilung zum Tod geführt hat, beweist. Diese philosophische Redeweise über "gnosis", von den Höhen der Lehrgespräche in der Akademie Platons im 4. Jh. v.Chr. trivialisiert und in alle Möglichkeiten der Halbbildung zerflossen, gehört zu den Bedingungen der "Gnosis". Was aber ist "Gnosis"? Der Terminus Gnosis bezeichnet zweierlei: einerseits eine sich in mannigfaltigen Gemeinschaftsbildungen manifestierende, im Grunde nichtchristliche religiöse Erlösungsbewegung der Spätantike; anderseits den Zentralbegriff dieser Religionsbewegung, die vor und mit dem jungen Christentum auftrat und sich in Samaria, Syrien, Kleinasien, Ägypten, Italien, Nordafrika usw. verbreitete. 2.2 Gnosis als historische religiöse Bewegung 2.2.1 Die Frage ihrer Herleitung Letztes Mal zitierte ich Quispel, der 1951, nach dem Studium der Textfunde von Nag Hammadi feststellte: "Eine Weltreligion ist neu entdeckt". Das ist also eine relativ junge Deutung. Das ganze 19. Jh. von Baur bis Harnack ist noch von der Behauptung der Kirchenväter geleitet worden, die Gnosis sei eine christliche Häresie des 2.Jh., die den christlichen Heilsgehalt in hellenistischen Denkformen philosophisch interpretieren wollte, dann aber in Mythologie ausgeartet sei. Inzwischen hat sich aber dank der Forschungen aus der "religionsgeschichtlichen Schule" die Auffassung durchgesetzt, daß die Gnosis eine Religion sui generis gewesen ist und gleich alt oder älter als das Christentum. [„Religionsgeschichtliche Schule“ = Sammelbezeichnung für eine Gruppe von Exegeten des Alten und Neuen Testaments vom Ende des 19. / Beginn des 20.Jh. aus dem kreis der Vertreter der liberalen Theologie. Ihre Ziele waren die Darstellung der Einflüsse der außerbiblischen Religionen auf die Bibel, die Herausstellung des eigenständigen Beitrags der biblischen Religion, die Darstellung der Entwicklung der Religion in der Bibel als religionsgeschichtlicher Prozeß. Ihre Grundlagen: Literarkritik, Formgeschichte, Quellenscheidung im Pentateuch, Zweiquellentheorie für die Evangelien. Wichtigste Vertreter: Baudissin, W.Bousset, H.Greßmann, H.Gunkel, P.Wernle, W.Wrede, E.Troeltsch.] "Das Phänomen freilich ist viel zu komplex, als daß die verschiedentlich versuchten Kurzdefinitionen befriedigen könnten."31 Beispiele für solche Kurzdefinitionen: "Große religiöse Bewegung der Spätantike, die das Heil in der Erlösung der Auserwählten aus dieser materiellen Welt in das ferne Lichtreich des wahren Gottes hinein suchte" (Georg Kretzschmar in Ev.Theol. 1953, 354). Oder: "Die absolute Abwertung der geschichtlichen Existenz zugunsten der durch Eingebung von oben wiederzuerlangenden eigentlichen überweltlichen Existenz" (L.Goppelt, Christentum und Judentum im ersten und zweiten Jahrhundert, Gütersloh 1954, 130). Über den Ursprung der Gnosis sind sehr viele verschiedene Theorien in Umlauf gekommen, deren jede sich auf den Nachweis bestimmter Ähnlichkeiten und Parallelen stützen konnte. Es lassen sich unterscheiden: - Hellenistische32 Theorien - z.B. Hans Leisegang, H.J. Schoeps. Hans Joachim Schoeps, Theologische Literaturzeitung. 81 (1956), Sp. 413-422. Der Terminus "hellenistisch" ist durch J.G. Droysen (1833) als Kulturepochenbegriff für die in Hellas stattgehabte Vermischung griechischer 31 32 13 - Orientalische, d.h. ägyptische, babylonische, zumeist aber iranische - Bousset, Greßmann, Reitzenstein, Jonas, Widengren. - Heterodox-jüdische - A.D. Nock, G. Scholem, K. Schubert, G. Quispel. Letztere Richtung hat dadurch Auftrieb bekommen, daß durch die Publikation der sog. Disziplinrolle unter den Schriftrollen vom Toten Meer (Dead-Sea-Scrolls, 'Ain Feshka bzw. Qumran) der "älteste derzeit bekannte gnostische Text" (Schubert) entdeckt worden sei -und zwar im Umkreis eines vorchristlichen Judentums heterodoxer Prägung. (Heterodox - Gegensatz zu Orthodox - ist theologisch ein Urteil über wahr und falsch, soziologisch ein Begleitphänomen jeder Religion, die eine eigene Lehre kennt.) Die interpretatio graeca hat alte Ahnen. Schon Hippolyt (Vorwort zum Elenchos) und Porphyrius (Vita Plotini 16) haben auf die "Weisheit der Hellenen" bzw. die altgriechische Philosophie verwiesen neben aufgegriffenen Mysterien und Weisheit herumziehender Astrologen. Unter den Modernen wurde für die hellenistische Ableitung der Gnosis insbesondere das Verständnis Gottes und der Götter als Seinsweisen oder Wesenheiten wichtig sowie die Beurteilung des Menschen von seinem Erkenntnisdrang aus. Deshalb hat C. Schneider33 den Geist der Gnosis "nur griechisch, und zwar überwiegend platonisch" genannt: "Die Gnosis gehört in die Geschichte des Spätplatonismus als eine seiner Abzweigungen, allerdings eine sehr merkwürdige." Kosmogonie, mythische Götterentstehung, physischer Dualismus, Mysteriengemeinde, die drei Menschenklassen (Pneumatiker, Psychiker, Hyliker) usw. - dies alles sei altes griechisches Erbgut und entstamme speziell dem Platonismus. Eine iranische Motivunterwanderung wird aber dabei z.B. von Schneider nicht ausgeschlossen. Ebensowenig von H.Leisegang34, der einen wichtigen Fixpunkt in der visionär entstellten Ideenlehre Platons sieht und von einer Entartung griechischer Philosophie spricht. Bousset, Reitzenstein und ihre Nachfolger haben, um den orientalischen Charakter der stark mythologisch gefärbten Gnosis nachzuweisen, wieder andere Motive aufgenommen wie die sieben Archonten oder Äonen (Halbgötter; vgl. die "Regenten" in der Astrologie), den Herabstieg des Himmelsmenschen resp. der Sophia (gefallener Äon) in die Materie und sein sich Wiedererheben, die Himmelfahrt der Seele, den meist mit Astrologie gekoppelten Zwang der Heimarmene, den eschatologischen Weltbrand usw. und haben dies alles aus dem Parsismus bzw. auch aus einem frühen persisch-babylonischen Synkretismus hergeleitet. Sie bleiben freilich nicht ohne Widerspruch, da sich manche Motive auch anderwärts finden ließen, z.B. die Himmelfahrt der Seele in Mesopotamien (Widengren), der Weltbrand in der Stoa (P.Schnabel), die Heimarmene bei Apulejus (Nilsson). Da sich nun auch in den hellenistischen Mysterienreligionen gnostische Elemente finden lassen und zumal im Poimandres das früheste "Beispiel einer rein heidnischen Gnosis" vorliegt, mußten diese Forscher die Gnosis zum Produkt eines antiken Synkretismus aus hellenistischen und rein orientalischen Vorstellungsbildern werden lassen. Nach Widengren sei die eigentliche Heimat das Partherreich gewesen.35 Gnosis ist von dieser Richtung als ein enthistorisierter Mythos, ein zeitloser Befreiungsprozeß der Seele angesehen worden, der vom Mysten abbildlich nachvollzogen wird. Im manichäischen Mythos vom "erlösten Erlöser", daß der ins Weltall entsandte Urmensch mit dem Kosmos sich selber erlöst, erhält das gnostische Weltbild nach einer mindestens 200-jährigen Entwicklung seine intellektuelle Vollendung (Schaeder, Puech, und orientalischer Kulte eingeführt worden. Harnack Dogmengeschichte I (4.Aufl.), 250 hat im Anschluß an Franz Overbeck die Gnosis als "akute Hellenisierung des Christentums" bezeichnet, mit welchem Begriff auch noch F.C. Burkitt (Church and Gnosis, Cambridge 1932, 40) operiert. H. Lietzmanns (Geschichte der alten Kirche I , 317) definitorische Modifikation lautet: "akute Rückorientalisierung". 33 C.Schneider, Geistesgeschichte des antiken Christentums I, München 1954, 268. 34 Hans Leisegang, Die Gnosis, Leipzig 1941, 13 u.ö. 35 Geo Widengren, ZRGG 1952, 97 ff. versucht das anhand des Perlenlieds nachzuweisen. 14 Quispel). Die bereits von Hegesipp vertretene heterodox-jüdische Herleitung schließlich baut entweder auf Bousset-Greßmanns36 Nachweisen auf, daß in Babylon und Mesopotamien während des Exils und wohl auch noch hinterher jüdische Rezeptionen aus dem Parsismus erfolgt seien. (Engellehre, vgl. jer. Rosch hasch. 1, 56 d). Oder sie spricht von der "Auseinandersetzung des jüdischen oder samaritanischen Menschen mit gewissen hellenistischen Vorstellungen" (Quispel) bzw. von einer "Berührung atl. Theologie mit hellenistischer Popularphilosophie" (Schubert), d.h. mit platonischpythagoräisch durchsetzter Stoa, was in der Diaspora, speziell in Alexandrien geschehen sein soll. Das dortige hellenistische Judentum, repräsentiert durch den aus Eusebius bekannten Exegeten Aristobul und 150 Jahre später durch den Allegoriker Philon - den Goodenough37 gnostisch präpariert hat - sei um die Zeitenwende heterodox gewesen und habe die Quelle Gnosis entsprudeln lassen. Auf das Konto dieses synkretistischen Judentums wären folgende gnostische Motive abzuschreiben: die ganze Hypostasenlehre (gnostische Äonenspekulationen), die Sophia resp. der Logos als Baumeister der Welt oder einer Art Weltseele, die Teilnahme der Engel am Schöpfungswerk usw. Sicher ist bei allen diesen oft bestechend vorgetragenen Theorien nur eines, daß man auf diesem Weg zu keinem schlüssigen Ergebnis kommen wird. Die eine Ableitung hebt die andere auf und Evidenzgewißheit hat keine von ihnen. Es wird auch nie ganz klar, was die einzelnen Forscher unter "griechisch" und unter "orientalisch" subsumieren, etwa wenn von einer griechischen Deutung altorientalischer Mythen gesprochen wird. Die meisten Mythen und Begriffe der Gnosis haben doch geradezu ein griechisch-orientalisches Doppelantlitz, so daß von einer gnostischen "Alchemie der Weltanschauungen" gesprochen werden konnte.38 Daß das aut-aut durch ein et-et zu ersetzen ist, war übrigens schon Wilhelm Boussets Meinung gewesen. Der gnostische Mythos sei aus griechischen und orientalischen Elementen zusammengesetzt gewesen.39 2.2.2 Die Frage ihres "Wesens" Sloterdijk schreibt (o.c. I 27): "Über die Frage, was Gnosis 'eigentlich' sei, herrscht unter den Gelehrten das, was rechtmäßig zu erwarten ist: Uneinigkeit. Man hat zu ihrem Kriterium den metaphysischen Dualismus machen wollen - und mußte damit schon an den monistischen und triadischen Varianten der älteren Systeme scheitern; man hat die Verbindung von Kosmosfeindschaft und Antijudaismus als das markante Muster definieren wollen, und damit jene Gnosen verfehlt, die ohne nennenswerte polemische Spannungen gegen das "Bestehende" und seinen Urheber zum überweltlichen Schweben aufzusteigen wußten. Man hat der Gnosis den "wisserischen" Grundzug nachgesagt und hat dabei ihre poetischen, asketischen, experimentellen und kathartischen Dimensionen verkannt; auch hat man ihr das Merkmal "Selbsterlösungs-Kult" anhängen wollen und hat dabei die Vielzahl von soteriologischen Lehren übersehen, in denen an die verdüsterte Seele im Weltgefängnis ein Ruf von fremder Seite ergeht. Die Definierer hatten bei der Gnosis - wie bei so vielen Phänomenen spontaner Spiritualität - bisher kein Glück." Bousset-Greßmann, Religion des Judentums im spät-hellenistischen Zeitalter, Tübingen 1926, 478 ff., 506 ff. 37 Goodenough, By Light Light, the mystic Gospel of Hellenistic Judaism, New Haven 1953. behauptet ähnl. wie vorher J.Pascher den starken Einfluß von Mysterienfrömmigkeit für Philon. 38 Vgl. Karl Stürmer, Judentum, Christentum und Gnosis, ThLZ 1948, 592: "Es scheint hier (in der Gnosis) wirklich eine Alchemie der Weltanschauungen vorzuliegen, durch die aus zwei gegebenen Stoffen ein neues Drittes zur Darstellung gebracht wurde." 39 Bousset, Hauptprobleme der Gnosis 118 f.; Kyrios Christos 184; Art. Gnosis in PWK, Sp.1510. 36 15 Das Gnosisproblem erweist sich als Paradigma für das Grundproblem der Religionsphilosophie überhaupt, wie ich es letztes Mal erläutert habe: daß Religion sich dagegen sträubt, zum Gegenstand der Philosophie gemacht zu werden. Schon die Kirchenväter sind sich der für sie erschreckenden Vielgestalt der gnostischen Lehren bewußt gewesen; sie vergleichen sie mit der vielköpfigen Hydra der griechischen Sage.40 Dieses Bild wird tatsächlich voll und ganz von den Nag-Hammadi-Texten bestätigt. Auf den ersten Blick ist die Vielfalt der Entwürfe und Spekulationen verwirrend und entmutigend. Erst nach längerem Zusehen entpuppen sich gewisse Grundgedanken, die immer wieder, wenn auch anders formuliert, auftreten und zum Kern des Ganzen führen. Die äußere Mannigfaltigkeit der Gnosis ist natürlich nicht von ungefähr, sondern offensichtlich in ihrem ganzen Wesen angelegt. Es gibt keine gnostische "Kirche" oder normgebende Theologie, keine gnostischen Glaubensrichtlinien oder ein Dogma von ausschließlicher Bedeutung. Der freien Darstellung und theologischen Spekulation sind keine Grenzen gesetzt, soweit sie im Rahmen der gnostischen Weltauffassung liegen. daher finden wir schon bei den Häresiologen die unterschiedlichsten Systeme und Verhaltensweisen unter dem gemeinsamen Nenner "Gnosis" ausgewiesen, und die gnostische Bibliothek von Nag Hammadi bietet eine der besten Illustrationen dieses Sachverhalts, da hier die verschiedensten Schriften mit oft divergierenden Anschauungen zusammengefaßt sind. Die gnostischen Gemeinden vertraten offenbar keinen Ausschließlichkeitsanspruch untereinander, was gegenseitige Polemik der Lehrer und Schulgründer wohl nicht ausschloß (leider wissen wir darüber zu wenig). Es gibt auch keinen gnostischen Schriftkanon, es sei denn die "Heiligen Schriften" anderer Religionen, wie die Bibel oder Homer, die man zum Zweck der Autorisierung der eigenen Lehren verwendete und auslegte. Die Gnostiker scheinen sich besonders darin gefallen zu haben, ihre Lehren auf vielfältige Weise zum Ausdruck zu bringen, und handhaben ihre Schriftstellerei mit großer Fertigkeit, die uns allerdings heute mitunter schwer verständlich und zugänglich ist. Wie überall finden sich neben eindrucksvollen Produkten auch weniger ansprechende oder gar minderwertige, aber überall spürt man die souverän geübte Methode, möglichst viel aus seinen Gedanken herauszuholen und sie auf immer neue Weise auszudrücken. Dabei wird die in der Antike verbreitete Auslegungskunst der Allegorie und Symbolik weidlich angewandt, d.h. man unterlegt einer Textaussage einen oder gar mehrere tiefere Sinngehalte, um sie für die eigene Lehre in Anspruch nehmen zu können oder ihren inneren Reichtum aufzuweisen. Diese Methode der Exegese ist in der Gnosis ein Hauptmittel, unter dem Deckmantel älterer Literatur - vor allem der heiligen und kanonischen - die eigenen Vorstellungen vorzuführen. Darunter finden sich wahre Akrobatenstücke und man kann regelrecht von einer "Protest-Exegese" sprechen, insofern sie dem äußeren Wortlaut und herkömmlichen Verständnis zuwiderläuft. Eine weitere, damit zusammenhängende Eigenart der gnostischen Überlieferung liegt darin, daß sie sich vielfach ihr Material aus den verschiedensten bereits vorliegenden Traditionen holt, sich an sie anlehnt und sie gleichzeitig in einen neuen Rahmen stellt, wodurch sie einen anderen Charakter, eine völlig neue Beleuchtung erhalten. Von außen gesehen sind die gnostischen Schriften oft Kompositionen, ja Kompilationen aus den mythologischen oder religiösen Vorstellungen der unterschiedlichsten Religions- und Kulturbereiche: wie gesagt aus dem griechischen, jüdischen, iranischen, christlichen (im Manichäismus auch aus dem indischen und fernöstlichen). An wesentlichen Grundzügen der Gnosis, auch wenn sie verschiedenen Überlieferungen zu entnehmen sind, werden etwa die folgenden genannt: Der Begriff der Gnosis selbst, der, wie gesagt, aus dem Griechischen stammt und "Wissen, Erkenntnis" bedeutet. Er war tatsächlich ein Schlagwort der Bewegung. Schon das Neue Testament spricht warnend von den Lehrsätzen der "falschen Gnosis" (1.Tim 6,20); die Kirchenväter, voran Irenäus, nehmen den Ausdruck als gängige Charakterisierung auf und stellen ihm die "wahre Gnosis" der Kirche gegenüber. Die Vertreter dieser "falschen Gnosis" nennen sich selbst häufig "Gnostiker", d.h. "Wissende, Erkenntnisbesitzende", und vom "Wissen" ist auch häufig in ihren 40 Irenäus, Adv. haer. I 30, 15. Hippolyt, Refutatio V 11. 16 Schriften die Rede, allerdings in einer besonderen Weise. Sie streben kein philosophisches Erkenntnisideal, kein erkenntnistheoretisches Wissen an, sondern ein Wissen, das zugleich eine erlösende, befreiende Wirkung hat. Der Inhalt dieses Wissens oder dieser Erkenntnis ist ein primär religiöser, insofern er um die Hintergründe von Mensch, Welt und Gott kreist, aber auch weil er nicht auf eigenem Forschen, sondern auf himmlischer Vermittlung beruht. Es ist Offenbarungswissen, das nur den dafür Empfänglichen und Auserwählten verfügbar gemacht worden ist, also einen esoterischen Charakter hat. Dieses geschenkte Wissen kann von der grundlegenden Einsicht in die göttliche Natur des Menschen und sein Woher und Wohin bis zu einem ganzen System reichen. Alle gnostischen Lehren sind in irgendeiner Form ein Stück des erlösenden Wissens, das Erkenntnisgegenstand (die göttliche Natur), Erkenntnismittel (die erlösende Gnosis) und den Erkennenden selbst zusammenschließt. Die intellektuelle Kenntnis der Lehre, die als offenbarte Weisheit dargeboten wird, hat hier eine unmittelbare religiöse Bedeutung, da sie zugleich als überweltlich verstanden wird und Grundlage des Erlösungsvorgangs ist. Einer, der "Gnosis" hat, ist daher ein Erlöster: "Wenn jemand Gnosis hat", heißt es im "Evangelium der Wahrheit", 41 "ist er ein Wesen, das von oben stammt... Er vollbringt den Willen dessen, der ihn gerufen hat. Er wünscht ihm zu gefallen, er empfängt die Ruhe... Wer auf diese Weise Gnosis haben wird, weiß, woher er gekommen ist und wohin er geht. Er erkennt wie jemand, der trunken war und von seiner Trunkenheit ernüchtert worden ist und, wiederum zu sich zurückgekehrt, sein Eigenes wieder hergestellt hat." (NHC I 3, 22, 1 ff.) Der Unwissende ist demgegenüber einer, der dem Vergessen und der Vernichtung anheimfällt; er hat keinen Stand. (NHC I 3, 23, 35 ff.) "Wer die Erkenntnis (gnosis) der Wahrheit hat, ist frei", steht im Philippusevangelium. "Die Unwissenheit ist Sklave." (NHC II 3,77 (125), 14 f.; 84 (132), 10).42 Aber nicht nur die Das Evangelium Veritatis ist ein auf koptisch (näher: subachmimisch) vorliegender Text der zweiten der insgesamt fünf Schriften des Codex Jung (Codex II nach der Zählung von H.-Ch. Puech und Codex I nach der Klassifizierung des Koptischen Museums zu Alt-Kairo). Es wurde zum größten Teil (Seite 16-32 und Seite 37-43) im Jahr 1956 von M. Malinine, H.-Ch. Puech und G. Quispel ediert. Die in dieser Edition fehlenden Seiten wurden jedoch inzwischen im Koptischen Museum zu Alt-Kairo gefunden und als Photokopie publiziert, hierauf von W.C. Till ediert (Orientalia 28, 1959, 170ff.) und schließlich in einem Nachtrag zur Ausgabe von 1956 veröffentlicht. <M.Malinie, H.-Ch.Puech, G.Quispel, W.C.Till, Evangelium Veritatis (Supplementum) Zürich 1961.> Die Schrift ist wahrscheinlich eine aus dem 4.Jh. stammende Übersetzung eines verlorenen griechischen Originals. Sie ist ohne Titel überliefert. Da sie mit den Worten: "Das Evangelium der Wahrheit ist Frohlocken..." beginnt, gaben ihr die Herausgeber den Namen "Evangelium Veritatis". Die lateinische Form des Titels wurde von den Herausgebern bevorzugt, da sie in unserer Schrift das um 180 von Irenäus, adv.haer. III, 11,9 für die Valentinianer bezeugte und seither verschollene "Evangelium Veritatis" vermuten. Die Herausgeber verfechten nicht nur den valentinianischen Charakter der EV genannten Homilie, sondern sie nehmen mit Wahrscheinlichkeit an, sie stamme von Valentinos selbst, dem bedeutendsten gnostischen Schulhaupt. W.C. Van Unnik behauptet, Valentinos habe die Schrift zwischen 140 und 145 in Rom verfaßt, also um die Zeit, als er mit der Großkirche in Konflikt geraten war. Detailliertere Erwägungen dazu bei Haardt o.c. 173 ff. <Handout 3> 42 Das Evangelium nach Philippus, das nicht mit dem von Epiphanius (Panarion 26, 13) für Gnostiker bezeugten Evangelium gleichen namens identisch ist, liegt uns in koptischer Sprache im Codex II (nach Puech: III) von Nag Hammadi 51, 29-86, 19 vor. Derselbe Codex enthält auch das Thomasevangelium sowie fünf weitere gnostische Schriften. Unser Evangelium ist höchstwahrscheinlich eine Übersetzung aus dem Griechischen. Die Edition des koptischen Textes besorgte Walter C. Till (Das Evangelium nach Philippos, Berlin 1963) auf Grund der nicht immer sehr klaren photomechanischen Wiedergabe des Textes bei P. Labib, Coptic Gnostic Papyri in the Coptic Museum at Old Cairo, I, Cairo 1956, Tafel 99-134. Es sind deshalb bei der Lektüre des koptischen Textes die von M. Krause in der Zeitschrift für Kirchengeschichte I/II-1964, 168-182, veröffentlichten, auf einem Vergleich des edierten Textes mit den Originalphotographien beruhenden 41 17 Unwissenheit steht im Gegensatz zum "Wissen" des Gnostikers, sondern auch der Glaube, da er nicht um sich selbst weiß und nur im Vordergründigen bleibt. Gerade dieser Gegensatz von Glaube und Wissen ist eines der zentralen Themen in der Auseinandersetzung der Kirche mit der gnostischen Häresie gewesen. Es ging hier nicht nur um Recht und Anspruch des Glaubens als allein gültiges Heilsmittel, sondern auch um das Problem der doppelten Wahrheit, die mit dem Einzug der esoterischen Gnosis in die frühe Kirche zur Diskussion stand. Mit gutem Recht ist also der Begriff der Gnosis als Bezeichnung dieser Religionsbewegung beibehalten worden. erst im 18. Jh. hat man dann - über das Französische - daraus die Form "Gnostizismus" gebildet, die einen abwertenden Klang hat. Sie hat sich bis in unsere Zeit hinein gehalten und wird in erster Linie für die christlich-gnostischen Systeme des 2. und 3.Jh. verwendet, worin wohl Harnacks Einfluß nachwirkt. Das Nebeneinander der beiden Begriffe für den im Grunde gleichen Gegenstand hat in der Forschung häufig Verwirrung gestiftet und in letzter Zeit dazu geführt, beide schärfer zu bestimmen und gegeneinander abzugrenzen. Auf dem Kongreß über die "Ursprünge des Gnostizismus" 1966 in Messina wurde von mehreren Teilnehmern ein solcher Versuch in thesenhafter Form zur Diskussion gestellt.43 Danach sollte unter "Gnosis" ein "Wissen um göttliche Geheimnisse, das einer Elite vorbehalten ist" (also esoterischen Charakter hat), verstanden werden, "Gnostizismus" aber in dem genannten Sinn für die gnostischen Systeme des 2. u.3.Jh. gebraucht werden. "Gnosis" wird damit zu einem ungewöhnlich ausgeweiteten Terminus, der auch den "Gnostizismus" umfaßt. Diese Auseinanderreißung der beiden im Grunde historisch und wissenschaftsgeschichtlich zusammengehörigen Namen ist allerdings nicht sehr sinnvoll und hat sich auch nicht allgemein durchgesetzt. Deshalb bleibe ich bei der v.a. im deutschsprachigen Raum üblichen Verwendung und verstehe unter Gnosis und Gnostizismus dasselbe; erstere als Selbstbezeichnung einer spätantiken Erlösungsreligion, letzterer als neuere Bildung davon. Natürlich bleibt nach wie vor der neutrale Gebrauch von "Gnosis" im Sinne philosophischer Erkenntnis oder erkenntnistheoretischer Bemühung ("Gnoseologie") davon unberührt. Gnosis in unserem Zusammenhang ist zunächst eine historische Kategorie, die eine bestimmte Form spätantiker Weltanschauung erfassen will und dabei an deren eigenes Selbstverständnis anknüpft. Fragen wir weiter nach einigen spezifischen Elementen dieser "Gnosis", so sind es eine Reihe von Vorstellungen, die in den meisten Überlieferungen immer wiederkehren und ihr grundlegendes "Gerüst" bilden. In diesem Sinn verstehen wir hier die Frage nach "Struktur" oder "Wesen". Es geht um das "Gefüge" der Gnosis. In den Messinaer Vorschlägen zur Terminologie werden als Kerngedanke - als zentraler Mythos des Gnostizismus folgende "zusammenhängende Charakteristika" angeführt: "die Vorstellung von der Gegenwart eines göttlichen 'Funken' im Menschen..., welcher aus der göttlichen Welt hervorgegangen und in diese Welt des Schicksals, der Geburt und des Todes gefallen ist und der durch das göttliche Gegenstück seiner selbst wiedererweckt werden muß, um endgültig wiederhergestellt zu sein. Diese Vorstellung... gründet sich ontologisch auf die Anschauung von einer Abwärtsentwicklung des Göttlichen, dessen äußerster Rand (oftmals sophia oder ennoia genannt) schicksalhaft einer Krise anheimfallen und - wenn auch nur indirekt - diese Welt hervorbringen mußte, an welcher es dann insofern nicht desinteressiert sein kann, als es den göttlichen Funken (oft als pneuma, 'Geist', bezeichnet) wieder herausholen muß." Aus dem Zitat geht auch schon hervor, daß der Gnosis ein dualistisches Weltbild zugrunde liegt, das alle ihre Aussagen auf kosmologischer und anthropologischer Ebene bestimmt und daher zuerst unsere Aufmerksamkeit beanspruchen wird. Getragen oder, genauer gesagt, durchzogen wird dieser Korrekturen unbedingt heranzuziehen. Die erste Übersetzung des Textes auf Grund er Labibschen Reproduktion besorgte H.-M. Schenke (ThLZ 84, 1959, 1-26), von dessen Textergänzungen viele in die Tillsche Edition eingegangen sind. Schenke hat das Evangelium der Übersichtlichkeit halber in "Sprüche" eingeteilt, eine Aufgliederung, die auch Till übernommen hat. Eine Auswahl von Sprüchen, die für das Sakrament des Brautgemachs bedeutsam sind, bringt Haardt o.c. 203 ff. 43 Ugo Bianchi, Le Origini dello Gnosticismo, S. XX ff. Die deutsche Version auch bei W. Eltester, Christentum und Gnosis, S. 129 ff. 18 Dualismus von einem monistischen Gedanken, der sich in der beschriebenen Abwärts- und Aufwärtsentwicklung des göttlichen "Funkens" ausdrückt und der die Grundlage für die Gleichsetzung von Mensch und Gottheit ist (anschaulich gemacht in der Vorstellung vom Gott "Mensch"). Eingebettet in diesen "Dualismus auf monistischem Hintergrund" ist die Gotteslehre der Gnosis, die vor allem durch die Vorstellung vom "unbekannten Gott" jenseits alles Sicht- und Verfügbaren bestimmt ist und eine "Fülle" (pleroma) von Engeln und anderen himmlischen Wesen, seien es personifizierte Begriffe (Abstraktionen) oder Hypostasen, einschließt. Eine vorherrschende Rolle spielt weiterhin die Weltschöpfung (Kosmogonie), die eine Erklärung bieten will für den gegenwärtigen gottfernen Zustand des Menschen und daher einen großen Raum in den Texten einnimmt. Die dem göttlichen Pol - oft als "Licht" bezeichnet - entgegengesetzte Seite des dualistischen Weltbilds ist die "Finsternis", die gleichfalls sehr unterschiedlich dargestellt wird, in der Hauptsache aber physisch als Materie und Körper (Leib) oder psychologisch als "Unwissenheit" oder "Vergessenheit" auftritt. Der Bereich dieses antigöttlichen Poles ist allerdings in der Gnosis sehr weit ausgedehnt: Er reicht bis in den sichtbaren Himmel und schließt diese Welt und ihre sie knechtenden Herrscher, voran den Weltschöpfer mit seinen Hilfstruppen, den Planeten und Tierkreiszeichen, mit ein. Das gesamte spätantike Weltbild mit seiner Vorstellung von der Macht des "Schicksals" (griech. heimarméne), das Götter, Welt und Menschen beherrscht, wird hier gleichsam eingeklammert und mit einem negativen Vorzeichen versehen. Es wird zu einem Gefängnis, aus dem es kein Entrinnen gibt, es sei denn, ein befreiender Akt des transzendenten Gottes und seiner Helfer eröffnet einen "Weg", auf dem der Mensch (streng genommen nur ein kleiner Teil des Menschen, eben der göttliche "Funke") entfliehen kann. Hier wurzelt die Erlösungslehre (Soteriologie) der Gnosis, die verständlicherweise den meisten Platz in den Systemen beansprucht, da sie die Gegenwart des Menschen unmittelbar berührt. Dieser Erlösungsbereich ist gleichfalls in vielfältiger Form ausgestaltet worden und hat verschiedene Darstellungen gefunden. Hierher gehört nicht nur die Vorstellung von der "Himmelfahrt" der Seele, sondern auch die in der Forschung bis heute heftig umstrittene Erlöserlehre der Gnosis. Gerade dieser Bereich ist eins der kompliziertesten Themen der gnostischen Ausführungen in den Texten. Schließlich besitzt die Gnosis eine eng mit der gesamten Kosmologie und Soteriologie verbundene "Lehre von den letzten Dingen", die Eschatologie, die nicht nur in der Rettung der himmlischen Seele besteht, sondern auch kosmische Bedeutung hat. Zum Wesen der Gnosis gehören nicht nur solche Grundgedanken bzw. Strukturelemente wie Dualismus, Kosmologie, Soteriologie, Eschatologie, sondern auch die gnostische Gemeindestruktur und der Kult verdienen eine nähere Betrachtung, trotz des wenigen, das wir darüber wissen. Die Gnosis gibt uns ein Beispiel für die enge Verflochtenheit von Gedanken- und Sozialform, aber gerade dieses Gebiet bedürfte noch sehr der Aufhellung. 2.3 Zum geschichtlichen Umfang des Sachgebiets: 2.3.1 Zeittafel und Entstehungszeitraum Die Probleme der Entstehung und Geschichte der Gnosis gehören zu den schwierigsten der spätantiken Religionsgeschichte überhaupt. Das liegt nicht nur an der Quellenlage, sondern auch daran, daß die Gnostiker selbst an historischen Dingen kein Interesse zeigten. Von ihrer antiweltlichen Einstellung her ist das auch nicht anders zu erwarten. Es gibt bis heute keinen irgendwie historischen Traktat aus gnostischen Händen, etwa wie die Apostelgeschichte des Lukas oder gar die "Kirchengeschichte" des Eusebius von Caesarea, der uns helfen könnte, die Geschichte der Gnosis zu schreiben. Sicheren Boden haben wir nur dort unter den Füßen, wo bekannte gnostische Schul- und Sektenstifter lokalisiert und chronologisch fixiert werden können. Die literarkritische Untersuchung der verhältnismäßig vor kurzer Zeit gefundenen Texte steckt noch in den Kinderschuhen, so daß auch von dort her noch nicht viel zur historischen Fragestellung beigetragen wird. Die Kirchenväter hatten es leicht, sie haben die Entstehung der Gnosis einfach auf den Teufel zurückgeführt. Der "Vater der Kirchengeschichtsschreibung", Eusebius von Cäsarea (etwa 264- 19 339) hat es klassisch formuliert (und ich meine mit "klassisch" auch die Vorbildwirkung bis heute...): "Während so die über den Erdkreis (Ökumene) sich ausbreitenden Kirchen gleich herrlich glänzenden Gestirnen leuchteten und der Glaube an unseren Erlöser und Herrn Jesus Christus siegreich zu allen Völkern drang, nahm der dem Guten abholde Teufel als Feind der Wahrheit und ständiger bitterster Gegner der menschlichen Erlösung, im Kampfe gegen die Kirche alle möglichen Mittel ausnützend, nachdem er es früher mit äußeren Verfolgungen gegen sie versucht hatte, jetzt aber dieser Kampfmittel beraubt war, schlimme, trügerische Menschen als seelenvernichtende Werkzeuge und als Knechte des Verderbens in seine Dienste. Der Teufel ging neue Wege; nichts ließ er unversucht. Falsche, verführerische Männer sollten sich unseren christlichen Namen aneignen, um einerseits die von ihnen eingefangenen Gläubigen in den Abgrund des Verderbens zu stürzen und andererseits solche, die unseren Glauben nicht kannten, durch ihre Handlungen vom Wege der Heilslehre abzuhalten."44 An der Spitze dieser "Verführer" rangiert der aus der Apostelgeschichte bekannte "Magier" (d.i. Zauberer) Simon, der aus Samarien stammte und den Aposteln Konkurrenz machte. Er galt schon für Justin und Irenäus als Ahnherr der Gnosis. Die neuere Forschung hat sich weniger mit solchen Einzelgestalten befaßt als mit den gnostischen Schriften, die ja zum Großteil anonym überliefert worden sind, und mit den Beziehungen zu gnostischen Gemeinden, die aus der neutestamentlichen bzw. frühchristlichen Literatur erhoben werden können. Bahnbrechend war die sog. religionsgeschichtliche Schule, die nachgewiesen hat, daß es sich bei der gnostischen Bewegung um eine von Haus aus nichtchristliche Erscheinung gehandelt hat. Die Verbindung mit christlichen Ideen, die schon früh einsetzte, bedeutete auf der einen Seite eine fruchtbare Symbiose, auf der anderen den Keim zum Untergang im Wettbewerb mit der offiziellen Kirche. Eine Zeittafel der Geschichte der Gnosis (nach K.Rudolph o.c. 406ff.) beginnt mit einem Terminus post quem: 334 v.Chr. - Beginn der Feldzüge Alexanders d.Gr. in Vorderasien, und setzt sich mit wichtigen Daten aus der jüdischen, dann auch christlichen Religionsgeschichte fort: um 200 v.Chr. Prediger Salomos (Kohelet) um 130 v.Chr. Beginn der Qumrangemeinde um 100 v.Chr. Weisheit Salomos 25/26 n.Chr. Auftreten Johannes des Täufers um 27 Kreuzigung Jesu von Nazaret 30 - 60 Wirksamkeit des Paulus 39/40 Philon von Alexandrien in Rom 41 Paulus erstmalig in Korinth um 49/50 Korintherbriefe um 50 Simon Magus in Samarien um 62 Martyrium des Jakobus, Bruder Jesu und Haupt der christlichen Urgemeinde in Jerusalem 66 - 73 Jüdischer Krieg 70 Zerstörung Jerusalems um 80 Kolosserbrief um 95 Johannesapokalypse um 100 Johannesevangelium; Epheserbrief; um 110 Pastoralbriefe (gegen gnostische Gemeinden in Kleinasien). Judasbrief (gegen libertinistische Gnostiker) usw. Eusebius von Caesarea, Kirchengeschichte. Aus dem Griechischen übers. von Ph. Haeuser, München 1932 (BdKV II 1); Neuausgabe: Hrsg. u. eingeleitet von H. Kraft, München 1967. Zitat: S.198. 44 20 Der Entstehungszeitraum: 200 v.Chr. - 100 n.Chr. ist die Zeit jüdischer und christlicher Apokalyptik. Die Hauptmasse der Apokryphen 45 und Pseudepigraphen fällt in diese Zeit. Zugleich die jüdische Weisheitsliteratur. Schon früh kommt es zu Berührungen zwischen Christentum und Gnosis, wie die Bezugnahmen in der neutestamentlichen Briefliteratur zeigen. Gnosis hat sich christliches Lehrgut in Umdeutung und Überbietung dienstbar gemacht. Diese Gestalt der Gnosis, neben der eine pagane Gnosis existierte, wurde als christliche Häresie betrachtet und von der Kirche als gefährliche Rivalin bekämpft. Der Höhepunkt der Auseinandersetzung mit der Großkirche sind die großen gnostischen Systembildungen des 2.Jh. Gleichzeitig erfolgte die Ausbreitung vom palästinensisch-syrischen Raum nach den Küsten Kleinasiens, Griechenlands, nach Ägypten, zunächst Alexandria, und wenig später auch Rom; damit sind die beiden führenden Orte der damaligen Zeit auch Mittelpunkte der Gnosis geworden. Basilides wirkte unter den Kaisern Hadrian und Antoninus Pius (117-161) in Alexandria. Marcion hat 144 seine eigene Kirche gegründet. Der ungefähr gleichzeitige Valentinos wurde schon erwähnt. Im 3.Jh. beginnt von Osten aus (Mesopotamien) eine Hochblüte gnostischer Religion von weltweitem Ausmaß, die das Werk eines Mannes ist, der als einer der großen Religionsstifter in die Menschheitsgeschichte eingegangen ist: Mani. Der Manichäismus, von dem hier die Rede ist, kann als eine der vier Weltreligionen angesehen werden, die die Religionsgeschichte kennt, d.h. er steht neben Buddhismus, Christentum und Islam, ist allerdings im Unterschied zu diesen schon länger vergangen. R. Haardt hat ihn treffend "die abschließende und konsequente Systematisierung der spätantiken Gnosis in der Form einer universalen Offenbarungsreligion mit missionarischem Charakter" genannt.46 Mani ist 216 in Babylonien geboren und ist 277 in Belapat (Gundeschapur) gestorben. Am bekanntesten ist wohl, daß der junge Augustinus Manichäer war. Weniger bekannt, wie weit sich diese Religion ausgebreitet hat. 694 gibt es Manichäer am chinesischen Kaiserhof, 719 wird eine manichäische Kirche in Peking gebaut; 762-840 ist der Manichäismus Staatsreligion bei den Uiguren (Chotscho). Aus dem 8.-10.Jh. stammen die meisten zentralasiatischen Texte des Manichäismus (die sog. Turfan-Fragmente). Erst die mongolischen Eroberungen in Zentral- und Westasien machten den manichäischen Gemeinden ein Ende. 2.3.2 Mittelalterliche Ketzerbewegungen Entweder als direkte Fortsetzungen der spätantiken Gnosis oder ein neues Zur-Geltung-Bringen von deren Traditionen und Ideen sind eine Reihe mittelalterlicher Ketzerbewegungen im und aus dem Raum der Kirche selbst. Die bekanntesten dieser "neognostischen" oder "neomanichäischen" Gruppierungen bildeten zugleich die bedeutendsten Gegenkirchen aus, die das Mittelalter kennt. apókryphos = "versteckt, heimlich". Religiöse Literatur, die nicht in den Kanon der Bibel aufgenommen wurde, sich jedoch gattungsmäßig und thematisch eng an diese anschließt (Lücken schließt). Es gibt alttestamentliche und neutestamentliche Apokryphen. Nach kath. Auffassung sind A. des AT solche Schriften, deren Aufnahme in den Kanon des AT zu keiner Zeit erwogen wurde, z.B. Jubiläenbuch, Himmelfahrt des Jesaia, Aristeasbrief, Testamente der 12 Patriarchen, Himmelfahrt des Moses, die Henochbücher, einige der Baruchschriften. Diese Schriften werden im protestantischen Bereich "Pseudepigraphen" genannt. A. des AT im prot. Verständnis sind jene Schriften, die über die Septuaginta zwar in den frühchristlichen Kanon des AT aufgenommen wurden, jedoch nicht zum Kanon der hebr. Bibel zählen; ihre Kanonizität war zeitweilig umstritten und wird in den reformator. Kirchen nicht anerkannt: Tob., Judith, 1. u. 2. Makk., Weisheit, Baruch und einige griechische Zusätze zu kanonischen Büchern. Diese Schriften heißen im kath. Bereich "deuterokanonische" Schriften. Apokryphen des NT (im einheitl. Sprachgebrauch) liegen zu allen Gattungen der neutestamentl. Schriften vor. 46 R.Haardt, Gnosis. In: Sacramentum Mundi. Theol.Lexikon für die Praxis,Freiburg im Breisgau (Herder), Bd.3, 1969, Sp.328. 45 21 Die eine entstand Mitte des 10.Jh. in Bulgarien und wurde nach ihrem legendären Gründer Bogomil, einem Priester, benannt ("Bogomilen"). Man hat immer wieder vermutet, daß eine wichtige Quelle der bogomilischen Lehre die um 872 aus Kleinasien zwangsweise in Makedonien (Thrazien) angesiedelte kriegerische Sekte der Paulikianer gewesen sei, die (genannt nach ihrer Vorliebe für Paulus), ursprünglich aus Armenien und Syrien stammend, wo sie schon im 7.Jh. greifbar ist, gnostisch-manichäische oder -marcionitische Züge angenommen hatte; doch ist diese Ableitung nicht restlos gesichert. deutlich ist aber der gnostische Charakter der bogomilischen Lehre.47 Ihre besondere Anziehungskraft erzielten die Bogomilen durch ihre scharfe Kritik am Reichtum und Luxus der byzantinischen Kirche sowie an den Kriegen und Unterdrückungen des Staates. Auf diese Weise erwarben sie sich eine breite Massenbasis und konnten erst nach blutigen Verfolgungen im 12.Jh. besiegt werden. Vorher aber gelang es ihnen, in Serbien und Bosnien Fuß zu fassen, wo sie noch bis ins 15.Jh. hinein eine eigene bosnische Kirche bildeten, deren Reste dann zum Islam übergingen. Ihr Einfluß blieb aber nicht auf den Balkan beschränkt, sondern ist nach Osten und Westen spürbar geworden. Die bogomilischen Schriften in altkirchenslawischer Sprache erfreuten sich noch das ganze Mittelalter hindurch großer Beliebtheit und beeinflußten die altslawische Volksliteratur stark. Noch stärker war die Wirkung nach Italien und Frankreich, wohin offenbar schon Anfang des 11.Jh. bogomilische Ideen gedrungen waren, die sich mit den dortigen Widerstandsbewegungen gegen die offizielle Kirche und Gesellschaft verbanden. Auch hier gehören zu den Grundzügen: Der Dualismus von Seele und Körper, die Verwerfung der Ehe, eine Vergeistigung des Glaubens, sichtbar in der Ablehnung der Sakramente, und die Hochschätzung des Geistes sowie die Aufteilung der Gemeinde in die "Vollkommenen" und "Hörer". (Solche Aufteilungen gibt es auch in anderen Zusammenhängen: im kirchlichen Mönchstum zwischen priesterlichen Patres und Laien-Fratres; in neueren Gemeinschaften wie Opus Dei haben Sie das Institutum der "Numerarier" etc.) Diese "gnostisch-spiritualistische Häresie" überzog im 11. Jh. ganz Norditalien und Frankreich und war Ausdruck eines gewandelten Verständnisses von Christentum und Kirche.48 Seine gewaltigste Ausprägung erlebte sie in Gestalt der Katharer, d.h. der "Reinen", oder Albigenser (nach der südfranzösischen Stadt Albi), die von etwa 1150-1300 eine eigene Kirche mit einem Netz von Bistümern in Südfrankreich (Languedoc) bildeten, aber auch Vertreter in Oberitalien (hier "Patarener" genannt), Deutschland und Nordfrankreich hatten. Erst durch den harten Einsatz von Inquisition (die in diesem Zusammenhang überhaupt geschaffen wurde) und regelrechten Kreuzzügen konnte man dieser "neumanichäischen Kirche" Herr werden. Ihre Nachwirkungen sind noch lange in anderen "Häresien" der darauffolgenden Zeit spürbar, selbst die katholische Kirche überstand diese Krise innerlich nur durch die Anerkennung der aus der gleichen Zeitströmung entstandenen "Bettelorden", die einen Teil des Protestes gegen Hierarchie und Reichtum der Kirche bildeten. (Die Stimmung geistiger Verunsicherung jener Zeit und den Bezug Die Weltgeschichte wird vom Kampf zwischen dem guten Gott und dem abgefallenen Satanael, der die materielle Welt und den Menschen schuf, beherrscht. Die Seele des Menschen stammt vom guten Gott, und zu ihrer Rettung aus dem schlechten Körper wurde das "Wort Gottes" (logos) im Scheinleib Christi gesandt. Hierarchie, Sakramente, Heiligenkult, Reliquien und Ikonen der Kirche wurden als Satansstiftungen abgelehnt. Nur das Vaterunser und die Beichte behielt man bei. Die Aufnahme in die Gemeinde erfolgte durch eine "Geisttaufe" in Form einer Handauflegung. Von der Bibel galt das Alte Testament als Werk Satans, im Neuen Testament war nur das Johannesevangelium authentische Kundgabe des wahren Gottes. Die bogomilische Gemeinde bestand aus drei Gruppen: den "Vollkommenen", den "Hörern" und den einfachen Gläubigen. Die ersteren als eigentliche Träger der Gemeinde lebten ein streng asketisches Leben, vermieden Wein, Fleisch und jedes Blutvergießen. Die Leitung lag in den Händen von "Ältesten" und Aposteln oder "Lehrern", die eigene Werke verfaßten. 48 Vgl. M. Erbstößer, Ketzer im Mittelalter, Leipzig 1984. M. Lambert, Ketzerei im Mittelalter, München 1981. S. Runciman, Häresie und Christentum. Der mittelalterliche Manichäismus, München 1988 (hier handelt es sich um die dt. Übersetzung eines bereits 1947 erschienenen Werkes). 47 22 zur Jetztzeit versucht Umberto Ecos Roman "Der Name der Rose" einzufangen.) So ist auch dieses Neuaufleben gnostischer Religion für das Selbstverständnis der christlichen Kirche von Bedeutung gewesen. Eine Erinnerung an die Auseinandersetzung mit den Katharern ist bis heute in unserem Sprachschatz durch das Wort "Ketzer" (über italien. gazzari) bewahrt worden, das Schimpf- und Ehrenname sein kann: Ausdruck für die unterschiedliche Einstellung zu dem damit bezeichneten Phänomen. 2.3.3 Wirkung auf den Islam Zu der europäisch-christlichen Wirkungsgeschichte der Gnosis ist die Nachwirkung im Orient hinzuzudenken. In der islamischen Ketzergeschichte ist sie verbunden mit dem Kennwort "Sabäismus" (Sabier); manche gnostischen Ideen begegnen in der islamischen Mystik, vor allem aber in den extremen Gruppen des schiitischen Islams (den "Übertreibern"), wie den Ismailiten oder "Siebenern".49 Der Manichäismus hat am wirksamsten im Buch des Propheten Mohammed selbst seinen Widerschein hinterlassen. Mohammed vertritt nach dem Koran eine gleiche zyklische Offenbarungstheorie wie der gnostische Prophet Mani aus dem Zweistromland und stellt sich ebenso wie dieser an das Ende einer Reihe von Vorläufern, die dasselbe verkündeten wie er, nur mit weniger Erfolg und von ihren Anhängern verfälscht. Mohammed hat dabei die selbe Vorliebe für die alttestamentlichen Gestalten aus den Mosebüchern wie Mani. Das, was beide voneinander trennt, ist die Welt- und Erlösungsvorstellung, die nahezu gegensätzlich bei ihnen zutage tritt; was sie eint, ist der Anspruch, der letzte Prophet einer uralten Heilsgeschichte zu sein. Manis Werk ist historisch vergangen, Mohammeds Gründung hat sich dank einem anderen, weltzugewandten Ausgangspunkt zur größten nachchristlichen Weltreligion entwickelt - ein Ruhm, den zeitweise auch Mani für sich in Anspruch nehmen konnte. 3. „Gnosis“ als Zentralbegriff der spätantiken Gnosis - Fragen zur Typologie 3.1 Erkenntnis des eigenen Geist-Selbst 3.1.1 Gnostischer Kunstmythos und Idealtypus Wir haben in einer ersten Annäherung bereits Strukturelemente aufgezählt: Dualismus, Kosmologie, Soteriologie, Eschatologie, Gemeindestruktur und Kult. Das sind noch sehr abstrakte Kennzeichen und keine Wesensschau. Ganz am Anfang haben wir eine Geschichte gelesen, ein poetisches Kunstwerk, das "Lied von der Perle", das unmittelbar anspricht und zugleich Rätsel aufgibt. Um es mit dem Religionswissenschaftler Carsten Colpe zu sagen: "Der gnostische Kunstmythus ist nicht zu verwechseln mit einem bloßen Symbol für eine den Menschen bestimmende transzendente Wirklichkeit, die auch als das Walten eines Gottes näher bestimmt werden kann. Der gnostische Kunstmythus ist auch nicht ausschließlich eine für den jeweiligen Welt- und Menschheitszustand erdachte Ätiologie, die entweder ihren Wert als solche hat oder aber vom Menschen um seiner Erlösung willen gekannt werden muß; zwar enthält der Mythus auch diese rationale Komponente, greift aber mit seiner Anerkennung der Überweltlichkeit Gottes und seinen phantastischen spekulativen Versuchen, das geahnte Transzendente begrifflich und begreiflich zu machen, weit darüber hinaus. Und der gnostische Kunstmythus ist erst recht keine Vgl. dazu bahnbrechend H. Halm, Kosmologie und Heilslehre der frühen Isma'iliya. Eine Studie zur islamischen Gnosis, Wiesbaden 1978. Eine Quellenauswahl in dt. Übersetzung bei H.Halm, Die islamische Gnosis, Zürich 1982. Kurze Übersicht vom gleichen Verfasser: Die Schia, Darmstadt 1988, S. 186-242. 49 23 archaische Deutung der Wirklichkeit, die noch unmittelbar naturhaft empfunden würde. Sondern unter seiner (...) Form verbirgt sich eine religiöse Haltung, welcher Weltdeutung, Kenntnis der Erlösungsmöglichkeiten, spekulatives Kohärentmachen vorgegebener Überlieferungen und Bezeugung aller eigenen Anliegen in urzeitlichen Aussagen in gleicher Weise innerlich wichtig war."50 Colpe sieht in dieser Bedeutung eines Mythos das Indiz dafür, daß er das Produkt einer Spätzeit ist. Das ist es aber nicht, was ihn interessant macht; vielmehr seine erschreckende Modernität. Noch in ihrem flüchtigsten Abglanz, wie z.B. in Laurence Durrells Roman "Alexandrinische Trilogie", fasziniert diese Modernität. Das war schon so am Beginn der Neuzeit, als Marsilio Ficino erstmals einen gnostischen Text ediert hat; ebenso am Beginn des 20.Jh., als einer der Gründer des Dadaismus, Hugo Ball51 schrieb: "Die Gnosis ist ein tausendjähriges Reich. Man nannte sie die erste geistige Großmacht, die die Bedeutung des Christentums erkannte. Ihr gehören im Altertum alle jene Doktoren der Himmelfahrt an, deren Amt die transzendente Spekulation ist, alle jene verborgenen und phantastischen Geister, nach deren Dafürhalten die Dinge dieser unserer sichtbaren Welt abhängen von den Entscheidungen einer sehr unsichtbaren, sehr übergeordneten zweiten und dritten Welt, deren Zugang der Allgemeinheit verschlossen bleibt. Ein geistiges Reich von solchem Ausmaß und solcher Tiefe kann, auch bei heftigster Befehdung, nicht innerhalb weniger Jahrhunderte spurlos aus der Geschichte verschwinden. Die unterdrückten, nur halb widerlegten Ideen würden wieder aufleben, wenn auch erst lange Zeit später und in anderer Gestalt." Im Perlenlied hat es geheißen: "Auf, erhebe dich von deinem Schlaf und höre auf die Worte unseres Briefes. Erinnere dich, daß du ein Königssohn bist. Siehe die Versklavung, siehe wem du dienst! Entsinne dich der Perle, derentwegen du nach Ägypten geschickt wurdest! Erinnere dich deines strahlenden Gewandes und gedenke deiner prächtigen Toga, die du tragen sollst und mit der du geschmückt sein sollst, daß im 'Buche der Starken' dein Name gelesen werde! Und mit deinem Bruder, unserem Stellvertreter, zusammen sollst du Erbe in unserem Reiche sein!" (110) Mit diesem Typus möchte ich die eingehendere philosophische Reflexion beginnen. R.Haardt hat folgenden Idealtypus entwickelt: "Gnosis ist die Erkenntnis des eigenen Geist-Selbst des Gnostikers und der mit diesem Geist-Selbst konsubstanzialen Gottheit. Diese Erkenntnis entfaltet sich als Wissen über den Ursprung des GeistSelbst, über die Ursache seiner Verknechtung in der Welt der Finsternis und über den rettenden Aufstieg in das heimatliche Lichtreich und damit als Wissen über dieses Lichtreich, über Entstehung, Wesen und Schicksal von Weltschöpfermächten, Materie und Welt."52 Religionswissenschaftlich betrachtet, hat das Wort Gnosis einen vorrangig soteriologischen Stellenwert und drückt in sich schon das Erlösungsverständnis deutlich aus. Gnosis ist eine Erlösungsreligion. Es ist der Akt der Selbsterkenntnis, der die "Befreiung" aus der vorgefundenen Situation einleitet und dem Menschen das Heil verbürgt. Aus diesem Grunde ist das berühmte delphische Schlagwort "Erkenne dich selbst" auch in der Gnosis beliebt und hat in vielfältiger Weise Anwendung erfahren, vor allem in den hermetisch-gnostischen Texten.53 Wie schon die Carsten Colpe, Die religionsgeschichtliche Schule. Göttingen 1961. Hugo Ball, Byzantinisches Christentum. Drei Heiligenleben. Frankfurt am Main, Insel Verlag 1979. S.152. 52 Robert Haardt, Gnosis. Sacramentum Mundi, 476f. 53 Ad "Hermetische Literatur": Das Corpus Hermeticum ist eine Sammlung anonymer griechischer Prosaschriften aus dem 2. u. 3. Jh. n.Chr.. In ägyptischer Einkleidung u. in der Form religiöser Offenbarungen des Hermes Trismegistos (des Dreimalgrößten - griech. Name des ägypt. Gottes Thoth) werden okkulte 50 51 24 platonische Schule diesen Spruch im Sinne der Erkenntnis der göttlichen Seele im Menschen ausgelegt hat, so wird hier darunter die Erkenntnis des göttlichen Geistes (nus), der das eigentliche Wesen des Menschen ausmacht, also seine göttliche Natur, verstanden. "Licht und Leben ist Gott der Vater, woraus der Mensch (anthropos) entstand. Wenn du also lernst, daß er aus Leben und Licht besteht und daß du aus diesen herkommst, wirst du wieder zum Leben gelangen", sagte Poimandres (Corp. Herm. I 21). Im "Buch des (Athleten) Thomas" spricht Christus gleich eingangs seinen "Zwillingsbruder" Judas Thomas an: "Erforsche dich und erkenne, wer du bist und wie du warst oder wie du werden wirst... Du hast schon erkannt, und man wird dich den 'Sich-selbst-Erkenner' nennen, denn wer nämlich sich nicht erkannt hat, hat nichts erkannt. Wer sich aber selbst erkannt hat, hat schon Erkenntnis über die Tiefe des Alls erlangt."54 <Zum Thomasbuch: In Codex II von Nag Hammadi ist auf Seite 138,1 - 145,19 eine Schrift enthalten, die den nachgestellten Titel "Das Buch des Athleten Thomas, welcher an die Vollkommenen schreibt" trägt (145,17-19). Sie enthält esoterische Lehren, geheime Worte, die nur für die Vollkommenen bestimmt sind. Diese Geheimlehren sollen vom Heiland vor seiner Himmelfahrt dem Judas Thomas mitgeteilt worden sein. Mit Ausnahme ganz weniger aus dem Neuen Testament bekannter Begriffe (z.B. der Tag des Gerichts 143,7, die erste Liebe 141,13) ist diese Lehre ohne Parallelen im NT, sondern vielmehr rein gnostisch; etwa die Abwertung des Körpers (138,9ff. etc.); des Fleisches (141,24 etc.); seine Bezeichnung als Höhle (143,22f.); der Welt (142,22ff.etc.), die Betonung der Askese (139,8f.); das ersehnte Ziel: Ruhe zu erlangen (145,10ff.); die Scheidung der Menschen in drei Gruppen, die der Menschen (138,20ff.) oder blinden Menschen (141,20ff.), der Anfänger (138,35) oder Kleinen (139,11) und der Vollkommenen (139,12; 140,10f.) oder Auserwählten (139,28) - diese Gruppen entsprechen den Hylikern, Psychikern und Pneumatikern - die Wichtigkeit der Selbsterkenntnis (138,8ff.) usw. Das Thomasbuch enthält sogar Aussagen, die denen des Neuen Testaments entgegengesetzt sind: während in Mathäus 28,19f. Jesus den Jüngern den Auftrag erteilt, allen Menschen das Evangelium zu verkünden, verbietet Jesus (141,25ff.) dem Thomas, als dieser ihn fragt, welche Lehre er den blinden Menschen (= den Hylikern) verkünden solle (141,19ff.), sich um diese zu kümmern.> "Unwissenheit" oder - gleichbedeutend damit - die "Finsternis" hindert die Menschen daran, zur Selbsterkenntnis zu kommen, wie es der siebente hermetische Traktat drastisch schildert: "Zuerst aber mußt du das Kleid, das du trägst, zerreißen, das Gewebe der Unwissenheit, den Grund der Bosheit, die Fessel des Verderbens, die finstere Mauer, den lebendigen Tod, den in dir befindlichen Räuber, den der durch das, was er liebt, haßt und durch das, was er haßt, neidet. Solcherart ist der Feind, den du (wie) ein Kleid angezogen hast, der dich nach unten herunterwürgt zu sich, damit du nicht aufblickst und die Schönheit der Wahrheit schaust und das darin liegende Gute und (nicht) die Bosheit an ihm hassest und seine Hinterlist erkennst, mit der er dir nachstellt; er ist es, der die angeblichen (und nicht dafür angesehenen) Sinnesorgane gefühllos macht, indem er sie mit viel Materie (hyle) verstopft und mit schmutziger Begierde anfüllt, damit du weder hörst, was du hören sollst, noch siehst, was du sehen sollst." (Corp.Herm. VII 2,3) Das "Philippusevangelium"55 hat die Beseitigung dieser boshaften Unwissenheit" durch das Wissen Weisheiten aus religion, Astrologie, Magie, Mystik usw. überliefert; eine heidnische Parallelerscheinung zur christl. Gnosis. Am Anfang steht die Schrift Poimandres, d.h. "Menschenhirt". 54 Das Thomasbuch. Aus: Die Gnosis. Zweiter Band. Koptische und mandäische Quellen. Eingeleitet, übersetzt und erläutert von Martin Krause und Kurt Rudolph, mit Registern zu Bd. I und II versehen u. hrsg. v. Werner Foerster. Artemis Verlag Zürich und Stuttgart 1971. S. 139. 55 Im Codex II von Nag Hammadi ist auf Seite 51,29 - 86,19 das Philippusevangelium enthalten. Der Verfasser steht dem Valentinianismus nahe. Entstehungszeit wohl 2.Hälfte 2.Jh., Entstehungsgebiet wahrscheinlich um 25 mit der Freilegung der Eingeweide, die zum Tode führen, oder der Aufdeckung der Wurzeln, die zum Verdorren des Baumes führen, verglichen: "Denn solange die Wurzel der Bosheit verborgen ist, ist sie stark, wenn sie aber erkannt wird, hat sie sich aufgelöst, wenn sie sich aber zeigt, ist sie dahingeschwunden... Jesus aber riß die Wurzel des ganzen Ortes (d.i. die Welt) aus; andere dagegen nur teilweise. Wir aber: Jeder von uns soll nach der Wurzel der Bosheit graben, die in ihm ist, (und) (sie) mit ihrer Wurzel aus seinem Herzen ausreißen. Sie wird aber ausgerissen, wenn wir sie erkennen. Wenn wir sie aber nicht erkennen, faßt sie Wurzel in uns und bringt Früchte in unserem Herzen hervor..." (NHC II 3,83 (131), 1-11). Die Gnosis hat also eine unmittelbar aufdeckende und soteriologische Funktion; sie ist Erlösung (wie die Erinnerung in der Psychoanalyse). Der Streit zwischen "Wissen" und "Unwissenheit" ist ein universaler, vom "Vater" bewußt eingesetzter, um den Sieg der "Gnosis" offenbar zu machen. So sieht es die Schrift "Die ursprüngliche Lehre": "Er nun, der Vater, da er seinen Reichtum und seine Herrlichkeit sichtbar werden lassen wollte, setzte diesen großen Kampf (agon) in dieser Welt ein, weil er wollte, daß die Kämpfer in Erscheinung treten sollen (und) alle Kämpfenden durch ein erhabenes, unerreichbares Wissen das, was entstanden ist, hinter sich lassen und es verachten, sie sollen zu dem, der besteht (= dem Seienden), hineilen. Und die, die mit uns kämpfen als gegen uns kämpfende Widersacher, wir sollen ihre Unwissenheit durch unser Wissen besiegen, da wir um den Unerreichbaren, aus dem wir hervorgegangen sind, schon wissen. Wir besitzen nichts in dieser Welt (Kosmos), damit nicht etwa die Macht der Welt (Kosmos), die entstanden ist, uns in den himmlischen Welten (Kosmos), in denen der allgemeine Tod haust, zurückhält..." (NHC VI 3,26,8-32). Letzteres ist eine Anspielung auf die Gefahren der "Seelenreise" durch die überirdischen Sphären, auf die wir noch zurückkommen werden. 3.1.2 Wer bin ich? Wir werden hier auf die griechischen Voraussetzungen der historisch-faktischen Auslegung der Gnosis gestoßen. Auf den Gedanken der Erkenntnis im Spannungsfeld zwischen Mensch und Gott. "Wer bin ich?" (In einer Wiedergabe der gnostischen Hauptlehren steht als erstes Stichwort: "Wer wir sind" - Clemens, Excerpta ex Theodoto). Die Frage ist heute so aktuell wie damals und wird von Psychologen und Soziologen verfeinert (vgl. die Begriffe der Rolle, der Funktion). Von jedem Menschen wird flüchtig oder dauernd der Zwiespalt erlebt: zwischen dem, was ich darstelle und dem, was ich in Wirklichkeit bin, zwischen den mehr oder weniger zufälligen Kleidern, die ich für das Bestehen des Lebens anziehen mußte oder wollte, und dem dahinter sich bergenden Leib, der vom Wechsel der Kleider nicht berührt wird. (Vgl. wieder das Perlenlied!) Der Zwiespalt kann sich auch ins Innere der Person zurückziehen: man hat einen bestimmten, weitgehend durch Vererbung geprägten Charakter, aber man ist mit ihm nicht identisch; Le Senne hat den Charakter einmal mit dem Klavier verglichen, auf dem das Ich spielt; und das gespielte Stück wäre dann die Person. Das heißt, daß das spielende Ich nicht anders es selbst sein oder werden kann als durch ein Instrument hindurch, das wieder nicht ablösbar ist von der Umwelt, in der es lebt. Das ist das Problem jeder Philosophie des Subjekts: "Wie kann das Subjekt sich selber angeglichen werden?" fragt Blondel in L'Action (1893) 338. "Ich muß mich selber wollen; nun aber ist es mir unmöglich, mich unmittelbar zu erreichen, dazwischen liegt ein Abgrund, der durch nichts ausgefüllt werden kann." "Immer ist in dem, was getan oder ersehnt wird, weniger als in dem, der tut oder ersehnt." (Ebd. 337). Und doch gibt es keinen anderen Ausgangspunkt als das Konkrete, Einzelne, dieses ist "der Widerhall der vollständigen Weltordnung in einem einmaligen Wesen", die Handlung aber scheint die vermittelnde Funktion zu sein, durch die das Einzelne und das Allgemeine in Beziehung treten, "das wesentliche Band (vinculum substantiale), das die konkrete Einheit jedes Einzelwesens Antiochia. 26 herstellt, indem sie dessen Kommunion mit allem übrigen sichert."56 Im Dama der "Action" also fände der einzelne sich selbst, indem er das Ganze findet - wobei die Frage offenbleibt, ob der Fluchtpunkt der Identität des Ichs mit sich selbst innerhalb oder oberhalb der empirischen Welt liegt, vom Subjekt durch eigene Kraft erreichbar ist, oder nur - im Streben - als Geschenk empfangen werden kann. Blondels Fragestellung kann hier für alle sinngerechte Suche nach der Deckung des Ich mit sich selbst stehen; auch die verschiedenen anthropologischen Wissenschaften müssen sie, jede auf ihre Weise, übernehmen. Freilich, weiter zurück kann weder die Philosophie noch die Wissenschaft fragen, sie beginnen dort, wo im "Großen Welttheater" die nackten Seelen anscheinend ihrem Wesen nach identisch - antreten, um ihre Rolle und deren Ausstattung entgegenzunehmen. P.Handke, Über die Dörfer: "Und die Stimme der Gottheit geht so: Du kannst Dich liebhaben." Die Frage, die gestellt werden muß, lautet nicht: Was für ein Wesen ist der Mensch, sondern "Wer bin ich?" Die erste Frage wird Ödipus von der Sphinx gestellt; ihr Rätsel zu lösen, hat etwas Spannendes und, wenn die Lösung gefunden ist, Heiteres. Wenn aber Ödipus später nach dem Schuldigen sucht, der Theben verseucht, und alle Finger immer unerbittlicher auf ihn deuten, bis er sich die Augen ausreißen muß und in die vollkommene Isolierung verstoßen wird, ist es mit der Heiterkeit vorbei. Es ist kein "Fall von", jeder Rückgriff auf irgendein Gemeinsames (vielleicht den "Ödipuskomplex", in dem er mit anderen solidarisch wäre?) ist verwehrt. Er ist mit seinem Schicksal allein. Und in dieser Einsamkeit muß er, für sich selbst, nicht für alle, die Frage "Wer bin ich?" stellen. Alle müssen es tun, aber jeder kann es nur in der Vereinzelung, für sich allein tun. "Wer sich nicht über sich selbst befragt, führt kein menschliches Leben." (Platon, Apol.38a.) Daß ein anderer sich fragt, wer er sei, nützt mir in keiner Weise zur Lösung meiner eigenen Frage. Gäbe man mir zur Antwort: Du bist ein Fall von Mensch (und alle Wissenschaft wird mir in dieser Weise antworten), so wüßte ich, daß meine Frage entweder mißverstanden wurde oder unbeantwortbar wäre. Die Wissenschaft kehrt mir den Rücken: quia particularium non est scientia nec definitio.57 Der "Einzelne" (wie ihn Kierkegaard meint und anspricht und wie er selbst einer sein will) hat sein unzugängliches Geheimnis, das er nie preisgibt und mit sich ins Grab nimmt. Ein Beispiel: Jean Paul hat die Erfahrung des Ichseins bewußt gemacht und festgehalten: "An einem Vormittag stand ich als ein sehr junges Kind unter der Haustüre und sah links nach dem Holzstege, als auf einmal das innere Gesicht: ich bin ein Ich! wie ein Blitzstrahl vom Himmel fuhr und seitdem leuchtend stehen blieb: da hatte mein Ich zum ersten Male sich selber gesehen und auf ewig."58 Die Frage wird quälend, wenn der Einzelne seine Existenz auf das zufälligste Ereignis der Welt zurückführen muß: den Geschlechtsakt zweier Individuen, die er seine Eltern zu nennen hat. Diesem Zufall hat er sich zu "verdanken". Somit scheint in seinem Dasein keine weitere Notwendigkeit zu liegen als die des biologischen "Grundes", aus dem er, wie alle übrigen Individuen, aufgestiegen ist, ephemer, mit der Gewißheit, über kurzem darin wieder unterzugehen. Wie befremdlich aber, daß er die Fähigkeit hat, nach dem "Grund" zu fragen - die ein Tier gewiß nicht besitzt -, daß er also reflektieren kann, Geist ist, Distanz gewinnen kann von seinem unmittelbaren Sein, so daß er der Fragwürdigkeit überhaupt ansichtig wird. Der Fragwürdigkeit nicht nur seines zufälligen individualen Seins, sondern durchaus auch des biologischen "Grundes", dem er entstiegen ist, so daß er diesen "Grund" nach seinem Grund befragen kann. Dem fragenden Henri Bouillard, Blondel et le Christianisme. Seuil, Paris 1961, 24. Thomas, S.Th. I 44, 3 obj.e. Vgl. In I Meteor 1,1 (Marietti 391): "Manifestum est quod complementum scientiae requirit quod non sistatur in communibus (z.B.'Mensch', 'Lebewesen'), sed procedatur usque ad species; individua non cadunt sub consideratione artis (d.h. der Wissenschaft), non enim eorum est intellectus, sed sensus." - Vgl. auch 1 Anal.42a-e und 44b. 58 Jean Paul, Sämtliche Werke, Hist.-Krit. Ausgabe E.Berend, II.Abt. (1928-1936) 4,92. 56 57 27 Blick des Einzelnen, der nicht weiß, wer er ist, öffnet sich der ganze Bereich des weltlichen Seins, das mit ihm selber zusammen hinterfragbar ist. Es ist von vielerlei Gesetzlichkeiten wie ein Körper von Adern durchzogen, aber eine befremdliche Nichtnotwendigkeit bricht aus allen seinen einzelnen Gliedern und schließlich aus seiner Gesamtheit hervor. Entweder ist es Trägheit oder Selbstvergewaltigung der Vernunft, dieses in all seinen Teilen Unnotwendige in seiner Gesamtheit als das Unbedingte, Nichthinterfragbare hinzunehmen. Damit erhält die Frage "Wer bin ich?" eine Dimension, die vom Innerweltlichen bis zu einem Mehralsweltlichen, "Göttlichen" reicht. Man kann deshalb, mit Berdjajew, die Frage nach dem Menschen eine "theandrische" nennen,59 wie es vor ihm schon Solowjew60 und Franz Baader61 getan hatten, die damit nur die Dimension bestätigen, die Platon (und nach ihm die Kirchenväter) dem fragenden Menschengeist zugestanden hatten: durch die in der Frage mögliche Distanz zum Weltlichen rührt er an das "theion", er mag im übrigen noch sosehr von weltlichen Prinzipien mitbedingt sein. Wir erinnern uns an Platons versuchte Lösung, durch eine Verbindung des Personal-Freien und Schicksalhaften die Frage "Wer bin ich?" für jeden einzelnen zu beantworten. Aber da die Lösung mit dem Problem der Seelenwanderung verknüpft war, verlor sich die Antwort schließlich in unzugängliche Ursprünge. Und der dringende Anruf des Sokrates, sich selbst nicht minder als andere prüfend zu befragen, (Apol. 28e) läuft schließlich auf die Einsicht des eigenen Nichtwissens hinaus. Gerade um dieses Nichtwissens willen wird Sokrates vom delphischen Orakel als der weiseste der Menschen erklärt; offenbar in Erfüllung des ursprünglichen Sinnes des Spruchs an der Vorhalle des Tempels in Delphi: Gnothi sauton: Erkenne dich selbst. 3.1.3 Gnôthi sautón In der griechischen Welt ist die Inschrift über dem Eingang des Tempels in Delphi die wichtigste Chiffre für diese ewige Menschheitsfrage "Wer bin ich?" Der delphische Spruch enthält in seinem Ursinn eine Ermahnung, angesichts des Gottes seiner menschlichen Beschränktheit eingedenk zu sein.62 So hat die poetische und philosophische Literatur Griechenlands bis in die Stoa hinein die Inschrift aufgefaßt. Ein paar Beispiele aus der Fülle müssen genügen: in der 2.Pythischen Ode Pindars wird der Mensch angewiesen, immer sein Maß zu erkennen (Vers 34); im Prometheus des Aischylos ermahnt Okeanos den Titan: "Erkenne dich selbst, wandle dich, nimm neue Sitten an... Du darfst nicht den Leib wider den Stachel Bäumen" (309ff.). Xenophon läßt ("Hellenica" II, IV 41) Thrasybulos die Athener so ansprechen: "Ich rate euch, ihr Männer der Stadt, erkennt euch selbst, und ihr lerntet euch dann am besten erkennen, wenn ihr erwöget, welchen Grund ihr habt, uns gegenüber überheblich zu sein." In Platons "Philebos" (48cff.) erklärt Sokrates die dem delphischen Spruch entgegengesetzten Haltungen der Menschen, das Sich-selber-gar-nicht-Kennen, indem man sich überschätzt bezüglich äußerer Güter oder leiblicher Vorzüge oder Tugend. (Ferner: der Tadel des Sokrates Alkibiades gegenüber, der dem delphischen Spruch nicht folgt: Alk I, 124ab.) Im "Phaidros" (229eff) geht es darum, die Grenzen seiner Weisheit zu erkennen; falsche Einbildung von Weisheit ist Unwissenheit. Bei Epiktet und Plutarch soll der Mensch erkennen, was in seinem Vermögen steht und sich nicht Versuch einer personalistischen Philosophie (Holle-Verlag, Darmstadt-Genf 1954) 57ff.; vgl. Existentielle Dialektik (Beck, München 1951) 107, 122. 60 Vorlesungen über das Gottmenschentum (Stuttgart 1921). 61 WW 12, 542; 11, 78-80. 62 Zum Thema vgl. Eliza Gregory Wilkins, Know Thyself in Greek and Latin Literature, Diss. Chicago 1917; zur Wirkungsgeschichte vgl. die Aufsätze von Pierre Courcelle über "Nosce te ipsum", in: Annuaire du Collège de France 61 <1961> 337-340; 62 <1962> 375-379; 63 <1963> 373-376; 64 <1964> 391f; 65 <1965> 429; weitere Literatur bei Alois Haas, Zur Frage der Selbsterkenntnis bei Meister Eckhart, in: Freiburger Zeitschrift für Philosophie und Theologie 15 <1968> 190-261. 59 28 nach Dingen ausstrecken, für die er von Natur nicht ausgestattet ist. (Plutarch, De tranquill.an. 1213; de EI ap.Delph.21.) Für Seneca ist der Anfang der Selbsterkenntnis die Einsicht in die eigenen Fehler (Ep.mor.III 7,10.). Die Fabel Äsops, in der uns Zeus zwei Säcke umhängt: einen vorn: die Fehler der anderen, einen hinten: die eigenen Fehler, wird von den lateinischen Dichtern öfter zitiert. Wichtig zur Selbsterkenntnis ist das lebendige Andenken an die eigene Sterblichkeit (Pindar, Pyth.III 59f, Sophokles Fragm.481 Nauck; Euripides, Alkestis 780f.), sehr ausdrücklich identifiziert Seneca das "Gnothi sauton" damit in der Trostschrift an Marcia beim Tod ihres Sohnes: "Das will das pythische Orakelwort vorhalten: 'Erkenne dich selbst.' Was ist der Mensch? Was jedes herumgestoßene und zerbrechliche Gefäß ist...: ein schwächlicher Körper, zerbrechlich, nackt, seiner Natur nach wehrlos, fremder Hilfe bedürftig, jeder Schmach des Schicksals preisgegeben." (11). In Lukians "Totengesprächen" empfängt König Philipp seinen Sohn Alexander mit den Worten: "Diesmal kannst du nicht leugnen, daß du mein Sohn bist; du wärst nicht gestorben, wenn du Ammons Sohn wärst... Willst du nicht lernen, diesen Bombast zu lassen und dich selbst zu erkennen und endlich einzusehen, daß du sterblich bist", statt dich mit Herakles und Dionysos zu vergleichen? Bei Philon hält Gott dem Moses, der ihn zu schauen wünscht, den delphischen Spruch entgegen (De Spec.Leg. I 44). Der Spruch gilt bei Juvenal (XI 23ff) als vom Himmel gefallen, um den Menschen die Selbstbescheidung zu lehren. Gerade dies aber, daß der Spruch vom Himmel, vom Gott, vom Orakel stammt, kennzeichnet alle diese (und noch zahlreiche Parallel)Stellen: Vom Absoluten her wird der Mensch an die ihm gebührende Stelle gewiesen, in seine Endlichkeit und Sterblichkeit. Indem er in seine eigene Wahrheit kommt, kommt er auch in das rechte Verhältnis zu Gott. Pompejus, der in Athen den Göttern opfert, liest bei der Gelegenheit "einige auf ihn gemachte Inschriften. An der inneren Seite des Tores stand nämlich diese: 'Insoweit du weißt, daß du ein Mensch bist, insoweit bist du ein Gott'" ( Plutarch, Pompejus 27. Die Aussage Juvenals wird von den christlichen Theologen des 12.Jh. oft angeführt.) In diesem Spruch klingt nun ein dem bisherigen gegenüber fremder Sinn hinein, der die Richtung von Gott zum Menschen in ein Gleichgewicht zu bringen scheint mit der Gegenrichtung vom Menschen zu Gott. In der Tat dringt von Platon her in Stoa und Neuplatonismus hinein die Mahnung, der Mensch soll aus seiner Vergeßlichkeit und Verschüttung emportauchen und seines Adels, seiner Verwandtschaft mit den Göttern eingedenk sein. Im "Phaidros" ist Selbsterkenntnis Erkenntnis des Seelischen; das wird im "Alkibiades" (129a) zu einer Identifizierung des wahren Menschen mit der Seele radikalisiert; diesem platonischen Dialog wird später von Proklos, der ihn kommentiert, der erste Platz eingeräumt. In diesem Verständnis wird das "Gnothi sauton", nach Julians Wort (Sechste Rede, 185D), von den Stoikern zum "ersten Prinzip ihrer Philosophie" erklärt, für die aber "der Gott-in-uns" die Vernunft (nous) ist. (Ebd. 196D) So nun auch bei Epiktet und ausführlich bei Cicero. (De legibus I 58-62) Bei Plotin wird Selbsterkenntnis zur Einsicht in die Struktur der Seele, (Enn. V 3,4; VI 8,41.), der philosophische Grundakt der "Umwendung" (epistrophe) wird identisch mit dem Gnothi sauton. Sich erkennen heißt für die Neuplatoniker auf den eigenen Ursprung zurückblicken, von dem her die Seele "abgestiegen" ist. Man weiß, welch nachhaltige Wirkung diese zweite Seite des Axioms auf die frühe und mittlere christliche Geistesgeschichte ausgeübt hat; (Reiche Belege bei Courcelle (aaO): von Klemens von Alexandrien und Origenes zu den Kappadoziern, von Minucius Felix über Arnobius, Ambrosius zu Augustin, wo das "noverim me, noverim Te" zum Inbegriff des Gebetes wird und die Einkehr in sich zum Weg zu Gott.63 Es wäre eine Aufgabe für sich, den stoischen und den platonischen Ansatz samt ihren späteren, bis Dazu F.M.Sladeczek, Die Selbsterkenntnis als Grundlage der Philosophie nach dem hl.Augustinus, in: Scholastik 5 (1930) 329-356; Gérard Verbeke, Connaissance de soi et connaissance de Dieu chez S.Augustin, in: Augustiniana IV (1954) 495-515; Nähe dieses Weges <durch die Erkenntnis der eigenen Seele zur Gotteserkenntis> zum Weg Plotins, wobei aber die Bedeutung der Entfremdung von Gott <mecum eras et tecum non eram: Conf.X 27,38> bei beiden wesentlich verschiedene Bedeutung hat. 63 29 zu den modernen Entsprechungen in ihrer inneren Gegenläufigkeit zu verfolgen. (1) Den stoischen Ansatz kann man den der Bescheidung nennen. Die Stoa bot aus drei Gründen eine in der Antike sonst unbekannte Gelegenheit, sich mit der Einmaligkeit und Unauswechselbarkeit des Ich zu befassen: einmal aufgrund ihrer empiristischen Erkenntnistheorie, die keine "universalia in rebus" kennt, sondern in der durch die Sinne erschlossenen Welt nur unverwechselbare Einzeldinge (idíos poiá) kannte (die der Verstand nachträglich sehr wohl durch Assoziation in gewisse Kategorien ordnen mag). Ferner galten diese Einzeldinge als Ausgliederungen des göttlichen Weltseins - bei Poseidonios, wo diese Kosmologie am großartigsten durchgeführt wird, als Glieder des Weltlebens - einer endlichen Substanz, die am Ende eines Äons im Weltbrand ihre Gestaltungen wieder in sich resorbiert. Endlich ist dem Menschen ein Anteil an der göttlichen Weltvernunft gegeben, so daß er nicht nur die göttliche Vorsehung im ganzen betrachten, sondern auch seine eigene besondere Ausgliederung aus der Gottheit zu erkennen vermag. Natürlich beschäftigt den Stoiker ebenso wie den Platoniker und Aristoteliker das "Wesen" des Menschen, das allgemein durch diese Teilnahme am Logos und damit durch seine weltüberlegene Freiheit gekennzeichnet ist; dennoch kommt in der Stoa ein besonderes Interesse an der Einmaligkeit der Individuen ins Spiel. So ist es kennzeichnend, daß Epiktet als Schüler des Musonius Rufus sich persönlich angesprochen fühlte: "Er sprach so, daß jeder von uns, die bei ihm saßen, das Gefühl hatte, man habe ihm seine Fehler enthüllt, sosehr rührte er an unseren Zustand, sosehr stellte er jedem seine Fehler vor Augen." (III 23, 29) Und: "Daß ich und du nicht die gleichen sind, das weiß ich mit der höchsten Gewißheit." (I 27, 17.) So erhält auch das Gnôthi sautón eine besondere Färbung. Es gibt nach Epiktet in jedem individuellen Menschenleben das von der Vorsehung als Material "Gegebene", womit der Mensch auskommen muß, und es gibt seine vernünftige Freiheit, durch die er am Göttlichen teilnimmt und das Vorgegebene in menschenwürdiger Überlegenheit verwerten und gestalten kann. "Prohaíresis" ist ineins die überlegende und urteilende Vernunft (dynamis logiké), der freie Wille, der Grund der sittlichen Person wie das Vermögen ihrer Entfaltung. Jeder ist, in bezug auf beide Elemente, persönlich ausgestattet, damit durch die Besonderheit aller die Harmonie der Welt sich ergebe (I 12,16.) Jeder muß "den Sinn seiner eigenen Persönlichkeit (ídion prósopon)" besitzen, (I 2,14.) und entsprechend erwägen, zu welchem Preis er sich selber einschätzt, denn "die Leute verkaufen sich zu verschiedenen Preisen" (I 2,11). Alles liegt daran, daß man seine Persönlichkeit in Freiheit annimmt, das heißt sich zugleich für seine gotthafte Freiheit und für die beschränkten Lebensumstände, in die man gesetzt ist, entscheidet. Es fragt sich, wie sich die dem Menschen geschenkte Freiheit zur göttlichen verhält: ist sein Wesenskern als solcher personal und je einmalig oder ist es nur die Komposition der göttlichen Freiheit mit den einschränkenden materiellen Bedingungen? Die Antwort wird davon abhängen, was und wer der die Rollen und die Freiheiten verteilende Gott ist. Für den Stoiker ist Gott das Ganze, die Menschen sind Teile (mória), Fragmente (apospásmata), "eng mit Gott verbunden" (I 14,5-6), mit Gott "verwandt" (syngéneia) (I 9,1; "sie nehmen teil an er göttlichen Gemeinschaft": I 9,6), sie sind wie Glieder eines Leibes, falls diese denken könnten; (II 10,4). Die Freiheit, die sie erhalten, ist eine absolute: "unabhängig" (autexoúsion) und autonom (autónomon). (IV 1,56.) "Was hat er (Gott) für sich zurückbehalten?" (IV 1,100). Das geht so weit, daß "Zeus selber meine Freiheit (prohaíresis) nicht besiegen kann". (I 1,23). Auf nichts besteht Epiktet mehr als darauf, daß ich "als Freier und Freund Gottes ihm aus eigenem Antrieb gehorche" (IV 3,9). Denn Gott ist mein "Schöpfer" (poietes) und "Vater", (I 9,7), ich bin "Adoptivsohn" (I 3,2), Gott, der in allen Dingen zugegen ist (I 14,9), ist besonders im Geist des Meschen gegenwärtig. (II 8,9-12). Ihm Gehorsam zu leisten, seine Befehle auszuführen, ist der einzig wahre Gebrauch der menschlichen Freiheit. Diese Religiosität nähert sich bis zum Verwechseln der christlichen an. Sie verharrt aber in dem kosmologischen Rahmen, den v.a. Poseidonios aufgerichtet hatte: die Welt als riesiger Organismus, den ein einziger göttlicher Hauch durchweht ("Gott ein vernunfthaftes und feuriges Pneuma, gestaltlos, das sich in alles verwandelt, was es will und allem gleich wird" Poseidonios nach Aetios, in: Diels, Doxogr.graeci, 1879, 302.), deren Teile durch "Sympathie" verbunden sind wie die 30 Organe des menschlichen Leibes. Wie im Herbst die Blätter fallen, so vergehen die Individuen vorweg, um andern, nachrückenden, Platz zu machen - "gib andern deinen Platz" (IV 1,106), "es ist ein Gutes für die Teile, dem Ganzen zu weichen" (IV 7,7) -, Gott preisend soll ein jeder abtreten und keinen Anspruch auf Fortdauer nach dem Tod erheben. Die alte Stoa hatte kein Interesse an Unsterblichkeit (Pohlenz 80). Damit legt sich über diese Religiosität ein Scheier von Resignation.Der göttliche Funke im Menschen muß sich bescheiden, eine eingeschränkte Rolle im großen Weltschauspiel zu übernehmen. Unter ganz anderen Voraussetzungen hat sich in der Neuzeit (natürlich nach vielen Zwischengliedern) eine Schau der Welt und des Menschen wiederholt, die in erstaunlicher Weise die der Stoa, zumal des Poseidonios aufgreift: In J.G.Herders "Ideen zur Geschichte der Menschheit" (1784-1791). "Vergiß dein ich; Dich selbst verliere nie.../Wer sich verlor, was hätt' er ohne sich?/Was in dem Herzen andrer von uns lebt,/Ist unser wahrestes und tiefstes Selbst.../Was in mir lebet, mein Lebendigstes,/Mein Ew'ges kennet keinen Untergang." (Das Selbst. Ein Fragment" Bd.13, 16.65). Wie dieses Selbst Herders vorausweist auf das Selbst bei C.G.Jung, die dem sich ins All übersteigenden Ich erreichbare Synthese aller lebendigen Kräfte, wäre eine Frage für sich. (Jung nennt das Selbst "im strengsten Gegensatz zum Freudschen Über-Ich, individuell" (WO 282). Die stoische Antwort auf die Frage "Wer bin ich?", wir seien eine Ausgliederung aus dem Ganzen, kann den Individuen nicht ihre personale Einmaligkeit zusprechen. Bescheidung wird gewiß ein Element menschlichen Daseins sein müssen, aber Selbstzweck und Schlüssel zum Ganzen kann sie wohl nicht sein. Soll der Mensch deshalb seine Einmaligkeit dort festmachen, wohin ihn religiöses Denken schon gewiesen hat, in Gott? Aber wird, wenn der Mensch seinen Stand im Ewigen bezieht, ihm dann nicht alles weltliche Sein und Tun, die Rolle, die er auf der Welt zu spielen hat, zu bloßer Entfremdung? (2) Das ist der zweite, schon in der Antike gedachte Ansatz - der neuplatonische der Entfremdung. Der Neuplatoniker hat das Göttliche vor sich und strebt darauf zu. In der Einigung mit dem Einen hofft er seine Eigentlichkeit zu finden. Der Inbegriff für das Sein außerhalb des Einen ist "regio dissimilitudinis" (Plato Politikos 273d; der Begriff wandert über Plotin zu Augustinus (Conf. VII c 10, n 16) und zu Bernhard.64 Das Schlußwort der Enneaden Plotins: mónos pròs mónon, "der Einzige hin zum Einzigen, Aug in Auge mit ihm" meint nicht sosehr ein Ideal der Abgeschiedenheit als zentral die Erwartung, in der Konfrontation mit dem Einmalig-Einen die eigene Einmaligkeit zu finden. Das Gnothi sauton fände so für jeden, der seiner Forderung entsprechen will, eine unverhoffte, wenn auch paradoxe Antwort. Jeder entdeckte im Einmal-Einen seine unverwechselbare Einmaligkeit, ein Fund, der nur zusammenfallen kann mit dem Verlust des individuellen Selbstseins. Proklos entwickelt den plotinischen Gedanken, daß das Hervorbringende höher steht und umfassender ist als das Hervorgebrachte (Institutio Theologica, prop. 7.), das letztere deshalb in seiner Ursache eine höhere Eigentlichkeit hat als in sich selbst, und die Rückkehr in die Ursache die Vollendung des Verursachten ist. Bei Augustin wird der Gedanke oft wiederholt, anknüpfend an die Erklärung der platonischen Ideen, dabei aber betont, daß das "Leben", das die Kreaturen von jeher in Gott hatten, das Leben Gottes selbst ist, die "vita creatrix" (De Gen.ad litt. II 6, 12 <PL 34, 268>: Die beiden Seinsweisen der Kreatur: in sich selbst, aber von Gott enthalten <continet>, und in Gott <in illo sunt ea quae ipse est>, werden klar unterschieden. Was in sich selbst voneinander verschieden ist, ist in Gott alles lebendig Eins - omnia vita sunt et omnia unum sunt, et magis unum est et vita est: De Trin.lib 4, c 1, 3.). dabei taucht, wie nebenbei und wie selbstverständlich, der Gedanke auf, daß die Dinge 64 Vgl. E.Gilson, La théologie de S.Bernard, Paris 1947, 57, 63, 223. 31 in Gott "besser und wahrer, weil ewig und unveränderlich" sind ("Priusquam fierent, erant in notitia facientis. Et utique ibi meliora, ubi veriora, ubi aeterna et incommutabilia": De Gen. ad litt. V 5, 15, 33.) Ich kann hier nicht die weitere Geschichte dieses Ansatzes verfolgen, der in der Scholastik mit dem aristotelischen Gedanken des intellectus agens, der "immer im Akt" ist, verbunden wurde. Die Identifikation dieses intellectus agens (seit Alexander von Aphrodisias) mit dem "von außen" (thyrathen) in uns eintretenden göttlichen Intellekt beschäftigt die arabische Philosophie und dann auch die Pariser Averroisten. Es ist bekannt, welche Mühe Thomas von Aquin hatte, den Wert der einzelnen Person zu verteidigen. Bei Meister Eckhart scheint die Differenz zwischen dem ("idealen") Sein der Kreatur in Gott und ihrem ("realen") In-sich-Sein zum Verschwinden gebracht (Pierre Duhem, Le Système du Monde, T.6 <Paris 1954>, 216-217.) <Über Cusanus, der Eckharts Schriften gehütet und ausgelegt hat, ließe sich zeigen, daß Eckhart einer der wichtigsten Vermittler zwischen neuplatonischer Antike und idealistischer Moderne war.65 Bei keinem der Idealisten geht es um eine Flucht aus der Welt, im Gegenteil um ihre Durchdringung und Bewältigung. Das Ergebnis heißt aber: Verlust des Einzelnen als Person. Individuelle Unsterblichkeit kann geleugnet werden zugunsten eines "Geisterreichs", der "Menschheit", des "Volks". Letzteres ist für Hegel das "allgemeine Individuum". In ihm "ist das niedrigere konkrete Dasein zu einem unscheinbaren Moment herabgesunken..." (Werke 1-18 <1832-40>. 2, 22). Welche politischen Konsequenzen das hat, möge das folgende Zitat andeuten: "Das erhabene Ideal, das Christus aufstellte, war wohl fähig, die Bildung einzelner Menschen zu bestimmen, aber zu der Verwirklichung in einer Gemeinschaft konnte es nicht gelangen", anstelle des "Reiches Gottes" war ein äußerlicher Kirchenkult getreten; "erst wenn die Privatreligion Christi zu einer Volksreligion umgeschaffen wird, kann sie der Träger einer gesunden Sittlichkeit werden".66 Es ist immer wieder von der Aufopferung, ja der "Zerschmetterung der Individualität" (2, 275) die Rede. - Die Machthaber, denen das gelegen kam, haben sich alsbald gefunden. Nicht erst im Marxismus wurde der Einzelne konsequent praktisch zum Material der gemeinsamen Sache herabnivelliert.> Beide antiken Beantwortungsversuche der Frage "Wer bin ich?" verfehlen ihr Ziel, weil beide Male das personale Ich sich aufgeben muß in ein es umgreifendes Leben oder Wesen hinein, und kein notwendiges Band zwischen dem Leben-Wesen und diesem bestimmten Ich nachgewiesen werden kann. 3.1.4 Selbsterfahrung und Gotteserfahrung Was ist die Rolle des einzelnen Selbst? Wie kann der Einzelne als wesentlich gedacht werden, ohne im Göttlichen aufzugehen? Kann die Offenbarung von der Göttlichkeit des einzelnen Geist-Selbst als eine geschichtliche Religion angesehen werden, die mehr enthalten muß, "als was in der Vernunft ist", so fragt Schelling (Sämtliche Werke, 14 Bde, 1856-1861. 5,298), denn sonst "hätte sie gar kein Interesse". Die Formulierung der spanischen Mystikerin Teresa von Avila (8.Gedicht) verweist auf diese Frage, deutet die Antwort nur an: "Suche dich, Seele, nur in mir; mich aber suche tief in dir". Ernst von Bracken: Meister Eckhart und Fichte <Würzburg 1943>, gibt S.632 bis 637 einen Überblick über die Literatur. Für Schelling: Walter Heinrich, Verklärung und Erlösung im Vedanta, bei Meister Eckhart und bei Schelling <München 1962>. 66 Zusammenfassende Formulierung von W.Dilthey, Die Jugendgeschichte Hegels, in: Schriften IV <1921> 15f. 65 32 Damit ist angedeutet, daß die Antwort nur in einer geschichtlichen Dialektik gesucht werden kann. Vgl. Mt 24, 26f.: "Wenn sie also zu euch sagen: Seht, er ist draußen in der Wüste!, so geht nicht hinaus; und wenn sie sagen: Seht, er ist im Haus!, so glaubt es nicht. Denn wie der Blitz bis zum Westen hin leuchtet, wenn er im Osten aufflammt, so wird es bei der Ankunft des Menschensohnes sein." Es ist eine durchaus zeitgenössische Fragestellung. Karl Rahner hat sie in einem Aufsatz "Selbsterfahrung und Gotteserfahrung" von 1971 behandelt.67 Er sagt: "Wenn man von Selbsterfahrung und Gotteserfahrung sprechen soll, dann ist das erste, was festzustellen ist, ihre Einheit. Mit Einheit ist natürlich nicht einfach eine absolute Selbigkeit gemeint. Denn auch das 'transzendental' gedachte Subjekt, als welches wir uns erfahren, ist absolut verschieden von dem, was wir meinen, wenn wir 'Gott' sagen. Auch die radikalste Wahrheit der Selbsterfahrung läßt dieses Subjekt, das wir sind, endlich sein, auch wenn es gerade als solches in seiner transzendentalen Reinheit absolut auf das Unendliche und Unumgreifbare verwiesen ist, durch das es ist, ohne mit ihm identisch zu sein, sein Wesen also gerade durch etwas konstituiert ist und als konstituiert sich erfährt, was es selber zu sein zwangsläufig ablehnen muß. Sind somit Gotteserfahrung und Selbsterfahrung nicht einfach identisch, so sind sie beide dennoch in einer Einheit gegeben, derart, daß sie außerhalb dieser Einheit überhaupt nicht sein könnten, sondern je ihr eigenes Wesen verlieren würden....Die Einheit von Gotteserfahrung und Selbsterfahrung ist ursprünglicher und umfassender, als daß sie nur in der simplen Tatsache bestünde, daß auch im Akt der Erkenntnis Gottes wie in dem jedes anderen 'Gegenstandes' das Subjekt sich selbst miterfährt. Die Einheit besteht vielmehr darin, daß die ursprüngliche Gotteserfahrung Bedingung der Möglichkeit und Moment der Selbsterfahrung ist, daß ohne Gotteserfahrung keine Selbsterfahrung möglich ist, daß also darüber hinaus die Geschichte der Gotteserfahrung die Geschichte der Selbsterfahrung bedeutet. Man kann natürlich genausogut umgekehrt formulieren: die Selbsterfahrung ist die Bedingung der Möglichkeit der Gotteserfahrung, weil nur dort eine Verwiesenheit auf das Sein überhaupt und somit auf Gott gegeben sein kann, wo das Subjekt sich selbst (eben in dem Vorgriff auf das Sein überhaupt) im Unterschied zu seinem Akt und dessen Gegenstand gegeben ist. Dementsprechend kann dann ebenso gesagt werden: die Geschichte der Selbsterfahrung ist die Geschichte der Gotteserfahrung."..."Die Einheit von Gotteserfahrung und Selbsterfahrung ist die Bedingung der Möglichkeit für jene Einheit, die die theologische Tradition zwischen Gottesliebe und Nächstenliebe erkennt und die für das richtige Verständnis des Christentums von fundamentaler Bedeutung ist."68 Und Rahner meint: "Es könnte gezeigt werden, daß in der Geschichte der Selbsterfahrung die Erfahrung eines Identitätsverlustes (soweit und in der Weise ein solcher möglich ist, da ja auch das Verlorene immer noch in seiner Weise gegeben bleibt) auch (im selben Sinn mit dem gleichen Vorbehalt) ein Verlust der Gotteserfahrung, bzw. die Verweigerung der Annahme der bleibenden Gotteserfahrung ist." (ebd.143f.) Hans Urs von Balthasar hat schon in seinem Jugendwerk "Apokalypse der deutschen Seele" die These vertreten: "daß die Enthüllung der Seele nur in einer vorgängigen, einfassenden, 'inneren' und 'äußeren' Apokalypse Gottes möglich ist."..."Offenbarung der Seele und Offenbarung Gottes sind in ihrer strengen Zuordnung nur eine Geschichte, als der Funkensprung von Seinsmitte zu Seinsmitte und darin Lichtung der Zentren." Balthasar sieht darin das Herzproblem aller wirklichen Eschatologie (die er als Lehre nicht nur der letzten Dinge, sondern auch und vor allem der letzten Haltungen versteht: "Eschatologie läßt sich dann als die Lehre vom Verhältnis der Seele zu ihrem ewigen Schicksal definieren, dessen Erreichung <Erfüllung, Angleichung> ihre Apokalypse ist."). Darum Karl Rahner, Schriften zur Theologie Bd.X, Benziger Verlag Zürich Einsiedeln Köln 1972, 133-144. Zitat 135f. Das Wort "Erfahrung" verweist ebenfals auf den Prozeß. Vgl. Eugen Biser: "Erfahrungsglauben". 68 Vgl.Karl Rahner, Über die Einheit von Nächsten- und Gottesliebe in: Schriften zu Theologie VI, Einsiedeln 1968 , 277-298. 67 33 ist er auch überzeugt, "daß in der Tat alle 'objektive' Eschatologie nur ein Teilmoment in der umfassenderen Enthüllung der Seele ist. Alles Apokalyptische in Natur und Weltgeschichte, alles Posaunenblasen, Zornschalengießen und Abgrundentriegeln, ja alle Weltbrände, alle Untergänge und neuen Paradiese sind nur die aufgeschlagene Bühne, die Instrumentierung und die Gleichnisse der wirklichen Apokalypse, der des Menschen. Und insofern ist der Ansatzpunkt im Subjektiven, sosehr er sich ins Objektive ausweiten muß, doch der entscheidende, ist das Ausgehen einer Eschatologie von der 'Haltung' der Seele ihrem letzten Schicksal, ihrem möglichen Ganzseinkönnen richtiger und tiefer als das Ausgehen von 'objektiven' Endmöglichkeiten."69 In diesem Sinn kann man Religionsphilosophie als eine "Ontologie der potentia oboedientialis für Offenbarung" verstehen.70 "Der Mensch ist die absolute Offenheit für Sein überhaupt, oder, um dieses in einem Wort zu sagen, der Mensch ist Geist. Die Transzendenz auf Sein überhaupt ist die Grundverfassung des Menschen." (Rahner o.c. 63) Das ist der erste Satz einer metaphysischen Anthropologie. Eine Offenbarung Gottes ist nur dann möglich, wenn das Subjekt, an das sie sich richten soll, von sich aus einer solchen möglichen Offenbarung einen apriorischen Horizont darbietet, innerhalb dessen sich so etwas wie Offenbarung überhaupt erst begeben kann. Und nur wenn dieser Horizont von schlechthinniger Unbegrenztheit ist, ist einer möglichen Offenbarung nicht von vornherein ein Gesetz und eine Schranke auferlegt hinsichtlich dessen, was möglicherweise geoffenbart werden kann und soll. Eine Offenbarung, die die Tiefen der Gottheit enthüllen soll und im Grunde die reflexe Objektivation der Berufung des Menschen in die Teilhabe am Leben des überweltlichen Gottes selber ist, kann nur dann als möglich begriffen werden, wenn der Mensch als Geist, das heißt als der Ort der Transzendenz auf das Sein schlechthin begriffen ist und er diese immer schon vollzogene Transzendenz auch notwendig thematisiert. Daran schließt sich die Frage an, wo denn im Dasein des Menschen der konkrete Ort sei, an dem der Mensch als der Horcher auf eine mögliche freie Offenbarung Gottes stehen müsse, um sie wirklich hören zu können, falls sie als positive Selbsterschließung Gottes tatsächlich ergeht oder ergangen ist. Wohinein lauscht der Mensch, wenn er auf das mögliche Kommen einer solchen Offenbarung Gottes horcht oder getroffen werden soll vom Schweigen Gottes? Hört er in sein "Inneres" hinein? Begibt sich eine solche Offenbarung in der reinen Innerlichkeit des Geistes? In einem Aufschwung und einer Verzückung der Seele, die emporgerissen wird und hinweg aus der Raumzeitlichkeit ihrer "Weltlichkeit" in die Sphären jenseits aller Erscheinungen und Bilder zu einem wortlosen Du-zu-Du von Geist zu Geist? Oder ist der Ort der Offenbarung Gottes die dunkle Innerlichkeit einer Grundstimmung, eines Gefühls, in dessen unendlicher Sehnsucht der Unendliche spricht? Oder wo ist sonst der Ort einer möglichen Offenbarung Gottes im Menschen? Alle affirmativen Religionsphilosophien sind im Grunde nichts anderes als Versuche, zu sagen, wo der Mensch auf die Begegnung mit Gott warten solle, wo er seinen Gott finden könne. Aber ist es überhaupt möglich, so fragt der skeptische Philosoph, einen solchen Versuch sinnvoll zu unternehmen? Kann Gott gewissermaßen vorgeschrieben werden, wohin er kommen müsse, wenn er dem Menschen begegnen wolle? Darf der Mensch von sich aus den Ort solch einer möglichen Begegnung bestimmen wollen? Ist ein solcher Gedanke nicht schon ein Widerspruch dazu, daß Gott der Freie, also der vom Menschen her Unberechenbare ist? Es ist nach Balthasar der Grundirrtum der im kirchlichen Sprachgebrauch so genannten "modernistischen" Religionsphilosophie, daß sie die Möglichkeiten einer Offenbarung von vornherin einschränkt. Das kann einmal dadurch geschehen, daß (rationalistisch) die Offenbarung nur ein anderer Name ist für das, was der ungeschichtliche autonome Geist des Menschen von sich aus über Gott erkennen kann. Es kann aber auch dadurch geschehen, daß diese Anlage (im Sinne Hans Urs von Balthasar, Apokalypse der deutschen Seele. Studien zu einer Lehre von letzten Haltungen. Bd.1 Verlag Anton Pustet Salzburg Leipzig 1937. S.4f. 70 Karl Rahner, Hörer des Wortes. Zur Grundlegung einer Religionsphilosophie. Kösel München 1963. Neu bearbeitet von Johannes Baptist Metz, Herder Freiburg 1971. S.15. 69 34 Schleiermachers) als Gefühl der schlechthinnigen Abhängigkeit oder (im Sinne Ottos) als Erlebnis des mysterium tremendum und fascinosum oder wie sonst immer gefaßt wird. Immer und in jedem dieser Fälle wird von einer bestimmten religiösen Anlage und Erfahrung her, einbahnig "von unten", vom Menschen her bestimmt, was als Inhalt einer möglichen Offenbarung überhaupt in Betracht kommen kann, und dann von dieser Position aus der Inhalt einer bestimmten historischen Offenbarung kritisch geprüft und unter Umständen Inhalte einer solchen Offenbarung als diesem apriorisch bestimmten möglichen Offenbarungsinhalt nicht entsprechend oder als von ihm jedenfalls nicht gefordert und so als belanglos ausgeschieden. Wer wesentlich für Sein offen ist, kann nicht von sich aus eingrenzend bestimmen, was als möglicher Gegenstand einer Offenbarung in Betracht kommen kann und was nicht. Er muß sich für Sein überhaupt offenhalten. Da der Mensch nicht schon absolute "Seinshabe" ist, bleibt nur die zweite Annahme: Der Ort einer möglichen Offenbarung enthält bei einem Geist wegen dessen ungegrenzter Transzendenz kein apriorisches Gesetz für die Möglichkeiten des zu offenbarenden. "Der Mensch ist als geschichtliches Wesen Geist." (Rahner o.c.126) Offenbarung ist geschichtlich, ist Geschichte. (Zum Vergleich Islam/Christentum: Die christliche „Frohe Botschaft“ ist kein direkt, „in arabischer Sprache“ herabgesandtes e-mail wie der Koran, sondern von vornherein übersetz- und interpretierbar, in vier unterschiedlichen Versionen geschrieben. 3.2 Offenbarung (Anthropogonie, Theogonie) Damit möchte ich wieder zur Gnosis zurückkehren. Die Texte der Gnosis enthalten Erzählungen, die nicht nur illustrativen Charakter haben, sondern vor allem existentiellen Sinn. Sie sind Ausdruck des Wissens um das Woher und Wohin des Menschen. Die Frage "Wer bin ich?" ist entfaltet in die Fragen: "Woher komme ich?" und "Wohin gehe ich?" Wir haben gesehen, daß die Frage "Wer bin ich?" unlösbar mit der Gottesfrage verknüpft ist. Jesus hat die Bibel des Alten Bundes zitierend gesagt: "Götter seid ihr". Er ist selbst Gegenstand des Glaubens, er sei konkret Gottes Selbstmitteilung. Was sagt die Gnosis über das Wie der Offenbarung ? Auch hier nimmt der Mensch eine zentrale Stellung in der Theologie ein. Es gibt den besonders wichtigen Vorstellungskomplex vom "Gott 'Mensch'", bekannt auch unter dem Namen "UrmenschMythos" oder (nach dem griechischen Wort für "Mensch") "Anthropos-Mythos". Ihr Grundgedanke liegt in dem engen Verwandtschafts- oder Wesensverhältnis zwischen dem höchsten Gott und dem Kern des Menschen. Dieses Verhältnis wird, offenbar in Anknüpfung an die biblische Aussage (vgl. 1. Mose 1,26) als Abbildverhältnis verstanden, d.h. der (irdische) Mensch ist ein Abbild des göttlichen Urbildes, das dementsprechend gleichfalls oft den Namen "Mensch" trägt. Der "Vater der Wahrheit, der Mensch der Größe" heißt es von ihm in einem Text. (NHC VII 2,53,3-5). Die oft sehr kompliziert dargestellte Lehre läßt sich auf zwei Grundtypen reduzieren71: Einmal ist das höchste Wesen selbst der Urmensch (anthropos), der durch sein Erscheinen den weltschöpferischen Kräften ein Vorbild oder Modell für die Schaffung des irdischen (also des zweiten) Menschen abgibt, zum anderen bringt der höchste Gott zunächst einen ihm wesensgleichen himmlischen Menschen (häufig "Sohn des Menschen" genannt) hervor, der dann das unmittelbare Urbild des irdischen (also dritten) Menschen ist. Bei der zweiten Version tritt oft noch der Gedanke hinzu, daß der (zweite) himmlische Urmensch sich verführen läßt, in dem irdischen (körperlichen) Menschen Wohnung zu nehmen; er gilt dann als "innerer Mensch" und repräsentiert zugleich die besagte göttliche Kernsubstanz des Menschen überhaupt (das "Pneuma"). Die reiche gnostische Bildersprache unterscheidet dabei nicht immer deutlich, um welchen "Menschen" es sich handelt; die göttlichen Attribute können sowohl dem himmlischen als auch dem ihm wesensmäßig verbundenen irdischen Menschen - meist illustriert an Adam - zukommen. Eine Analyse des ganzen Komplexes findet sich bei H.-M.Schenke, Der Gott "Mensch" in der Gnosis. Berlin 1962. (Die Quellenbasis läßt sich jetzt noch erweitern.) 71 35 Die Idee des Falles eines himmlischen Wesens und seiner Zerstreuung in die irdische Welt ist überhaupt eine der Grundvorstellungen der Gnosis und hat ihre großartigste und klarste Ausgestaltung im Manichäismus erhalten. Hinter dieser Vorstellung vom göttlichen "Menschen", der sowohl über als auch in der Welt weilt, steckt eine ganz neue Konzeption der Anthropologie. Dies wird vor allem in der Höherbewertung des Menschen gegenüber dem Weltschöpfer sichtbar: Nicht nur, daß vor diesem der (erste) Mensch, d.h. der unbekannte Gott, existiert - auch der irdische Mensch, der sein Produkt ist, überragt ihn auf Grund seiner überweltlichen, göttlichen Beziehung und Substanz. "Diese Erhöhung nun des 'Menschen' zu einem überweltlichen Gott", sagt Hans Jonas treffend, "der - wo nicht der erste jedenfalls früher und erhabener ist als der Weltschöpfer, ist einer der bedeutsamsten Aspekte der gnostischen Mythologie in der allgemeinen Religionsgeschichte. Er verbindet so weit getrennte Spekulationen wie die des Poimandres und Manis; er zeigt einen neuen metaphysischen Status des Menschen in der Seinsordnung an, und es ist die Belehrung hierüber, die den Schöpfer und Herrscher der Natur auf seinen Platz verweist."72 Darin drückt sich der ganze revolutionäre Geist der Gnosis in seiner Absage an die herkömmlichen Glaubens- und Wertvorstellungen aus. Die göttliche Stellung des Menschen auf Grund seiner wesensmäßigen Herkunft wird an einigen Stellen sehr deutlich formuliert: "Gott schuf den Men<schen, und die Men>schen schufen Gott. So ist es auch in der Welt, da die Menschen Götter schaffen und sie als ihre Schöpfungen verehren. es würde sich ziemen, daß die Götter die Menschen verehren." NHC II 3,71 (119), 35-72 (120), 4. Dies haben schon die ersten greifbaren Gnostiker wie Simon Magus, Menander, Epiphanes in die Tat umgesetzt und sich - so überliefern es wenigstens die Kirchenväter - als Götter verehren lassen. Die Ansicht der Griechen vom Meer als Werdeort von Göttern und Menschen (Homer, Ilias 14,201) wird in der Naassenerpredigt in dem Sinne ausgelegt, daß die Strömung vom himmlischen zum irdischen Ozean ein Werden von Menschen bedeute, der umgekehrte Weg aber ein Werden von Göttern (Hippolyt, Refutatio V 7,36), d.h., der Mensch nimmt seinen wesensmäßigen Platz ein, wofür gleich anschließend der Psalmvers (Ps 82,6) "Ihr seid Götter, alle Söhne des Höchsten" angewendet wird. "Der Anfang der Vollendung ist die Erkennntis des Menschen, die Erkennntis Gottes aber ist die vollkommene Vollendung." (Hippolyt, Refutatio V 6,6; 8,38.) Die wahre Gotteserkenntis beginnt mit der Erkenntnis des Menschen als eines gottverwandten Wesens. Der "Baum der Erkennntis" im Paradies vermittelte nach verschiedenen gnostischen Texten Adam seine ihm angemessene gottgleiche Stellung gegenüber dem niederen WeltschöpferGott, der nur aus Neid das Verbot des Genusses von diesem Baum erlassen hatte. Ebenso fungiert in einigen Systemen die Paradiesesschlange im Auftrag des höchsten Gottes zur "Unterweisung" des ersten Menschen im Paradies, hat also eine durchaus positive Aufgabe. Einige Quellen sprechen von dem Erschrecken der niederen Mächte, als sie den wahren Charakter des von ihnen geschaffenen Menschen erkennen. So wird der Akt der Menschenschöpfung für sie zu einem Bumerang: "Der Ersterzeuger (archigenetor) der Unwissenheit... schuf den Menschen nach meinem (des Urvaters) Bilde, ohne aber zu wissen, daß jener ihm zu einem vernichtenden Gericht werden würde, noch die Kraft, die in ihm (dem Menschen) ist, zu erkennen." NHC XIII 1, 40,23-29. Damit haben wir schon das Thema der eigentlichen Anthropogonie berührt, wozu noch einiges zu bemerken ist, bevor die Texte selbst sprechen sollen. Sie wird in überwiegendem Maße unter Verwendung der alttestamentlichen Erzählung von Adam und Eva dargestellt, allerdings in meist sehr verfremdeter Weise, wie es für die gnostischen Auslegungen biblischer Aussagen typisch ist. Dabei stehen aber nicht nur die kanonischen Texte Pate, sondern auch nachbiblisch-jüdische Vorstellungen, vor allem der Mythos von der Belebung des Adamkörpers (Golem) durch den Geist Gottes. Er gab wohl in erster Linie eine gute Vorlage für die gnostischen Theologen ab, einige ihrer Ideen über die Entstehung des Menschen und über seine Doppelnatur in ein schriftstellerisches Gewand zu hüllen. Daraus entstand ein "Grundtyp gnostischer Urmensch-Adam-Spekulation" (so der Titel einer Pubikation von Kurt Rudolph in ZRGG IX, 1957, 1-20.), der sich in vielen Schulrichtungen bis zu den Mandäern und Manichäern wiederfindet. Sie steht natürlich in engem 72 Hans Jonas, Gnosis und spätantiker Geist I, Ergänzungsheft, S.383. 36 Zusammenhang mit dem "Anthropos-Mythos". Beide sind ja auch der gleichen biblischen Überlieferung (1.Mose 1) verpflichtet oder beziehen sich auf sie. Die wichtigsten Züge dieser Adamsgeschichte sind folgende. Der Körper Adams wird vom Weltschöpfer und seinen Engeln (Archonten, Planeten) aus den Elementen geschaffen (unter Anknüpfung an den in der Bibl gebrauchten Plural - 1.Mose 1,26); da er aber kein richtiges Leben in sich hat, wird er vom höchsten Wesen auf verborgene oder vermittelte Weise mit dem göttlichen Geist, d.h. der Pneumasubstanz, ausgestattet, die ihn über den Schöpfergott erhebt und ihm die Fähigkeit zur Erlösung verleiht. Die Erlösung besteht in der Erweckung Adams zur Erkenntnis seiner wahren Herkunft und der Niedrigkeit des Weltschöpfers. Dieses Ergebnis wird eist mit der biblischen Paradiesesgeschichte verbunden, deren Aussage aber in ihr Gegenteil verkehrt wird, weil sie Ausdruck der Ebene des Weltschöpfers ist, der Adam als sein Produkt begreift und nicht um seine höhere Bestimmung weiß. An Hand dieser in den einzelnen Schriften unterschiedlich ausgearbeiteten Mythen wird das Schicksal des Menschen in seiner zwiespältigen Natur vorbildhaft dargestellt. Adam oder der erste irdische Mensch gilt der Gnosis als Prototyp des Menschen überhaupt; sein Schicksal nimmt das der nachfolgenden Menschen vorweg. Aus diesem Grunde haben alle diese Erzählungen nicht nur illustrativen, sondern vor allem existentiellen Sinn. Sie sind Ausdruck des Wissens um das Woher und Wohin des Menschen. Wir haben über den Typus der "Erkenntnis des eigenen Geist-Selbst des Gnostikers und der mit diesem Geist-Selbst konsubstantialen Gottheit" reflektiert. Wir sagten: "Diese Erkenntnis entfaltet sich als Wissen über den Ursprung des Geist-Selbst, über die Ursache seiner Verknechtung in der Welt der Finsternis und über den rettenden Aufstieg in das heimatliche Lichtreich und damit als Wissen über dieses Lichtreich, über Entstehung, Wesen und Schicksal von Weltschöpfermächten, Materie und Welt." Wir haben uns konzentriert auf die existentielle Fragestellung, die in der griechischen Philosophie neben der Frage der Wesenserkenntnis des Menschen sehr wohl gestellt wurde, die aber im christlichen Kontext intensiviert wird: „Wie kann der Einzelne als wesentlich gedacht werden, ohne im Göttlichen aufzugehen?“ <Vgl. Romano Guardini, Stationen und Rückblicke. Berichte über mein Leben. Mainz u. Paderborn 1995, S. 235: „...die Wahrheit, die mir wie ein Schlüssel zum Gottesbegriff erscheint, daß Gott allein wesentlich und eigentlich ‚ist’; ‚Sein’ seinen Namen bildet; während wir nur ‚vor’ Ihm sind. Dann aber bewegte der Gedanke sich dahin, wie es wäre, wenn ‚es’ überhaupt nur Gott ‚gäbe’; Er durch sich, in sich, mit sich. Und das wäre hinreichend, ganz, voll, und nichts würde fehlen. Und dann das Geheimnis, daß Er in Freiheit gewollt hat, daß ich sei; das aber zu verstehen, wäre Verständnis der Welt in ihrem Grund und Gottes in seiner Gesinnung. Und Er hat bestimmt, daß in der Tiefe dieses Geheimnisses ich an seinem Leben Anteil haben dürfte, und das ist Herrlichkeit und Himmel.“> Wir haben mit Begriffen hantiert, die wir einfach als gegeben hingenommen haben, weil menschliche Verständigung nicht alle Voraussetzungen auf einmal ausweisen kann, vielmehr ihr Thema erst allmählich einkreisen muß.... Wir sollten noch von Seele, von Geist, von Materie und vielem mehr reden. Aber vielleicht hat eine erste Einkreisung schon bewirkt, daß wir die gnostischen Texte, die vom Gott Mensch oder von der Anthropogonie reden, mit mehr Aufmerksamkeit und Verständnis ansehen können. Sehen wir uns nun auch Originalquellen an: In der "Schrift ohne Titel" aus NHC II wird gegen Ende des kosmogonischen Teils vom Erscheinen des "Licht-Adam" berichtet. Die finsteren Mächte unter Führung des "Ersterzeugers" (Demiurgen) setzten die Schaffung des Menschen zuerst als ein Gegenmittel gegen das Eingreifen der Lichtwelt ein: "Bevor aber der Licht-Adam aus dem Chaos zurückgekehrt war, erblickten ihn die Mächte und spotteten über den Ersterzeuger (archigenetor), weil er gelogen hatte, als er sagte: 'Ich bin Gott. Es gibt keinen vor mir.' Als sie zu ihm kamen, sagten sie: 'Ist etwa dieser der Gott, der unser Werk 37 verdorben hat?' Er antwortete und sagte: 'Ja! Wenn ihr wollt, daß er unser Werk nicht (völlig) verderben kann, kommt, laßt uns einen Menschen aus der Erde bilden nach dem Bild unseres Körpers und nach dem Aussehen von diesem (d.h. dem Licht-Adam), daß er uns diene, damit dieser, wenn er sein Ebenbild sieht, es liebe. Er wird nicht mehr unser Werk verderben, sondern wir werden diejenigen, welche aus dem Licht hervorgebracht werden, uns zu Dienern machen während der ganzen Zeit dieses Zeitalters.'" NHC II 5,112 (160), 25-113 (161), 5. Die lichten Mächte aber benutzen diesen Plan für ihre Zwecke, denn sie handeln nach weiser Voraussicht und schaffen einen geistigen Menschen, den "Unterweiser": "Dies alles aber ist entsprechend der 'Voraussicht' (pronoia) des 'Glaubens' (pistis) geschehen, damit der (Licht-) Mensch vor seinem Abbild erscheine und sie (die Mächte) durch ihr (eigenes) Gebilde verurteile; und ihr Gebilde wurde zu einem Pferch des Lichtes. Als dann die Mächte zur Erkenntnis kamen, den Menschen zu bilden, kam ihnen die 'Weisheit Leben' (sophia zoe) zuvor... und sie verlachte ihren Beschluß: 'Blind sind sie in Unwissenheit, sie haben ihn (den Menschen) gegen sich selbst gebildet und wissen nicht, was sie tun werden.' Deshalb ist sie ihnen zuvorgekommen und hat zuerst ihren Menschen gebildet, damit er ihr (der Mächte Gebilde) unterweise. Wie es (das Gebilde) sie verachten wird, so wird es auch vor ihnen gerettet werden." NHC II 5,113 (161), 5-114 (162), 24. Die Entstehung des "Unterweisers" geschieht in komplizierter Weise: Ein "Lichttropfen" fließt von der Sophia auf das Wasser und wird dort zuerst zu einem Mutterleib, "Lebens-Eva" genannt oder "Unterweiserin des Lebens", aus der dann ein "mann-weiblicher Mensch" geboren wird, den die Griechen Hermaphrodit nennen, die finsteren Mächte aber "das Tier", das ist die spätere Paradiesesschlange, die Adam unterweist. NHC II 5, 113 (161), 21-114 (162), 2. Nach einigen Unterbrechungen des ursprünglichen Zusammenhangs beginnt die Schaffung des irdischen Adams: Der Archigenetor erläßt eine Entscheidung im Hinblick auf den zu bildenden Menschen, und jeder von den Mächten "warf seinen Samen auf die Mitte des Nabels der Erde. Von jenem Tag an bildeten die sieben Befehlshaber (Archonten) den Menschen, wobei sein Leib zwar ihrem Leibe glich, sein Aussehen aber dem (Licht-) Menschen glich, der sich ihnen gezeigt hatte. Sein Gebilde entstand ja nach den einzelnen Teilen eines jeden Archonten. Ihr Oberster aber bildete das Gehirn und das Mark. Dann trat er in Erscheinung, wie (der) vor ihm, (und) wurde zu einem psychischen Menschen, (vgl. 1.Mose 2,7) und man nannte ihn 'Adam', das ist der Vater nach dem Namen dessen, der vor ihm (da) war. Als sie aber Adam vollendet hatten, legte er (der Oberarchon) ihn in ein Gefäß, weil er wie die Fehlgeburten gestaltet war, da sich kein Geist (pneuma) in ihm befand. Deswegen, als der Oberarchon des Wortes der 'Treue' (pistis) gedachte, befürchtete er, daß etwa der Wahre (Mensch) in sein Gebilde komme und darüber Herr werde. Deshalb ließ er es 40 Tage ohne Seele (psyche) und zog sich zurück (und) ließ es sein. In diesen 40 Tagen aber sandte die 'Weisheit Leben' (sophia zoe) ihren Hauch in Adam hinein, in dem (noch) keine Seele war. Er fing an, sich auf der Erde zu bewegen, konnte aber nicht aufstehen. Als die sieben 'Befehlshaber' (Archonten) aber kamen (und) ihn sahen, wurden sie sehr bestürzt; sie kamen zu ihm, ergriffen ihn und sprachen zu dem Hauch, der in ihm war: 'Wer bist du? Und woher bist du gekommen zu diesen Orten?' Er antwortete (und) sprach: 'Ich bin durch die Kraft des (Licht-) Menschen gekommen zum Verderben eines Werkes'... Als sie (dies) gehört hatten, priesen sie ihn, daß er ihnen Ruhe von der Furcht und der Sorge, in der sie waren, vermittelt hatte (weil er ja in Adam gefangen ist)... Als sie aber sahen, daß Adam nicht aufstehen konnte, freuten sie sich, nahmen ihn weg, setzten ihn in das Paradies und kehrten in ihre Himmel zurück." NHC II 5,114 (162), 24-115 (163), 30. Der nächste Akt leitet die Erweckung Adams ein, die in zwei Stufen verläuft: Zunächst erfolgt die Erweckung durch die himmlische Eva, NHC II 5,115 (163), 30-116 (164), 33. Diese himmlische Eva wird als aus der Sophia entstanden gedacht; ihr Name wird etymologisch als "Unterweiserin des Lebens" gedeutet. In einer anderen Version wird sie "das geistige Weib" genannt. NHC II 4,89 (137), 11f. Dahinter steht offenbar die Vorstellung, daß sie als "Mutter des Lebens" auch die Mutter Adams 38 und damit der Menschheit ist. Sie ist, wie es an anderer Stelle (NHC II 5,116 <164>,4-15) heißt, Jungfrau, Weib und Mutter in einer Person, repräsentiert also den weiblichen Aspekt des Lichtreiches, der schon in der Sophia (als deren Seinsform sie letztlich erscheint) sichtbar ist. Der Versuch der Mächte, den Vorgang der ersten Erweckung durch Bindung der Eva an Adam einzuschränken, mißlingt. NHC II 5,116 (164),2-33. Nur das Abbild der geistigen Eva, also die irdische Eva, bleibt bei Adam; sie selbst verwandelt sich in den paradiesischen "Baum der Erkenntnis". Ihre Schändung durch die Archonten trifft nur das irdische Abbild, das dadurch die Mutter der Adamiten wird, die damit ebenfalls eine Doppelnatur bekommen. Der zweite Akt der Erleuchtung Adams erfolgt im Paradiesgarten mit Hilfe der Schlange, die als Verkörperung des mann-weiblichen "Unterweisers" (der bekanntlich ein Produkt der geistigen Eva ist) eine durchaus positive Rolle spielt; auch der berühmte "Apfelbaum", der Eva zum Verhängnis wird, ist für die Gnostiker ein Symbol des guten höchsten Gottes. Die Paradiesgeschichte endet mit Verfluchung und Vertreibung des ersten Menschenpaares (NHC II 5,120 <168>,3-12), dem sich aber die der Urheber selbst anschließt. Damit hat die Urzeitgeschichte erst einmal ein dramatisches Ende genommen. Originalquellen wie diese (z.B. auch die "Geheimschrift des Johannes" im Papyrus Berolinensis) bestätigen das, was auch die Kirchenväter über die gnostischen Lehren von der Entstehung der Welt und der Menschen berichteten, auch wenn uns jetzt erst der ganze Reichtum und tiefere Sinngehalt dieser Literatur bekannt geworden ist. Offensichtlich gehören die Grundgedanken der geschilderten Anthropogonie zum ältesten Vorstellungsgut der Gnostiker. Von Menander berichtet z.B. Tertullian (De carne 5), daß er gelehrt habe: "Dieser (unser) nichtiger und armseliger Körper, den sie sich nicht scheuen als das Böse zu bezeichnen, sei jedoch eine Schöpfung der Engel gewesen." Eine ähnliche Vorstellung liegt offensichtlich auch dem "Poimandres" zugrunde, bei dem nach dem Abschluß der Weltschöpfung ein zweites Drama beginnt, das die Geburt des "Menschen" betrifft. (Handout 4: Corp.Herm. I 12-15. Kopie aus Sloterdijk I, S.161f.) Ich erinnere nun an den Text von Jakob Böhme, "Neue Wiedergeburt", den wir ganz am Anfang gelesen haben. Eines der kräftigsten Bilder für Erkenntnis/"gnosis" ist das von Zeugung und Geburt. Im biblischen Hebräisch wird "erkennen" für "zeugen" eingesetzt ("Wie soll das geschehen, da ich doch keinen Mann erkenne" sagt noch Maria bei der Verkündigung im Evangelium). Das Erkennenwollen der ersten Dinge des Menschen, seines "Woher", stößt an diese Grenze. Die Scham, die Adam und Eva befällt, ist etwas anderes als der cultural shock von Wilden, die plötzlich mit zivilisierten Bekleideten zusammenkommen. Könnte es nicht der metaphysische Schrecken sein vor der unübersteigbaren Grenze Zeugung und Geburt, der ebenso schauerlich ist wie das Stehen an einem offenen Grab? So verwundert es vielleicht auch nicht, wenn die letzten Dinge in Analogie zu den ersten, zu dem ersten Grenzerlebnis, auch als Geburt, Wiedergeburt, Zeugung eines neuen Menschen imaginiert werden. (Es liegt nahe, daß Scham sehr viel mit dem tremendum et fascinosum zu tun hat, mit dem der Beginn des Lebens umgeben ist, und dadurch mit dem Heiligen bzw. dem Religiösen, wie es die Religionswissenschaft beschreibt. Die Erbitterung, mit der um das Dogma von der Jungfrauengeburt gestritten wird, ist Chiffre für das Ärgernis, daß der Mensch sich aus dem ganz Anderen herleiten soll. Im Zusammenhang mit dem Thema der Geburt Adams und des "Gottes Adam" muß ich auf Späteres verweisen: auf die Gottesgeburt in der Seele des Menschen. Gott wird im Menschen geboren, das heißt, der Mensch wird Gottes Kind. Sehr schön erläutert das Meister Eckhart in einer deutschen Predigt. Meister Eckhart (ca. 1260 - 1328) war dominikanischer Theologe, Prediger und Mystiker; veröffentlichte u.a.: Opus tripartitum - Das dreiteilige Werk; daz buoch der goetlichen troestunge, 39 1314 oder 1318; deutsche Predigten, zwischen 1323 und 1325.73 Sie haben wahrscheinlich schon den Sinnspruch von Angelus Silesius gehört, der genau diese auf Augustinus zurückführbare Lehre Meister Eckharts komprimiert enthält: "Und wäre Jesus tausendmal geboren, und nicht in mir, ich wäre tausendmal verloren." Beim Aufweis von Filiationen wie dieser über die Gottesgeburt ist die Frage unvermeidlich, ob also von gnostischem Einfluß auf christliche Theologie zu sprechen sei. Das wäre allerdings etwas vorschnell. Was aber sicher gesagt werden kann, ist, daß Christen und Gnostiker sich mit den selben Fragen auseinandergesetzt haben, einerseits, weil sie zumindest z.T. die selbe Schrifttradition als Grundlage ihrer Theologie hatten, anderseits, weil sie die gleichen menschlichen Grunderfahrungen und Anschauungsformen hatten; Jungianer werden in diesem Zusammenhang von Archetypen sprechen. Die Vergleichende Religionswissenschaft kennt so etwas wie "Spontanparallelen". Und natürlich kann zumindest für die erste Jahrtausendhälfte der christlichen Ära eine enge Diskussionsgemeinschaft zwischen Christen und Gnostikern festgestellt werden. Man war ständig genötigt, sich gegenseitig abzugrenzen, schon aus praktischseelsorglichen Gründen. Man war verbunden im Glauben an eine geschehene Offenbarung. Somit gemeinsam abgegrenzt gegen reine Philosophie, die Offenbarungen grundsätzlich in Frage stellt. Zugleich aber verbunden mit Philosophie durch das Verstehenwollen. Man war auch verbunden im Glauben daran, daß in der Offenbarung Erlösung geschieht. So wie Erkenntnis in sich Heil bedeutet, bedeutet auch Offenbarung in sich Erlösung und sind die Offenbarer-Gestalten in sich Erlöser-Gestalten. Das ist noch näher zu erläutern. 3.3 Erlösung 3.3.1 Erlösung im christlichen Verständnis Das Wort "Erlösung" läßt an das Auflösen von Fesseln oder an das Auslösen, Freikaufen von Gefangenen denken. Ursprünglich in den germanischen Sprachen für jedes Lösen, Befreien gebraucht wie das einfache Lösen, ist es zur Wiedergabe verschiedener Wörter der Bibelsprache benutzt und dadurch ein vorwiegend kirchliches Wort geworden: "Erlöse uns vom Übel" (Math 6,13), got. lausei uns, Vulgata libera nos. Vor allem wurde es verwendet für die Befreiung des Menschen durch Christus: "Welcher uns vom Tod erlöst hat" (2Kor 1,10) - got. uns galausida, Vulgata nos eripuit; oder: "Wißt, daß ihr erlöst seid" (1Petr 1,18) - Vulgata redempti estis "losgekauft seid". Erlöser entspricht lat. redemptor, Loskaufer; Erlösung: redemptio, Loskaufung. Nicht zu verwechseln mit dem "Erlös" im Sinn von Geld einnehmen.74 Sie können sich denken, daß in der christlichen Theologie dieser Begriff eine zentrale Stellung einnimmt. In der lateinamerikanischen Befreiungstheologie ist er derzeit mit neuer Akzentuierung in den Mittelpunkt gerückt. Objektiv setzt der Begriff die Annahme einer Erlösungsbedürftigkeit und subjektiv als Zugeständnis die Annahme einer solchen Erlösungsbedürftigkeit voraus. Erlösungsbedürftigkeit meint zunächst jenen Zustand, in dem der Mensch sich unvermeidlich nach seiner eigenen Erfahrung vorfindet und den er als unvollendet, vieldeutig und leidvoll erlebt und zwar in allen Dimensionen seines Daseins, so daß die Erfahrung dieses Zustands als eines individuellen und kollektiven fast identisch ist mit seinem Dasein selbst. Für die christliche Daseinsinterpretation aber ist dieser Zustand nicht nur in den unvermeidbaren "Reibungserscheinungen" einer materiellen, biologischen, gesellschaftlichen und personal-geistigen Entwicklung, also nicht bloß in sozialen Mißständen oder in der Endlichkeit (biologischer oder Das Zitat ist aus Meister Eckhart, Deutsche Predigten und Traktate, hrsg. u. übrs. v. Josef Quint, München Hanser 1985, S.142-144 und 413-415. <Handout 5> 74 Trübners deutsches Wörterbuch 2.Bd. Berlin (W.de Gruyter) 1940, 230f. 73 40 geistiger Art) des menschlichen Daseins gelegen. Dieser Zustand darf aber auch nicht falsch radikalisiert werden bis zur Leugnung einer Erlösungsfähigkeit durch einen pessimistischen Existentialismus mit der Theorie, daß das Dasein eine absolut unaufhebbare Sinnleere habe und darum deren illusionslose Anerkennung die eigentliche Wahrheit des Menschen sei. Diese Haltung kann aber verstanden werden als die Erkenntnis, daß der Mensch sich nicht selbst erlösen könne und die gegenteilige (marxistisch-kollektiv gewendete oder individuell verstandene) Meinung die moderne Form des "Aberglaubens" (Blondel) ist. Das Christentum erkennt den Menschen als erlösungsfähig an. Aber dieser Mensch ist auch erlösungsbedürftig, und zwar zuerst und zuletzt von seiner Schuld. Die Erfahrung der vom Menschen selbst unaufhebbaren Schuld als des Grundes der Erlösungsbedürftigkeit wird in sehr verschiedenem Grad gemacht. Das ist ebenfalls Gegenstand der "Soteriologie". Erlösung im christlichen Verständnis ist als objektive gemeint, d.h. als Ereignis (Erlösungstat) und dessen Folge (objektive Erlöstheit), die der Rechtfertigung und Heiligung des Menschen (subjektive Erlösung) sachlich vorausliegen und somit von dieser subjektiven Erlösung zu unterscheiden sind. Diese Unterscheidung wird in einer modernen, christlich existentialistischen Anthropologie oft geleugnet, weil in ihr die Erlösung schlechthin im Ereignis des Glaubens allein geschieht, der sich nicht auf ein ihm vorausliegendes objektives Ereignis der Geschichte bezieht In der Bibel heißt Erlösung terminologisch negativ apolytrosis = redemptio, Loslösung aus der Herrschaft der Sünde, der Mächte und Gewalten, des Gesetzes und des Todes, positiv katallagé = reconciliatio, die Herstellung der Einheit und des Friedens mit Gott und unter den Menschen selbst. Dieser erlösende Vorgang wird charakterisiert unter kultischen Begriffen als Opfer (prosphorá, thysía), als Sühnemittel (hilastérion), als Ausgießung des erlösenden Blutes des Bundes für die Vielen; unter mehr rechtlichen als Loskauf oder unter noch allgemeineren Begriffen wie Rettung. Diese Erlösung geschieht durch den Tod Christi, insofern er selbst Wirkung der erlösenden Liebe Gottes ist, freie Tat Christi als Vollzug seines Gehorsams Gott gegenüber, Annnahme der Niedrigkeit eines Menschentodes, als Dienst und Liebe den Menschen gegenüber. Diese Tat ist die des Knechtes Jahwes, der als zweiter Adam stellvertretend eintritt für die Gemeinschaft seiner Brüder, der Schrift gemäß. Entscheidend wichtig ist, daß der geschichtliche vorösterliche Jesus selbst seinen Tod als diese Erlösungstat deutet (Mt 26,28 par.), wenn dies seiner Gemeinde auch erst von seiner Auferstehung her deutlich wird. Das Grundproblem der christlichen Soteriologie ist wohl darin gelegen, daß das Ereignis des Kreuzes einerseits nicht (wie manche modernen Theologen unter Berufung auf 2Kor 5,18-21 wollten) aufgefaßt werden kann als eine bloß auf uns selbst zielende Bezeugung der vergebenden Liebe Gottes, die uns bewegt, an diese Liebe zu glauben, sondern als Ursache unseres Heiles anzuerkennen ist. Anderseits darf (soll man nicht in einen primitiven Anthropomorphismus geraten) nicht verdunkelt werden, daß Gott von der Geschichte nicht bewegt oder umgestimmt wird, daß also das Kreuzesereingis aus dem Vergebungswillen Gottes als dessen Wirkung kommt und diesen nicht zuerst konstituiert. Warum dann aber dieser ursprüngliche Vergebungswille Gottes nicht einfach senkrecht von oben die Vergebung in gleicher Weise unmittelbar an allen Raumzeitpunkten bewirkt, sondern dem Menschen von einem bestimmten geschichtlichen Ereignis her begegnet und dieses die Ursache der Vergebung ist, das ist das eigentliche Problem, mindestens für das Verständnis der christlichen Soteriologie in der heutigen Situation.75 3.3.2 Zu Erlösung, Erlöstsein, Erlöser in der Gnosis: Schon die Kirchenväter haben aus den Zeugnissen den Schluß gezogen, daß die Gnostiker Karl Rahner in: Herders Theologisches Taschenlexikon hrsg.v.K.Rahner, Herder Freiburg 1972 Bd.2, 196ff. 75 in acht Bänden, 41 strenggenommen schon "von Natur aus Erlöste" sind, da sie ja substanzhaft mit der Lichtwelt zusammenhängen, d.h. die Garantie der Erlösung sicher in sich tragen. Die Gnosisforschung hat diese Deutung lange Zeit beibehalten. Erst durch die neuen Texte ist daran gewisser Zweifel laut geworden. Aus ihnen wird nämlich deutlich, daß die "Pneuma-Natur" des Gnostikers einerseits durchaus als Gnade Gottes verstanden werden kann, andererseits das Heil nicht automatisch sicher ist, sondern von einem entsprechenden Lebenswandel begleitet sein muß, der dem erlangten Zustand eines Erlösten auch entspricht. Die Gnosis ist sich des vorläufigen Standes des Erlösten bis zur Realisierung der Erlösung nach dem Tod durchaus bewußt. Natürlich bleibt es dabei, daß das Pneumatische nicht zugrundegehen kann und sein Eingang ins Pleroma vorherbestimmt ist, aber das Warum und Wie ist vom rechten Verhalten des Trägers nicht unabhängig. Auch der Gnostiker muß sich bewähren im Kampf mit den Leidenschaften seiner leiblich-psychischen Natur und den Verführungskünsten (den Netzen und Schlingen) der Archonten. "Denn jeder wird durch seine Handlung (praxis) und seine Erkenntnis (gnosis) seine Natur (physis) offenbaren", heißt es in der "Schrift ohne Titel" NHC II 5,127 (175), 16f. Im Unterschied zu der Knechtschaft, in der sich die Unerlösten (d.h. die "Fleischlichen") befinden, und zu denen, die mit "Zwang, Gewalt und Drohung" zum Heil gebracht werden (offenbar die bloß "Seelischen"), "bedarf derjenige, der ganz von der vornehmen Herkunft der Vaterschaft ist (also der Pneumatiker), keiner Bewahrung, da er selbst das, was bei ihm ist (=das Seinige) bewahrt, ohne ein Wort und einen Zwang, (und) da er sich (ganz) mit seinem Willen verbindet, der allein der Einsicht (ennoia) der Vaterschaft zugehört, damit sie (die Vaterschaft) (wieder) vollkommen wird..." - so die "Zweite Lehre des großen Seth" NHC VII 2, 61,24-36. Der Gnostiker handelt also in Übereinstimmung mit seiner Natur und Bestimmung; dazu befähigt ihn die wiedererlangte Freiheit von Zwang und Tyrannei des Kosmos. Es gibt für ihn keine naturgegebene Erlösung, die er sich nicht selbst miterworben hat. "Ich flehe dich an", ruft der Offenbarungsempfänger am Ende des "Poimandres" den "Vater des Alls" an, "laß mich nie von der Erkennntis (gnosis), die unserem Wesen entspricht, abfallen, gewähre es mir und gib mir Kraft. Ich will mit dieser Gnade diejenigen (meines) Geschlechtes erleuchten, die in Unkenntnis sind, meine Brüder, deine Söhne. daher glaube und bezeuge ich: Ich gehe zum Leben und zum Licht. Gepriesen seist du, Vater, dein 'Mensch' (anthropos) will mit dir zusammen am Werk der Heiligung teilnehmen, so wie du ihm die ganze Macht übergeben hast." Corp.Herm. I 32. Es ergibt sich bei der Betrachtung des Erlösungswegs bald die Frage, ob der Mensch tatsächlich in der Lage ist, diesen Weg von sich aus durch bloße Selbsterkenntnis zu finden. Damit berühren wir das sehr umstrittene Problem der gnostischen Erlöserlehre. Selbsterlösung oder Fremderlösung? In der älteren und jüngeren Forschung ist häufig bestritten worden, daß die Gnosis eine eigene Vorstellung vom "Erlöser" gehabt habe. Als Argument galt dabei einerseits der Hinweis auf den ausschlaggebenden Akt der "Selbsterkenntnis", zum anderen die These, daß der Erlöser erst durch das Christentum in die Gnosis eingeführt worden sei: Die Gnosis sei von Haus aus eine Religion der Selbsterlösung, nicht der "Fremderlösung". (nebenbei: Hier verstehen Sie auch leicht, warum in der Neuzeit von manchen christlichen Autoren der aufklärerische Appell zum Selberdenken als "gnostisch" bezeichnet werden konnte.) Nun ist der Begriff "Erlöser" tatsächlich etwas unklar, da man sehr viel oder sehr wenig darunter verstehen kann. Für das Christentum ist der "Erlöser" Christus eine unumgängliche Voraussetzung der Erlösungshoffnung, da sich der Glaube auf seine im Auftrag Gottes vollzogene Heilstat, die mit seiner Person identisch ist, bezieht. Im Raum der christlichen Gnosis ist diese Vorstellung durchaus auch anzutreffen, aber sie ist nur eine und nicht die maßgebende Form. Im überwiegenden Maße finden sich in der Gnosis ganz andere Konzeptionen, die sich deutlich von der christlichen abheben und daher icht von ihr herstammen können. Ob man sie ebenfalls unter das Wort Erlöser subsumiert oder nicht, bleibt eine reine Definitionsfrage. Der antiken Vorstellung vom "Erlöser" entspricht mehr der Begriff "Befreier", "Retter". Und dies trifft nun wirklich auch die gnostischen Erlösergestalten. Es sind nämlich diejenigen, die dem Menschen überhaupt erst einmal den Weg 42 zur Befreiung aus dem Kosmos weisen. Man kann sie ebensogut "Offenbarer" oder "Gesandte" bzw. "Boten" nennen, die im Auftrag des höchsten Gottes die Heilsbotschaft von der erlösenden Erkennntis vermitteln. Da dies jedoch, wie nicht zu bezweifeln ist, eine Erlösungshandlung ist, kann man sie auch mit gutem Recht als "Erlöser" bezeichnen (einige sind sogar als "Helfer" bei der Bewältigung des Seelenaufstiegs tätig). In einer mandäischen Hymne aus der Sammlung der Tagesgebete heißt es über das Werk des Lichtboten: "Du kamst aus dem Hause des Lebens, du kamst: was brachtest du uns? Ich brachte euch, daß ihr nicht sterbt und eure Seele (beim Aufstieg) nicht zurückgehalten werde. Ich brachte euch Leben für den Todestag und für den düsteren Tag Freude. Ich brachte euch Ruhe, an der keine Unruhe der Völker ist." (Mand.Liturgien 196f.) Die gnostische Erlöservorstellung ist nicht nur abhängig vom Christentum, sondern bildet auch ein konstitutives Strukturelement der gnostischen Weltauffassung. Denn der Mensch kann sich seiner Unheilssituation nur darum bewußt werden, weil sie ihm mittels "Offenbarung" bekannt gemacht worden ist. Die gnostische Weltsicht verlangt regelrecht eine "Offenbarung", die von außerhalb des Kosmos stammt und die Möglichkeit der Rettung aufzeigt; denn von sich aus kann sich der Mensch aus seinem Gefängnis, in dem er sich nach dieser Religion befindet, nicht befreien. Er ist nicht nur eingeschlossen, sondern "schläft" oder ist "betrunken". Erst ein "Ruf" von außen kann ihn "aufwecken" oder "nüchtern machen", d.h. seine Unwissenheit vertreiben. Dieser Ruf ist in der Gnosis die einfachste Darstellung des Erlösers; sozusagen seine Minimalfassung. (Erinnern Sie sich bitte des "Briefs" im Perlenlied.) Er kann sich zu einem ganzen System ausweiten, das als Offenbarungsschrift die Rolle der Gnosisvermittlung übernimmt. In vielen Fällen ist eine gnostische Lehre nur die Explikation des ursprünglichen Weckrufs an die schlafende Seele, ein Vorgang, den wir vorbildhaft an Hand des Adamsgeschehens dargestellt finden. Es geht um die Erweckung des "Lichtsamens" im Denken der Menschen (der uns an die logoi spermatikoi der Stoa erinnert), und dies kann in vielfältiger Form geschehen und wiederholt sich immer wieder, wo der Ruf zur Umkehr oder Buße gehört wird: "Noch immer schlaft ihr, indem ihr träumt. Wacht auf, kehrt um, kostet und eßt die wahre Speise! Verteilt das 'Wort' (logos) und das 'Wasser des Lebens'! Laßt ab von den schlechten Begierden und Wünschen und den (euch) unähnlichen (Sachen)..." NHC VI 4, 39,33-40,7. Im Epheserbrief hat sich ein gnostischer Weckruf im christlichen Gewand erhalten: "Wach auf, du Schläfer, und steh auf von den Toten, und Christus wird dir aufleuchten." (Eph 5,14) Über die Bedeutung des Rufes handelt das "Evangelium der Wahrheit" im Zusammenhang mit der Namensnennung; es versteht sie als eine Art "Berufung": "Daher ist derjenige, der Erkennntis hat, einer, der von oben stammt. Wenn man ihn ruft, hört er, antwortet er und wendet sich zu dem, der ihn ruft, steigt zu ihm empor und erkennt, wie man ihn ruft. Da er Erkennntis hat, vollbringt er den Willen dessen, der ihn gerufen hat... Wer so zur Erkenntnis gelangen wird, erkennt, woher er gekommen ist und wohin er geht. Er erkennt,wie einer, der trunken war und von seiner Trunkenheit abließ; er brachte das seine <wieder> in Ordnung, nachdem er zu sich selbst zurückgekehrt war." NHC I 3,22,2-19. In den apokryphen Johannesakten findet sich die Feststellung des Erlösers gegenüber seinem Jünger: "Du könntest nämlich überhaupt nicht einsehen, was du leidest, wenn ich dir nicht als Wort (logos) vom Vater gesandt wäre." (Johannesakten 96) Neben dem Logos gibt es weitere Abstrakta, die eine soteriologische Funktion haben: v.a. die Weisheit (sophia), dann der Geist (der Wahrheit, des Lebens oder der Heiligkeit), der Verstand 43 (nus), die Einsicht (epinoia) oder die Denkkraft (ennoia), beides Ausdruck der erleuchtenden Erkenntnis; ferner der "Erleuchter" oder "Lichtträger" (phoster), der "Engel der Gnosis" und andere. Bei den Mandäern ist die erlösende Erkennntis zu einer eigenen Person namens "Gnosis des Lebens" (manda dehaiji) geworden. In den hermetischen Texten ist der "Dreimalgroße Hermes" oder "Menschenhirt" (Poimandres) der Erlöser bzw. Offenbarer. Die christliche Gnosis setzt dafür natürlich Christus ein, was nicht ohne Spannungen mit der kirchlichen Christologie und den gnostischen Systemen selbst abgeht. Andere "historische" Gestalten dieser Art, die in der Gnosis eine Erlöserrolle spielen, sind Simon Magus und Zoroaster (Zostrianos). Der gnostische Religionsstifter Mani nimmt eine große Zahl alttestamentlicher Personen in die Kette der Offenbarer oder "Lichtapostel" auf, aber auch Zoroaster, Buddha und Jesus. Das Angebot der Gnosis auf diesem Gebiet ist also sehr reich und zeigt, daß sie ohne Scheu die unterschiedlichsten Überlieferungen und Ideen für ihre Zwecke auswertet. Wir sollten aber m.E. hier innehalten und dem nachfragen, was all dem gemeinsam ist: der sprachlichen Vermittlung der Erlösung (Boten, Brief, Ruf, verkündende Person...), dem Logoshaften; fragen, was philosophisch mit der Einführung des Begriffs des "logos" gedacht war. Warum ist in der Gnosis von Logos und nicht von Mythos die Rede? Ein Exkurs über Mythos und Logos ist fällig. 3.3.3 Mythos (1) Empfohlene Literatur: Wege der Forschung Bd. XX: Die Eröffnung des Zugangs zum Mythos. Ein Lesebuch. Hrsg.v.Karl Kerényi. Wissenschaftliche Buchgesellschaft Darmstadt 1982. Dieses Lesebuch gibt einen Überblick über die neuzeitliche Befassung mit dem Mythos der Antike und belegt das fortdauernde hermeneutische Bedürfnis diesem gegenüber. Denn, um Kerényi selbst zu zitieren: "Mit 'Eröffnung des Zugangs zum Mythos' sind die Bemühungen um die Hermeneutik des Mythos gemeint. Hermeneutik bedeutet mehr, als die Interpretation von Einzelheiten, ja mehr, als die Summe aller Einzelinterpretationen: sie ist vielmehr eine geistige Unternehmung, die sich mit ihrer Absicht der Interpretation - der Verdolmetschung und Verdeutlichung - nie bloß auf Einzelheiten richtet. Hermeneutik entstand jeweils, wenn man empfand, daß Inhalte der Tradition, die bis anhin, in ihrer Ganzheit mit der ganzen Tradition verbunden, ohne besondere Erklärung, wie selbstverständlich überliefert und hingenommen wurden, einer besonderen Beschäftigung mit ihrem Sinn bedurften. Hermeneutisches Verhalten geht immer von der Überzeugung aus, daß die Zurückgewinnung des verlorenen Sinnes der ernstlichen Bemühung wert ist. Solche Überzeugungen sind bewegende Gründe in der Geistesgeschichte, die neben ihrem ursprünglichschöpferischen auch ihren hermeneutischen Aspekt besitzt." (o.c., Vorwort, IX.) (2) Allgemeines: Nach Kerényi ist das Urphänomen Mythos (das vor der Frage: echter oder unechter Mythos? anzusetzen ist und unabhängig von der Frage, ob es Irrtum enthält oder nicht) "eine Bearbeitung der Wirklichkeit. Keine abgeschlossene Bearbeitung! Die Bearbeitung geschieht. Auf solche Weise ist sie das Urphänomen Mythos. Zum Wesen des Mythos gelangen wir, wenn wir wissen, daß der Mythos eben die ihm eigene, nicht abgeschlossene Bearbeitung der Wirklichkeit ist."76 Die Bedeutung des Wortes Mythos sagt zunächst wenig. Bei Homer steht mythos in Gegensatz zu ergon: die Geschicklichkeit darin - in der Rede - wird der Geschicklichkeit in Taten (erga) entgegengestellt. Einer siegt mythoisi, mit beredten Worten, der andere - mit der Lanze. Im Munde K.Kerényi, Wesen und Gegenwärtigkeit des Mythos, München u.Zürich (Droemer/Knaur) 1965. S.128-144. Neubearbeitung in: o.c. 234-252. Zitat 240. 76 44 des Sophisten Protagoras, in Platons geichnamigem Dialog, steht mythos gegen logos: eine Art Belehrung gegen eine andere. Die erste ist bloße Erzählung ohne Beweisführung, mit offenem Eingeständnis der Unverbindlichkeit. Die andere kann zwar auch Erzählung oder Rede sein, ist aber ihrem Wesen nach Argumentieren und Begründen. In dieser Gegenüberstellung, die die philosophische Wertung des logos zur Voraussetzung hat, wird das, was damals wohl schon allgemein den Namen Mythos trug, notwendigerweise einseitig und zu seinem Nachteil beleuchtet. Die strenge Scheidung zwischen mytos und logos selbst wurde auf Grund einer rationalistischen Lehre, wohl der rhetorisch-sophistischen Synonymik vorgenommen. Herodot sagt noch ruhig logos dort, wo Protagoras und Sokrates, die wirklichen und die platonischen, mythos gesetzt hätten. Platon selbst bezeichnet beide - logos und mythos - als einen und denselben Teil der musischen Kunst. Eine bestimmte Wirklichkeit der griechischen Kultur wird in dem Einzelwort mythos weniger klar faßbar als etwa in Wendungen wie mythus legein, mythologeîn, mythología, wie sie sich bei Platon findet. Die Betätigung, die mit diesen Worten bezeichnet wird, ist für Platon eine Art der poíesis, des Dichtens. Sie scheint sich vom Gesang der Dichter nur durch ihre Prosaform zu unterscheiden. Platon beurteilt sowohl die Dichtkunst wie die Kunst der Mythologie von seinem philosophischen Standpunkt aus gleich negativ und macht daher keinen ernstlichen Versuch, sie klar voneinander zu unterscheiden. Dadurch, daß er die "Mythologie" neben und mit der Dichtkunst trotzdem in betracht zieht, beweist er unwillkürlich - und eben darum sicher -, daß er einem von jeder philosophischen Bestimmung und Umgrenzung unabhängig gegebenen Phänomen gegenübersteht. Poiesis ist in erster Linie "Machen", das erst nachträglich in etwas Gemachtes und demzufolge Vorhandenes - das Werk - mündet, auf das dann dieselbe Bezeichnung sekundär übertragen wird. Die andere Betätigung, die mythologia, wird lediglich ad analogiam von etwas schon Vorhandenem so benannt, sie ist immer als dessen Fortsetzung gedacht, sie setzt eine ältere, irgendwie feststehende, aber nicht in ihrer Art bereits ausgestorbene, starr daliegende mythologia voraus. Wer das Wort poiesis ausspricht, blickt nicht auf das Urbild zurück, sondern auf sein eigenes Schaffen, das das Werk hervorbringt. Wer aber sein Schaffen, wie der alte Platon seine "Stadtgründung" und "Gesetzgebung", eine mythologia nennt, denkt an eine ganz bestimmte Art von Schöpfungen, eine Art, die er wieder aufgenommen zu haben glaubt. So gelangen wir zu einem Begriff der Mythologie, der wenigstens dem griechischen Phänomen entspricht. Auf die Frage: Was ist Mythologie? - wird man antworten dürfen: Sie ist eine Kunst neben und innerhalb der Poesie (die Gebiete beider überschneiden sich vielfach), eine Kunst indes mit einer eigentümlichen Voraussetzung. Diese Voraussetzung ist stofflich. Es gibt eine eigentümliche Materie, durch die die Kunst der Mythologie bestimmt wird. Es ist eben die, an die wir denken, wenn wir das Wort Mythologie hören: eine alte, überlieferte Stoffmasse, enthalten in bekannten und doch nicht jede weitere Gestaltung ausschließenden Erzählungen (mythologíai oder mythologémata) von Göttern und göttlichen Wesen, Heroenkämpfen und Unterweltsfahrten. Mythen sind für den alten Griechen ein Identifikationsmittel. Bevor er etwas tut, sucht er in der Vergangenheit ein Vorbild, in das er gleichsam selbst schlüpft, wie ein spielendes Kind in seine Spielrolle. Bei einem solchen Verhältnis zwischen Mythologie und Leben ist die Frage müßig, aus welchem Grunde jene für wahr gehalten wurde. Die Vorliebe, die die Griechen für ihren Mythos hatten, gründete sich nach K.O.Müller auf eine Erfahrung: darauf, daß man sich in jener Mythologie vollkommen heimisch fühlte. Der antike Mensch fand in der Welt Grund genug, um seine Götter als real zu empfinden. "Glaube" gab nicht den Ausschlag. Als die Frage nach "Glauben oder Nichtglauben" überhaupt aufkam - sie wird vom platonischen Phaidros an Sokrates gerichtet: "Glaubst du, daß dieses Mythologem (die Boreas- und Oreithyia-Geschichte) wahr ist?" - bedeutete dies eine neue geistige Lage. Man beginnt sich unter Hippokentauren und Chimaeren, Gorgo und Pegasos, die Sokrates in seiner Antwort als ihn nicht mehr angehende urweltliche Gestalten und Ungestalten aufzählt, un-heimlich zu fühlen. Lebendige Mythologie wird gelebt, sie ist eine Ausdrucks-, Denk- und Lebensform - und dennoch ist sie stofflich. Sie ist keine bloße Form oder Art des Vorstellens. Mythologie setzt eine besondere mythologische Denkform oder "Weise des Bildens", oder wie immer sie genannt werden will, wohl voraus, doch setzt sie sie nicht mehr oder nicht weniger voraus als die Poesie eine poetische, die 45 Musik eine musikalische "Denkform". Im Mythos ist sozusagen alles göttlich. Götter sind die streitenden Vögel und die listigen Himmelskörper. Götter sind auch noch die Menschen - die Menschen der Urzeit. Unter allen Selbstverständlichkeiten der Mythologie ist das Göttliche das Selbstverständlichste: die Göttlichkeit von allem, was sich durch sie der Menschheit offenbart. Wie die musikalische Welt die tönende ist - die Welt in einer Tonwelt aufgelöst - so ist die mythologische die in Ausdrucksformen des Göttlichen aufgegangene Welt. Das Göttliche ist eine Tatsache der Religionsgeschichte. Die Kulte aller Völker sind nur als menschliches Reagieren auf das Göttliche zu verstehen. Und Kulthandlungen erscheinen ebensooft als Darstellungen von Mythologemen, wie Mythologeme sich als "Erklärungen" von Kulthandlungen darbieten. Kult und Mythologie beruhen auf demselben Weltaspekt. Dem modernen Menschen liegen beide gleich fern. Der Vergleich mit der Poesie und Musik wird vielleicht auch in dieser Hinsicht zu einem besseren Verständnis verhelfen. Kerényi sagt zur Frage: Was ist Mythologie?: "Die richtige Antwort auf diese Frage kann nur erhalten werden, wenn man sich wirklich mit echten, großen Mythologemen vertraut macht. Aber wenigstens ein vorbereitender Begriff und eine Anleitung zum Verständnis kann auch aus dem Gedanken geschöpft werden, daß das Göttliche zu seiner Ausdrucksform oft die Poesie oder die Musik wählt, doch - wie die ganze Menschheitsgeschichte bezeugt - am liebsten die Mythologie."77 (3) Im 20. Jahrhundert wurde die Beobachtung, daß die Bibel entmythologisierende Tendenzen aufweist, und zwar von der Schöpfungsgeschichte im Buch Genesis an, ebenso wie die Tatsache der religionsinternen Religionskritik (z.B. in den Propheten des Alten Testaments oder in der Pharisäerkritik Jesu im Neuen Testament) reflektiert und auf die Spitze getrieben. Die Diskussion um ein "religionsloses Christentum" oder um die "Entmythologisierung" ist derzeit keine offene Feldschlacht mehr, dafür ein dauernder Grabenkampf, dessen Ende noch nicht abzusehen ist. Auf diese theologische Problematik gehe ich hier ebenso wenig ein wie auf die philosophische, die Hans Blumenberg (1920-1996) mit seinem Buch "Arbeit am Mythos" aufgerissen hat (Frankfurt am Main, Suhrkamp 1979), und die sich an dem Staunen darüber entzündet, daß der antike Mythos in der gesamten abendländischen Geschichte bis heute eine solche Wirkmächtigkeit hat, auch ohne daß an seine Wahrheit geglaubt wird. (Wenn Sie durch das Kunsthistorische Museum gehen, können Sie den Wettkampf der beiden Bilderwelten des Mythos der Griechen und der Bibel verfolgen.) "Arbeit am Mythos" geht dem z.B. anhand des Prometheus-Mythos nach.78 Karl Kerényi, Was ist Mythologie? In: Europäische Revue 15, Juni 1939, S.318. Abgedruckt in: o.c. 212-233. Zitat 233. 78 Jörg Villwock, Mythos und Rhetorik. Zum inneren Zusammenhang zwischen Mythologie und Metaphorologie in der Philosophie Hans Blumenbergs. Philos. Rundschau 1/2, 1985. S.68ff. Blumenberg ist einer Idee von Aufklärung verpflichtet, deren Grundforderung in der Formel "Ausgang aus zwanghafter Bindung ans Vergangene" gefaßt werden kann. Es geht ihr um die Öffnung der Dimension der Zukunft, um das Freiwerden für die Geschichte durch ein Erinnern, das von den mythischen Determinationen der Geschichte zu befreien vermag. "Der Sinn für Geschichte ist zwar noch nicht Entschlossenheit für eine bestimmte Zukunft; aber es gibt überhaupt keine andere Sensibilisierung für eine Zukunft als die Einsicht in die Einzigkeit und Unwiederbringlichkeit des Vergangenen. Daß die Zukunft weder aus den Wachsfiguren der Vergangenheit noch aus den Imagines der utopischen Wünsche besteht, kann man nur an den Zukünften der Vergangenheiten lernen, die schon unsere Vergangenheit ausmachen" (AM 113) Vgl.Blumenberg AM 13f.: Welchen Ausgangspunkt man auch wählen würde, die Arbeit am Abbau des Absolutismus der Wirklichkeit hätte immer schon begonnen. Unter den Relikten, die unsere Vorstellung von der Frühzeit des Menschen beherrschen, sein Bild als das des tool-maker prägen, bleibt all das unauffindbar, was auch geleistet werden mußte, um eine unbekannte Welt bekannt, ein ungegliedertes Areal von Gegebenheiten übersichtlich zu machen. Dazu gehört das der Erfahrung 77 46 Was aber hier kurz angesprochen werden muß, ist die Haltung, die die griechischen Philosophen dem Mythos gegenüber einnahmen. Da gibt es das Hineinschlüpfen in das mythische Bild durch den Philosophen Parmenides in seinem Lehrgedicht. Dann das Bedauern eines Heraklit, daß den Menschen durch Nichtglauben(können) vieles an Wirklichkeit entgeht. Dann das Rationalisieren des Mythos teils durch Allegorese, also die Annahme mehrerer Sinnebenen, oder die Banalisierung im Sinn des Euhemeros, der den Mythos als phantastische Ausschmückung historischer Ereignisse auffaßte. Das Musterbeispiel für ein Philosophieren mittels des Mythos ( ein mytho philosopheîn, wie es Plut. Quaest Conv 1,1,3 nennt) ist Platon. Während sein Lehrer Sokrates weder ein Mythenbildner (Plato Phaed 61b: mythologikós) noch ein Mythenzerstörer wie die Sophisten war und dem Mythos kühl gegenüberstand (vgl. dazu Phaedr 229c-e), spielt er in Platos Dialogen in wachsendem Maß eine außerordentliche Rolle. Plato war mit den Mythen Homers aufgewachsen und bewahrte für sie zeitlebens die Gefühle der Liebe und Scheu. Er wehrte sich gegen die verächtliche Behandlung der Mythen durch die Gebildeten (Resp I 330 d: ...) Denn ihm sind sie bildhaft geformte Wirklichkeit jener nur im Glauben zugänglichen Bereiche des epékeina, des Jenseits. Das bedeutet: an die Mythen, so wie sie dastehen, vor allem an ihre bunte Götterwelt, glaubt Plato selbst nicht mehr; in seine große neue Lehre passen nur noch einzelne Stücke hinein, besonders solche, die sich auf das Schicksal der Seele beziehen. Platons eigene Mythen sind die Frucht einer phantastischen Kraft, die einerseits überlieferte mythische Elemente in schöpferischer Neubildung zu philosophisch-mythischen Aussagen umschmelzt, andererseits in eigenster Schöpfung neue mythische Gebilde als einzig adäquaten Ausdruck der darin enthaltenen Gedankenfülle hervorbringt. Die für Plato bezeichnende Vereinigung von logos und mythos hängt damit zusammen, daß seine Weltanschauungs-Philosophie gleichzeitig Heilslehre ist. Für seine Heilslehre, die um das Schicksal der menschlichen Seele kreist, bilden seine Mythen, in deren Mittelpunkt ebendieses Schicksal steht, die wertvollsten Quellen. Es sind das v.a. der Eros-Mythos im Symposion, der Jenseits-Mythos im Gorgias, Meno, Phaedo und Staat, der Welt- und Seelenmythos im Staat und im Phaedrus, der Schöpfungsmythos im Timaios. Das ist die Methode Platons, wie sie Origenes (Cels 4,39) ausdrückt: tà megála dógmata krypsai en tô toû mythou schémati. Der platonische Mythos ist verhüllend und enthüllend zugleich. Friedländer: "Er hat seinen Platz in Platons Dialog überall da, wo das Jenseits und die Fülle des Ideenhaften in dieses Leben hereinragt." Er ist also nicht nur Protophilosophie, bei Plato steht er vielmehr am Ende des philosophischen Wegs als letzte Weisheit. Aus Kritik und Zweifel am Mythos, das ist: an der ganzen überlieferten Religion, entstand einerseits die Erneuerung des Mythos durch Plato, der zahlreiche alte mythische Stücke hinüberrettet auf eine höhere Ebene der griechischen Religion, anderseits das allegorische Verständnis der Mythen, eine der weitestwirkenden Erscheinungen der Geistesgeschichte. (4) Im Zusammenhang mit dem antiken Mythos möchte ich noch darauf verweisen, daß die sog. „Dialektik der Aufklärung“, im Sinn des von Max Horkheimer und Theodor W. Adorno 1947 vorgelegten Werks, den Buchtitel „Vom Mythos zum Logos“ (von Wilhelm Nestle, Stuttgart Unzugängliche hinter dem Horizont. Den letzten Horizont, als den mythischen 'Rand der Welt', zu besetzen, ist nur der Vorgriff auf die Ursprünge und Ausartungen des Unvertrauten. Der homo pictor ist nicht nur der Erzeuger von Höhlenbildern für magische Jagdpraktiken, sondern das mit der Projektion von Bildern den Verläßlichkeitsmangel seiner Welt überspielende Wesen. Dem Absolutismus der Wirklichkeit tritt der Absolutismus der Bilder und Wünsche entgegen. Freud hat in 'Totem und Tabu' von der Allmacht der Gedanken als Signatur des archaischen Animismus gesprochen... 47 ²1942) gleichsam umkehrt, und daß darin eine geschichtsphilosophische Pointe liegt: Der Weg des Logos führt zu einem neuen Mythos. (Im „Mythos des 20.Jahrhunderts“ sogar bewußt!) Horkheimer-Adorno wollten den Nachweis erbringen, daß das moderne Leben seit der Aufklärung unter einem schwarzen Stern stehe: Wissenschaft und Rationalität, Selbstbehauptung und forschende Neugier schlugen im Verlauf einer groß angelegten Wirklichkeitsbemächtigung zurück in das Gewaltregime manisch-irrationaler Verfügungen, an deren vorläufigem Endpunkt die Schreckenstat von Auschwitz aufragte. Mindestens ebenso bittere Worte fanden die beiden Autoren für den Massenbetrug der westlichen „Kulturindustrie“. Das Buch machte erst in den späten 60er Jahren Furore und wurde zu einer Bibel marxistisch erregter Studenten, die hier nicht nur die Kritik am Kapitalismus wiederfanden, sondern auch den absolut gewordenen Verdacht gegenüber den bürgerlich-demokratischen Institutionen und Erfahrungen von der Familie bis zum angeblich bloß regressiven Kunst- und Kulturgenuß der herrschenden Gesellschaft. (5) Ein treffliches Beispiel für die fortgesetzte „Arbeit am Mythos“ ist Albert Camus’ „Der Mythos von Sisyphos“ (Le Mythe de Sisyphe, Paris 1942). „Die Götter hatten Sisyphos dazu verurteilt, unablässig einen Felsblock einen Berg hinaufzuwälzen, von dessen Gipfel der Stein von selbst wieder hinunterrollte. Sie hatten mit einiger Berechtigung bedacht, daß es keine fürchterlichere Strafe gibt als eine unnütze und aussichtslose Arbeit.“ (MS 98) Im Geschick des zu einem sinnlosen, absurden Unternehmen verurteilten Sisyphos findet sich der im Absurden lebende Mensch wieder, „Sisyphos ist der Held des Absurden“ (MS 99). Die griechische Mythologie berichtet auch die Gründe, die zur Verurteilung Sisyphos’ führten: seine Liebe zum Leben, sein Haß gegen den Tod und eine „gewisse Leichtfertigkeit im Umgang mit den Göttern“ (MS 98) haben Ihm dieses sinnlose Unterfangen aufgezwungen. Über den seine hoffnungslose Arbeit vollziehenden Sisyphos wird in der Mythologie nichts weiter berichtet. Wie verhält sich dieser Sisyphos zu seinem Schicksal, dem er nicht entgehen kann? Wie kann sich der absurde Mensch, dessen Dasein dem des Sisyphos so sehr gleicht, zu seinem Dasein verhalten? Der den Stein auf den Gipfel des Berges wälzende Sisyphos ist ganz und gar dieser Arbeit anheimgegeben, ist ganz und gar der Vollzug dieses Wälzens, ein Vollzug, der unveräußerlich und schweigend geleistet werden muß. Auf dem Gipfel des Berges angekommen, erfährt Sisyphos das Scheitern seines Unternehmens. Der Stein rollt wieder in die Tiefe, Sisyphos geht den Abhang hinunter. „Auf diesem Rückweg, während dieser Pause, interessiert mich Sisyphos ... Ich sehe, wie dieser Mann schwerfällig aber doch gleichmäßigen Schrittes zu der Qual hinuntergeht, deren Ende er nicht kennt. Diese Stunde, die gleichsam ein Aufatmen ist und ebenso zuverlässig wiederkehrt wie sein Unheil, diese Stunde ist die Stunde des Bewußtseins. In diesen Augenblicken, in denen er den Gipfel verläßt ... ist er seinem Schicksal überlegen. Er ist stärker als sein Fels.“ (MS 99) Sisyphos, der seinem Geschick, seinem Leben gegenübersteht, erfährt im Augenblick des „Bewußtseins“, in der Stunde der Theoria, da er innehält und vom Vollzug zurücktritt, seinen Sieg. In der „clairvoyance“ des Sisyphos seinem Geschick gegenüber kann er dieses Schicksal mit der Verachtung besiegen. „Sisyphos, der ohnmächtige und revoltierende Proletarier der Götter, kennt das ganze Ausmaß seiner unseligen Lage: über sie denkt er während des Abstieges nach. Das Wissen („la clairvoyance“), das seine eigentliche Qual bewirken sollte, vollendet gleichzeitig seinen Sieg. Es gibt kein Schicksal, das durch Verachtung nicht überwunden werden könnte.“ (MS 99) Im Augenblick, da er das Sinn- und Hoffnungslose seines Unterfangens nicht mit Illusionen auf ein Ende seiner Qual verdeckt, stimmt er nicht allein seinem Geschick zu, sondern macht er auch dieses Geschick zu seiner, ihm allein gehörigen Angelegenheit. „Darin besteht die ganze verschwiegene Freude des Sisyphos. Sein Schicksal gehört ihm. Sein Fels ist seine Sache.“ (MS 100) In dieser Aneignung des Geschickes bricht die Freiheit des zu einem absurden Dasein verurteilten Sisyphos auf. Dieser Exkurs über Sisyphos ist dem Buch von Peter Kampits, Der Mythos vom Menschen. Zum 48 Atheismus und Humanismus Albert Camus’ (Otto Müller Verlag Salzburg 1968), S. 71ff., entnommen. Die „clairvoyance“, von der da die Rede ist, hat Sie sicher – und mit Recht - an die Erkenntnis des Gnostikers erinnert, der durch sie den Weltmächten überlegen ist. (6) Zur Annahme eines gnostischen „Grundmythos“: Hans Jonas hat den Begriff des Grundmythos in einer von der religionswissenschaftlichen Mythologie abweichenden methodischen Absicht auf die Gnosis als spätantike Geistesformation angewandt. Es kam ihm nicht darauf an, damit die gemeinsamen und irreduziblen Grundzüge einer Vielfalt gnostischer Mythologeme zu einem Mustermythos herauszupräparieren, und genausowenig wollte er die ursprüngliche Einheit einer späteren Vielfalt nachweisen. Was er als den "autogenen einheitlichen Grundmythos" bezeichnet, ist die nicht überschreitbare, nicht nur faktisch so sich niederschlagende Darstellungsform der Selbstauffassung dieser Epoche, die er gnostisch nennt. Der Grundmythos ist erschlossener transzendentaler Geschichtsfaktor, "das gesuchte synthetische Prinzip für die Mannigfaltigkeit mythischer Objektivationen im gnostischen Auslegungsbereich." (Gnosis und spätantiker Geist, II/1. Von der Mythologie zur mythischen Philosophie. Göttingen 1954, 1.) Der Grundmythos, wie Jonas ihn nimmt, ist also kein historisch-literarisch vorkommendes Faktum. Er ist als Strukturschema für solche Fakten und Belege, also für die tatsächlich nachweisbaren Mythen oder mythenähnlichen Konstrukte, ein dynamisches Prinzip der Sinnstiftung. (Vgl. Blumenberg, Arbeit am Mythos 198.) 3.4 Dualismus 3.4.1 Aspekte des gnostischen Dualismus Der "gnostische Mythos" wird thematisch charakterisiert vom Valentinianer Theodotos: Gnosis sei "die Erkenntnis dessen, wer wir waren, was wir geworden sind, wo wir waren, wohin wir geworfen wurden, wohin wir eilen, wovon wir erlöst werden, was Geburt und was Wiedergeburt ist"79 Die Grundgestalt, die den äußerst vielfältigen, schwer zu systematisierenden Objektivationen (Kunstmythen) der Gnosis gemeinsam ist, läßt sich durch ein Modell veranschaulichen, das die vielen Idealtypen, die sich aus den Schriften der gnostischen Gemeinschaften formen lassen, unter einem gemeinsamen Nenner vereinigt. Die Grundstruktur des gnostischen Mythos bildet ein Dualismus, der zwei Aspekte aufweist: (1) ein Dualismus besteht zwischen der überweltlichen, geistigen, guten Gottheit, ihrer Sphäre (Pleroma) und ihren Lichtwesen (Aionen) einerseits und dem inferioren, unwissenden Weltschöpfer (Demiurgen), seinen Archonten (Planetengeistern usw.), der Materie, dem Kosmos und der Menschenwelt anderseits. Für die Gnosis ist die Unterscheidung zwischen höchster Gottheit und niederem Demiurgen immer wesentlich, wobei dieser je nach dem System unterschiedlich beurteilt wird. Entweder gilt er als (mehr oder weniger) böse, unwissend und widergöttlich, oder er wird als depraviertes Lichtwesen gedacht, das jedoch zuletzt in das Lichtreich zurückkehrt (wie im Mandäismus). Eine Mittelstellung hat der Demiurg z.B. bei den Valentinianern, bei denen er nach dem Weltende zu relativem Heil gelangt. Eine günstigere Beurteilung des Weltschöpfers besagt jedoch nicht, daß die Existenz des Bösen in seinen mannigfaltigen Hypostasierungen entschärft würde. Die gnostische Charakterisierung des Weltschöpfers, der meist mit dem Schöpfergott des abgewerteten bzw. verworfenen AT identifiziert wird, und seine radikale Unterscheidung von der höchsten Gottheit schließen aus, daß die jüdische Esoterik (oft jüdische Gnosis genannt), die ja am Monotheismus festhält, unter unseren Begriff von Gnosis fällt. Der Manichäismus jedoch ist eine Exc. ex Theodoto 78,2. Abgedruckt in: Die Gnosis. 1.Bd. Kirchenväter, ed. Werner Foerster, Artemis, Zürich 1969, S.297. 79 Zeugnisse der 49 Gnosis, obwohl der Demiurg dort eine Lichtgottheit ist, die auf Befehl des guten Gottes den Kosmos zur Ausläuterung des von der Finsternis verschlungenen Lichts errichtet. (2) ein Dualismus, der dem eben beschriebenen notwendig entspricht, besteht zwischen dem göttlichen Geist-Selbst des Menschen (bzw. des Gnostikers) einerseits und dem Weltschöpfer samt seinen Mächten und deren Schöpfungen (Kosmos, Materie, Körper, Schicksal, Zeitlichkeit) anderseits. o Die demiurgischen Mächte schaffen sowohl den menschlichen Körper, in dem göttliches Licht als dessen Geist-Selbst gefangengesetzt wird, als auch eine Potenz (oft als psyché, aber auch anders bezeichnet), die dem Menschen eingepflanzt wird, um sein Geist-Selbst zu betäuben und ihn so in der Welt der Finsternis zurückzuhalten. Meist wird also in der Gnosis ein trichotomes anthropologisches Schema angenommen: der Mensch (bzw. der Gnostiker) besteht aus dem Geistselbst (genannt: spiritus, humectatio luminis, auch anima u.a.; griech und koptisch pneuma, nous, psyché u.a.) einerseits und aus dem Körper und der oft psyché genannten dämonischen Potenz anderseits. Hinter dieser Dreiteilung scheint ein zweigliedriges Schema durch, da ja die dämonisch-planetarische psyché eher zur Finsternis gehört als zum Licht. Da oft das Geist-Selbst in den Texten psyché heißt, im Gegensatz zu jenen Dokumenten, in denen die verdunkelnde Potenz im Menschen diesen Namen trägt, ergibt sich die Bedeutung von psyché jeweils aus dem Kontext. o Die Gefangenschaft des Lichtes in der Materie wird in der Gnosis meist mit folgenden Vorstellungsreihen begründet, in denen Vorgeschichte und Entstehung von Weltschöpfermächten, Kosmos und Mensch entworfen sind: In den Systemen des "syrisch-ägyptischen" Typus der Gnosis stürzt ein göttliches Wesen aus dem Lichtreich ab und verursacht so die Entstehung der Weltschöpfermächte, der Welt und des Menschen: das Böse entsteht aus dem Lichtreich über den Umweg eines tragischen Falles durch Emanation. Das Wesen, das abfällt, ist entweder eine männliche Figur (anthropos = "Mensch" bzw. "Urmensch", z.B. im Poimandres des Corpus Hermeticum oder bei den Naassenern) oder eine weibliche Hypostase, wie die Sophia der valentinianischen und verwandter Systeme. Ursache des Sturzes ist ágnoia bzw. páthos; die sinkende Figur ist ein kosmogonisches Prinzip als Ursache des Weltwerdens und ein anthropologisches, da sie das Geist-Selbst des Menschen konstituiert, das als Teil bzw. Hervorbringung der Lichthypostase erscheint. Im "iranischen" Typus der Gnosis wird die Finsternis, das Böse, nicht aus dem Lichtreich emaniert, sondern Licht und Finsternis stehen sich als uranfängliche, eigenständige Reiche gegenüber. Ein Angriff der Finsternis auf das Licht ist die Voraussetzung, daß Licht in die Gefangenschaft der Finsternis gerät, wie der manichäische Urmensch (bzw. seine Lichtelemente). Die Ursache seines Abstiegs aber ist der Wunsch des Lichts, die Finsternis durch Kampf oder durch Selbstopfer zu überwinden. Repräsentativ für diesen Typus, der auch in Überschneidung mit dem "syrischägyptischen" Typus auftritt, ist der Manichäismus. Die Lichthypostasen, als deren "Teile" die in der Welt gefangenen Lichtfunken oft gedacht werden, sind in unterschiedlicher Weise am Erlösungswerk beteiligt, was die Forschung vereinfachend mit den Modellen vom "Erlösermythos", "Urmenscherlösermythos" (bzw. "salvator salvatus", "salvator salvandus") ausdrücken will. Das zu erlösende, abgesunkene Licht ist oft je nach dem System verschieden lokalisiert: Es wird vorzugsweise im menschlichen Körper eingeschlossen gedacht, existiert aber auch bisweilen außerhalb des Menschen in den Archonten und in der Natur (Manichäismus). o Die Frage, ob alle Menschen ein Geist-Selbst haben oder ob dieses und damit die Möglichkeit der Erlösung nur einem Teil der Menschheit zukommt, beantwortet die Gnosis unterschiedlich: (1) In der einen Systemgruppe haben alle Menschen einen Lichtfunken, wobei je nach dem System die Frage nach der Rettung der Gesamtheit des gefallenen Lichtes bejaht bzw. verneint wird. (2) Die andere Gruppe scheidet die Menschen grundsätzlich in solche, in denen Licht 50 eingekörpert ist und die daher gerettet werden (Pneumatiker), und in solche, die keinen Lichtfunken besitzen und daher zugrunde gehen (Hyliker). Im Valentinianismus z.B. wird noch eine mittlere Kategorie (Psychiker) eingeführt, die eines relativen Heiles fähig ist, soferne sie nach großkirchlichen Vorschriften lebt. Die Seelenwanderungslehre findet sich in zahlreichen Zeugnissen beider Systemgruppen, da sie wichtig für die sukzessive Aussonderung der Lichtfunken ist. Das abgesunkene Licht wird durch den Ruf gnostischer Offenbarung an den Pneumatiker zur Gnosis erweckt, wodurch die Aufstiegsphase des "Mythos" in Richtung auf Individual- und Universaleschatologie beginnt. Die praktische Bewährung des Gnostikers im Sinne ethischen Handelns ist grundsätzlich durch zwei extreme Positionen markiert: einerseits ein akosmischer, radikaler Asketismus, anderseits ein akosmischer, antinomistischer Libertinismus (Antinomismus ist aber nicht immer Libertinismus, vgl. Markion). Die Position indifferenten Handelns bildet eine relativ selten bezeugte Mitte. Diesen ethischen Haltungen liegt der gnostische anthropologische Geist-Materie-Dualismus mit der Ablehnung des Weltschöpfers und seiner Werke zugrunde. In dieser Ablehnung bewährt der Gnostiker seine negativ vermittelte weltüberlegene Freiheit. In der gnostischen Eschatologie hat die Individualeschatologie den Vorrang, die als endgültige Erlösung unter dem Mythologumenon des postmortalen Seelenaufstiegs durch die Planetensphären gedacht und durch rituelle und magische Praktiken vorbereitet werden kann. Die Individualeschatologie wird aber nicht von der Hoffnung auf die dereinstige Reintegration des gesamten errettbaren gefallenen Lichts im Pleroma getrennt. Nach der Reintegration tritt das Ende der Welt als endgültige Scheidung des Göttlichen vom Nichtgöttlichen ein. In der irreversiblen Bewegung des Gesamtprozesses auf das Eschaton hin liegt die eschatologische Orientierung der Gnosis. Der gnostische Geist-Materie-Dualismus läßt die Hoffnung einer eschatologischen Erneuerung der Schöpfung und leiblicher Auferstehung nicht zu. 3.4.2 Der gnostische Dualismus im religionsgeschichtlichen Vergleich Die Religionsgeschichte kennt verschiedene Vorstellungen vom Wirken zweier mehr oder weniger unabhängiger Gottheiten oder Prinzipien, die für die unterschiedlichen Zustände in der Welt verantwortlich gemacht werden. Eine der bekanntesten ist der iranisch-zoroastrische Dualismus, der einen guten und einen bösen Gott an den Anfang des Weltgeschehens stellt und dieses von dem Kampf der beiden beherrscht sein läßt, bis der gute Gott mit Hilfe seiner Anhänger am Ende der Zeiten den Sieg davonträgt. Dieser Dualismus ist allerdings ein wesentlich ethisch ausgerichteter, da er auf die religiös-moralische Einstellung und Haltung entscheidenden Wert legt und die Gegensätze "gut" und "böse" nicht mit denen von "geistig" und "körperlich" bzw. "materiell" zusammenfallen, sondern auch die letzteren durchziehen. Dieser Dualismus hat einen großen Einfluß auf die Gnosis gehabt. Anders steht es mit dem stärker philosophisch orientierten Dualismus Platons, der für das griechische Denken und dann für die ganze Spätantike von großer Bedeutung geworden ist. Er kennt die beiden Seinsebenen: die geistigen ewigen Ideen und deren vergängliche materielle (räumliche) Abbilder, die den Kosmos bilden; letztere bedeuten zwar einen Seinsverlust, gehören aber trotzdem zum guten Teil der Schöpfung (für den schlechten Teil hat Platon schließlich eine "schlechte Weltseele" verantwortlich gemacht). Dieser "ontologische" oder "metaphysische" Dualismus ist gleichfalls eine Voraussetzung des gnostischen. Schließlich könnte man noch auf den indischen Dualismus zwischen Sein und Schein oder Werden hinweisen, der verschiedentlich für die Gnosis herangezogen wurde, der aber wegen seiner ganz 51 anderen Orientierung für sie nicht in Frage kommt (er hat eher mit dem platonischen Gemeinsamkeiten). Es gibt noch eine Reihe anderer Dualismen, die mehr oder weniger radikal, gemischt oder dialektisch ausgerichtet sind und deren Typologie zu dem interessanten Arbeitsfeld der vergleichenden Religionswissenschaft gehört. Der gnostische Dualismus unterscheidet sich von diesen vor allem in dem einen wesentlichen Punkt, daß er "antikosmisch" ist, d.h., zu seinem Konzept gehört eine eindeutig negative Bewertung der sichtbaren Welt einschließlich ihrer Urheber; sie gilt als Reich des Bösen und der Finsternis. Die Gleichsetzung von "Böse" und "Materie", die im iranisch-zoroastrischen Denken nicht anzutreffen ist, findet sich in der Gnosis als grundlegende Auffassung. Auch im griechischen Denken läßt sich - bis auf gewisse, allerdings unsicher datierbare orphische Lehren - keine solche "gegenweltliche" Ausrichtung des Geist-Körper-Dualismus nachweisen. Die griechische Konzeption ist eindeutig "prokosmisch", und kein geringerer als der führende Kopf des Spät- oder Neuplatonismus Plotin (3.Jh.n.Chr.) hat diese Haltung gegenüber der Verteufelung des Kosmos verteidigt. In seinem ersten Traktat "Über die Vorsehung" heißt es daher mit deutlich antignostischer Spitze: "Niemand darf deshalb an unserem Weltall mäkeln, es sei nicht schön oder nicht das vollkommenste der mit dem Leibe behafteten Wesen; noch auch mit dem Urheber seines Daseins hadern, schon darum nicht, weil es zwangsläufig ins Dasein getreten ist, nicht auf Grund einer Überlegung, sondern weil die höhere Wesenheit nach dem Gesetz der Natur ihr Ebenbild hervorbrachte." (Enn. III, 2, 3) Ist auch die Welt nicht vollkommen, da sie nur Anteil am höchsten Sein hat und von der Materie getrübt ist, so ist sie doch als Produkt des Weltplans "so schön, daß es keine andere gibt, die schöner wäre als sie." (a.a.O. III 2, 12) Das gleiche gilt vom Menschen: Er ist "insofern ein vollendetes Geschöpf, als ihm vollendet zu sein vergönnt ist." (a.a.O.III 2,9) Eine eigene Schrift "Gegen die Gnostiker" nimmt sich vor allem deren Ansicht vor, daß der Kosmos und dessen Schöpfer schlecht seien. (Enn. II 9, 13) 3.5 Der unbekannte Gott Aus dieser Polemik eines Platonikers werden die Sonderstellung der gnostischen Weltbetrachtung und ihre Konsequenzen sehr deutlich. Sicherlich gibt es gewisse Gemeinsamkeiten zwischen gnostischen und platonischen Auffassungen, die sich jetzt in einigen der Nag-Hammadi-Texte leicht nachweisen lassen, sei es in der Kosmologie oder der Psychologie, aber der trennende Graben läßt sich nicht übersehen. Der positive Pol des gnostischen Dualismus ist eine "Überwelt", die, sehr unterschiedlich und differenziert geschildert, in der Annahme eines (bisher) unbekannten, unweltlichen, neuen Gottes gipfelt, der jenseits aller sichtbaren Schöpfung residiert und der eigentliche Herr des Alls ist. Die Welt ist nicht sein Werk, sondern das eines untergeordneten Wesens. Aber er nimmt trotzdem auf verschiedene Weise zum Heil des Menschen Einfluß; es ist die "Vorsehung" (prónoia), die hier zum Ausdruck kommt. Diese Gottesvorstellung der Gnosis ist eine Gegenstiftung zu allen bisher "bekannten" Weltgöttern, die in ihrer Beschränktheit - man spricht sogar von ihrer Dummheit - den wahren Gott nicht kennen und deshalb handeln, als ob es ihn nicht gäbe. Dieser weltferne Gegengott, der oft das charakteristische Attribut des "Fremden" trägt, ist eigentlich nur negativ zu umschreiben oder in Bildern, die seine unnachahmliche, von jeglicher Weltbeziehung freie Stellung ausdrücken wollen. Einer der geistreichsten Gnostiker, Basilides (2.Jh.), soll nach der Darstellung des Hippolyt vom uranfänglichen, "nichtseienden Gott" gesprochen haben. Die Schule seines jüngeren Zeitgenossen Valentinos behauptete, "daß in unsichtbaren und unmenschlichen Höhen ein vorseiender, vollkommener Äon (d.i. eine überweltliche Wesenheit) sei, den sie 'Voranfang', 'Vorvater' und 'Urgrund' (bythos) nennen, er sei unfaßbar und unsichtbar, ewig und ungeworden (oder: ungezeugt) und sei in großer Ruhe und Stille in unendlichen Zeiträumen (Äonen) gewesen". (Irenäus, Adv.haer. 52 I 1) Ähnliche Auffassungen von der Unbekanntheit Gottes trugen schon die ältesten Gnostiker, wie Simon und Menander, vor. In dieser theologischen Tradition der Gnosis steht auch Marcion (1.Hälfte des 2.Jh.), der sein "Evangelium vom fremden Gott" (Harnack) durch eine scharfe Trennung von (bösem) Schöpfer- und (gutem) Erlösergott begründete und der zu den originellsten frühchristlichen Denkern gehört. Besonders eindrückliche Zeugnisse geben uns die neuen koptischen Texte der verschiedensten Schattierungen. Das "Philippusevangelium" entwickelt eine grundsätzliche Umwertung und Relativierung der "Namen", d.h. der Bezeichnungen, die den irdischen und himmlischen Dingen herkömmlich gegeben werden, aus der Erkenntnis heraus, daß gegenüber der wahren Überwelt die irdische Sprache versagt, vor allem wenn sie durch die Tradition festgelegt ist. "Die Namen, die man den kosmischen (Dingen) gibt, verursachen eine große Irreführung: denn sie wenden ihren (der Menschen) Sinn von den Feststehenden zu den Nichtfeststehenden (Dingen). Wer 'Gott' hört, erkennt nicht das Feststehende, sondern das Nichtfeststehende." NHC II 3, 53 (101), 23-29. So geschieht es auch mit den Namen "Vater", "Sohn", "Heiliger Geist", "Leben", "Licht", "Auferstehung" und "Kirche", die keine Bedeutung vor der Ewigkeit, dem Äon haben. a.a.O. 53 (101), 29 -54 (102), 2. Die Namen dieser Welt gehören dem Irrtum an; sie sind von den Archonten (bösen Weltherrschern) zur Irreleitung der Menschen eingeführt worden. a.a.O. 54 (102), 18-24. Im Licht dieser Fakten ist auch der spätere abendländische sog. "Nominalismus" zu bedenken. Auch der böse Dämon, den Descartes einführt, um seinen archimedischen Punkt zu gewinnen, ist keine so willkürlich eingeführte Denkmöglichkeit, wie es bei seiner Lektüre scheinen könnte, sondern knüpft an diese alte Tradition der Gnosis an. Hier ist wieder ein Handout <6,1> fällig, und zwar aus dem sog. "Apokryphon des Johannes". Das ist eine Schrift, die sich in Kreisen der christlich-häretischen Gnosis großer Beliebtheit erfreute. Sie liegt nun in vier Versionen vor, alle in koptischer Sprache, von denen uns die ChenoboskionBibliothek drei erhalten hat. Alle diese Texte sind Übersetzungen, die letztlich auf unbekannte griechische Vorlagen zurückgehen.80 In dieser "Geheimschrift des Johannes" steht einleitend als Mitteilung des erhöhten Christus: "Das Pneuma, das eine höchste Herrschaft ist, wird von niemandem beherrscht. Der Gott der Wahrheit, der Vater des Alls, das Heilige Pneuma, der Unsichtbare, der über dem All ist, der Bestand hat in seiner Unvergänglichkeit, er ist im reinen Licht, in welches kein Auge zu schauen vermag. Er ist das Pneuma, das man nicht als Gott, oder als ein in bestimmter Weise geartetes Wesen Die erste Version des AJ ist in dem 1896 entdeckten Papyrus Berolinensis 8502 (abgekürzt BG - Berolinensis Gnosticus) auf den Seiten 19,6-77,7 enthalten u.wurde von W.C.Till ediert (Die gnostischen Schriften des koptischen Papyrus Berolinensis 8502, Berlin 1955, Seite 78-195). Die anderen Versionen wurden ediert in: M.Krause und P.Labib. Die drei Versionen des Apokryphon des Johannes im Koptischen Museum zu Alt-Kairo, Wiesbaden 1962. Das AJ ist einer der wenigen gnost.Texte, die relativ früh bezeugt sind. Irenäus benützte um 180 in seinem Bericht über die Barbelognostiker (adv.haer.I,29) einen griech. Text des AJ, der aber nicht d.unmittelbare Vorlage einer d.koptischen Versionen ist, wobei der Häresiologe in seinem Referat allerdings nur den ersten Teil der Schrift berücksichtigt. Das Verhältnis der vier erhaltenen Versionen untereinander und auch die Relation der koptischen Texte zu dem Exzerpt des Irenäus bedürfen noch der Klärung. Der Textausschnitt, den ich hier vorlege, ist öfter übersetzt von W.C.Till, R.Haardt, M.Krause, K.Rudolph. 80 53 denken soll. Er überragt nämlich die Götter. Er ist eine Herrschaft, über die niemand herrscht, denn nichts entstand vor ihm, noch bedarf er ihrer (pl.). Des Lebens bedarf er nicht, ist er doch ewig. Nichts benötigt er, ist er doch unvollendbar, da er nicht der Vollendung bedürftig war, sondern zu jeder Zeit vollkommene Vollendung ist. Er ist Licht. Er ist unbegrenzbar, weil niemand vor ihm ist, ihn zu beurteilen, der Unermeßliche, weil kein anderer ihn ermessen hat, der vor ihm gewesen wäre. Der Unsichtbare, weil niemand ihn sah. Der Ewige, der immer ist. Der Unbeschreibbare, weil niemand ihn erfaßt hat, um ihn zu beschreiben. Der, dessen Name unsagbar ist, ist doch niemand vor ihm, um ihm einen Namen zu geben. Dieser ist das unermeßliche Licht, die heilige, lautere Reinheit, der Unbeschreibliche, der vollkommen und unvergänglich ist. Er ist weder Vollendung noch Seligkeit noch Göttlichkeit, sondern er ist etwas, das bei weitem vortrefflicher als diese ist; noch ist er etwas, das vortrefflicher als dieses ist. Er ist nicht körperlich noch körperlos. Er ist nicht groß und nicht klein. Er ist keine Größe und kein Geschöpf und niemand kann ihn erfassen. Nichts von allem, was existiert, ist er, sondern etwas, das vortrefflicher als dieses ist. Nicht als ob er vortrefflicher wäre, sondern weil er sein Eigener ist, hat er keinen Anteil an einem Aion. Zeit kommt ihm nicht zu, denn an dem, der Anteil an einem Aion hat, haben andere geformt. Und Zeit wurde ihm nicht zugerechnet, da er von keinem anderen, der zurechnet, etwas empfängt. Und er bedarf keiner Sache. Überhaupt existiert niemand vor ihm. Er verlangt nur nach sich selbst in der Vollkommenheit des Lichtes, er begreift das lautere Licht. Die unermeßliche Größe, der Ewige, der Ewigkeit schenkt, das Licht, das Licht schenkt, das Leben, das Leben schenkt, der Selige, der Seligkeit schenkt, die Gnosis, welche Gnosis schenkt, der allzeit Gute, der Gutes schenkt, der Gutes tut, nicht weil er es besitzt, sondern weil er Barmherzigkeit und Erbarmen übt, die Gnade, die Gnade schenkt, das unermeßliche Licht. Was werde ich dir sagen über ihn, den Unbegreiflichen, der da ist die Gestalt des Lichtes gemäß dem, was ich werde begreifen können. Wer ist er, der ihn jemals begreifen wird, in der Weise, in der ich mit dir werde sprechen können?" Pap.Ber. 22,19-26,2. In ähnlicher Weise spricht der Verfasser des Eugnostosbriefes über den "Gott der Wahrheit", den er als erlösende Erkenntnis allen anderen philosophischen Lehren gegenüber verkündet: "Der, welcher existiert, ist unbeschreiblich, keine Urkraft (arché) hat ihn erkannt, keine Macht, keine Unterordnung, nicht irgendeine Kreatur, seit dem Anfang der Welt, außer er allein." NHC II 3, 71, 13-18. Er ist allem entgegengesetzt, was Vergänglichkeit und Mangel, Unselbständigkeit oder Begrenzung an sich hat. Man nennt ihn zwar "Vater des Alls", aber wahrheitsgemäßer ist er nicht "Vater", sondern "Vorvater". Er ist der Anfang allen Wissens und Ursprung dessen, was offenbar ist. Es ließen sich noch mehr Beispiele (z.B. aus dem Schrifttum der Mandäer) beibringen, die zeigen, daß die gnostische Gottesauffassung von einem Gegensatz zu allen bisherigen Konzeptionen diktiert ist und so geradezu revolutionären Charakter hat. Sicherlich ist die Terminologie der zeitgenössischen Philosophie verpflichtet; auch gewisse Übereinstimmungen im Weltaufbau lassen sich nachweisen (Plotin weiß das sehr genau), aber der dahinterstehende weltfeindliche Ton läßt sich nicht überhören. Die Entsprechung zu dem nur negativ umschreibbaren "höchsten Wesen", dem unbekannten Gott", ist die Offenbarung seines Geheimnisses durch Mittlerwesen an die Auserwählten, die dadurch zur "Erkenntnis" des (bisher) Unbekannten befähigt werden. Kurt Rudolph: "Die gnostische Gottesidee ist daher nicht nur ein Produkt des weltfeindlichen Dualismus, sondern sie ist zugleich auch eine Konsequenz des esoterischen Erkenntnisbegriffs: Die "Gnosis" vermittelt das Geheimnis und führt aus der Unwissenheit über den wahren Gott heraus." (o.c., 74) Von hier aus kommen wir zu Fragen wie die folgenden: (1) Ist dieser "unbekannte Gott" der Gnosis der "unbekannte Gott", auf den Paulus anspielt in der Apostelgeschichte bei seiner Predigt auf dem Areopag? 54 (2) Was unterscheidet Agnostizismus von negativer Theologie? (3) Ist das Abstrahieren von allem dem Menschen Vertrauten, Erfahrbaren, Definierten, Bestimmten, wie es eine solche negative Theologie verlangt, Grundlage auch eines abstrahierenden Kunstwollens? (4) Unde malum - woher kommt das Böse? Es ist nicht möglich, alle Fragen, die in diesem Zusammenhang auftauchen, seriös zu verfolgen. Daher nur ein paar Hinweise. 3.5.1 Ein wichtiges Buch, das schon im Jahr 1912 erschienen ist, stammt von Eduard Norden: Agnostos Theos. Untersuchungen zur Formengeschichte religiöser Rede. Es ist 1956 in der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft Darmstadt fotomechanisch nachgedruckt worden. In diesem Buch ist zusammengetragen, was Gelehrsamkeit herausfinden konnte bezüglich der Missionspredigt des Paulus in Athen. Apg.17,16-34: "Athener, nach allem, was ich sehe, seid ihr besonders fromme Menschen. Denn als ich umherging und mir eure Heiligtümer ansah, fand ich auch einen Altar mit der Aufschrift "Einem unbekannten Gott". Was ihr verehrt, ohne es zu kennen, das verkünde ich euch..." - Kurzfassung seiner Theologie: "denn in ihm leben wir, bewegen wir uns und sind wir...". Norden führt uns in seinem Buch auf die Spur der Auseinandersetzung der Griechen mit dem merkwürdigen Gott der Juden. In einem Scholion zu Lukanus II 531 ff. heißt es: "Livius de Iudaeis: 'Hierosolymis fanum cuius deorum sit non nominant, neque ullum ibi simulacrum est, neque enim esse dei figuram putant'." Bei Gelegenheit seiner Erzählung von der Besetzung Jerusalems und der Eroberung des Tempelberges durch Pompeius hatte Livius über den Tempel und den in diesem bildlos verehrten Gott gehandelt, dessen Namen die Gläubigen nicht aussprechen. Lucanus nennt diesen Gott incertum deum, Laurentios Lydos (perì menôn) übersetzt den incertum deum des Lucanus genau mit ádelon, während er das von ihm im Lucanusscholion gefundene Liviuszitat in die Worte zusammendrängt: der dort verehrte Gott sei ein ágnostos theós. Die Prädikation Gottes als ágnostos ist in rein-griechischen Urkunden nicht nachweisbar. Für hellenische Spekulation war das auch kaum erträglich: es hätte ja den Verzicht auf Forschung überhaupt bedeutet. "Quid Athenis et Hierosolymis? quid academiae et ecclesiae? nobis curiositate opus non est post Christum Iesum nec inquisitione post evangelium" - das ist das Manifest des Philosophenfeindes Tertullian de praescr. haer. 7. Platon dagegen hatte das Wort gesprochen: "Also den Urheber und Vater dieses Weltalls aufzufinden, ist schwer, nachdem man ihn aber auffand, ihn allen zu verkündigen, unmöglich." (Tim. 28 c). Er hatte von diesem Weltvater gesagt, sein Wesen sei noései metà lógou perileptón (28a), und diese seine Schrift mit den Worten geschlossen, daß diese Welt sei eikòn toû noetoû theòs aisthetós (Abbild des denkbaren als ein sinnlich wahrnehmbarer Gott). "Mag nun in späterer Zeit infolge des fortschreitenden Verlustes der Diesseitsbejahung und naiven Lebensfreude die Distanz zwischen Gott und Mensch auch noch so sehr vergrößert und, parallel dazu, beim Erlahmen hellenischer Forscherkraft die Hoffnung, das höchste Wesen erkennen zu können, auch immer weiter hinausgerückt worden sein: die Möglichkeit seiner vernunftmäßigen Erkennbarkeit überhaupt ist von den Positivisten nie in Frage gestellt worden." (Norden aaO 85). Das Gemeinsame aller Zeugnisse für den ágnostos theós ist, daß dieser Gott, den die Menschen aus sich selbst heraus nicht zu erkennen vermögen, sich ihnen durch Offenbarung zu erkennen gab: diese Offenbarung ist sein Gnadenbeweis für die in agnosía dahinlebende Menschheit. Die gnôsis theoû kann also gar nicht eine Errungenschaft des Intellekts sein, sondern sie ist das Gnadengeschenk Gottes für ein seiner Sündhaftigkeit sich bewußtes und daher für diese Gnade Gottes empfängliches Gemüt. So werden wir von der Betrachtung des negativen Begriffs zu dem positiven hingeführt: der Begriff ágnostos theós setzt die Möglichkeit der gnôsis voraus. (Vgl. 55 Norden aaO 81). Die sehr alte (2.Jh.?) Praefation vom Weihnachtsfest faßt es in Gebetform zusammen: "quia per incarnati verbi mysterium nova mentis nostrae oculis lux tuae claritatis infulsit, ut, dum visibiliter deum cognoscimus, per hunc in invisibilium amorem rapiamur." ("Durch die Menschwerdung des Logos erstrahlt den Augen unseres Geistes das neue Licht Deiner Herrlichkeit, damit wir, indem wir Gott sichtbar erkennen, durch ihn zur Liebe zu den unsichtbaren Dingen hingerissen werden.") Soviel zum Stichwort "Der unbekannte Gott". 3.5.2 Auf die Spur der "negativen Theologie" werden wir demnächst im Zusammenhang mit Philon von Alexandrien kommen. 3.5.3 Ein anderer Hinweis: Wie ist das mit der Abstraktion als wesentliches Element auch unserer modernen Kultur? Ich meine damit nicht die Tendenz der neuzeitlichen Physik, aus dem Bereich des Vorstellbaren auszuwandern in völlig unanschauliche Zahlenverhältnisse. Ich will nur auf die Kunsttheorie verweisen, weil hier die Verklammerung geschehen sollte zwischen dem, was die Menschen einer Epoche für theoretisch wichtig und wahr halten, und dem, was sie imstande sind, sinnlich wahrzunehmen, mit ihrer Erfahrungsfähigkeit. Für das 20. Jahrhundert hat großen Einfluß die Kunsttheorie Wilhelm Worringers 81 gehabt, die von Th. Lipps' Ästhetik ausgegangen war. Nach Lipps heißt ästhetisches Genießen "mich selbst in einem von mir verschiedenen sinnlichen Gegenstand genießen, mich in ihn einzufühlen" (Einfühlung, 1903). Eine solche Ästhetik ist eine subjektive: "Die Form eines Objektes ist immer das Geformtsein durch mich, durch meine innere Tätigkeit." "Ästhetischer Genuß ist objektivierter Selbstgenuß", ist Genuß des eigenen Lebens, das im Objekt sich darbietet. In dieser Ästhetik ist ein Moment bestimmt, mit dem man zu allen Zeiten ästhetisches Erleben charakterisierte, insoferne es sich um ein Eingehen in Gegebenes mit der ganzen eigenen Lebensschwingung handelt. Der Fall, wo sich innerhalb des Kunstwerks formale Vorgänge abspielen, die den natürlichen organischen Tendenzen im Menschen entsprechen, ist aber für Worringer nur eine grundsätzliche Möglichkeit der Kunst. Er findet, daß diese Einfühlung am Beispiel der "starren" Pyramiden und byzantinischen Mosaiken versagen muß. So stellt er seine Gegenthese auf: dieser Prozeß der Einfühlung in ein Naturobjekt war nicht immer Voraussetzung künstlerischen Schaffens. Eine zweite Voraussetzung ist für Worringer A. Riegls Begriff Kunstwollen. Form kommt nicht aus der Natur, sie wird der Natur auferlegt. Sie entsteht aus der Auseinandersetzung. Kunstgeschichte wird eine Geschichte des Wollens, dem erst sekundär das Können folgt. Von hier aus läßt sich auf die Frage nach der Eigenart eines Werkes so antworten: nicht weil er nicht besser kann, nicht weil er die Natur so sieht, sondern weil er es so will, schafft der Künstler so. Auch Worringer versteht wie Riegl die Kunst vom Wollen her und faßt dieses Wollen - der einseitigen zeitgenössischen Psychologie folgend - als instinktmäßige Befriedigung einer psychologischen Spannung gegenüber der Welt auf. "Jeder Stil stellt für die Menschheit, die ihn aus ihren psychischen Bedürfnissen heraus schuf, die höchste Beglückung dar." (Abstraktion und Einfühlung 17). Somit ist eine Gestaltung, die wir heute vielleicht als Verzerrung ansprechen, für den, der sie schuf, höchste Schönheit und die Erfüllung seines Kunstwollens gewesen. Und diese höchste Schönheit bestand nach Worringer für den einen im Abstrakten, für den anderen in der Einfühlung in die organische Natur. Unter Abstraktion versteht Worringer die Tilgung des Lebenszusammenhangs und seiner Willkür zugunsten von Ordnung und Gesetzlichkeit (26). Worringer sieht die Abstraktion als den Urkunsttrieb. "Der Abstraktionsdrang steht also am Anfang jeder Kunst und bleibt bei gewissen, auf hoher Kulturstufe stehenden Völkern der herrschende, während er zum Beispiel bei den Griechen und anderen Okzidentalen langsam abflaut, um dem Wilhelm Worringer, Abstraktion und Einfühlung. Ein Beitrag zur Stilpsychologie. München 1908. 1911 , 1948 Neudruck. 81 56 Einfühlungsdrang Platz zu machen." Keine Unterscheidung in der Kunsttheorie war so radikal und folgenschwer wie die Worringers. In ihr treten Empfindung und Wahrnehmung auseinander. Für die Bilderwelt der religiösen Erfahrung ist entscheidend, daß diese nun nicht mehr bei der Thematik und Darstellung einer figural-symbolischen Inszenierung ansetzt, sondern in der Formcharakteristik ... ein offenes Feld zur Projektion religiös gedeuteter Empfindungen und Erfahrungen findet. Abstrakt ist nun die Sprache für Transzendenz, Weltflucht, Überwindung, Geist, Imagination, Mystik. Auf dieser Seite stehen nun Stil, Religion, Symbol, innere Schau. Dem steht das Natürliche als das chaotische Ungeklärte, nur die Sinne reizende "Äußerliche" gegenüber. Damit ist alles Symbolische auf der Seite des Willens zur Form, zur Energie der Bewältigung. Was sich hier verändert, wird klar, wenn man sich erinnert: Bei Schiller war das Symbol noch Vermittlung zwischen Verstand und Gefühl, zwischen dem ideal Geistigen und dem Irdischen.82 3.5.4 Das Böse: Der Dualismus beherrscht die gesamte gnostische Kosmologie, vor allem das Verhältnis zur Schöpfung und ihren Urhebern. seine Ausgestaltung in den einzelnen Systemen ist jedoch verschiedenartig, teilweise sogar gegensätzlich. Dies zeigt sich vor allem in der Auffassung von der Stellung des Bösen und der Materie im Weltaufbau. Während in einem Bereich der Gnosis - vor allem im Mandäismus und im Manichäismus - zwei vom Uranfang bestehende Grundkräfte, mythologisch als Reich des Lichts und Reich der Finsternis ausgedrückt, bestehen, die durch einen mehr zufälligen Akt in Berührung miteinander geraten und so das verhängnisvolle Weltgeschehen in Bewegung setzen, ist in anderen Systemen ein stufenweiser Abfall von der höchsten Gottheit (dem "unbekannten Gott") die Ursache für die Entstehung der bösen und finsteren Mächte. Hans Jonas hat den ersten Typ als den "iranischen" bezeichnet, da er dem iranisch-zoroastrischen Dualismus formal sehr nahe steht. Er wird auch am besten durch die beiden genannten gnostischen Religionen repräsentiert (auch das "Perlenlied" und die "Oden Salomos" gehören hierher). Daß er auch die übrigen Systeme beeinflußt hat oder Ausgangspunkt ihrer Spekulation gewesen ist, bleibt davon unberührt. Die andere Form hat Jonas wegen ihrer geographischen Verbreitung den "syrischägyptischen Typ" genannt. Die Mehrzahl unserer Texte, auch die aus Nag Hammadi, gehören dazu. Ihr gemeinsames Kennzeichen ist der Gedanke einer Abwärtsbewegung, deren Beginn unterschiedlich in der Gottheit selbst als eine innere Selbstvervielfältigung lokalisiert wird. Karl Kerényi: "In unserer heutigen Welt wird zu viel Böses getan und zu wenig darüber gesprochen. Selten wird das Wort 'böse' mit der inneren Gewißheit des Sprechenden ausgesprochen. Es ist zeitcharakteristisch, daß man dessen völlig ungewiß geworden ist: Was ist doch böse? Was ist das Böse?" Kerényi verweist auf das Zitat aus Heraklit, Fr.102: "Für (den) Gott ist alles schön, gut und gerecht; aber die Menschen wähnen, das eine sei unrecht und das andere recht." Bei Schopenhauer heißt es dagegen: "Die nähere Beschaffenheit des Erstaunens, welches zum Vgl. Herbert Muck, Gegenwartsbilder. Kunstwerke und religiöse Vorstellungen des 20.Jahrhunderts. Hrsg.v.Ottokar Uhl. Picus Verlag Wien 1988. S.37 ff. Muck zeigt in einer Geschichte der Bilder, wie in diesem Jahrhundert nach dem Auslaufen alter Formeln und Schematisierungen die Vorstellungen des Religiösen im Flusse sind. Hugo Ball, Die Flucht aus der Zeit, Luzern 1946, notiert: "Um den Kubismus zu verstehen, muß man vielleicht die Kirchenväter lesen." Jacob Taubes, Notizen zum Surrealismus: "Die nihilistische Weltlosigkeit surrealistischer Erfahrung 'wiederholt' in der Moderne die nihilistische Weltlosigkeit der spätantiken Gnosis." (in: Wolfgang Iser, Hrsg., Immanente Ästhetik und ästhetische Reflexion. Lyrik als Paradigma der Moderne (= Poetik und Hermeneutik II), München, Wilhelm Fink, 1966, S.141.) 82 57 Philosophieren treibt, entspringt offenbar aus dem Anblick des Übels und des Bösen in dem Weltall... Daher wurde, um zuvörderst das Böse zu beseitigen, die Freiheit des Willens erfunden... Sodann das Übel suchte man dadurch los zu werden, daß man es der Materie, aber auch einer unvermeidlichen Naturnotwendigkeit zur Last legte; wobei man ungern den Teufel zur Seite liegen ließ, der eigentlich das rechte expediens ad hoc (das Hilfsmittel in der gegebenen Situation) ist! Zum Übel gehört der Tod: das Böse aber ist bloß das Von-sich-auf-einen-Anderen-Schieben des jedesmaligen Übels. Also... das Böse, das Übel und der Tod sind es, welche das philosophische Erstaunen qualifizieren und erhöhen: nicht bloß, daß die Welt vorhanden, sondern noch mehr, daß sie eine so trübselige sei, ist das punctum pruriens (der kitzlige Punkt) der Metaphysik, das Problem, welches die Menschheit in eine Unruhe versetzt, die sich weder durch Skeptizismus noch durch Kritizismus beschwichtigen läßt."83 Die Lösung des Problems, die Schopenhauer vorschlägt, ist folgende: "Den Blick des rohen Individuums trübt... der Schleier der Maja: ihm zeigt sich, statt des Dinges an sich, nur die Erscheinung, in Zeit und Raum, dem principio individuationis, und in den übrigen Gestaltungen des Satzes vom Grunde: und in dieser Form seiner beschränkten Erkenntnis sieht er nicht das Wesen der Dinge, welches Eines ist, sondern dessen Erscheinungen, als gesondert, getrennt, unzählbar, sehr verschieden, ja entgegengesetzt. Da erscheint ihm die Wollust als Eines, und die Qual als ein ganz Anderes, dieser Mensch als Peiniger und Mörder, jener als Dulder und Opfer... Er sieht das Übel, er sieht das Böse in der Welt, aber weit entfernt, zu erkennen, daß beide nur verschiedene Seiten der Erscheinung des Willens zum Leben sind, hält er sie für sehr verschieden, ja ganz entgegengesetzt, und sucht oft durch das Böse, das heißt durch Verursachung des fremden Leidens, dem Übel, dem Leiden des eigenen Individuums, zu entgehen, befangen im principio individuationis, getäuscht durch den Schleier der Maja." (O.c. 1, S.416.) Wäre Freud früher dagewesen als Schopenhauer, so hätte der Philosoph die psychoanalytische Lehre von Trieb und Libido als eine übereinstimmende ärztliche Hypothese neben seinem "Willen zum Leben" sicher angeführt. Da die Zeitverhältnisse umgekehrt sind, müssen wir diese Übereinstimmung feststellen, wiewohl sich Freud nicht erinnerte, Schopenhauer gelesen zu haben, und sich weigerte, durch nachträgliche Lektüre sich beeinflussen zu lassen. Er gehört geistesgeschichtlich auch ungewollt in die Nachfolge des großen Pessimisten, und er trat unwillkürlich, als bitter-nüchterner Menschenkenner, in dessen Spuren. Es besteht da, nicht nur bei Nietzsche, eine Erbfolge, die "jenseits von Gut und Böse" zum Leugnen des Bösen von einem höheren Gesichtspunkt aus, wenn auch nicht zum Verleugnen des Bösen in unserer Welt, führt. Das Weitere ist, daß politische Systeme sich das Recht anmaßen, in jeder bestimmten Situation wahrhaft ad hoc - zu bestimmen, was gut und was böse ist. Es bedeutete ein Heraustreten aus dieser Entwicklung und eine Mahnung zum Nachdenken und zum Nachforschen, als Jung sich nicht scheute, wiederum vom Bösen zu reden und es in den Urgründen zu suchen, die den Menschen bewegen. Ein mögliches "Urbild des Bösen" wäre freilich eine Vermehrung der Prinzipien. Ein empirischer Geist braucht sich dem nicht a priori zu verschließen. Aber wenn die metaphysische Folge ist, einen bösen Zug sogar im Gottesantlitz zu unterscheiden, das Böse dorthin zurückzuverfolgen? Martin Buber wurde von solchem kühnen Vordringen in geziemender Weise erschüttert. Ein Humanist müßte noch mehr erschüttert sein, da er die Prinzipien im Menschen sucht und dabei doch mit einem Menschen rechnet, der an sich gut ist! Mit solchen Gedanken bewegen wir uns im Bereich des Mythos, von dem Blumenberg sagt, daß er zusammen mit seiner Geschichte gelesen werden muß. Und Blumenberg zeigt sehr schön, wie Nietzsche mit einer gewagten Variante auf den alten, sanktionierten Mythos vom Ursprung des Bösen arbeitet. In der Bibel findet sich das vertraute Bild des Paradieses, wo der Versucher die Gestalt der 83 A.Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung, 2, S.190. 58 Schlange hatte, das Verbot die Harmlosigkeit der Baumfrucht betraf und Gott die im Garten wandelnde Freundlichkeit war, die alles erlaubt, nur eines verboten hatte und deren Großzügigkeit verklärt erschien durch die spätere Umwandlung in den zürnenden Eifer eines Gesetzgebers, der fast alles verbieten und nur einiges erlaubt lassen sollte. Nietzsche läßt aus dem späten Rückblick des "Ecce homo" von 1888 auf "Jenseits von Gut und Böse" den Paradiesgarten zum Skandal werden. Er wendet die Methode der "Umbesetzung" der vorgegebenen Konfiguration an, qualifiziert sich so selbst als Mythologen. Es sei Gott selber gewesen, "der sich als Schlange am Ende seines Tagewerks unter den Baum der Erkenntnis legte: er erholte sich davon, Gott zu sein..." Als Schlange ruht er sich nicht nur von seinem Schöpfungswerk aus, er macht sich zum Prinzip des Bösen. Man würde keinen Zweifel haben, daß er nach gnostischem Muster nur sich selbst als den Gott dieser Welt darstellt. Aber Nietzsche hat eine andere Absicht: Der sich von sich selbst erholende Gott sieht in der paradiesischen Zuständlichkeit seiner Schöpfung die Versuchung selbst. Es ist die der stationären Endgültigkeit und Abgeschlossenheit. Der Selbstgenuß des siebenten Tages schlägt um in den Überdruß am Guten, das er gemacht hatte, weil es keine Zukunft, keine Geschichte haben konnte. Das Paradies ist die Negation der Geschichte, der Inbegriff der Langeweile eines Gottes. So wird der Gott zum Teufel, um sein Werk, statt zum lieblichen Ausgang der paradiesischen Harmlosigkeit, zur dramatischen Katastrophe der Weltgeschichte zu treiben: "Er hatte alles schön gemacht... Der Teufel ist bloß der Müßiggang Gottes an jedem siebenten Tage..."84 Die Versuchung im Paradies war der Kunstgriff eines Gottes, der seinem Werk Geschichte geben, die Sache des Menschen nicht sogleich versanden, sondern auf den großen Umweg zum Übermenschen laufen lassen wollte. Es gereute diesen Gott Nietzsches nicht, geschaffen zu haben; wohl aber das Maß an Vollkommenheit, die als 'Paradies' schon das Ende, der Inbegriff aller Zufriedenheit sein mußte. Die Sünde war List, der alte Gegensatz zwischen dem Guten und dem Bösen schon im Paradies nur vorgespiegelt: die Falle, in die der Mensch gehen sollte, weil er glaubte, dies sei das ihm vorenthaltene Geheimnis Gottes. Aber dessen wahres Geheimnis ist, daß ihn das Gute langweilt, sogar das, das er selber ist. Der Tag seiner Muße ist die Vortäuschung seiner Abwesenheit, da er doch als Schlange unter dem Baum der Erkenntnis liegt, um durch Verbot und Verheißung - als Mittel aus einer einzigen Quelle - den Menschen in seine Weltgeschichte zu vertreiben. Der Kunstmythos (seit Platons Kunstmythen ist Nietzsche hier einzigartig als Erfinder von Mythen, die er als philosophisches Instrument einsetzt) enthält den ganzen Verdacht Nietzsches, daß der Genius malignus des Descartes die letzte Instanz sei. Die am Anfang der Neuzeit oberflächlich geschlichtete Bedrohung des Subjekts wäre durch kein Argument ausschaltbar und nur durch den endgültigen Bruch mit dem Ideal der Wahrheit zu bewältigen. Es ist ein Mythos des Zynismus. Er spricht von der metaphysischen Tyrannei, der nur entkäme, wer sich Gut und Böse, Wahr und Falsch absolut gleichgültig werden ließe. Die den Übermenschen erzwingt, weil nur der Übermensch ihr entkommt. Nietzsche steht am Ende einer langen Entwicklung, die biblische Genesis philosophisch auszulegen, in der immer schon die Frage behandelt wurde, ob Gott auch das Prinzip des Bösen sein könne, und wenn nicht, woraus sonst es entspringen mag. Die biblische Antwort war: Aus dem widergöttlichen Willen des Menschen. Das Böse wird dann nicht aus Gott und der Welt erklärt, sondern ausschließlich aus dem Menschen, jedoch im Verhältnis zu Gott, der den Menschen geschaffen hat. Das Böse hat dann seinen Ort im Gottesverhältnis des Menschen und wird anthropo-theologisch begriffen. Gott selber kann als das absolut vollkommene, gute und gütige Wesen, als das summum bonum, nicht der Ursprung des Bösen sein, und ein vollkommen böses Wesen ist, streng gedacht, ein Widerspruch in sich selbst, denn man kann sich den Satan nicht wie einen allmächtigen und allwissenden Gott vorstellen. Der Ursprung des Bösen kann nur im Menschen liegen, der gegen Gottes Befehl gesündigt hat. Im Übergang von der christlichen Theologie zur nachchristlichen Philosophie wird dann das Gute und Böse immer mehr nur noch anthropologisch verstanden, ohne Bezug auf Gott und die Welt. Das Böse gilt dann als ein Vorrecht 84 Nietzsche, Ecce Homo, Musarion-Ausg. XXI 264. 59 des Menschen und seiner zum Guten wie Bösen fähigen Moralität. Das Böse ist dann weder eine metaphysische Unvollkommenheit noch ein physisches Übel, sondern ausschließlich ein moralisches Böses. Mit dem Ende des deutschen Idealismus und seiner philosophischen Theologie haben die Versuche zu einer vernünftigen Auslegung des biblischen Glaubens an Boden und Interesse verloren. Die theologischen Begriffe der "Sünde" und eines "Reiches Gottes" werden unbegreiflich, wenn es keinen Glauben mehr an Gericht und Erlösung gibt. Was davon übrigblieb, ist nur der Fortschrittsglaube (siehe dazu K.Löwith, Weltgeschichte und Heilsgeschehen, Stuttgart 1953, S.175ff.) an eine künftige bessere Welt - und die Erfahrung, daß der Mensch, gerade mittels seiner wissenschaftlichen Fortschritte, das Böse im größten Ausmaß technisch zu organiseren vermag. Zugleich mit dem Schwund des theologischen Hintergrunds von Sünde, Gericht und Erlösung ist aber auch die Frage nach dem moralisch Guten und Bösen aus der gegenwärtigen Philosophie verschwunden. Die Ethik von Sartres Existenzphilosophie reduziert sich auf ein nacktes "engagement", ganz gleich wofür, und Heideggers existenziale Fundamentalontologie kennt nur den Unterschied zwischen einer "eigentlichen" und "uneigentlichen" Weise der Existenz, um schließlich die Geschichte des Seins als "Geschick einer Schickung" zum letzten Prinzip des "Schicklichen" zu erheben. "Wir denken heute, ob mit oder ohne Berufung auf Nietzsche, 'jenseits von Gut und Böse', aber nicht weil wir die Frage nach dem summum bonum auf das Ganze der Welt bezögen, sondern weil wir moralisch nicht mehr im Umkreis der christlichen Überlieferung leben."85 Löwith meint: "Sowohl die Frage nach dem Wozu wie die Frage nach dem Warum sind durch die biblische Schöpfungsgeschichte in die Philosophie eingedrungen und damit zugleich die Frage nach dem Wozu und Warum des Bösen und der Versuch zu dessen Rechtfertigung." (O.c. 236) Aber auch "Tertullian hat Recht: auf der Schule der unde-malum-Frage werden die Häretiker großgezogen. Wer nach dem Ursprung des Bösen fragt, ist, orthodox gesehen, schon auf dem besten Wege, selber ins Lager der Bosheit überzulaufen; die Majestätsbeleidigung Gottes rückt drohend nahe in der Frage, woher, oder vielmehr von wem das Böse stamme." (Sloterdijk, o.c. Bd.1, 35) "Hier freilich kommt das gnostische Temperament zum Tragen. Zur Gnosis disponiert ist jemand, dem es in Wahrheitsfragen darauf ankommt, eher klug als fromm zu sein. Zur verdammten Klugheit der Gnosis gehört es, auf einen bösen Schöpfer böse sein zu können; wer gnostisch aufgelegt ist, versteht sich darauf, den Werken eines konfusen Demiurgen mit der begnadeten Kaltblütigkeit dessen zu begegnen, der das kosmische Machwerk nach einer nur vorübergehenden Eingenommenheit für es durchschaut. Daher die häretische Sympathie für kluge Schlangen, rebellische Engel und luziferische Paradoxe. Wenn das geschundene Leben im mißratenen Kosmos nicht auch an der Quelle seines Stolzes - dem Geburtsrecht auf Gelingen - getrübt ist, dann wird es sich gegen die Erbärmlichkeit seines Angewiesenseins auf Erlösung auflehnen. Die gnostische Seele mag von der charis nichts wissen, die angeboten wird wie eine kränkende Verbrecherbegnadigung. Was sie beflügelt, ist die charismatische Erinnerung an ein vorursprüngliches Recht auf Vollkommenheit. 'Alles, was 'Gnade' heißen wird, hat seinen 'zureichenden Grund' im Mißlingen der Welt' (Hans Blumenberg, Matthäuspassion, S.14)." (Ebd.) 4. Quellenkunde 4.1 Vorbemerkung Karl Löwith, Der philosophische Begriff des Besten und Bösen. In: Das Böse. Mit Beiträgen von M.-L.von Franz, L.Frey-Rohn, K.Kerényi, K.Löwith, V.Maag, M.Schlappner, K.Schmid, G.Widengren. Rascher Verlag Zürich u. Stuttgart 1961. S.211-236. S.234. 85 60 Es ist historisch zufällig, wurde aber als Ereignis mit Zeichencharakter aufgenommen, daß die Entdeckung der gut erhaltenen gnostischen Bibliothek in der ägyptischen Wüste, ca. 50 km nördlich von Luxor, in Nag Hammadi, mit dem Ende des 2.Weltkriegs fast genau zusammenfiel. Es schien vielen Menschen wie eine Botschaft gerade für ihre Zeit: Skandalöse und doch plausible Gegenwahrheiten zum europäischen Gedächtnis, Anmahnung einer vergessenen Dimension europäischer Geschichte. Das Auftauchen der 52 koptischen Texte entsprach dem Bedürfnis nach einer fundamentalen Revision einer Kultur, die sich in ihrem Zwang zum Weltkrieg manifestiert hatte. (Unsägliche „Sager“ österreichischer Politiker in unseren Tagen, aber auch früher, oder z.B. der Prozeß gegen den Nationalsozialisten Honsik im Jahr 1992 zeigen, wie schwer es für viele Menschen ist, ein Geschehen als Realität anzusehen, das in seinen Dimensionen die Vorstellungskraft übersteigt, ob es nun 42 oder 55 Millionen Menschen waren, denen es das Leben gekostet hat. Christen und Juden versuchen erst zu begreifen, daß sie nach einem Ereignis leben, in dessen „Licht“ ihr Glaube eine andere, ihnen noch unverständliche Bedeutung annimmt. Nochmals Sloterdijk: "Dürfte man denn eine metaphysisch relevante Lektion dieses monströsen Jahrhunderts formulieren, sie hätte zu lauten, daß das Böse mehr sein muß als die Abwesenheit des Guten. Wer unsere Epoche in ihren dunkelsten Aspekten erfuhr, kann sich dem Eindruck nicht entziehen, das Böse sei eine autonome Instanz mit einem langen Atem und unerschöpften Reserven; im Weltgrund selbst muß, im mythischen Bild gesprochen, ein katastrophaler Riß aufklaffen, aus dem die Übel mit mutwilliger Gewalt hervorstürzen." (O.c.1, 20) 4.2 Die sekundären Quellen Sie waren zuerst da. Erkenntnis und Verständnis jeder historischen Erscheinung ist vom Zustand der Quellen, seien es schriftliche, mündliche oder archäologische oder andere, abhängig. Das gilt für die Gnosis in besonderem Maß. Sie war bis in die jüngste Zeit fast ausschließlich durch ihre Bekämpfer greifbar, und ihr Bild ist dadurch nur ein schwaches, verzerrtes Spiegelbild gewesen. Die Bekämpfer waren in erster Linie christlich-theologische Apologeten und Religionsphilosophen, teilweise im Bischofsamt und im nachhinein zu "Kirchenvätern" erhoben, die von einer als fest und sicher betrachteten Lehrüberlieferung christlichen Glaubens und Denkens aus die Abweichungen und gegnerischen Auffassungen beurteilten und zu widerlegen suchten. Die Mittel, derer sie sich bedienten, waren zeitbedingt und sind vom Historiker zu analysieren. Dies vorausgesetzt sind sie wertvolle Quellen für die Rolle der Gnosis im frühen Christentum. Sie enthalten auch eine Reihe authentischer Zeugnisse. Wer waren nun die Ketzerbekämpfer (Häresiologen)? 4.2.1 Justin, der um 165 als Märtyrer in Rom umgekommene Apologet. In seiner Apologie an den römischen Kaiser Antoninus Pius, die er zwischen 150 und 155 verfaßte, schreibt er am Ende des 26.Kapitels, das sich mit den drei Ketzern Simon, Menander und Marcion befaßt: "Es gibt auch eine Zusammenstellung (Syntagma), die wir wider alle bisherigen Häresien zusammengestellt haben; wollt ihr sie einsehen, so werden wir sie vorlegen." Die ältere Forschung hat sich verschiedentlich bemüht, dieses Werk aus anderen Zusammenhängen und Zitaten zu rekonstruieren, allerdings ohne großen Erfolg. 4.2.2 Irenäus von Lyon aus der 2.Hälfte des 2.Jh. Von ihm stammt eine der umfangreichsten und maßgebendsten antihäretischen Schriften. Er stammte aus Kleinasien und kam in der Zeit Marc Aurels ins Land der Kelten, wo er 177/178 Bischof von Lyon wurde. Sein Hauptwerk ist die aus fünf Büchern bestehende "Entlarvung und Widerlegung der fälschlich so genannten Gnosis", meist mit dem lateinischen Titel abgekürzt Adversus haereses (Gegen die Häresien) zitiert. Es ist nur in lateinischer Übersetzung vollständig erhalten. Anlaß dazu gab, wie Irenäus selbst einleitend schreibt, der Wunsch eines Freundes, die Lehren der Valentinianer kennenzulernen. 61 4.2.3 Hippolytus von Rom (gest. um 235). Er spielte in der römischen Gemeinde Anfang des 3.Jh. eine wichtige Rolle und wurde sogar als Gegenbischof einer eigenen Gemeinde aufgestellt. Das Schisma wurde erst durch den Kaiser Maximinus Thrax beendet, der Hippolyt und seinen Kontrahenten nach Sardinien verbannte. Seine "Refutatio omnium haeresium", "Widerlegung aller Häresien" (sie hat nach dem Inhalt des ersten Buchs den Beinamen "Philosophische Lehren" "Philosophumena" erhalten) ist eine Art Enzyklopädie. Sie besteht aus zwei Teilen: Teil 1 (Buch 14) schildert die vorchristlichen ("heidnischen") "Irrtümer" der Griechen, d.h. die der Philosophen, Magier, Astrologen und Mysterien. Teil 2 enthält die christlichen Häresien, d.h. eine Beschreibung von 33 gnostischen Systemen. Hinter dieser Einteilung steckt die von Hippolyt vertretene Auffassung, daß die Gnostiker ihre Lehren in erster Linie aus der "Weisheit der Heiden", nicht aus der des Christentums genommen haben. Die von ihm herangezogenen Quellen sind teilweise sehr wertvoll, da wir sie nur durch ihn besitzen, wie die sog. "Naassenerhomilie" oder die "Große Offenbarung" des Simon Magus. 4.2.4 Tertullianus, der erste bedeutende lateinische Kirchenvater (um 150 bis 223/225), hat unter seinen zahlreichen Traktaten, die sich mit einzelnen Lehren von Gnostikern auseinandersetzen, auch eine grundlegende dogmatische Schrift verfaßt, in der er unter Zuhilfenahme der ihm geläufigen iuristischen Terminologie die Ansprüche der gnostischen Häretiker grundlegend zu bestreiten sucht. Es handelt sich um die "Prozeßeinreden gegen die Häretiker" (De praescriptione haereticorum), die um 200 entstanden. Sie sind weniger für die Kenntnis der gnostischen Lehren von Interesse als für den Standpunkt der Rechtgläubigkeit, die hier ein für allemal die maßgebenden Argumente zusammengetragen findet. Tertullian stellt fest, daß die christliche Lehre allein auf Christus und seinen Aposteln ruht; sie ist älter als alle Häresien und allein ausschlaggebend für die Kirche und ihre Schriftauslegung. Jede Lehre, die mit ihr in Übereinstimmung steht, ist als Wahrheit anzusehen; jede, die nicht mit ihr identisch ist, muß als falsch gelten. Der Nachweis der älteren apostolischen Überlieferung genügt, um jede Häresie als spätere Fälschung zu widerlegen. Tertullian läßt sich daher gar nicht erst auf Argumente und die verschiedenen Lehren der Gegner ein. "Die Wißbegierde weiche dem Glauben, die Ruhmsucht weiche dem Seelenheil... Nichts gegen die Glaubensregel wissen, heißt alles wissen." (Praescr.haer.Kap.14) Diese Beschwörung der Einfältigkeit und des problemlosen Denkens hat allerdings nur beschränkte Nachwirkung gehabt. Die Maßlosigkeit und Schärfe der Polemik Tertullians ist häufig gerügt worden. Er läßt dem Gegner keine Gerechtigkeit widerfahren, sondern sucht ihn zu erledigen. Dabei hat er einen großen Spürsinn für seine Schwächen und erkennt die grundsätzlichen Differenzen sehr deutlich. Er hat daher, wie Hans von Campenhausen bemerkt, schon längst, bevor die moderne Wissenschaft die zahllosen Gruppen und Richtungen der damaligen Ketzerei unter der einheitlichen Bezeichnung "Gnosis" zusammenfaßte, ihre wesentlichen und gemeinsamen Elemente begriffen. Für ihn ist die Gnosis "der auflösende Synkretismus, wie ihn die natürliche Geistigkeit des Menschen liebt, die spiritualistisch-idealistische Selbstüberschätzung, die die feste Grenze verwischt, welche die Kreatur von der Gottheit scheidet; und sie ist darin zugleich die 'nihilistische' Feindschaft gegen den Gott der Wirklichkeit, der die Welt geschaffen und sich konkret im Fleisch offenbart hat."86 4.2.5 Clemens von Alexandria (140/150 - 211/215). Bei ihm wie bei seinem Schüler Origenes verläuft die Auseinandersetzung in ganz anderer Weise. Sie spüren in sich selbst den Stachel des Fragens und versuchen, die berechtigten Anliegen der Gnosis positiv aufzunehmen und mit den christlichen Grundaussagen in einer originellen Weise zu versöhnen, die sie selbst in die Nähe der Ketzerei bringt. Clemens ist einer der gebildetsten Kirchenväter überhaupt und kann als der kirchliche Gnostiker angesehen werden. In drei Schriften legt er seine christliche Überzeugung in Auseinandersetzung mit der zeitgenössischen Weltanschauung und Religion dar: in der "Mahnrede an die Heiden", dem 86 Campenhausen, Lateinsche Kirchenväter, Stuttgart 1960, S.24. 62 "Pädagogen" und den "Teppichen" (Stromata). letzteres ist wie der Titel ausdrücken soll, ein Sammelwerk verschiedener Reflexionen, die dem Verhältnis der christlichen zur "heidnischen" (griechischen) Weisheit gewidmet ist. In diesem Zusammenhang stellt er der von ihm abgelehnten "häretischen" oder "falschen" Gnosis die wahre Gnosis des christlichen oder vollkommenen Gnostikers gegenüber, der als mündiger Christ in der Einheit mit Gott, in sittlicher Vollkommenheit, den Engeln gleich, das geistige Priestertum repräsentiert, das Clemens selbst mit seinen Schülern zu verwirklichen trachtete, ohne deshalb mit der institutionellen Kirche zu brechen oder gar das grundlegende Gebot der Nächstenliebe zu übersehen. "Das Leben des Gnostikers ist, meine ich, nichts anderes als Werke und Worte, die der Überlieferung des Herrn entsprechen." (Clemens Alex., Stromata VII, 104,2.) Mit der bewußten Verwendung des Begriffes Gnosis für die christliche Wahrheitserkenntnis hat Clemens noch einmal versucht, des Auseinanderbrechens von Glauben und Wissen in der Kirche Herr zu werden und nicht in der bloßen Verneinung des Anspruchs der "falschen" Gnosis stecken zu bleiben. Die in seinen unvollendeten "Teppichen" verstreuten Zitate gnostischer Lehrer, besonders die von Valentinos, und die aus seinem Nachlaß erhaltenen "Exzerpte aus (dem Werk des valentinianischen Gnostikers) Theodotos" bilden eine wertvolle Bereicherung originaler Zeugnisse dieser Religion. Gegen Ende des siebenten Buchs (Kap.17, 108), mit dem das Werk abbricht, gibt Clemens eine kurze Zusammenfassung dessen, was er offenbar später noch näher über die gnostischen Richtungen ausführen wollte; es ist zugleich ein Beleg für die Einteilungsprinzipien, die den meisten häresiologischen Darstellungen zugrunde liegen: "Was aber die Sekten betrifft, so sind sie teils nach dem Namen ihrer Gründer benannt wie die Schule des Valentinos und des Marcion und des Basilides, wenn sie sich auch rühmen, die Anschauung des Matthias vorzutragen. Denn es hat nur eine einzige Lehre aller Apostel gegeben, ebenso auch nur eine einzige Überlieferung. Andere Sekten sind nach einem Ort benannt wie die Peratiker, andere nach einem Volk wie die Sekte der Phryger, andere nach einem Verhalten wie die Enkratiten, andere nach eigenartigen Lehren wie die Doketen und die Haimatiten, andere nach Grundgedanken und dem, was sie verehrt haben, wie die Kainisten und die sogenannten Ophianer, andere nach den gesetzwidrigen Handlungen, deren sie sich vermaßen, wie von den Simonianern die sogenannten Entychiten."87 4.2.6 Origenes (gest.253/254) hat sich in ähnlicher Weise bemüht, der gnostischen Häresie entgegenzutreten. Auch bei ihm sind leicht Gedanken nachzuweisen, die ihn selbst in die Nähe der bekämpften Gnosis bringen, wie die Hochschätzung der Erkenntnis gegenüber dem einfachen Glauben oder die Lehre von der präexistenten Menschenseele, ihrem Fall in die Materie und ihrer Rückkehr zu Gott. Unter seinen zahlreichen Schriften - er gilt als der fruchtbarste kirchliche Schriftsteller - nehmen die Kommentare zu biblischen Texten einen großen Raum ein. Erhalten blieben davon acht Bücher der Auslegung des Johannesevangeliums, die durch ihre Auseinandersetzung mit der gnostischen Exegese dieses besonders bei den Valentinianern beliebten Evangeliums für die Gnosisforschung wichtig ist. Die (48) Zitate aus dem Johanneskommentar des Herakleon, eines angesehenen Schülers des Valentinos, der in die Mitte des 2.Jh. zu datieren ist, gehören zu den wichtigsten Zeugnissen. 4.2.7 Eusebius von Caesarea (gest. 339): Die von ihm stammende erste christliche Kirchengeschichte bietet auch für die Gnosisforschung etwas, allerdings nicht so sehr an Originalzitaten als vielmehr an Zitaten aus der älteren häresiologischen Literatur (z.B. die "Denkwürdigkeiten" des Hegesippus aus der 2.Hälfte des 2.Jh.) 4.2.8 Epiphanius von Salamis (um 315 in der Nähe von Eleutheropolis in Judäa geboren, fast 30 Zitiert nach O.Stählin, Clemens von Alexandria, Ausgewählte Schriften, Bd.5, München 1938, S.111 (BdKV). 87 63 Jahre Vorsteher eines Klosters in dieser Stadt, das er schon mit 20 gegründet hatte, nach dem Vorbild des ägyptischen Mönchstums; 367 zum Metropoliten von Zypern gewählt; 403 auf der Heimreise nach Salamis verstorben) hinterließ uns ein weiteres umfangreiches Werk zur Ketzergeschichte. Er gilt als einer der eifrigsten Verfechter der Orthodoxie seiner Zeit und hat in den theologischen Streitigkeiten wiederholt eine wenig schöne Rolle gespielt. Er ist es gewesen, der den Kampf gegen den Origenismus erst richtig entfachte. Im weiteren Verlauf der Auseinandersetzungen hat er eine unglückliche Hand bewiesen, was mit seinem hohen Alter und einer gewissen Einfältigkeit zu entschuldigen sein mag. Zu seinem Traditionalismus tritt die Feindschaft gegen die griechische Wissenschaft und gegen philosophisch-theologische Spekulation, die ihn in die Nähe von Tertullian rückt und grundsätzlich von den alexandrinischen Theologien unterscheidet. Der Grundgedanke seines Hauptwerks Panarion, "Arzneikasten", entstanden 374-377, das ihm den Ehrennamen "Patriarch der Orthodoxie" eintrug, ist die Schilderung aller Häretiker als wilde und giftige Tiere (vor allem als Schlangen), deren Gift die Reinheit des Glaubens gefährdet; zu seinem Schutz und als Gegenmittel für die schon gebissenen bietet er seinen Arzneikasten oder Medizinschrank an. 4.2.9 Spätere Ketzergeschichten und sonstige Hinweise finden sich bei Afrem von Edessa (306373, Prosahymnen), Theodoret von Cyrus (395-466), Augustinus (354-430, schrieb außer mehreren antimanichäischen Schriften 428 auch einen Ketzerkatalog De haeresibus), Johannes von Damaskus (der letzte Kirchenvater, um 675-749, wirkte schon unter der Herrschaft des Islam), Theodor bar Konai (sein "Scholienbuch" von 791/92 ist wegen interessanter Nachrichten über die Mandäer und Manichäer von Wert). 4.3 Primärquellen 4.3.1 Quellenzitate bei den Häresiologen Die angeführte häresiologische Literatur bildete bis weit in das 19.Jh. hinein die Hauptquelle für das Studium von Wesen und Geschichte der Gnosis und bestimmte die ältere Forschung, die sich vor allem der notwendigen Quellenkritik verschrieben hatte. Die Originaldokumente, die man aus den Zitaten dieser Literatur hatte, machten nicht einmal ganze 50 Seiten aus. das war insofern bedauerlich, als man erkannte, daß die Gnostiker die erste christlich-theologische Literatur überhaupt hervorgebracht hatten, deren Umfang im 2.Jh. offenbar viel größer war als bei der Großkirche. Das betraf nicht nur theologische Werke im engeren Sinn, sondern auch die Poesie und die einfache Frömmigkeitsliteratur, wie aus Resten von Hymnen und den zahlreichen apokryphen Jesus- und Apostelgeschichten hervorgeht. 4.3.2 Weitere Originaltexte: Außer diesen wenigen authentischen Stücken, die uns die Kirchenväter aufbewahrten, sind im Lauf der Zeit noch einige Originaltexte aufgetaucht. Das älteste Werk dieser Art ist das Corpus Hermeticum, die "Hermetischen Schriften", eine wahrscheinlich in Ägypten entstandene Sammlung griechischer Texte aus dem 2.u.3.Jh., die sich als Kundgebungen des Dreimalgrößten Hermes (Hermes Trismegistos, Thot) ausgeben. Sie sind ein typisches Produkt des griechisch-orientalischen Synkretismus der römischen Kaiserzeit und vertreten eine okkulte Offenbarungsweisheit, die dem Streben nach Gottesschau, Wiedergeburt und Befreiung bzw. Erlösung der Seele dienen will, wobei neben Mystik, Ekstase und Meditation auch Magie und Astrologie eine Rolle spielen. Unter den 18 Traktaten und Traktatstücken dieses Sammelwerks sind auch einige, die gnostischen Charakter haben, vor allem der erste, der den Namen Poimandres, Menschenhirt trägt und der zeitweise dem ganzen Werk den Namen gab. Die Erkenntnis, daß wir hier ein Stück nichtchistlicher Gnosis vor uns haben, setzte sich allerdings erst langsam im 19.Jh. durch und wurde durch R.Reitzenstein endgültig bewiesen. Vorher galt die Sammlung als ein Produkt neuplatonischer Mystik. Marsiglio Ficino übersetzte das Werk erstmals ins Lateinische (1463 im Auftrag des Cosimo Medici). 64 Im 18.Jh. wurden von zwei britischen Sammlern zwei Handschriften des 4. u. 5.Jh. erworben: der Codex Askewianus (Brit.Mus.) und der Codex Brucianus (Bodleian Library in Oxford. Erstmalig der Öffentlichkeit bekannt gemacht hat sie der Deutsche C.G.Woide im Jahr 1778; auf ihn geht auch der Titel "Pistis Sophia" ("Glaube - Weisheit") für die Schrift des Codex Askewianus zurück. Deutsche Übersetzung von Carl Schmidt im Auftrag der Kirchenväter-Kommission der berliner Akademie der Wissenschaften, 1905, 3.Aufl.1959. Das Buch enthält langatmige Unterredungen des auferstandenen Jesus mit seinen Jüngern und Jüngerinnen über Fall und Erlösung eines himmlischen Wesens, der sog. Pistis Sophia. Der Inhalt des Brucianus ist unter der Bezeichnung "Die beiden Bücher des Jeu" bekannt, der eigentliche Titel lautet allerdings "Buch vom großen geheimnisvollen Wort <logos>". darin offenbart wieder der auferstandene Jesus seinen Aposteln die Geheimnisse der gnostischen Überwelt. Im Anhang findet sich u.a. ein Text, der von Schmidt als "Unbekanntes gnostisches Werk" bezeichnet wurde. Gegen Ende des 19.Jh. trat dazu ein weiterer Fund: 1896 berichtete C.Schmidt in den Sitzungsberichten der Preußischen Akademie der Wissenschaften von der Erwerbung eines koptischen Papyrusbands in Kairo für die ägyptische Abteilung des Berliner Museums, der folgende drei gnostische Texte enthielt: Das "Evangelium nach Maria", das "Apokryphon (die Geheimlehre) des Johannes" und die "Sophia Jesu Christi". Durch viele Mißgeschicke und kriegsbedingt konnte der Band erst 1955, also 59 Jahre nach der Entdeckung, unter dem Titel "Die gnostischen Schriften des koptischen Papyrus Berolinensis 8502" im Akademie-Verlag erscheinen lassen. 2.Aufl. bearbeitet v. H.M.Schenke 1972. Die Oden Salomos sind eine kleine Hymnensammlung in syrischer Sprache, aus der vorher schon Zitate bekannt waren, und die 1909 in einer alten Handschrift entdeckt wurde. Sie ist wegen ihrer bildhaften Sprache bemerkenswert und weil sie die enge Verflechtung von christlicher und gnostischer Gemeindefrömmigkeit zeigt. Entstanden ist sie vermutlich im 2.Jh. (ob ursprünglich in griech.od.in aramäischer Sprache, ist umstritten. Das Perlenlied, das in den apokryphen Thomasakten enthalten ist, stammt etwa aus der gleichen Zeit und auch aus dem syrischen Raum. Davon haben wir bereits gesprochen. Eine völlig eigenständige, wenn auch zur orientalisch-semitischen Kultur gehörige gnostische Überlieferung ist uns von den Gemeinden der Mandäer erhalten. Sie hat einen erheblichen Umfang - etwa dem des AT entsprechend. Teile davon gelangten schon im 16.Jh. durch die Vermittlung portugiesischer Mönche nach Europa. Die wissenschaftliche Beschäftigung damit begann erst im 19.Jh. Man erkannte immer mehr die Zugehörigkeit zu einem Zweig der orientalischen Gnosis. Die Veröffentlichung ist bis heute noch nicht abgeschlossen. 4.3.3 Schließlich der Nag Hammadi-Fund von 1946, dessen Veröffentlichung erst 1977 zunächst abgeschlossen werden konnte. Es handelt sich um Texte, die aus Quittungen, die zur Verstärkung der Einbände verwendet worden waren, relativ gut datierbar sind (die Daten 333, 341, 346 u. 348). Die Entstehung der einzelnen Schriften und ihre Übersetzung ins Koptische liegen natürlich früher, etwa im 2.u.3.Jh. Da die Briefstücke außerdem einen "Vater Pachom", Presbyter und Mönche erwähnen, kann man daraus auf eine klösterliche Umgebung schließen. Vielleicht stammen die Schriften aus einer Klosterbibliothek und wurden bei einer Säuberungsaktion wegen ihres häretischen Charakters ausgeschieden und vergraben oder, was wahrscheinlicher ist, von Interessenten und Anhängern in Sicherheit gebracht. Auffälligerweise besitzen wir gerade aus dieser Zeit den 39. Osterfestbrief des streitbaren Athanasius von Alexandria, der sich unter anderem gegen häretische Bücher richtet, die fälschlich 65 unter dem Namen der Apostel umlaufen. Dieser Brief wurde von dem Nachfolger des Pachomius in der Leitung des Kosters Tabennisi, Theodor, ins Koptische übersetzt und 367 den ägyptischen Klöstern bekannt gegeben. Es ist hier nicht möglich, alle Schriften aufzuzählen, geschweige denn sie zu beschreiben, nur einige Beispiele: Im Kodex I ("Kodex Jung"): das "Evangelium der Wahrheit" Im Kodex II: Die "Geheimschrift des Johannes", das "Thomasevangelium", das "Philippusevangelium", die "Exegese über die Seele"; im Kodex II: eine kürzere Version des Apokryphon des Johannes, das "Ägypterevangelium", die "Weisheit des Jesus Christus" (die uns schon aus dem Berliner Papyrus bekannt ist) In Kodex V: die "Apokalypse des Paulus", die "Offenbarung des Jakobus", die "Offenbarung des Adam" In Kodex VII: "Die Paraphrase (Erläuterung) des Sem"; "Die zweite Lehre (logos) des großen Seth", "Die Offenbarung des Petrus"; usw. Die Geschichte der Texteditionen und Übersetzungen ist von Kurt Rudolph nachgezeichnet worden und kann dort gelesen werden. Ich erwähne nur die Prachtausgabe des "Evangelium der Wahrheit" 1956 (aus dem Codex Jung), die Vorbildcharakter hatte (sie enthält Text, Faksimile, französische, deutsche und englische Übersetzung). Und natürlich die zwischen 1973 und 1984 in Leiden erfolgte elfbändige "Faksimile Edition of the Nag Hammadi Codices" unter der Schirmherrschaft der Altertümerverwaltung der Arabischen Republik Ägypten in Verbindung mit der UNESCO. Sie ist eine technische Meisterleistung und bildet die Grundlage aller weiteren Beschäftigung mit diesen neuen gnostischen Texten. Eine Gesamtübersetzung ins Englische ist unter Leitung von James M.Robinson vorgelegt worden (The Coptic Gnostic Library). Eine französische Edition (Bibliothèque Copte de Nag Hammadi, seit 1978) wird von J.E.Ménard geleitet. Der Berliner Arbeitskreis für koptisch-gnostische Schriften gibt seit 1973 laufend in der Theologischen Literaturzeitung neue Textbearbeitungen heraus. Seit 1971 besteht auch eine eigene Reihe "Nag Hammadi Studies" in Leiden für die Veröffentlichung von Spezialforschungen. Eine Einführung in die Gesamtheit der Schriften von Nag Hammadi gibt J.Doresse, The secret books of the Egyptian Gnostics. London, N.Y. 1960. Die Bedeutung des Nag Hammadi Fundes ist von Rudolph folgendermaßen zusammengefaßt worden (o.c.57f.): "1. Der Bestand an Originalquellen hat sich ungeheuer erweitert und stellt erstmalig die nunmehr von den häresiologischen Berichten unabhängige Gnosisforschung auf eine neue Grundlage. Die neuen Quellen erlauben mehr als bisher eine Kontrolle des bei den Kirchenvätern überlieferten Bildes und Materials. 2. Da die gefundenen Schriften aus verschiedenen "Schulen" und "Richtungen" der Gnosis stammen, repräsentieren sie eine solche Vielfalt gnostischer Denk- und Verhaltensweisen, wie wir sie bisher nur ahnen konnten. Neben neuen Einsichten in die Entwicklung und die Endgestalt gnostischer "Systeme" erhalten wir auch Einblick in die Frömmigkeitspraxis der Gnostiker. 3. Der Fund enthält sowohl stärker christliche als auch weniger christliche und nichtchristliche Schriften; er zeigt dadurch einerseits die Verwobenheit von Gnosis und Christentum, andererseits aber auch ihre Unabhängigkeit voneinander. Da die bisherigen Analysen an einzelnen christlichgnostischen Texten eine sekundäre Verchristlichung nachweisen konnten, erhält die These von der nichtchristlichen Entstehung der Gnosis, die vor allem die sogenannte "Religionsgeschichtliche Schule" (Bousset, Reitzenstein) vertrat, eine Bestätigung. 4. Die Gnosis in ihrer christlichen Form hat, wie der Fund lehrt, sich als rechte Auslegung des Christentums verstanden und die theologische Spekulation erheblich gefördert, sei es in christologischer, trinitarischer oder kosmologischer Hinsicht. Der Kampf der Kirchenväter wird 66 dadurch besser als bisher verständlich und erhält eine neue Tiefe. Die Herausbildung der Orthodoxie war ein langwieriger Prozeß, der wohl auf gewissen Grundsätzen aufbaute, aber aus einer Viefalt frühchristlichen Denkens und Handelns herauswuchs. Diese gleichberechtigte Vielfalt, zu der auch die christlich-gnostische Richtung gehörte, wurde erst im Laufe der Auseinandersetzung zur Ketzerei und Häresie erklärt, eine Disqualifizierung, die allein auf theologischen Urteilen basiert. So haben die neuen Texte auch eine große Bedeutung für die frühe Kirchengeschichte. 5. Der Anteil jüdischer Traditionen und Vorstellungen an der Ausbildung der Gnosis, den man schon früher erkannt hatte, läßt sich jetzt noch deutlicher und beweiskräftiger machen. 6. Auch die Frage nach dem Anteil des griechischen Denkens, vor allem in seiner philosophischen (platonischen) Richtung, ist an Hand einiger der neuen Texte besser und einsichtiger zu beantworten, wie überhaupt der Anteil der zeitgenössischen Philosophie stärker hervortritt. 7. Schließlich versprechen die neuen Quellen, das umstrittene Problem der gnostischen Erlösergestalt und ihr Verhältnis zur christlichen einer Lösung näher zu bringen. Die These einer vorchristlichen oder zumindest nichtchristlichen Erlöservorstellung in der Gnosis erweist sich damit als richtig. 8. Leider bieten auch diese Quellen kein genügendes Material, um die wichtige soziologische Fragestellung nach Zusammensetzung und Struktur der gnostischen Gemeinden besser als bisher studieren zu können. Immerhin lassen sich aber auch dafür... einige neue Gesichtspunkte gewinnen." 5. Zur Geschichte und Methodologie der Forschung 5.1 Aus der älteren Forschung hebe ich nur einige Namen hervor: Gottfried Arnold ist 1699 in seiner "unparteiischen Kirchen- und Ketzerhistorie" mit großer Leidenschaft (wie Friedrich Heer im 20. Jh.) für eine neue Sicht der christlichen Kirchengeschichte eingetreten, die das wahre Christentum bei den Verfemten und Ketzern suchte. Damit war auch der Boden bereitet für eine selbständige Beschäftigung mit den Gnostikern, zunächst v.a. mit den Quellen über sie. Ferdinand Christian Baur (Tübinger Kirchenhistoriker, 1792-1860) gilt als der eigentliche Begründer der Gnosisforschung. Seine Darstellung "Die christliche Gnosis oder die christliche Religions-Philosophie in ihrer geschichtlichen Entwicklung" (1835) bildet einen Markstein der Forschung auf diesem Gebiet. Freilich ist Baur der Hegelschen Spekulation verhaftet, indem er versucht, die Gnosis als Ausgangspunkt der christlichen Religionsphilosophie, die in der Hegelschen gipfelt, zu betrachten. Adolf von Harnack (1851-1930) hat sich verdient gemacht, indem er Quellenkritik betrieb und indem er dem Gnostizismus des 2.Jh. einen wichtigen Stellenwert in der Geschichte des christlichen Dogmas zumaß. Letzteres fand seinen klassischen Ausdruck in seinem "Lehrbuch der Dogmengeschichte", das erstmalig 1886 erschien und die Behandlung des Gnostizismus unter die programmatische Überschrift stellte: "Die Versuche der Gnostiker, eine apostolische Glaubenslehre und eine christliche Theologie zu schaffen, oder: die akute Verweltlichung des Christentums". Unter Verweltlichung verstand Harnack Hellenisierung. Derselbe Harnack hat sich allerdings später neueren Erkenntnissen nicht verschlossen und z.B. den jüdischen Anteil an der Entstehung der Gnosis und auch die Existenz einer außerchristlichen Gnosis anerkannt. Aber die Gnosis hat für ihn nur im kirchengeschichtlichen Rahmen Interesse gehabt. Wilhelm Bousset, ein protestantischer Neutestamentler, brachte einen weiteren Einschnitt in die Geschichte der Forschung durch sein Werk "Hauptprobleme der Gnosis" (1907). er führte die Gnosisforschung aus der Enge der Kirchengeschichtsschreibung in die freie Luft der 67 Religionsgeschichte, indem er die Entstehung der Gnosis aus einer vorchristlichen babylonischiranischen Mischreligion zu erklären suchte. Richard Reitzenstein, ein Altphilologe, setzte diese Intention fort und postulierte als Kern der Gnosis ein um die Identität von Gott und Seele kreisendes "iranisches Erlösungsmysterium", das bereits in vorchristlicher Zeit in Persien entstanden ist und im Manichäismus und Mandäertum seine reinste Ausprägung fand, aber auch sonst in den Mysterienreligionen der Spätantike seinen Einfluß ausübte. Mit diesen religionsgeschichtlichen Untersuchungen wurde auch das Neue Testament immer stärker in die Gnosisforschung einbezogen, vor allem durch Arbeiten aus der Schule des bekannten Neutestamentlers Rudolf Bultmann, der die Anliegen der sog. Religionsgeschichtlichen Schule bis in die Gegenwart hinein fruchtbar machte. Seitdem muß sich die Neutestamentliche Wissenschaft dem Problem der Gnosis stellen. 5.2 Das bekannteste und epochemachendste Werk der Gnosisforschung ist wohl das von Hans Jonas (1903-1992), einem nach Amerika emigrierten, deutsch-jüdischen Philosophen (wir konnten ihn noch in den 80er Jahren hier an der Universität Wien mit einem Vortrag über das "Prinzip Verantwortung" erleben. Vgl. das gleichnamige Buch in der Bibliothek Suhrkamp. Berührend sein Aufsatz: „Der Gottesbegriff nach Auschwitz“, in: H.J., Gedanken über Gott. Bibl. Suhrkamp, Frankfurt/M. 1994.). Er ist als Schüler von Rudolf Bultmann und Martin Heidegger zu bezeichnen. 1934 erschien in einem ersten Teil seine Arbeit "Gnosis und spätantiker Geist". Da das nationalsozialistische Regime ihn zwang, Deutschland zu verlassen, mußte die Fortsetzung seiner Arbeit unterbrochen werden. Erst nach dem 2.Weltkrieg, 1954, konnte der bereits 1934 fertiggestellte erste Halbband des zweiten Teils erscheinen. Das Werk blieb damit unvollendet. 1958 hat Jonas eine neue Zusammenfassung seiner Ansicht in einem englischen Werk vorgelegt. Das Besondere an dieser neuen Stufe der Gnosisforschung ist, daß das Wesen der Gnosis und ihrer Aussagen in einer Analyse zu bestimmen versucht wurde, die zwar von Existentialanalytik getragen war, mit der aber erstmalig eine Zusammenschau des bis dahin Untersuchten geboten wurde; damit wurde den Interessierten ein Mittel in die Hand gegeben, sich über die Eigenart des Gegenstands klar zu werden. Die historische Frage nach dem Ursprung der Gnosis wird nur sehr allgemein mit dem Auftreten eines neuen "Daseinsverständnisses" im Orient vor oder parallel mit der Entstehung des Christentums beantwortet. Aber das Weltbild, das sich in den zahlreichen Aussagen und Bildern der gnostischen Systeme Ausdruck verschaffte, ist von einem strengen Dualismus bestimmt, der alles Weltliche und Sichtbare einer Kritik und Ablehnung unterwirft; allein ein nur mit Negationen umschreibbares Jenseits, zu dem der Mensch in einem verborgenen Teil seines Selbst gehört, ist ein sicheres Fundament, und von ihm allein ist Rettung zu erwarten. Jonas, der dies in einer genialen Analyse der gnostischen Vorstellungen demonstriert, ist nun der Auffassung, daß weite Bereiche der Spätantike - "der spätantike Geist" - von dem gnostischen Weltbild beeinflußt sind; er spricht regelrecht von einem "gnostischen Zeitalter". Inwieweit dies zutrifft, etwa bei Philo, Origenes, Plotin - wird heute noch diskutiert. Sicher ist jedenfalls, daß durch Jonas die Gnosis endgültig aus ihrem wissenschaftsgeschichtlichen Ghettodasein befreit und einer universalhistorischen Wertschätzung zugeführt wurde. Daran ändert auch nichts seine zeitbedingte, in späteren Arbeiten von ihm selbst eingeschränkte methodische Bindung an Heidegger und (teilweise) Spengler. Der Rückschluß von der spekulativen Äußerung auf den Menschen und sein Selbstverständnis, das sich in solchen Äußerungen ausdrückt, ist auf jeden Fall ein neuer Ansatzpunkt. Diesen Ansatzpunkt hätte soziologische Forschung vertiefen können, was aber meines Wissens bisher kaum geschehen ist. Eher scheint eine psychologische Vertiefung da und dort ansatzweise gelungen. Die Arbeit von Jonas war die letzte große Zusammenfassung auf der Grundlage des "klassischen" Quellenbestands und krönender Abschluß einer Epoche. Sie wurde durch die neue Epoche, die mit dem Nag Hammadi-Fund begann, nicht desavouiert sondern bestätigt. 68 5.3 Aspekte der gegenwärtigen Forschungssituation 5.3.1 Einsicht in die Zirkelstruktur der typologischen und historischen Abgrenzungsversuche. Mit großer Klarheit hat diese Einsicht Hans Jonas zum Ausdruck gebracht in einem Vortrag: "Delimitation of the gnostic phenomenon - typological and historical"88 Mit dieser Einstellung zu Gnosis als einer "Stimmung" und mit der daraus folgenden "Delimitation" des gnostischen Phänomens hat Jonas die theoretische Grundlage für das zweibändige Werk von Sloterdijk und Macho gelegt, bei dessen Lektüre einem zunächst schwindlig werden kann, wenn man überlegt, was nun alles in den Bannkreis gnostischer Stimmung gerückt ist. Natürlich ist es eine willkürliche terminologische Festlegung, der man eine (bewußt oder nicht) ideenpolitische Nebenabsicht anmerkt: nämlich zum Christentum, das zumindest bis zur Aufklärung eine allesbeherrschende Stellung in der abendländischen Geistesgeschichte innegehabt hat, eine möglichst mächtige, beinahe ebenbürtige Gegengroßmacht zu stellen. Wenn es diese Absicht geben sollte (aber auch, wenn mein Verdacht grundlos sein sollte), so würde ich einen weiteren Reflexionsschritt vorschlagen: Haben wir es nicht mit einer geistigen Großmacht zu tun, die in der jahrtausendelangen Geschichte des Christentums weithin eben nicht als Gegenmacht, sondern als ein Machtfaktor innerhalb des Christentums virulent war? Die Lektüre eines Klemens Alexandrinus sollte hierin zu mehr Klarheit fürhren. 5.3.2 Einsicht in die "Arbeit des Mythos" in der Philosophie Der "Inhalt des gnostischen Erlösungswissens" ist letztlich "nichts anderes als die transzendente Geschichte selbst, weil diese entweder ausdrücklich oder implizit all die erleuchtende Wahrheit enthält, die die Welt dem Menschen vorenthält und die für die Erlösung erforderlich ist: "das Wissen, wer wir waren, was wir wurden; wo wir waren, wohinein wir geworfen wurden; wohin wir eilen, wovon wir erlöst werden, was Geburt ist, was Wiedergeburt" (Exc.Theod.78,2). Der gnostische Mythos ist stets und im Kern Begründung für die Wichtigkeit seiner eigenen Mitteilung und dazu Rechenschaft über seine übernatürliche Herkunft. Kraft beider, des offenbarten Inhalts und der offenbarenden Quelle, beansprucht er für sich selbst qua gekannt erlösende Kraft; kurz, er ist die Gnosis. Obwohl jedoch diesem Wissen um die Wahrheit an sich befreiende Wirkung zugeschrieben wird, weil es den erweckten Geist wieder in seine ursprüngliche Macht einsetzt, enthält es doch gewöhnlich auch ein Korpus praktischer, man möchte sagen, 'technischer' Information, eine Unterrichtung darüber, was man tun soll: die 'Kenntnis des Weges', d.h. der Sakramente, die jetzt zu verrichten, der 'Namen', die später zu benutzen sind, wenn der aufsteigende Geist, nachdem er den Körper mit dem Tode verlassen hat, den Mächten begegnet, und aller rituellen und ethischen Vorbereitungen, die die einstige Auffahrt sichern können. Der Naassener-Psalm definiert sogar die gnosis schlicht und einfach in diesem instrumentalen Sinne als "die Geheimnisse des Weges". Das ist nur dann eine adäquate Definition, wenn mitgedacht ist, daß die 'Geheimnisse' gleichzeitig die Summe des theoretischen Systems in sich enthalten, was in der Tat der Fall ist. Denn die Lehre von der Himmelfahrt der Seele wiederholt in ihren Details, wo solche gegeben werden, die Topographie und theologische Bedeutung des gnostischen Universums, da die Reiseroute der Seele und ihre Abenteuer bei dieser Gelegenheit in Umkehrung des uranfänglichen Sündenfalls durch die gesamte Ordnung der Dinge hindurchführen." 89 "Die Stimmung der Gnosis hat, abgesehen von dem tödlichen Ernst, der zu einer Erlösungslehre gehört, etwas Rebellisches und Protestierendes an sich. Ihre Verwerfung dieser Welt ist, weit in: Le Origini dello Gnosticismo. Colloquio di Messina. 13-18 Aprile 1966 (= Studies in the History of Religions. Supplements to Numen. XII). Leiden: E.J.Brill 1967, pp.90-104. Aus dem Englischen übersetzt von Detlev Fehling, in: Gnosis und Gnostizismus. Hrsg.v.Kurt Rudolph. (=Wege der Forschung Bd.262). Wissenschaftl.Buchgesellschaft Darmstadt 1975. S.626-645.<Handout 6,2> 89 H.Jonas, Typologische und historische Abgrenzung der Gnosis, o.c. 637f. 88 69 entfernt von der Gelassenheit oder Resignation anderer weltflüchtiger Glaubenslehren, von einer eigenartigen, oft in Schmähung ausartenden Heftigkeit, und wir beobachten allgemein eine Tendenz zum Extremismus, einen Exzeß von Phantasie und Gefühl. Uns kommt der Verdacht, daß die gestörte metaphysische Situation, von der der gnostische Mythos erzählt, ihr Gegenstück in einer gestörten realen Situation hat, daß die Gestalt der Krise, in die seine Symbolik gekleidet ist, eine historische Krise des Menschen widerspiegelt. Gewiß, eine solche Krise zeigt sich ebenso in anderen Erscheinungen der Zeit, seien sie jüdisch, christlich oder heidnisch, die häufig einen tief beunruhigten Gemütszustand, große seelische Spannungen, eine Neigung zum Radikalismus, zu übersteigerten Erwartungen und totalen Lösungen zeigt. Aber das gnostische Temperament wird von allen am wenigsten durch die Macht von Traditionen gezügelt, behandelt sie im Gegenteil durch den willkürlichen Gebrauch, den es von ihnen macht, mit eigentümlicher impietas. Dieser Mangel an Pietät, so sonderbar gemischt mit begierigem Interesse an altertümlicher Weisheit, muß zu den physiognomischen Zügen der Gnosis gerechnet werden..." Ein Absehen vom revolutionären und zornigen Element der Gnosis würde das Wesen der Gnosis verfehlen. "Auf der anderen Seite müssen wir, im Gegensatz zu dieser Maßlosigkeit im Emotionalen, sehen, daß der gnostische Mythus nicht naiv ist. Mit all seinen Roheiten ist er ein raffiniertes Erzeugnis, bewußt konstruiert, um eine Botschaft mitzuteilen, ja, sogar ein Argument vorzutragen, und überlegt aus den zusammengeraubten Elementen älterer Mythen zusammengesetzt. Kurz, es ist sekundäre, abgeleitete Mythologie, deren Künstlichkeit irgendwie zu ihrem Wesen gehört. Zwar enthält auch primäre Mythologie, bei der die mythische Sprache das natürliche und einzige Medium sowohl des Denkens als des Ausdrucks ist, gewisse spekulative Absichten; hat doch schon Aristoteles bemerkt, daß Mythologie die erste Form der Theorie und ein Vorläufer der Philosophie ist. Aber der ursprüngliche Mythos hatte hierin keine Wahl, da das Denken und die Art, es auszudrücken, eine unteilbare Einheit waren und die Alternative unabhängiger Abstraktion nicht verfügbar war. Auch bestimmte eher die Einbildungskraft den Zusammenhang der Gedanken (die 'Argumentation'),als daß der vorher vorhandene Gedanke die Phantasie in seinen Dienst nahm. Im Falle der Gnosis dagegen hat man das Gefühl, daß der Mythus eine frei gewählte Ausdrucksform der Spekulation ist, die in Konkurrenz, vielleicht sogar in Reaktion zu der der Philosophie steht, die als andere mögliche Wahl ebenfalls vorhanden war. Beides, Philosophie und der frühere, naive Mythos, werden als vorgefertigtes Material vorausgesetzt. Die Folge davon ist, daß der gnostische Mythus, indem er den letzteren benutzt, um seinen eigenen, vorher gedachten Ideen Ausdruck zu verleihen, oft eher ausgeklügelt allegorisch als authentisch 'symbolisch' (im ursprünglichen Sinne des nicht bewußt gewählten Symbols) ist. Daher die leichter Hand ausgewechselten Bilder für dasselbe Motiv und die vielen Variationen über ein gemeinsames Thema. So wahrhaft original der Grundgedanke der Gnosis mit seiner beunruhigenden Deutung einer beunruhigten Wirklichkeit ist, so unverkennbar haben die Mittel seiner Darstellung etwas "aus zweiter Hand" an sich. Dennoch zeigt sich andererseits auch eine entschiedene Erfindungsgabe in der Art, wie das entlehnte Detail dem großen gnostischen Denkentwurf, der bei aller verschwenderischen Ausschmückung nie aus den Augen verloren wird, angepaßt wird. Alles das ist nur in einer historisch 'späten', ausgeprägt literarischen und gründlich synkretistischen Situation denkbar. Diese gehört also, über die Doxographie hinaus, in die Phänomenologie der Gnosis hinein. Sie schließt die freie Verfügbarkeit von Traditionen ein, die nicht mehr bindend, aber geladen mit neu festlegbarer Bedeutung sind, und diejenigen, die sich ihrer in gnostischer Art bedienten, waren 'Intellektuelle' (vielleicht halbgebildet), die wußten, was sie taten." (l.c.639ff.) 5.3.3 Faszination der Ansätze einer theologischen Ästhetik "Unvermeidlich sind wir auf unserer Suche nach einer Typologie der Gnosis von definierbarer Lehre zu weniger definierbaren, aber nichtsdestoweniger sich aufdrängenden Elementen der Stimmung, des Stils und der Haltung zu anderen Denkweisen gelangt." (H.Jonas l.c.642) Die säuberliche Scheidung von theoretischer Philosophie und Ästhetik gelingt hier nicht. Ist Gnosis die theoretische Entspechung des Manierismus in der Kunst? Gustav René Hocke hat in seinem rde-Bändchen "Manierismus in der Literatur. Sprach-Alchemie 70 und esoterische Kombinationskunst" (Reinbek bei Hamburg 1959) auch ein Kapitel über das Corpus Hermeticum und seine Wirkung in der Renaissance. "Im Anfang des neuen europäischen Manierismus als Denkform steht Marsilio Ficino (1433-1499) mit seiner 'Idea'-Lehre." (Hocke, o.c.124) Jener Ficino, der auch den Poimandres ins Lateinische übersetzt hat. Phänomene wie das Groteske90, der Surrealismus fallen uns ein, Phänomene, die auf nicht leicht zu beschreibende Weise mit den uranfänglichen europäischen Spannungsfeldern zusammenhängen. 5.3.4 Die Berührungspunkte der Gnosis mit dem Existentialismus Hans Jonas hat sich gefragt, was in der Gnosis eigentlich passiert ist mit der alten Idee des Kosmos als eines göttlich geordneten Ganzen. Nichts der moderen Wissenschaft ähnliches war beteiligt an dieser katastrophalen Entwertung und geistigen Entleerung des Universums. Wir brauchen nur zu beobachten, daß in der gnostischen Epoche dies Universum gründlich dämonisiert wurde. Dennoch führt eben dies, zusammen mit der Idee vom transzendenten, akosmischen Selbst, zu eigentümlichen Analogien mit Phänomenen des Existentialismus in unserer Zeit. Was, wenn es nicht Wissenschaft und Technologie waren, veranlaßte für die fraglichen Gruppen damals den Zusammenbruch der klassischen Kosmosfrömmigkeit, auf der so viel von der antiken Ethik beruhte? Hans Jonas versuchte, wenigstens einen relevanten Aspekt darzulegen: "Was wir vor uns haben, ist der Bankrott der antiken Lehre vom Teil und Ganzen, und man muß wohl nach sozialen und politischen Ursachen dafür suchen. Die Lehre der klassischen Ontologie, wonach das Ganze früher und besser ist als seine Teile, dasjenige, um dessentwillen sie sind und worin sie daher nicht nur den Grund, sondern auch den Sinn ihrer Existenz haben - diese axiomatische Lehre hatte in der späteren Antike die soziale Basis ihrer Gültigkeit eingebüßt. Das lebende Beispiel eines solchen Ganzen war die Polis gewesen, in deren übergreifendem Leben das kurzlebige Tun der Einzelnen seine Möglichkeit, sein Maß und seine höhere Dauer hatte. Im tugendgemäßen Handeln, das vom Ganzen seine Norm empfing, verwirklichte der Bürger sich selbst, indem er durch es gleichzeitig das Ganze am Leben und vortrefflich erhielt. Mit der politischen Abdankung der Stadtrepubliken in den Diadochenmonarchien und schließlich im römischen Weltreich verlor das Polis-Bürgertum seine konstruktuive Funktion und seinen geistigen Ort. Die neuen Großstaaten versagten sich einem vergleichbaren Verhältnis. Aber das axiomatische Prinzip überlebte die Bedingung seiner konkreten Geltung. Stoischer Pantheismus, überhaupt die nacharistotelische Physiko-Theologie, substituierte für die Beziehung zwischen Bürger und Polis die zwischen Individuum und Kosmos als dem größeren lebenden Ganzen. Durch diese Substitution wurde das klassische Prinzip von Teil und Ganzen theoretisch in Kraft gehalten, obwohl es nicht mehr die praktische Situation des Menschen widerspiegelte. Jetzt heißt der Kosmos "die große Polis der Götter und Menschen", und ein Bürger des Universums, ein cosmopolites zu sein, ist das Ziel, auf das sich das isolierte Individuum ausrichten soll. Die Sache des Weltalls soll es als seine eigene ansehen (da es eine andere nicht mehr sein eigen nennen kann), sich mit ihm direkt, über alle Zwischenglieder hinweg, identifizieren und sein inneres Selbst, seinen Logos, zum Logos des Ganzen in Einklang bringen. Ein praktischer Aspekt dieser Identifizierung bestand in der Bejahung und loyalen Ausführung der Rolle, die Jedem vom Ganzen zugeteilt war, an eben dem Platze und in der Eigenschaft, die kosmisches Schicksal bestimmt hatte. "Seine Rolle spielen" - dies Wortbild, wie der ganze Theatervergleich, mit dem die stoische Ethik so gerne arbeitet, verrät das Fiktive der Position. Die zu agierende Rolle ersetzt die zu vollbringende wirkliche Aufgabe. Die Spieler auf der Bühne handeln, als ob die Handlung ihre Entscheidung wäre und als ob es auf den Erfolg ihres Tuns ankäme. Worauf es wirklich ankommt, ist nur, gut zu spielen und nicht schlecht, ohne wirkliche Relevanz des Ergebnisses. Die Akteure, tapfer spielend, sind ihre eigenen Zuschauer. 90 Wolfgang Kayser, Das Groteske in Malerei und Dichtung, rde 1960 71 Die Rede von der zu spielenden Rolle verbirgt eine tiefe Resignation, (wir kennen diese auch aus Hofmannsthals "Jedermann" samt seinen geistigen Vorfahren) und es bedarf nur eines Wechsels der Haltung, um das große Schauspiel ganz anders anzusehen. Kümmert sich das Ganze wirklich um den Teil, der ich bin? Die Stoiker behaupteten es, indem sie kosmisches Schicksal mit Vorsehung gleichsetzten. Und bedeutet mein Teil, wie immer ich ihn spiele, wirklich etwas für das Ganze? Die Stoiker behaupteten es, indem sie den Kosmos mit der Polis verglichen. Aber eben dieser Vergleich zeigt die Künstlichkeit der Konstruktion; denn im Gegensatz zu dem, was für die Polis gilt, läßt sich meine Wichtigkeit für den meinem Einfluß entzogenen Kosmos nicht glaubhaft machen, und mein Teil in ihm ist von einseitiger Passivität. Nun war das angestrengte Pathos, mit dem die Integration des Menschen im Seinsganzen mittels der angeblichen Wesensverwandtschaft weiterbehauptet wurde, ein heroischer und durch Jahrhunderte erfolgreicher Versuch der Intelligenz, mit der Würde des Menschen auch nach dem Verlust der Polis eine positive Moral zu bewahren und die lebensspendende Kraft des ursprünglich politischen arete-Ideals in die veränderten Verhältnisse hinüberzuretten. Aber die neuen und atomisierten Massen des Weltreichs, die nie an jener noblen Tradition teilgehabt hatten, konnten auch anders auf eine Situation reagieren, der sie sich passiv ausgesetzt fanden: eine Situation, wo der Teil bedeutungslos für das Ganze ist, und das Ganze seinen Teilen fremd. Die Aspiration des gnostischen Einzelnen war nicht, den ihm vom Ganzen zugemessenen Teil darzustellen, sondern selbst und eigentlich zu sein, "authentisch" zu existieren. Das Gesetz des Imperiums, unter dem er sich fand, war die Verfügung einer äußeren Gewalt, und denselben Charakter hatte für ihn das Gesetz des Alls, das kosmische Schicksal, dessen irdischer Vollstrecker der Weltstaat war. Der Begriff des Ganzen als solchen wurde in all seinen Aspekten hiervon betroffen - als Naturgesetz, politisches Gesetz und Moralgesetz. Damit kommen wir zu unserem Vergleichsthema zurück. Die Untergrabung der Idee des Gesetzes, des Nomos, führt zu ethischen Folgerungen, in denen die nihilistische Komponente des gnostischen Akosmismus, und zugleich die Analogie zu gewissen modernen Gedankengängen, noch offenkundiger wird als im kosmologischen Aspekt. Ich meine den gnostischen Antinomismus, die Verneinung jeder Gesetzesverbindlichkeit. Es ist sogleich zuzugeben, daß die Leugnung objektiver Norm in Gnosis und Existentialismus auf sehr verschiedenem theoretischem Niveau entwickelt wird und daß der gnostische Antinomismus primitiv erscheint im Vergleich zu der begrifflichen Subtilität und historischen Selbsterhellung des modernen Gegenstückes. Was im einen Fall liquidiert wurde, war die sittliche Erbschaft von tausend Jahren antiker Zivilisation; im anderen Fall kommen hierzu zweitausend Jahre christlicher Metaphysik als Hintegrund der Idee eines Sittengesetzes. Nietzsche bezeichnete die Wurzel der nihilistischen Situation mit den Worten "Gott ist tot", und meinte primär den christlichen Gott. Die Gnostiker, hätten sie die metaphysische Basis ihres Nihilismus ähnlich formulieren wollen, hätten nur sagen können, "der Gott des Kosmos ist tot", d.h. als Gott - er hat für uns aufgehört, göttlich zu sein und unserem Leben Richtung zu geben. Offenbar ist in diesem Fall die Katastrophe weniger total, aber das Vakuum, das sie ließ, wenn auch nicht so bodenlos, war verstörend genug. - Für Nietzsche ist der Sinn des Nihilismus, "daß die obersten Werte sich entwerten", und der Grund dieser Entwertung ist "die Einsicht, daß wir nicht das geringste Recht haben, ein Jenseits oder ein An-Sich der Dinge anzusetzen, das 'göttlich' das leibhafte Moral sei". Im Verein mit der Rede vom Tode Gottes bestätigt dieser Satz die Feststellung Heideggers, "daß die Namen Gott und christlicher Gott im Denken Nietzsches zur Bezeichnung der übersinnlichen Welt überhaupt gebraucht werden. Gott ist der Name für den Bereich der Ideen und der Ideale." Da von diesem Bereich alle "Werte" ihre Sanktion ableiten können, so bedeutet sein Schwinden, d.h. der "Tod Gottes", nicht nur die tatsächliche Entwertung der obersten Werte, sondern den Verlust der Möglichkeit verpflichtender Werte überhaupt. Um nochmals Heideggers Nietzsche-Interpretation zu zitieren: "Das Wort 'Gott ist tot' bedeutet: die übersinnliche Welt ist ohne wirkende Kraft." In einem paradoxen Sinn paßt dies auch für die gnostische Position. An sich ist natürlich ihr extremer Dualismus das gerade Gegenteil einer Aufgabe der Transzendenz. Der außerweltliche Gott stellt sie ja in der radikalsten Form dar. In ihm ruft das absolute Jenseits durch die kosmischen Sphärenhüllen hindurch. Aber diese Transzendenz, anders als die Ideenwelt Platos 72 oder der Weltherr des Judentums, steht in keiner positiven Beziehung zur sinnlichen Welt. Sie ist nicht deren Essenz oder Ursache, sondern ihre Verneinung und Aufhebung. Der vom Demiurgen verschiedene gnostische Gott ist der total andere, fremde, unbekannte. Wie sein innermenschliches Gegenstück, das Pneuma, dessen verborgene Natur sich nur in der negativen Erfahrung der Andersheit und der undefinierbaren Freiheit offenbart, hat dieser Gott mehr vom nihil als vom ens an sich. Eine Transzendenz ohne normative Beziehung zur Welt gleicht einer Transzendenz, die ihre wirkende Kraft verloren hat. Mit anderen Worten, hinsichtlich des Verhältnisses des Menschen zu der ihn umgebenden Wirklichkeit ist dieser verborgene Gott eine nihilistische Konzeption: kein Gesetz geht von ihm aus - keins für die Natur und somit auch keins für menschliches Handeln als Teil der Naturordnung. Auf dieser Grundlage ist das antinomistische Argument der Gnostiker so einfach wie z.B. das von Sartre. Da das Transzendente schweigt, so sagt Sartre, da "es kein Zeichen in der Welt gibt", so reklamiert der verlassene und sich selbst überlassene Mensch seine Freiheit, oder vielmehr, es bleibt ihm nichts übrig, als sie auf sich zu nehmen: er "ist" diese Freiheit, da der Mensch "nichts als sein eigenes Projekt ist", und "alles ist ihm erlaubt". Daß diese Freiheit verzweifelter Art ist und, als kompaßlose Aufgabe, mehr Angst als Jubel einflößt, ist eine Sache für sich."91 5.3.5 Glanz und Elend der Phänomenologie Ich habe schon auf die Zirkelstruktur der typologischen und historischen Abgrenzungsversuche hingewiesen und einen darauf bezogenen Text von Hans Jonas vorgelegt. Um es kurz mit anderen Worten zu wiederholen: Die Begriffsbestimmung von Gnosis und die Bestimmung ihres Ursprungs setzen einander wechselseitig voraus: Der Begriff der Gnosis wird nach vollzogener Ursprungsbestimmung von dieser her illuminiert, und andererseits wird die Begriffsbestimmung der Gnosis wegweisend für die Konstruktion des jeweiligen Ursprungsmodells. Weiters haben wir bereits festgestellt, daß die Forschungsgeschichte zunächst motivgeschichtlich argumentierende Ableitungsversuche gemacht hat; sie tendieren zu einem regressus in infinitum, ob man nun für hellenistische,92 orientalische, jüdische bzw. heterodox-jüdische oder christliche Herleitung plädiert. Auch wenn man mit dem Ausdruck der Prä-Gnosis arbeitet, entkommt man dem nicht. <Prägnosis oder auch frühe Gnosis bestimmt sich komplementär zu einem 'eigentlichen' Gnosisbegriff. Dieser Sachverhalt fordert aber ein höheres Allgemeines, unter das die 'eigentliche' Gnosis (Gnosis im engeren Sinn) und die Prägnosis subsumiert werden können. Durch Manipulation der aufgezeigten Typen wird durch eine Typenstaffelung die Gnosis zu einer prätypischen Gnosis.> Natürlich gehört auch die Vorstellung hierher, Gnosis sei eine Degenerationserscheinung, wie das z.B. bei Hans Leisegang zu finden ist.93 Ebenso der Standpunkt, das gnostische Denken sei aus Hans Jonas, Gnosis, Existentialismus und Nihilismus. Aus: Gnosis und spätantiker Geist. Band I: Die mythologische Gnosis. Göttingen, Vandenhoek & Ruprecht 1964 . S. 262. 92 C.Schneider, Geistesgeschichte des antiken Christentums, Bd.1, München 1954, 268 bezeichnet den 'Geist' der Gnosis als 'nur griechisch, und zwar vorwiegend platonisch.' Nach ihm gehört die Gnosis 'in die Geschichte des Spätplatonismus als eine seiner Abzweigungen, allerdings eine sehr merkwürdige'. 93 H.Leisegang, Die Gnosis, Stuttgart, 4.Aufl., 1955, 51: "Der tiefere Grund für die unerquicklichen Auswüchse gnostischer Spekulation liegt jedoch in dem Umstand, daß hier zwei Gedankenwelten und zwei Denkarten miteinander verbunden werden, die sich ihrem innersten Wesen nach gegenseitig fremd sind, und von denen jede ein klares Verstehen ihrer Eigenart und der aus ihr folgenden Unverträglichkeit mit der anderen verlangt. Das mythisch-mystische Denken wird hier gewaltsam rationalisiert und auf eine Ebene des Bewußtseins gezerrt, auf der es nicht gedeihen, sondern nur entstellt und mißverstanden werden kann." Und ferner: "Die ganze Art des Denkens und Schauens, des Kombinierens und Spekulierens, die innere Form und die geistige Struktur der Systeme werden sich hierbei als griechisch, das verarbeitete Material zum Teil als orientalisch 91 73 dem Zusammenwirken zweier Traditionen verschiedenen Ursprungs zu begreifen, "einer wesentlich stoffgebenden und einer formenden: der der altorientalischen Religionen und der des griechischen begrifflichen Denkens".94 Gegenüber dieser motivgeschichtlichen Arbeitsweise waren reduktiv argumentierende Ableitungen ein neuer Anlauf: Man suchte Gnosis durch ein Phänomen zu erklären, welches selbst keiner Genese mehr bedürftig sein soll oder dessen Genese nicht ableitbar sein soll. Der Konstitutionsprozeß, der die Gnosis gebracht hat, wird hier psychologisch oder soziologisch oder aber existential-ontologisch erklärt. Während die Religionsgeschichte das Verstehen eines religiösen Phänomens durch den Aufweis historischer Affiliationen zu fundieren bemüht ist, will die phänomenologische Methode nicht beim bloßen Nachweis der Ähnlichkeit oder Gleichheit religiöser Vorstellungen stehenbleiben, sondern das Verständnis dieser Ähnlichkeit oder Gleichheit durch den Rekurs auf eine im Menschen angelegte Struktur begründen. G.Quispel, der "die Forschung von den falschen Prinzipien der religionsgeschichtlichen Schule zu reinigen" wünscht, und sich dafür ausspricht "anzuerkennen, daß Ähnlichkeit, Verwandtschaft, Gleichheit religiöser Phänomene auch vorliegen kann, wenn keine historische Abhänigkeit besteht", sieht eine solche Struktur in der Projektion der Selbsterfahrung, so daß er definieren kann: "Gnosis ist mythische Projektion der Selbsterfahrung."95 Dafür kann er sogar einen Kirchenvater als Zeugen heranziehen: Origenes (De princip., IV,2,8) charakterisierte die Gnostiker so: "Sie haben sich den Imaginationen ergeben und sich mythische Hypothesen erfunden, aus denen sie die sichtbare Welt herleiten, und auch einige unsichtbare Dinge, welche ihre Seele bildhaft geschaffen hat." Das betrifft die Projektion; die Selbsterfahrung wird darin gesehen, daß gnostische Texte hervorheben, "daß die Erlösung darin besteht, daß der Mensch sich seines Ursprungs erinnert und sich der Göttlichkeit seines in Dunkel gehüllten Selbst bewußt wird".96 Solche psychologische Analyse kann durch soziologische Analysen gestützt und ergänzt werden, wie es schon letztes Mal angeklungen ist bei Hans Jonas' Sicht vom "Bankrott der antiken Lehre vom Teil und Ganzen". Anschaulich sagt es wieder G.Quispel: "Staunend und gebannt stand der Mensch vor der Tiefe in sich. Seine Einordnung in das Universum ging ihm abhanden: der Kosmos wurde mehr und mehr entgöttlicht und dämonisiert. Die Polis, das Imperium waren keine organischen Verbände mehr: der Staat war eine dirigierte Bürokratie, die den einzelnen nicht beanspruchte, die Großstädte machten den Menschen unsagbar einsam. Da blieb nur die Flucht in die Erotik und die Flucht in sich selbst; das heißt, diese Kultur war sterbend und dem Untergang gewidmet, weil sie nicht mehr exzentrisch war."97 Kurt Rudolph hat sich um soziologische Analyse bemüht. Er spricht programmatisch (und im kommunistisch regierten ehemaligen DDR-Staat pflichtschuldig) von den zu erforschenden "sozioökonomischen Ursachen" des Gnostizismus.98 Ein kombiniertes psychologisch-soziologisches Modell legt R.M.Grant in seinem Buch "Gnosticism and early Christianity", New York, 1959, vor, und zwar sieht er in einem mit dem Fall von Jerusalem im Jahre 70 verbundenen Zusammenbruch apokalyptischer Hoffnungen im herausstellen." (Leisegang, o.c. 5). 94 H.H.Schaeder, Urform und Fortbildungen des manichäischen Systems, Vorträge der Bibliothek Warburg, Vorträge 1924-1925, Leipzig / Berlin 1927, 121. 95 G.Quispel, Gnosis als Weltreligion, Zürich 1951, 17. 96 G.Quispel, ib. 97 G.Quispel, o.c.20. 98 K.Rudolph, Stand und Aufgaben in der Erforschung des Gnostizismus, in Tagung für allgemeine Religionsgeschichte 1963, Sonderheft der wissenschaftlichen Zeitschrift der Friedrich-Schiller-Universität Jena, 98. (Im Wege der Forschung-Band "Gnosis und Gnostizismus" S.552) 74 Judentum "the impetus toward Gnostic ways of thinking..."99 In der Nachfolge von Hans Jonas und seiner existential-ontologischen Analyse der Gnosis, die ihm ja nicht zur Kausalanalyse des Ursprungs von Gnosis diente, sondern zu deren besserem Verständnis, (in der Ursprungsfrage entschied sich Jonas für das 'orientalisierende' Lager, da er die orientalische Form der Gnosis als "ursprünglichsten Ausdruck der in Frage stehenden Daseinsverfassung" ansieht100) befinden sich eine Reihe namhafter Forscher wie Rudolf Bultmann, der z.B. sagt: "Sie (seine Darstellung in: das Urchristentum, Zürich 1963) will also nicht historische Forschung in dem Sinne sein, daß sie neues religionsgeschichtliches Material bringt oder neue Kombinationen religionsgeschichtlicher Zusammenhänge vorträgt. Solche Forschung ist in ihr vorausgesetzt. Die Aufgabe ist vielmehr die der Interpretation. Gefragt wird nach dem Existenzverständnis, das im Urchristentum als neue Möglichkeit menschlichen Existenzverständnisses zutage getreten ist, - oder vorsichtiger, ob oder inwiefern das der Fall ist."101 Der existential-ontologische Gesichtspunkt ist, so kann man zu Bultmann wie zu Jonas feststellen, als ein heuristischer verwendet, d.h. er soll helfen, das, was sich in den Texten objektiviert, zu verstehen. Andere Forscher haben im Anschluß an Jonas gemeint, einfach von der NichtAbleitbarkeit ausgehen zu müssen. So sagt H.-M.Schenke: "Der Ursprung der Gnosis ist demnach zu bestimmen als der Ursprung der der Gnosis eigentümlichen nicht ableitbaren Daseinshaltung."102 Auch für W.Schmithals ist Gnosis nicht ableitbar. Auch er läßt Gnosis konstituiert sein durch das existential-ontologische Modell, d.h., die aufbrechende gnostische Grundhaltung expliziert sich in einer Objektivationsschicht, wobei sie sich der zuhandenen nichtgnostischen Motive bedient, die natürlich ihre eigene Geschichte haben. C.Colpe erörtert die Ursprungsproblematik von Gnosis nicht explizit. Er charakterisiert Gnosis als "eine religiöse Bewegung der Spätantike, die nicht mehr als die jeweils kontinuierliche Fortsetzung der in den Mittelmeerländern, in Mesopotamien und Iran originären Religionen verstanden werden kann, sondern ihnen allen gegenüber etwas im zentralen religiösen Impuls Neues darstellt."103 Ferner stellt er fest: "Lassen sich Geschichte und Verknüpfung von Einzelmotiven oft philologisch ermitteln, so ist die Entstehung der eigentlichen Gnosis nicht erklärbar."104 Aus dieser negativen Ansetzung des Wesens von Gnosis geht auch hervor, daß motivgeschichtlich der Ursprung nicht in den Griff zu bekommen sei. Es zeigt sich also, daß die Überzeugung der frühen Phänomenologen, man könne mittels der phänomenologischen Methode das Reich der reinen, idealen, überzeitlichen und ungeschichtlichen Wesenheiten freilegen und erforschen, an einem Gegenstand wie der Gnosis an ihre Grenzen gestoßen ist.105 Bei den einzelnen Forschern scheint meist auch keine Klarheit darüber zu bestehen, wie der Wesensbegriff zu handhaben ist. Hans Jonas hat den existential-ontologischen Gesichtspunkt "mit Überzeugung und Ironie R.M.Grant, Gnosticism and Early Christianity, N.Y. 1959, 34. H.Jonas, Gnosis und spätantiker Geist, Teil 1, Die mythologische Gnosis, Göttingen 3.Aufl., 1964, 8. 101 R.Bultmann, Das Urchistentum, Zürich 1963, 8. 102 H.-M.Schenke, Hauptprobleme der Gnosis. Gesichtspunkte zu einer neuen Darstellung des Gesamtphänomens. In Kairos, 1965, Heft 2, 118. Vgl. 125: "Die Gnosis ist übehaupt nicht ableitbar." 103 C.Colpe, RGG, 3.Aufl., Bd.2, 1958, 1649. 104 C.Colpe, ib. 105 Ich empfehle die Lektüre des §7 in Martin Heideggers Sein und Zeit, Max Niemeyer Verlag Tübingen, 11.Aufl.1967, 27-39: Die phänomenologische Methode der Untersuchung. 99 100 75 zugleich" (o.c.90) gebraucht. Sein Begriff der "Daseinshaltung" ist ein Begriff, der zur Erkennntis von Gnosis nicht im Sinn einer Substanzerkenntnis führen kann. Gnostische Daseinshaltung darf auch nicht mit Gnosis verwechselt werden. Nichtsdestoweniger ist die Einsicht in den hermeneutischen Zirkel ein großer Fortschritt. Von gewissen Wesensbestimmungen her sind gewisse Ursprungsbestimmungen sinnvoll. "Die Ursprungsbestimmung von Gnosis hat das Moment ihrer Wahrheit darin, daß sie treu bleibt dem ihr komplementären Wesensbegriff."106 6. Gnosis und Neues Testament 6.1 Lektüre des Textes: 1 Kor 13 - "Wie in einem Spiegel" 6.2 Literatur: F.C.Burkitt, Church and Gnosis, 1932 E.Haenchen, Gab es eine vorchristliche Gnosis? ZThK 49 (1952), 316-349. H.-J.Schoeps, Urgemeinde, Judenchristentum, Gnosis, 1956. R.P.Casey, Gnosis, Gnosticism and NT, in: The Background of the NT and its Eschatology (Festschr.f.C.H.Dodd), 1956, 52-80. R.Bultmann, Theologie des Neuen Testaments, Tübingen: J.C.B.Mohr ³1958 Hendrik J.W.Drijvers, The Origins of Gnosticism as a Religious and Historical Problem, NedThT 22 (1967/8) 321-351 = Kurt Rudolph (Hg.), Gnosis und Gnsostizismus, WdF 262, Darmstadt: Wissenschaftl. Buchgesellschaft 1975, 798-841. Walter Schmithals, Neues Testament und Gnosis, 1984 (Erträge der Forschung Bd 208, Darmstadt) Robert McLachlan Wilson, Art. Gnosis/Gnostizismus II, TRE 13, 1984, 535-550 Hans-Josef Klauck, Die religiöse Umwelt des Urchristentums II. Herrscher- und Kaiserkult, Philosophie, Gnosis, Stuttgart, Berlin, Köln: Kohlhammer 1996, 145-198. Martin Hengel, Die Ursprünge der Gnosis und das Urchristentum, in: J.Adna, Evangelium – Schriftauslegung – Kirche, FS Peter Stuhlmacher, Göttingen: Vandenhoeck 1997, 190-223. 6.3 Das hermeneutische Problem Neben der Frage nach gnostischen Irrlehren, die im NT bekämpft werden, steht das Problem, ob bzw wieweit die ntl. Autoren selbst gnostische Vorstellungen, Begriffe und Gedanken aufgenommen und sich zu eigen gemacht haben. Die Möglichkeit, hier von Prä-Gnosis, Proto-Gnosis, Gnosis in statu nascendi u.dgl. zu sprechen, ist nicht mehr gegeben, seit Texte jüdischer Gnosis in Nag Hammadi gefunden wurden. Die Tübinger Schule hatte das Johannesevangelium spät im 2.Jh. datiert und in große Nähe zur Gnosis gerückt. Manche Vertreter der Religionsgeschichtlichen Schule unterstellen sodann dem Apostel Paulus, ein Gnostiker zu sein. Später haben Ernst Käsemann und andere wiederum dem JohEv eine starke gnostisierende Tendenz zugeschrieben. Derartige Deutungen beruhen auf einer bestimmten Interpretation der entsprechenden Schriften, und sie werden nicht durch die Schwierigkeit ermöglicht, das Gnostische als solches präzis zu bestimmen. Scheidet die Erklärung aus, daß wir innerhalb der ntl. Theologie selbst einer 'Gnosis in statu nascendi' begegnen, so bietet sich der Versuch an, die 'Gnosis im NT' als unmittelbare Anknüpfung an die Sprache der jeweiligen Kontrahenten verständlich zu machen. Vor allem bestimmte Abschnitte der paulinischen Briefe sind unter der Voraussetzung erklärt worden, daß Paulus Robert Haardt, Bemerkungen zu den Methoden der Ursprungsbestimmung von Gnosis. <Le Origini dello Gnosticismo. Colloquio di Messina. 13-18 Aprile 1966 (=Studies in the History of Religions. Supplements to Numen. XII). Leiden: E.J.Brill 1967, pp.161-173. Abgedruckt in Gnosis und Gnostizismus, Hrsg.v.K.Rudolph, Wege der Forschung CCLXII, Darmstadt 1975. 654-667.> 667. 106 76 Begriffe bzw. ganze 'Sprachspiele' seiner Gegner aufnimmt, sie 'umfunktioniert' und gegen ihre Urheber verwendet. Dies gilt z.B. für 1Kor 2,6ff.107 sowie für Johannes, sofern dieser, vielleicht selbst ein ehemaliger Gnostiker, in der Auseinandersetzung mit Gnostikern den Gnostikern ein Gnostiker wird, um die Gnostiker zu gewinnen, indem er durch die Verwendung gnostischer Kategorien zum Ausdruck bringt, daß die christliche Verkündigung die in der gnostischen Theologie und Sprache intendierte, den Gnostikern selbst aber verborgene Wahrheit ausspricht. 6.4 Die Fakten (Resumee der Arbeit von Schmithals): Ein Durchgang durch die ntl. Schriften, die von der alten Kirche zu einem antignostischen Kanon zusammengestellt wurden, ergibt, daß sich unter ihnen in der Tat keine gnostische Schrift befindet. Die ntl. Theologien benutzen gnostische Sprache, um das christliche Daseinsverständnis zum Ausdruck zu bringen. Nur hinsichtlich des vorredaktionellen JohEv stellt sich weiterhin die schwierige exegetische Frage, wieweit die Theologie, in der es wurzelt und aus der es erwächst, und ggf. in welchem Sinne sie als 'gnostisierend' bezeichnet werden kann. Gnostische Irrlehrer, welche die christlichen Gemeinden beunruhigen, sind seit der dritten Missionsreise des Apostels Paulus kontinuierlich im Bereich der Ägäis festzustellen und bilden bald eine Erscheinung innerhalb oder am Rand dieser Gemeinden selbst. Wir haben also von einer gnostischen Konkurrenz- bzw. Parallelmission schon im apostolischen Zeitalter auszugehen. Falls 1/2/3 Joh Irrlehrer im syrisch-palästinensischen Raum bekämpfen, spricht dieser Sachverhalt ebenso wie die Beobachtungen zur Gestalt des Simon Magus dafür, daß der Ursprung jener gnostischen Mission nicht im ägäischen Raum selbst, sondern in weiter östlich gelegenen Gebieten zu suchen ist. Diese Vermutung bestätigt sich, wenn man nach der Herkunft der gnostischen Begrifflichkeit innerhalb der einschlägigen theologischen Entwürfe im NT fragt. Es fällt auf, daß ein bestimmtes Schrifttum des NT gar keine nennenswerten Einflüsse einer gnostischen Begriffs- und Vorstellungswelt zeigt. Dabei handelt es sich vor allem um die synoptische Tradition. Dazu treten 1Petr, Offb und mit unterschiedlichem Abstand Past, Hebr, Jak. Der Ort dieses Schrifttums ist größtenteils in dem der hellenistischen Synagoge verbundenen Christentum zu suchen. Da sich dieses hellenistisch-synagogale Christentum relativ kontinuierlich aus dem palästinensischen Urchristentum entwickelt zu haben scheint, dürfte auch das palästinensische Urchristentum keine gnostischen Einflüsse gekannt haben. Stark von gnostischer Begriffs- und Vorstellungswelt beeinflußt zeigen sich demgegenüber die Grundschicht der paulinischen Theologie und die joh. Gemeindetheologie mitsamt der an sie anschließenden Überlieferungen. Gemeinsam ist der pln. und der joh. Tradition dabei der Erlösermythos (Präexistenzchristologie; Sendungsformeln) und die Begrifflichkeit des anthropologischen Dualismus. Darüber hinaus ist für Paulus die 'Christusmystik' charakteristisch, für Johannes die Sprache des kosmischen Dualismus. Eine gegenseitige Abhängigkeit von Paulus und Johannes wird ausgeschlossen. 6.5 Erläuterung Gerd Theißen, Die Religion der ersten Christen. Eine Theorie des Urchristentums. Gütersloh 2000 (³2003), S. 314: „Durch die judaistische Krise im 1. Jh. war entschieden, daß das Christentum kein Teil des "Und doch verkünden wir Weisheit unter den Vollkommenen, aber nicht Weisheit dieser Welt oder der machthaber dieser Welt, die einst entmachtet werden. Vielmehr verkünden wir das Geheimnis der verborgenen weisheit Gottes, die Gott vor allen Zeiten vorausbestimmt hat zu unserer Verherrlichung. Keiner der Machthaber dieser Welt hat sie erkannt; denn hätten sie die Weisheit Gottes erkannt, so hätten sie den Herrn der Herrlichkeit nicht gekreuzigt." 107 77 Judentums ist. Um so mehr stellte sich dann die Frage, ob es nicht Teil der allgemeinen hellenistischen Religion werden könnte – Teil einer verschiedene Religionen und Kulte durchdringenden neuen Bewegung. Man kann die Gnosis als solch eine interreligiöse Bewegung interpretieren, die u.a. das Christentum erfaßte.“ Rudolf Bultmann (o.c. 167): "Es war ein geschichtlich notwendiger Vorgang, daß das Evangelium von dem einen und wahren Gott und von Jesus, dem Messias-Menschensohn - daß die eschatologische Botschaft von dem bevorstehenden Gericht und Heil, die zunächst von der Begriffssprache der alttestamentlichjüdischen Tradition getragen waren, in der hellenistischen Welt in eine ihr vertraute Begrifflichkeit übersetzt wurden. Der Messias-Menschensohn, dessen Parusie man erwartete, wurde zum kultisch verehrten kyrios. Um seine eschatologische Bedeutung und damit überhaupt die eschatologische Botschaft und den mit ihr gegebenen eschatologischen Dualismus für hellenistische Hörer überzeugend zum Ausdruck zu bringen, dazu boten die Gnosis und ihr Mythos eine weiten Kreisen verständliche Begrifflichkeit dar." Wie weit wurde nun das Verständnis der christlichen Botschaft im hellenistischen Christentum mittels der gnostischen Begrifflichkeit entfaltet? Ein solcher Vorgang vollzieht sich naturgemäß nicht ohne inhaltliche Beeinflussung. Und wie das hellenistische Christentum durch die Ausbildung des Kyrios-Kultes in den synkretistischen Prozeß hineingezogen wurde, so erst recht durch die Ausbildung der Erlösungslehre unter gnostischem Einfluß. (Das war an verschiedenen Orten in sehr verschiedenem Maß der Fall; und neben dem Einfluß der Gnosis steht auch ihre Abweisung.) Die Situation ist komplex; einige Aspekte daraus: 6.5.1 Die gnostische Bewegung bedeutete die ernsthafteste und gefährlichste Konkurrenz für die christliche Mission, und zwar infolge einer tiefgehenden Verwandtschaft. Das Wesen der Gnosis besteht ja nicht in ihrer synkretistischen Mythologie, sondern in einem, der antiken Welt gegenüber, neuen Selbst- und Weltverständnis, dessen Ausdruck nur die Mythologie ist. War für den antiken Menschen die Welt die Heimat gewesen - für das AT die Welt als Schöpfung Gottes, für die griechische Antike der von der Gottheit durchwaltete Kosmos -, so ist in der Gnosis wie im Christentum zum erstenmal die grundsätzliche Verschiedenheit des menschlichen Seins von allem welthaften Sein zum Bewußtsein gekommen und deshalb die Welt dem menschlichen Ich zur Fremde geworden, ja, in der Gnosis zum Gefängnis. Das Wissen um die himmlische Herkunft des Selbst, das Wissen um die Weltfremdheit und himmlische Herkunft des Selbst und um den Weg zur Erlösung aus dieser Welt - das ist die entscheidende Erkenntnis, die Gnosis, von der die gnostische Bewegung ihren Namen trägt. Die Geschichte des einzelnen Selbst ist eingegliedert in die Geschichte des ganzen Kosmos. Der gnostische Mythos schildert das kosmische Drama, in dem es zur Fesselung der Lichtfunken kam etc. Die Erlösung wird aus der himmlischen Welt gebracht. Vom höchsten Gott gesandt steigt wiederum eine Lichtgestalt, der Sohn des Höchsten, sein Abbild (eikón), aus der Lichtwelt herab und bringt die Gnosis. Es springt wohl unmittelbar ins Auge, welche Affinitäten sich da ergeben. 6.5.2 Soweit die christliche Verkündigung der alttestamentlich-jüdischen und urgemeindlichen Tradition treu blieb, sind entscheidende Gegensätze zur Gnosis sofort deutlich. Jener Tradition entsprechend hielt die Verkündigung in der Tat durchweg daran fest, daß die Welt die Schöpfung des einen wahren Gottes ist, daß also der Gott der Schöpfung und der Erlösung einer sind. Damit ist zugleich ein Gegensatz in der Anthropologie gegeben. Denn für die genuin christliche Anschauung ist der Mensch mit Leib und Seele Geschöpf Gottes, und von seinem leib-seelischen Sein ist nicht noch als sein eigentliches Wesen ein präexistenter himmlischer Lichtfunke zu unterscheiden. Es geht daher auch nicht durch die Menschheit von vornherein jene Scheidung zwischen denen, die den Lichtfunken im Inneren tragen, den Pneumatikern, die - gnostisch gesprochen - physei sozómenoi sind, und den psychikoí oder sarkikoí, denen das himmlische Selbst fehlt, wenngleich diese gnostische Unterscheidung in anderer Weise akzeptiert wurde (s.u.). 78 Entsprechend besteht fast durchweg ein Gegensatz in der Eschatologie, insofern das christliche Kerygma den Gedanken der Himmelsreise des Selbst vermöge der gnosis und der sakramentalen Weihen nicht kennt, sondern die Auferstehung der Toten und das Gericht lehrt. Immerhin nimmt hier Joh eine Sonderstellung ein, und überhaupt ist die christliche Vorstellung von der Aufnahme der Gerechten in den Himmel und von der himmlischen Seligkeit stark beeinflußt worden. Die Differenzen ziehen einen Gegensatz in der Christologie nach sich, da die Gnosis die reale Menschheit Jesu nicht anerkennen kann. Diese ist für das präexistente Himmelswesen nur Verkleidung; und wo sich die Gnosis die christliche Tradition aneignet, muß sie, wenn sie nicht dabei bleibt, Jesu Fleisch und Blut für einen Scheinleib zu erklären, den Erlöser vom geschichtlichen Menschen Jesus unterscheiden und etwa behaupten, daß jener sich (in der Taufe) vorübergehend mit diesem verbunden habe, um ihn vor der Passion wieder zu verlassen. Der Kampf gegen die Gnosis besteht teilweise in der bloßen Warnung vor den moraì zetéseis, den logomachíai, den mythoi und genealogíai, den antithéseis tês pseudonymou gnóseos 1.Tim 1,4: "Bei meiner Abreise habe ich dich gebeten, in Ephesus zu bleiben, damit du bestimmten Leuten verbietest, falsche Lehren zu verbreiten und sich mit Fabeleien und endlosen Geschlechterreihen abzugeben, die nur Streitfragen mit sich bringen, statt dem Heilsplan Gottes zu dienen, der sich im Glauben verwirklicht." 4,7: "Gottlose Altweiberfabeln weise zurück! Übe dich in der Frömmigkeit!" 6,3-5: "Wer aber etwas anderes lehrt und sich nicht an die gesunden Worte Jesu Christi unseres Herrn, und an die Lehre unseres Glaubens hält, der ist verblendet; er versteht nichts, sondern ist krank vor lauter Auseinandersetzungen und Wortgefechten. Diese führen zu Neid, Streit, Verleumdungen, üblen Verdächtigungen und Gezänk unter den Menschen, deren Denken verdorben ist; dese Leute sind von der Wahrheit abgekommen und meinen, die Frömmigkeit sei ein Mittel, um irdischen Gewinn zu erzielen." 6,20: "Timotheus, bewahre, was dir anvertraut ist. Halte dich fern von dem gottlosen Geschwätz und den falschen Lehren der sogenannten 'Erkenntnis'!" 2.Tim 2,23: "Laß dich nicht auf törichte und unsinnige Auseinandersetzungen ein; du weißt, daß sie nur zu Streit führen." 4,3-5: „Denn es wird eine Zeit kommen, in der man die gesunde Lehre nicht erträgt, sondern sich nach eigenen Wünschen immer neue Lehrer sucht, die den Ohren schmeicheln; und man wird der Wahrheit nicht mehr Gehör schenken,sondern sich Fabeleien zuwenden." Tit 1,14: "Darum weise sie streng zurecht, damit ihr Glaube wieder gesund wird und sie sich nicht mehr an jüdische Fabeleien halten ..." 3,9: "Laß dich nicht ein auf törichte Auseinandersetzungen und Erörterungen über Geschlechterreihen, auf Streit und Gezänk über das Gesetz; sie sind nutzlos und vergeblich." Zuerst ist in den christlichen Gemeinden offenbar der Gegensatz in der Eschatologie und Christologie empfunden worden. Schon 1.Kr 15 ist eine große Polemik gegen die gnostisierende Richtung in Korinth, die behauptet: anástasis ek nekrôn ouk éstin. - "Eine Auferstehung von den Toten gibt es nicht" (15,12). Paulus mißversteht die Gegner freilich darin, daß er bei ihnen die Anschauung voraussetzt, mit dem Tode sei alles aus (15,19.32). Das war, wie schon der Brauch der Vikariatstaufe (15,29) zeigt, nicht der Fall; sie haben nur die realistische Auferstehungslehre der jüdisch-urchristlichen Tradition bestritten. Diese Anschauung konnte sich auch in den Satz kleiden: anástasin éde gegonénai, -"die Auferstehung sei schon geschehen"; d.h. die Auferstehungslehre konnte spiritualisiert werden (2.Tim 2,18; vgl. aber auch Joh 5,24f. und Eph 5,14). Für die echte Menschheit Christi kämpfen gegen die Gnostiker 1.Joh 2,22;108 4,2.15; 5,1.5-8; 2.Joh 7. Dabei scheint sich 1.Joh 5,6 109 speziell gegen den gnostischen Satz zu wenden, daß sich der in "Wer ist der Lügner, wenn nicht der, der leugnet, daß Jesus der Christus ist? Das ist der Antichrist: wer den Vater und den Sohn leugnet." 109 "Dieser ist es, der durch Wasser und Blut gekommen ist: Jesus Christus. Er ist nicht nur im Wasser gekommen, sondern im Wasser und im Blut. Und der Geist 108 79 der Taufe mit Jesus vereinigte Erlöser vor der Passion von ihm getrennt habe. Ähnlich führt Ignatius den Kampf gegen die gnostische Christologie, die ihm in der Form begegnet, daß Christus nur einen Scheinleib gehabt habe (Eph 7,2; 18-20; Mg 11; Tr 9f; Sm 1-3.7); ebenso Polykarp (Pol Phl 7,1). Weniger scheint zunächst der Gegensatz in der Gottes- und Schöpfungslehre zur Geltung gekommen zu sein, der für die späteren Ketzerbestreiter einen Hauptpunkt bildet. 6.5.3 Es ist nun wohl zu beachten, daß die Gnosis hier überall nicht etwa als eine fremde, heidnische Religion bekämpft wird, zu der abzufallen Christen in Gefahr sind. Vielmehr wird sie nur soweit in den Blick gefaßt, als sie eine innerchristliche Erscheinung ist. Und ebenso ist deutlich, daß die bekämpften Gnostiker keineswegs die christlichen Gemeinden als ein Missionsgebiet auffassen, das sie vom Christentum zur Gnosis bekehren wollen. Sie sind vielmehr der Meinung, Christen zu sein und eine christliche Weisheit zu lehren - und so erscheinen sie auch den Gemeinden. Von den Vertretern der alten Tradition werden die gnostischen Apostel freilich als Eindringlinge empfunden, und der Verfasser der Act läßt 20,29 Paulus weissagen: "Ich weiß: Nach meinem Weggang werden reißende Wölfe bei euch eindringen und die Herde nicht schonen." Aber V.30 läßt er ihn fortfahren: "Und selbst aus eurer Mitte werden Männer auftreten, die mit ihren falschen Reden die Jünger auf ihre Seite ziehen." Für Paulus sind die Apostel, die in Korinth eine pneumatisch-gnostische Bewegung entfacht haben, wohl Eindringlinge - aber nicht in die christlichen Gemeinden überhaupt, sondern in seine Gemeinde, über die als seine Gründung nur ihm die Kompetenz zusteht. Daß sie der Gemeinde als christliche Apostel gelten, ist völlig deutlich, wenngleich sie für Paulus Satansdiener sind (2.Kr 11,13: "Denn diese Leute sind Lügenapostel, unehrliche Arbeiter; sie tarnen sich freilich als Apostel Christi."). Sie verkünden Christus, freilich nach Paulus einen állos Iesoûs, hòn ouk ekeryxamen (11,4). In den Gemeinden von Ephesus, Pergamon und Thyatira sitzen bzw. saßen die Apk 2 bekämpften Irrlehrer offenbar als - wenigstens von einem Teil der Gemeinden - anerkannte Lehrer, als Apostel und Propheten. Natürlich wird die Gnosis auch durch wandernde Lehrer verbreitet - ebenso wie das Christentum -, und vor solchen von auswärts kommenden Irrlehrern warnen 2.Joh 10 und Did 11,2. Man sieht: das hellenistische Christentum steht im Strudel des synkretistischen Prozesses; das genuin christliche Motiv steht im Ringen mit anderen Motiven; die "Rechtgläubigkeit" steht nicht am Anfang, sondern wird sich erst herausbilden. Wahrscheinlich ist die Gnosis zuerst meistens durch das Medium eines selbst vom Synkretismus erfaßten hellenistischen Judentums in die christlichen Gemeinden eingedrungen. Die von Paulus in Korinth bekämpften gnostischen Pneumatiker sind jüdischer Herkunft (2.Kr 11,22 110 ). Das macht es nocheinmal begreiflich, daß die Gnosis nicht als ein heidnischer Glaube, sondern als eine Form des Christentums erscheinen konnte. 6.5.4 In welcher Weise aber hat nun das gnostische Denken, sein Mythos und seine Begrifflichkeit, Einfluß auf das christliche Denken gewonnen und zur Entfaltung der christlich theologischen Sprache beigetragen? (Hypothetischer Charakter dieser Überlegung) a) Zunächst in der begrifflichen Entwicklung des eschatologischen Dualismus, indem dieser über die Dimensionen eines heilsgeschichtlichen in diejenigen eines kosmologischen Denkens ist es, der Zeugnis ablegt; denn der Geist ist die Wahrheit." 110 "Sie sind Hebräer - ich auch. Sie sind Israeliten - ich auch. Sie sind Nachkommen Abrahams - ich auch. Sie sind Diener Christi - jetzt rede ich ganz unvernünftig - ich noch mehr: Ich ertrug mehr Mühsal, war häufiger im Gefängnis, wurde mehr geschlagen, war oft in Todesgefahr..." 80 hinübergeführt wurde - besser: indem das kosmologische Denken konsequenter weitergetrieben wurde. Denn schon in der jüdischen Eschatologie hatte die Zukunftshoffnung kosmisches Ausmaß gewonnen, unter dem Einfluß iranischer und babylonischer Mythologie, die ja auch für die Gnosis die Quellen des mythologischen Denkens waren. Aus diesen Einflüssen stammt die dem AT noch fremde Unterscheidung des gegenwärtigen und künftigen Zeitalters (aiòn hoûtos und méllon). Gnostische Sprache ist es, wenn der Satan der theòs toû aiônos toútou (2.Kr 4,4 111 ) oder der árchon toû kósmou toútou (Joh 12,31 112 ; 14,30; 16,11) heißt, wenn er ho árchon tês exousías tou aéros (Eph 2,2) oder ho árchon toû aiônos toútou (Ign Eph 19,1) genannt wird. Dem Namen wie der Bedeutung nach sind die árchontes toû aiônos toútou, die den kyrios tês dóxes ans Kreuz gebracht haben (1.Kr 2,6.8), Gestalten der gnostischen Mythologie, eben jene dämonischen Wetherrscher, die auch mit den Ausdrücken ángeloi, archaí, exousíai, dynámeis gemeint sind (Rm 8,38f.; 1.Kr 15,24.26; Kol 1,16; 2,10.15; Eph 1,21; 3,10; 6,12; 1.Pt 3,22). Sie sind wie in der Gnosis wesentlich als Gestirngeister gedacht und heißen als solche die stoicheia tou kósmou (Gl 4,3.9 113 ; vgl. Kol 2,8.20), die den Lauf und die Einteilung der Zeiten regieren (Gl 4,10). Von den mythologischen Gestalten abgesehen zeigt die Terminologie, in der der Dualismus zum Ausdruck kommt, weithin gnostischen Einfluß, am stärksten bei Joh, dessen Sprache durch die Antithese phôs - skotía beherrscht ist. Aber auch das übrige NT kennt den Gegensatz phos - skótos (Rm 13,12 114 ; 1.Th 5,4f.; 2.Kr <6,14>; Kol 1,12f.; Eph 5,8ff....) b) Gnostische Mythologie steckt hinter dem in Andeutungen verlaufenden und daher im einzelnen schwer zu erklärenden Satz vom Fall der Schöpfung Rm 8,20ff., die der douleía tes phthorâs verfallen ist und unter Seufzen der Befreiung harrt. Ganz im gnostischen Sinne ist Adams Fall, der (Sünde und) Tod über die Menschheit gebracht hat, Rm 5,12ff. interpretiert;115 ja, 1.Kr 15,21.44-49 ist die Bestimmtheit der adamitischen Menschheit von der anerschaffenen Qualität des Adam als eines psychikós und choikós ganz ohne Rücksicht auf seinen Fall abgeleitet. Der Gegensatz psychikós - pneumatikós zur Bezeichnung zweier grundsätzlich verschiedener Klassen von Menschen, ein Gegensatz, der weder aus dem griechischen Sprachgebrauch noch vom AT her, sondern nur aus der gnostischen Anthropologie verständlich ist, ist ein besonders deutliches Merkmal dafür, daß schon die anthropologischen Begriffe des Paulus unter dem Einfluß der Gnosis geprägt sind. Ebenfalls gnostisch gedacht ist es, wenn Joh 8,44 die Feindschaft gegen Jesus aus der Abstammung der Ungläubigen vom Teufel als dem Urlügner hergeleitet wird. Gnostische Mythologie dient also dazu, die Situation des Menschen in der Welt zu charakterisieren als ein Leben, das durch seine Herkunft zum Verderben bestimmt, das der Herrschaft dämonischer Mächte preisgegeben ist. Ja, Paulus wagt sogar im Widerspruch zu seiner sonstigen Anschauung, daß das Gesetz von Gott stammt (Rm 7,12.14), in der Polemik gegen die judaistische Gesetzlichkeit sich den gnostischen Satz zu eigen zu machen, daß es vielmehr von untergeordneten Engelmächten gegeben ist (Gl 3,19). "denn der Gott dieser Weltzeit hat das Denken der Ungläubigen verblendet." "Jetzt wird Gericht gehalten über diese Welt; jetzt wird der Herrscher dieser Welt hinausgeworfen werden." 113 "So waren auch wir, solange wir unmündig waren, Sklaven der Elementarmächte dieser Welt" 114 "Die Nacht ist vorgerückt, der Tag ist nahe, darum laßt uns ablegen die Werke der Finsternis und anlegen die Waffen des Lichts." 115 "Durch einen einzigen Menschen kam die Sünde in die Welt und durch die Sünde der Tod und auf diese Weise gelangte der Tod zu allen Menschen, weil alle sündigten." 14: "Adam aber ist die gestalt, die auf den Kommenden hinweist." 19: "Wie durch den Ungehorsam des einen Menschen die vielen zu Sündern wurden, so werden auch durch den Gehorsam des einen die vielen zu Gerechten gemacht werden." 111 112 81 Gnostisch ist dementsprechend weithin die Terminologie der Paränese, wenn sie davon redet - in Verbindung mit den Begriffen Licht und Finsternis - daß die Menschen in Schlummer oder Trunkenheit verfallen sind, daß sie geweckt werden und nüchtern sein müssen (Rm 13,11-13; 1.Th 5,4-6; 1.Kr 15,34; 16,13; Kol 4,2; Eph 5,14; 2.Tim 2,26; 4,5; 1.Pt 1,13; 5,8; ...) Ganz in gnostischer Sprache ist das Lied(fragment) Eph 5,14 geformt: "Wach auf du Schläfer / und steh auf von den Toten, / und Christus wird dein Licht sein". c) Vor allem aber diente nach Bultmann die gnostische Begrifflichkeit dazu, das Heilsgeschehen deutlich zu machen. Der Erlöser erscheint demzufolge als eine kosmische Gestalt, als das präeexistente Gottwesen, der Sohn des Vaters, der vom Himmel herabkam und Menschengestalt annahm, der nach seinem irdischen Wirken zur himmlischen Herrlichkeit erhöht wurde und die Herrschaft über die Geistermächte errang. So preist ihn das vorpaulinische, Phl 2,6-11 zitierte Christuslied. ("Er war Gott gleich, hielt aber nicht daran fest, wie Gott zu sein, sondern er entäußerte sich...") Vom Abstieg und Wiederaufstieg des Erlösers redet Eph 4,8-10. Daß der erhöhte die Herrschaft über das Reich der kosmischen Mächte gewonnen hat, sagt auch Kol 2,15: "Er (Gott) entwaffnete die Mächte und Gewalten und machte sie öffentlich zum Spott, indem er über sie durch ihn (Christus) triumphierte." Ganz kurz ist das kosmische Geschehen Joh 12,31 angedeutet: "Jetzt wird Gericht gehalten über diese Welt; jetzt wird der Herrscher dieser Welt hinausgeworfen werden." Den Mythos enthalten auch die Sätze des Liedes 1.Tim 3,16: "Er wurde offenbart im Fleisch, gerechtfertigt durch den Geist, geschaut von den Engeln, verkündet unter den Heiden, geglaubt in der Welt, aufgenommen in die Herrlichkeit." d) Für die Gläubigen bedeutet der kosmische Sieg Christi die Befreiung von den dämonischen Weltherrschern, von der Sünde und vor allem vom Tode, so daß jener Satz anástasin ede gegonénai begreiflich ist. Paulus bringt die Erlöserbedeutung Christi vor allem dadurch zum Ausdruck, daß er ihn mit dem (gefallenen) Urmenschen Adam als den éschatos Adám parallelisiert. e) Hbr verbindet den gnostischen Gedanken von der Einheit, zu der alle Pneumatiker, die aus der Welt ausgegrenzt sind, unter sich verbunden sind, mit dem Motiv der alttestamentlich-jüdischen Tradition vom Gottesvolk. Paulus dagegen verdeutlicht die innere Einheit der Glaubenden untereinander und mit dem Erlöser durch den gnostischen Begriff des sôma Christoû (Rm 12,4; 1.Kr 12,12-27; auch 1,Kr 6,15-17) und bestimmt damit sehr wesentlich die Ausbildung des Kirchenbegriffs. f) Vom Polytheismus zum Glauben an den einen wahren Gott gelangen, hieß: eis epígnosin aletheías elthein - befreiende Erkenntnis war dem Christen mit dem Gnostiker gemeinsam, und der christliche Prediger konnte in gnostischer Terminologie sprechen: "Ihr werdet die Wahrheit erkennen, und die Wahrheit wird euch frei machen." (Joh 8,32). Statt von der pístis konnte Paulus auch von der Erkenntnis reden, die alles einst als Gewinn Geachtete überragt (Phl. 3,8), und als Ziel aufstellen: Christus zu gewinnen und in ihm zu sein (Phl 3,9f.). Kein Wunder, wenn sich christliches und gnostisches Erkenntnisstreben verbanden und in Korinth ein Eifer um "Weisheit" entfesselt wurde (1.Kr 1,18); kein Wunder, wenn der Stolz darauf, hóti (pántes) gnosin échomen seine Blüten trieb (1.Kr 8,1ff.). Solches Bewußtsein machte sich nicht nur in der Gemeindeversammlung breit in den Phänomenen des Enthusiasmus und der Ekstase, sondern vor allem in der echt gnostischen Behauptung der eleuthería und exousía, kraft deren der Pneumatiker die Bindung an die konkrete kirchliche Gemeinschaft mißachtet (1.Kr 8,1ff. - Die Erkenntnis macht aufgeblasen) und sich - pánta moi éxestin - auch über moralische Bindungen hinwegsetzt (1.Kr 6,12ff.; 10,23). 82 Aber auch Paulus selbst sieht offenbar in der gnostischen Begrifflichkeit die gemäße Ausdrucksform für das christliche Seinsverständnis, nicht nur, indem er von der ihn tragenden gnôsis redet. Vielmehr meint er auch als pneumatikós über eine "Weisheit" zu verfügen, die in die Mysterien der göttlichen Weisheit, in die páthe toû theoû, eindringt (1.Kr 2,6ff.). Er weiß sich dem Urteil anderer entzogen, während ihm selbst, der den noûs (=pneûma) Christou hat, das Urteil über alle anderen zusteht (1.Kr 2,15f.). Er akzeptiert nicht nur den Satz hóti (pántes) gnôsin échomen (1.Kr 8,1), sondern auch das pánta moi éxestin (1.Kr 6,12; 10,23), - freilich mit spezifisch christlicher Korrektur. Auf seine eleuthería und exousía ist er ebenso stolz wie die Gnostiker freilich indem er den paradoxen Charakter dieser Freiheit erkennt (1.Kr 9, 1-23: "Da ich also von niemand abhängig war, habe ich mich für alle zum Sklaven gemacht, um möglichst viele zu gewinnen"). g) Zweifellos war im gnostischen Mythos und seiner Begrifflichkeit die Möglichkeit gegeben, das eschatologische Geschehen als ein durch die Geschichte Jesu Christi eingeleitetes und im Vollzuge befindliches, in der Gegenwart wirksames verständlich zu machen; die Möglichkeit, die ekklesía und den Einzelnen zu begreifen als in den großen Zusammenhang eines Unheils- und Heilsgeschehens gestellt. Aber es ist nun die Frage, ob dieses kosmische Geschehen nur als ein großartiger Naturprozeß verstanden wird, der sich gleichsam an meinem Tun, meiner Verantwortung, meinen Entscheidungen vorbei vollzieht, dem ich im Guten wie im Bösen ausgeliefert bin. Wird die menschliche Geschichte als Naturgeschehen oder als echtes geschichtliches Geschehen verstanden werden? Ist die gnosis nur das spekulative Wissen, das neben allem anderen Wissen und Verhalten steht, ein Wissen, dessen Besitz mich über meine Zukunft nach dem Tode beruhigt? Oder ist es ein echtes Selbstverständnis, das das Leben durchherrscht und in allen seinen Äußerungen, vor allem im Tun, bestimmt? Zweifellos intendiert die Gnosis ein solches Selbstverständnis, und es äußert sich im Bewußtsein der eleuthería und exousía. Aber es ist die Frage, ob diese Freiheit als die Freiheit des in echter Geschichtlichkeit verantwortlich existierenden Menschen verstanden wird oder als Heraustreten des Menschen aus seiner wirklichen Existenz, also - da das im Grunde unmöglich ist - als pure Behauptung bzw. als sinnlose Demonstration. Ob der paradoxe Charakter der Freiheit erkannt ist, ist also die Frage. h) Politischer Aspekt: Am Anfang des 2.Jh. klärte sich die Rechtslage des Christentums durch den Pliniusbrief und das Reskript des Trajan. Plinius d.J. hatte als Statthalter von Bithynien mit Anzeigen gegen Christen zu tun. Er hatte sie hinrichten lassen – nicht wegen der Vorwürfe gegen sie, sondern weil sie sich im Gerichtsverfahren weigerten, den Göttern und einem Bild des Kaisers zu opfern. Aber er ist sich nicht ganz sicher, wie er in Zukunft verfahren soll, zumal er wohl anonyme Listen von Christen vorliegen hat. Wahrscheinlich schreckte er vor Massenhinrichtungen zurück. Daher seine Rückfrage an den Kaiser – mit der Information über die Christen, daß sie in moralischer Hinsicht unbedenklich seien. Sie verpflichteten sich selbst auf allgemeine ethische Gebote. Was sie auszeichne, sei ein maßloser Aberglaube – die Verehrung eines hingerichteten Christus, als sei er ein Gott (Plin ep X, 96). Aus der Antwort des Kaisers (ep X, 97) geht hervor: (1.) Der Staat geht nicht von sich aus gegen Christen vor. (2.) Christen dürfen nicht aufgrund anonymer Anzeigen angeklagt werden. (3.) Wenn sie vor Gericht ihr Christentum bestreiten und die Götter anrufen, werden sie freigelassen. Die Tendenz ist eindeutig: Einerseits ist das Christsein als solches strafbar – unabhängig davon, ob konkrete Vergehen vorliegen. Es wird offiziell festgehalten: Das einzige Verbrechen der Christen besteht darin, anders zu sein als die anderen. Andererseits sollen Verfahren gegen Christen möglichst vermieden werden. Christen konnten bei sozialer Unauffälligkeit unbehelligt leben. Erst wenn sie in der Öffentlichkeit unangenehm auffielen oder ihre Nachbarn sich über sie ärgerten, konnte es zu Strafanzeigen kommen. Von der objektiven Lage her mußten in dieser Situation die Formen des Christentums Auftrieb erhalten, die soziale Unauffälligkeit ermöglichten, garantierten und legitimierten. Anders ausgedrückt: Formen, die das Christentum privatisierten, waren jetzt gefragt. Sie ermöglichten eine konfliktfreie Existenz der Christen in ihrer Umwelt. Sie reduzierten das Risiko des Martyriums. Die Gnosis war eine solche Privatisierung der Religion. [Zum Folgenden vgl.: Hans G.Kippenberg, Die vorderasiatischen Erlösungsreligionen in ihrem Zusammenhang mit der antiken Stadtherrschaft, stw 917, Frankfurt: Suhrkamp 1991, 369ff.] 83 * Zur Notwendigkeit des öffentlichen Bekenntnisses: Einige Gnostiker lehrten, man brauche nicht vor den staatlichen Archonten (den irdischen Herrschern und Behörden) ein Bekenntnis ablegen, sondern nur vor den himmlischen Archonten. Mit anderen Worten: Man durfte seine christliche Identität in der entscheidenden Situation verleugnen. So lehrten die Valentinianer nach Tertullian (Scorpiace X, 1). * Zum Martyrium: Viele Gnostiker leugneten die Kreuzigung Jesu mit Hilfe einer Vertauschungstheorie. Die Römer hätten nicht Jesus, sondern irrtümlicherweise Simon von Kyrene an seiner Statt hingerichtet. Jesus selbst aber sei neben dem Kreuz gestanden und habe sich erhaben gefühlt über die törichten Menschen, die ihm nichts anhaben konnten. Hier finden wir zweifellos ein Abbild des Gnostikers: Unbehelligt und unerkannt steht er neben den Märtyrern. * Zu den Speisegeboten: Viele Gnostiker lehrten, daß man unbedenklich Götzenopferfleisch essen könne. Deswegen konnten sie an allen heidnischen Gastmählern teilnehmen. Sie fielen also nicht durch abweichendes Verhalten – wenigstens nicht in diesem Punkte – auf. Die so skizzierte politisch-rechtliche Situation führte im damaligen Christentum aber auch zu einer anderen Anstrengung, den christlichen Glauben als unbedenklich zu verteidigen. Die Apologetik blühte im 2.Jh. fast gleichzeitig mit der Gnosis auf. Sie ist ein Versuch, das Christentum mit dem allgemeinen Bewußtsein zu vermitteln. Die Wahrheit, die überall samenhaft in den besten Menschen vorhanden ist, trete erst im Christentum voll in Erscheinung. Die Gnosis ist eine Alternative zur Apologetik. Auch sie beansprucht, im Christentum eine allgemeine Wahrheit zu finden. Auch sie versteht diese allgemeine Wahrheit als eine schon vorhandene Wahrheit. Sie werde durch eine intuitive Offenbarungseinsicht vermittelt, die man in allen religiösen Systemen verschlüsselt wiederfinden kann. Das Grundproblem ist hier wie dort dasselbe: Christentum und allgemeine Wahrheit sollen zusammenkommen. Und das war in einer Zeit nicht nur ein theoretisches Problem, als es darum ging, für das Christentum Tolerierung durch die Gesellschaft zu erreichen. (i) In der Auseinandersetzung mit der Gnosis ging es also wieder um die innere Autonomie des Christentums als eines neuen religiösen Zeichensystems. In der judaistischen Krise des 1.Jh. war die Frage gewesen, ob es nicht innerhalb des großen jüdischen Zeichensystems eine kleine Substruktur bilden könne, ohne aus dem Judentum auszuscheiden. Es hätte dessen rituelle, mythische und ethische Zeichenwelt geteilt – aber zusätzlich noch einige Besonderheiten eingebracht: den Glauben an den schon gekommenen Messias (in seinem Mythos), zwei Sakramente (als zusätzliche Riten), eine Konzentration auf das Liebesgebot (als Ethos). Damals war entschieden worden: Diese neuen Zeichenelemente sollten der Kern einer eigenständigen Zeichenwelt sein – unabhängig vom Judentum, und doch in Bezug auf das Judentum. In der gnostischen Krise ging es darum, ob diese inzwischen ausgebaute neue Zeichenwelt nicht ihrerseits nur ein kleines Subsystem einer universaleren Zeichensprache sein sollte – einer Zeichensprache, die in allen traditionellen Religionen als Bilder und Symbole eines Selbstfindungsprozesses vorhanden war und die eine radikale Aufwertung des Selbst mit einer ebenso radikalen Abwertung der Welt verband. Warum setzte sich dieser faszinierende Versuch nicht durch? [Man muß sich sogar fragen: Warum konnte es überhaupt zu einer „gnostischen Krise“ kommen? Eine Strömung, die im Verhältnis zur nichtchristlichen Umwelt nicht konfliktfreudig war, dürfte auch im Verhältnis zu ihrer christlichen Umgebung konfliktvermeidend gewesen sein. In der Tat: Die Gnostiker vestanden sich meist als gute Gemeindeglieder, keineswegs als Häretiker. Sie lebten unauffällig als ein „innerer Kreis“ in der Gemeinde und betrachteten die einfachen Gemeindechristen als potentielle Gnostiker, die noch nicht zur vollen Erkenntnis voredrungen waren. Vgl. Klaus Koschorke, Die Polemik der Gnostiker gegen das kirchliche Christentum, NHS 12, Leiden: Brill 1978, 220ff. Bedeutende gnostische Lehrer lebten unangefochten als christliche Lehrer: Valentinus in Rom (vgl. Christoph Markschies, Valentinus Gnosticus? Untersuchungen zur valentinianischen Gnosis mit einem neuen Kommentar zu den Fragmenten Valentins, WUNT 65, Tübingen: Mohr 1992.), Basilides in Alexandrien (vgl. Winrich A.Löhr, Basilides und seine Schule, WUNT 83, Tübingen: 84 Mohr 1996.). Wie kam es dennoch zum Konflikt – faßbar in einem antihäretischen Schrifttum bei Justin, Irenäus, Tertullian und Hippolyt?] Die Auseinandersetzung brachte Unvereinbarkeiten zwischen einem allgemeinen christlichen Konsens und gnostischen Systemen zu Tage. (1) Die Gnosis widersprach der Einheit von Mythos und Geschichte. Diese Einheit entspricht dem ersten Grundaxiom des Christentums (und Judentums), dem Monotheismus. Monotheistischer Glaube sagt: Gott hat keinen Sozialpartner im Himmel, sondern einzig Menschen als seine Partner. Eben das wurde in Frage gestellt, wenn man neben dem höchsten Gott noch einen untergeordneten Demiurgen annahm und darüber hinaus Ketten von Emanationen und Äonen. Wenigstens war der gnostische Monotheistismus nicht mehr der Glaube an den Schöpfer des Himmels und der Erde – sondern allenfalls an den Schöpfer des Himmels. (2) das zweite Grundaxiom, der Erlöserglaube, wurde ebenso in Frage gestellt. Denn alle gnostischen Systeme stellen das reale Eingehen des Erlösers in diese Welt in Frage. Diese Welt ist in sich ein Unglück und Versehen. Deshalb kann sich der Erlöser nicht wirklich mit ihr verbinden. Er hat nur einen Scheinleib oder verbindet sich nur vorübergehend mit einem irdischen Leib. Mann kann daher sagen: Sowohl die Einheit des Schöpfergottes wie die Einheit des Erlösers waren in der Gnosis bedroht – aufgrund einer Abwertung der Welt und des Leibes, die dem biblischen Zeichensystem des Urchristentums widersprach. Beide Probleme lassen sich so zusammenfassen: In der Gnosis entwickelt sich das Urchristentum zu einer radikalen Erlösungsreligion, die den alttestamentlichen Schöpfungsglauben und den neutestamentlichen Inkarnationsglauben – das vorbehaltlose Eingehen des Erlösers in Schöpfung und Leiblichkeit – leugnete. Die Lösung der gnostischen Krise wurde durch eine Theologie erreicht, die beides, Schöpfungs- und Erlösungsglaube, in ein Gleichgewicht brachte und am Alten und Neuen Testament festhielt. Diese Theologie begegnet zum ersten Mal als Reaktion auf die gnostische Krise bei Irenäus. Er begründet als erster den zweigeteilten Kanon aus Altem und Neuem Testament und entwickelt eine heilsgeschichtliche Theologie, nach der die Erlösung die Wiederherstellung der Schöpfung ist: Christus stellt die Ebenbildlichkeit des Menschen wieder her, die als similitudo verloren gegangen, als imago aber erhalten geblieben war. 6.5.5 Methodologische Reflexion zum Thema "Gnosis und NT" Die Methodenproblematik des Themas weist zwei Schwerpunkte auf: a) Dokumente der voll ausgeprägten Gnosis sind bekanntlich erst ab dem 2.Jh. n.Chr. greifbar. Aus solchen zeitlich und strukturell oft weit auseinanderliegenden Dokumenten sind Extrapolationsmodelle von Gnosis (bes. von einem gnostischen "Erlöser-Mythos" und "UrmenschErlöser-Mythos", z.B. von H.Schlier, E.Käsemann, R.Bultmann) gebildet worden. Dagegen wird von manchen eingewendet, daß diese Modelle wichtige Differenzierungen in den Quellen durch Reduktion einebnen und möglicherweise Scheinrealitäten erzeugen, die als Anhaltspunkte nachfolgenden Forschungsschritten vorausgesetzt werden. Es werden in verschiedenem Grad rückdatierte Modelle an bestimmte Schriften des NT herangetragen, sowohl um durch Aufweis terminologischer Ähnlichkeit eine je nach Forschungsrichtung verschieden aufgefaßte Einwirkung (früh-)gnostischer Tendenzen auf neutestamentliche Autoren zu beweisen als auch um im NT allenthalben bekämpfte, in der Forschung oft recht unterschiedlich typisierte Irrlehren als (früh-) gnostisch zu klassifizieren. b) Als historisches Phänomen hat Gnosis eine "Vorgeschichte", für die in der patristischen Tradition Anhaltspunkte vorliegen und die sich als "Früh-" oder "Prägnosis" bezeichnen läßt, wenn auch die Anwendung dieser Kategorie unter der Schwierigkeit leidet, daß das Vorhandensein von Gnosis ja nur durch den Sinnzusammenhang aller für sie wesentlichen Begriffe eindeutig konstatierbar ist. Daher ist es bei vereinzelt auftretenden Motiven oft eine petitio principii, wenn man sie als Reflexe eines schon existenten "gnostischen Mythos" oder als Vor-(Früh-)Formen der späteren eigentlichen Gnosis ansehen will, während es sich bisweilen nur um Teile eines nichtgnostischen Sinnzusammenhangs handelt. 85 Unter solchen Vorbehalten steht also der Aufweis von Anhaltspunkten für eine (Prä-)Gnosis in den fragmentarischen Angaben des NT. Die Apg gibt einen Anhaltspunkt für frühe Gnosis in der Perikope von Simon Magus (8,4-25) R.Haardt scheint die Annahme einer (Prä-)Gnosis bei den Gegnern Pauli in Korinth zu gewagt, weil der Gesamtzusammenhang der Motive unklar bleibt und die Irrlehrer nicht sicher identifizierbar sind. Vielleicht muß man sich damit begnügen, sie in den Rahmen eines pneumatischen Schwärmertums einzuordnen. Die in Kol und Eph dominierende sôma-Christoû-Vorstellung wird zwar oft mit einem gnostischen Anthroposmythos erklärt und die diesbezüglichen Aussagen (Kol 1,17f.; Eph 4,13; 5,23) gelten daher als kritische Verchristlichung gnostischer Gedanken. Aber auch dazu ist Haardt der Auffassung, daß Versuche, den religionsgeschichtlichen Hintergrund im Umkreis philonischer, pseudophilonischer oder anderer hellenistisch-frühjüdischer Spekulationstypen zu suchen, größeren heuristischen Wert hätten.116 Für uns ist ein Fazit aus diesem Kapitel: Das hellenistische Judentum ist nicht nur im Hinblick auf das junge Christentum, sondern auch im Hinblick auf die Gnosis unbedingt näher zu untersuchen. Daher: 7. Gotteserkenntis, Schau und Vollendung bei Philo von Alexandrien.117 7.1 Zur Person Philons Philon wirkte in den ersten Jahrzehnten der christlichen Zeitrechnung in Alexandreia. Nach Josephos (Ant. 18,8,1) entstammte er einer vornehmen Familie des Landes; nach Hieronymus (de vir.ill. 11) sogar aus dem Priesteradel. Sein Bruder war Alabarch (Vorsteher der alexandrinischen Juden). In der ersten Hälfte des Jahres 40 n.Chr. war Philon in Rom als Gesandter der alexandrinischen Juden an den Kaiser Gaius, damals dürfte er schon in höherem Alter gewesen sein, denn als er bald darauf seine Schrift über diese Gesandtschaft verfaßte, bezeichnete er sich schon als géron (de leg. ad G. 1,1); demnach könnte er etwa im 3.Jahrzehnt v.Chr. geboren sein. Philo ist also historisch einzuordnen in das Frühjudentum, das mit dem babylonischen Exil 587 v.Chr. beginnt und mit der Zerstörung des Jerusalemer Tempels 70 n.Chr. endet. Nach anderem Sprachgebrauch handelt es sich um die Zeit der Mischna und des Talmud, was sich zeitlich nicht deckt. Jedenfalls kann man zur Charakteristik sagen: Aus dem früheren judäischen Staatsvolk war eine ethnische Kultgemeinschaft geworden. Besonders drei Formen kommen in ihr zum Tragen: Hierokratische Restaurationstendenzen, eschatologische Bewegungen und Schriftgelehrsamkeit. Die Schriftgelehrsamkeit erwies sich von diesen dreien als die solideste Basis für die Gestaltung des sozialen und privaten jüdischen Lebens. Diese, die Partei der Pharisäer, darf nicht nur von der polemischen Sicht des NT her beurteilt werden.Es gab eine Fülle von Bemühungen um Aktualisierung des alttestamentlichen Gesetzes, um Friedensstiftung und um die Schul- und Gebetsbildung der Juden. Das heutige Judentum beruht wesentlich auf den pharisäischen geistigreligiösen Grundlagen. Die politisch für die Juden Alexandrias günstige Konstellation unter den Ptolemäern hatte sich zu Philons Zeit gewandelt: es war die Seleukidenzeit mit Ansätzen zu gewaltsamer Hellenisierung und zu kriegerischer Gegenwehr unter den Makkabäern gekommen. Es gab wechselnde Koalitionen der verschiedenen jüdischen Religionsparteien. Die radikalen Frommen unterstützten z.B. eine Zeit Haardt, Gnosis, Sacramentum Mundi, 483. In diesem Kapitel folge ich weitgehend Hans Jonas, Gnosis und spätantiker Geist, 2.Teil, 1.Hälfte, Göttingen 1966 , 70ff. 116 117 86 lang den Unabhängigkeitskampf der Makkabäer, bis sie erkannten, daß diesen an politischer Macht mehr gelegen war als am Kommen des Messias (in diesem Zusammenhang wird der Ausdruck "Heuchler" als religiös-politischer Terminus verwendet, den wir dann auch bei Jesus finden, der es von den Pharisäern sagt). Die Verschiebung des Machtzentrums nach Syrien, Antiochia, wurde relativiert und bald aufgehoben durch den Ausbau der römischen Vormachtstellung. Als Philon geboren wurde, herrschte in Palaestina bereits ein rex socius et amicus populi Romani, Herodes, dessen Vater Antipatros rechtzeitig erkannt hatte, daß Caesar der kommende Mann sei und daß überhaupt nur eine starke freiwillige Bindung an Rom eine gewisse innere Autonomie gewährleisten könne. Was die jüdische Gemeinde in Alexandrien betrifft, so nahmen gerade in der Lebenszeit Philons die Spannungen zwischen der jüdischen und der griechischen Bevölkerung stark zu. Es ging um das von den Juden verlangte Bürgerrecht, sicher auch um wirtschaftliche Probleme. Augustus hat kurz nach der Eroberung der Stadt einen Erlaß auf einer Stele eingravieren lassen, nach dem die Juden zu alexandrinischen Bürgern erklärt wurden. Vielleicht war damit aber doch nicht eine völlige Gleichstellung gemeint. Unter Gaius Caligula (37-41) nahm der Konflikt blutige Formen an. Es kam zu einem Pogrom, in dessen Verlauf Synagogen und Häuser zerstört und geplündert wurden. Der römische Statthalter Flaccus sah dem Treiben untätig zu. Die Juden sanken vom Rechtsstatus von kátoikoi (Mitbewohner) wieder zu xénoi (Fremde) ab. Sie waren aber auch stark genug, sich zu wehren und Gegenangriffe auf die anderen Volksgruppen zu starten. Auch andernorts dürfte das Zusammenleben von Juden und Heiden nicht ohne Spannung verlaufen sein, aber nirgendwo waren die Auseinandersetzungen so heftig wie in Alexandria. Durch sein Ja zum Bundesgott Israels hat, wie Nahum Glatzer es treffend formuliert hat, "der Jude selbst dem großartigen geistigen und politischen Verschmelzungsprozeß der ausgehenden Antike gegenüber das Schicksal der Einsamkeit gewählt - aus einem Bewußtsein der religiösen Sendung, die auf die Heiden als nationale Überheblichkeit wirkte." 7.2 Philons Werke Es ist eine große Zahl von Schriften erhalten, die in drei Hauptgruppen eingeteilt werden können: (1) Schriften rein philosophischen Inhalts (Exzerpte, Lesefrüchte): De aeternitate mundi, Quod omnis probus liber sit, De providentia, Alexander sive de eo quod rationem habeant bruta animalia (2) a) Erläuterungsschriften zum Pentateuch, mit dem exegetischen Hauptwerk, dem großen Genesiskommentar; Legum allegoriarum libri 1-3, sowie eine Menge Sondertitel (De Cherubim, De sacrificiis Abelis et Caini, De agricultura, De confusione linguarum, De migratione Abrahami) b) Quaestiones et Solutiones in Genesim et Exodum c) Historisch-exegetische Darstellung des Inhalts des Pentateuch u. insbes. der mosaischen Gesetze (hierher gehören: De opificio mundi, De Abrahamo, De Josepho, De decalogo, De specialibus legibus) (3) Historisch-apologetische Schriften, z.B. De vita Mosis, De vita contemplativa, Contra Flaccum, legatio ad Gaium. Es scheint zweierlei Sitz im Leben für diese Schriften gegeben zu haben: Die wörtlichen Auslegungen für das Lehrhaus, für Außenstehende und Anfänger bestimmt; die allegorische mehr 87 für die Fortgeschrittenen und Weisen im Synagogengottesdienst. Die wörtliche Auslegung hält Philon für dumm. Für den Weisen ist der Literalsinn nur Vorstufe. Er läßt ihn aber nicht ganz hinter sich. Der Wortsinn gehört dazu wie der Leib zur Seele. (migr 89-93) 7.3 Unterschiede in der Handhabung der allegorischen Methode Die Theorie, die hinter der allegorischen Methode steht, ist die, daß der auszulegende Text implizit die Wahrheit enthält, die durch die allegorische Methode ans Licht gebracht wird. Es besteht aber ein Unterschied zwischen der Art, wie die Griechen an einen Text des Homer oder Hesiods herangingen um ihn zu interpretieren, und der Art Philons, an die Schrift heranzugehen. Die Griechen glaubten nicht, daß ihre Dichter göttliche Offenbarung boten, so wie das Philo von der Bibel annimmt. Griechische Philosophen hielten das, was die Dichter boten, für eine eher niedere und primitivere Form der Erkenntnis, weit unter dem Niveau dessen, was die Philosophen zu sagen hatten. Auch wenn sie sich zum offiziellen Kult bekannten, taten sie es eher aus praktischen Erwägungen, etwa um der Stabilität der gesellschaftlichen Verhältnisse willen. Für Philo dagegen war der Pentateuch ein göttlich geoffenbartes Dokument. Die Erkenntnis, die er bietet, ist klarer und genauer als philosophische Erkenntnis. Dort, wo er problematisch ist, liegt der Grund nur darin, daß Gott für alle Menschen verständlich sein wollte. Aber wenn die Wahrheit, die Gott in der Schrift offenbart, mit der Wahrheit der Philosophen übereinstimmt, erhebt sich die Frage, wie die Philosophen zu dieser Wahrheit gekommen sind ohne Hilfe durch Offenbarung. Philo stellt diese Frage nicht direkt, aber er beantwortet sie implizit; er sagt, "Es ist der Himmel, der die Philosophie auf uns herabregnen ließ; es ist der menschliche Geist, der sie aufgenommen hat, aber es ist die Schau, die seherische Gabe, die die beiden zusammengebracht hat" (Spec III 34, 185). Die Hauptstelle, auf der er dabei fußt, ist Plato, Tim 47a - Philosophie als Gabe der Götter. Aber das "Es ist der Himmel, der die Philosophie auf uns herabregnete" ist von Philo selbst. Philosophie ist ihm eine Gabe Gottes, gewissermaßen den Griechen geoffenbart von Gott, wie die Torah den Juden geoffenbart worden ist. Alle Erkenntnis kommt von Gott. 7.4 Gotteserkenntnis bei Philo Philo bietet einen vielfältigen, auf den ersten Blick sogar widersprüchlichen Befund. Stellen wir vorläufig einmal Ausagen einander gegenüber: Gott ist unerfaßbar, akatáleptos, (s.Index von H.Leisegang), selbst dem höchsten Erkenntnisvermögen, dem Nus: oudè Gegenteil findet sich: "einzig durch Vernunft erfaßbar" (Móne dianoía kataleptós spec leg I 20; vgl. Plato Phaidr 247c: móno theatè nô - scil. he ousía). Dem entspricht das häufige Gottesprädikat 'intelligibel' (ho noetòs theós). Beide kontradiktorischen Gegensätze finden sich dann zusammen in paradoxen Aussagen wie: "das unfaßbare Wesen Gottes erfassen", freilich mit dem Zusatz "soweit Schauen Gottes, eine hórasis theoû gibt, scheint zunächst unbedingt zu bejahen. Es gibt ja einen eigenen Typus des gottschauenden Menschen: 'Israel', was dem Wortsinn nach 'der Gott Schauende' bedeuten soll, und nicht nur Ehrenname der geschichtlichen Person Jakob oder der Gemeinschaft des jüdischen Volkes, sondern nach der allegorischen Manier Philos die Charakteristik des zur Gnosis Vollendeten überhaupt ist. Dieser schaut wirklich Gott, im Gegensatz zu den anderen, die nur mittelbar von ihm wissen, und für dieses Schauen gibt es ein eigenes Organ: das 'Auge der Seele', "das klarste und lauterste und von allen scharfsichtigste, dem allein es verstattet ist Gott zu schauen" (Confus ling 92); der Name 'Israel' wird auch speziell auf diesen bevorzugten Seelenteil bezogen. Solche Schau bildet den Ehrenpreis des 'Asketen', seine Vollendung. (Praem et poen 27. 36.) Ein bestimmter, asketischer Weg führt also zu ihr, "der vollkommene Weg, der zu Gott führt", "der Königsweg des schauenden Menschentypus (horatikòn génos), genannt Israel", und sein Ziel ist ausgesprochenermaßen Gnosis. (Deus immut 142f. he teleía hodós, he pròs theòn ágousa...) 88 Für den Begriff des 'Weges' in der Gnosis erinnere ich an die hagía hodós des Naassenerpsalms. Der zu solcher Gnosis Gelangte gewinnt durch sie Anteil an Seinsbestimmungen der göttlichen Natur, besonders an der göttlichen Wandellosigkeit, der stásis (De post Cai. 28 "Gott gibt dem Weisen Anteil an seiner Natur, der Ruhe"), er wird (annäherungsweise) selber ein hestós, ein 'Stillstehender', wie Gott ein solcher im absoluten Sinne ist. In Verbindung mit dieser quietiven Kennzeichnung begegnet auch die berühmte Reziprozitätsformel der Gnosis "Sehen und gesehen werden" als Bestimmung der absoluten Situation (De somn II 226 - zu Gen 18,22 hestòs enópion kyríou: "Wann anders vermöchte natürlicherweise die Vernunft stillzustehen und nicht mehr wie auf einer Waage hin und her zu schwanken, als wenn sie unmittelbar Gott gegenüber ist, sehend und gesehen?"). Auch die Vorstellung von einem Genusse (apólausis) dieser 'Ruhe in Gott', wohlbekannt aus der späteren neuplatonischen und mönchischen Mystik, findet sich hier bereits (Fug et invent. 174 "nährend und genußreich ist allein die Ruhe in Gott - he en theô anápausis -, die das höchste Gut erwirkt, den kampflosen Frieden"; migr. Abr 7 -photòs apólausis). Und nun die Gegenliste: Der hórasis theou steht der strenge Begriff aóratos gegenüber. "Unmöglich ist es Menschennatur, des Seienden Antlitz zu schauen" (Quaest. in Exod. p.72 Harris). Zwar, so fährt Philo fort, ist Gott nicht etwa seiner Natur nach unsichtbar, "denn wer wäre sichtbarer als der, der alles andere sichtbar schuf?" - ja, seine Natur ist eigentlich zum Geschautwerden bestimmt(!) (pephykòs eis tò horâsthai - wozu man aber die entgegengesetzte Aussage de mut nom 9 vergleichen muß: mónou d' ekeínou mè pephykótos horasthai); nur wird er von keinem Menschen erschaut: "Grund hierfür ist die Ohnmacht des Geschaffenen" (ibid.). "Auch das scharfäugigste Sehen ist unvermögend, den Ungeschaffenen zu erblicken, so daß es eher erblinden würde als schauen" - wegen des Übermaßes des göttlichen Lichtes. Haben wir doch, so heißt es mut nom 7 in striktem Gegensatz zu der Lehre vom 'Auge der Seele', keinerlei Organ in uns, womit wir jenes vorstellen (phantasiothênai) könnten, weder Sinneswahrnehmung noch Vernunft (noûs!). Nur dazu gelangt der Mensch, "zu begreifen, daß Gott in seinem An-sich-sein (ho katà tò eînai theós) allen unbegreiflich ist, und eben dies zu sehen, daß er unsichtbar ist", und diese (negative) Erkenntnis ist "das höchste Gut", das ihm aus dem Streben nach der Erkenntnis Gottes erwächst (de wird als "vermessene Torheit" verworfen (post Cai.168); es wird vor dem Unterfangen gewarnt: "auf daß dich nicht das große Verlangen nach Unmöglichem verzehre" (Quaest in Exod. II 28, p.58 Harris). Selbst dem Moses verweigert Gott das Begehren als der Menschennatur nicht zustehend: "Was du verlangst, ist keinem geschaffenen Wesen gemäß... Daher erkenne dich selbst, laß dich nicht von einem Streben und Begehren fortreißen, das deine Kräfte übersteigt, und nicht durch eine Sehnsucht nach Unerreichbarem in schwindelnde Höhen entrücken, denn von dem, was du erreichen kannst, soll dir nichts versagt bleiben." (spec leg I 43f.) Diese Zurückweisung in die Schranken des Menschlichen besagt nicht nur, daß der Mensch nicht aus eigener Kraft Gott erkennen kann - das versteht sich bei Philo ohnehin und ist in die Bitte des Moses bereits eingeschlossen, der Gott anfleht, sich ihm zu offenbaren -, sondern, daß der Mensch auch einer Selbstoffenbarung Gottes nicht gewachsen wäre. Die Einschränkung auf die Möglichkeiten des Menschen aber verweist auf einen Weg, der an vielen Stellen näher ausgeführt wird: die mittelbare Erkenntnis Gottes aus seinen Werken, aus seinen wirkenden, nach zahlreichen Funktionen gegliederten 'Kräften' (dynámeis), aus seinem weltdurchwaltenden 'Logos'; aber nicht die seiner selbst aus ihm selbst. Es ist dies eine Anschauung Gottes hos dià katóptrou (de decal 105 "Gleichsam wie durch einen Spiegel sieht der Geist Gott in seinem Wirken, in seiner welterschaffenden und welterhaltenden Tätigkeit".). So heißt es in Übereinstimmung mit einem verbreiteten Sprachgebrauch der hellenistischen Mystik. Bezüglich der Gottheit an sich zeigt diese Art der Erkenntnis aber nur das bloße "Daß" ihres Seins, nicht ihr Wesen, das unerkannt bleibt. So scheint der zuerst gezeichneten Gedankenreihe, die sich zur absoluten Schau bekennt, eine ebenso geschlossene einfach gegenüberzustehen, die sie verwirft. Beide durchdringen sich in einer 89 dritten Kategorie von Aussagen in eigentümlich schillernder Weise: Jene "andere Sehnsucht" und jenes "bessere Verlangen" (Opif mundi 71), Gott unmittelbar selber zu schauen, an den genannten Stellen als dem Menschen unangemessen, ja als vermessen, verworfen, - wird an ebenso eindringlichen anderen trotz seiner Aussichtslosigkeit überaus gerühmt, von Gott selber als edelste Sehnsucht des Menschen gnädig aufgenommen; und immer wieder fordert Philo, im Widerspruch mit sich selbst, gerade zu dieser unmöglichen Bemühung auf - mit wechselnder Begründung: sei es um des Selbstwertes des Strebens willen, sei es um der immer noch wertvollen positiven Erkenntnisse willen, die dem Strebenden auf dem Weg zum Unerreichbaren als Annäherungserfolg erwachsen, sei es schließlich gerade um der negativen End-Einsicht willen, die ja indirekt sowohl über das überschwengliche Wesen Gottes, wie über das eingeschränkte des Menschen eine Erkenntnis aus der Negativität her vermittelt. Alle drei Begründungen für solchen Versuch der Gotteserkenntnis finden sich nebeneinander; die für Philo charakteristischste ist die paradoxe aus der Vergeblichkeit. - Ein Schritt weiter und dem besseren Verlangen entspricht doch die tatsächliche Möglichkeit einer - zwar nur dem Erwählten zugestandenen - unmittelbaren Gotteserkenntnis. Ich habe nur einige Beispiele offenkundiger Widersprüche aufgezählt, um auf die innere Antinomik eingehen zu können, die Philos Zwischenstellung zwischen Judentum, Griechentum und Gnosis bezeichnet. 7.5 Transzendenz und Immanenz Gottes Das Sinnkomplement aller Aussagen über die Gotteserkenntnis ist der Gottesbegriff. Einerseits ist Gott völlig eigenschaftslos (ápoios), jede Beilegung bestimmter Eigenschaften (auch z.B. der Güte) ist als Begrenzung unstatthaft, nur absolutes Sein jenseits aller Differenzen ist ihm zuzusprechen (und sonst nur negative Bestimmungen), - und zugleich tritt unaufhörlich eine Fülle positiver Prädikate auf, die einen differenzierten Reichtum von Eigenschaften Gottes in seinem Walten bezeichnen (Herr, Vater, Lehrer, Lenker, Richter, Wohltäter usw). Inbegriff all dieser Funktionen oder ihr zusammenfassendes Prinzip ist der Logos. der aus sich herausgetretene, in Schaffung und Erhaltung des Alls sich manifestierende und als seine "Vernunft" erkennbare Gott, das, was an Gott überhaupt erkennbar ist; man könnte sagen: die hypostasierte Erkennbarkeit Gottes; mit Philos eigenen Worten: "der zweite Gott", Einheitspol all jener Prädikate, - nicht aber Gott selbst, der vielmehr prò tou lógou ist (de somn I 65). Diesem selbst verbleibt nur das Prädikat des völlig bestimmungslosen Seins (ho theòs mónos en tô eînai hyphésteken). 'der Seiende' oder noch allgemeiner 'das Seiende', tó ón, bei Philo geradezu nomen proprium für Gott. Philo konnte sich für diese ganze Konstruktion auf die biblische Dornbuschszene berufen, in der Gott selbst jeden differenzierenden Namen von sich abweist und dem Tetragramma „JHWH“ die allgemeinste Deutung gibt, die überhaupt Sprache werden kann: Seiend. - Das gilt allerdings erst für die griechische Bibel! Auch die jüdische Gepflogenheit, den Gottesnamen nicht auszusprechen und ihn im Gebrauch der Texte zu ersetzen, konnte die Idee einer Trennung des verborgenen, unnennbaren Gottes von dem in Prädikationen faßbaren begünstigen oder mindestens exegetisch erleichtern. Schwerlich aber kann dort der Ursprung zu suchen sein; dieser ist vielmehr im letzten Grund die Gnosis als ein neues religiöses Prinzip eigenen Ursprungs. Gott verbleibt neben dem Prädikat des bestimmungslosen Seins eine Schar negativer Prädikate: unnennbar, unsagbar, unbegrenzbar, unsichtbar, unbegreifbar; auch letztlich negativer Art sind die Einheit, die Ewigkeit und das Verharren Gottes. Dem stehen auf der Seite der dynámeis die zahlreichen, nach allen denkbaren Funktionen differenzierten, positiven Prädikate gegenüber, auf die wir hier nicht weiter einzugehen brauchen. Mit dem Problem der Gottesprädikate hängt also das Problem der Gotteserkenntnis engstens zusammen; genauer die Frage: natürliche Erkenntnis der Gottheit oder mystische, "gnostische" 90 gnôsis theoû. Diese Frage nehmen wir uns jetzt vor. 7.6 Die Wurzeln des Philonischen Agnostizismus Über alle aufgezählten Widersprüche hinweg können wir zunächst eindeutig feststellen: Unmittelbare Schau des göttlichen Wesens ist der Idee nach immer bei Philo die höchste Spitze geistiger Existenz und so das letzte Ziel religiösen Strebens. das trifft grundsätzlich auch da zu, wo er andere, bescheidenere Begriffe von Gotteserkenntnis verwendet - d.h. sich mit ihnen begnügt. Nicht eindeutig dagegen ist seine Stellung zu der Möglichkeit einer derartigen Erfüllung. Als Jude ist Philo beherrscht von dem Grundgefühl radikalen Abstands zwischen Gott und Kreatur. demgemäß muß er die Möglichkeit einer uneingeschränkten Erkenntnis des göttlichen Wesens, die eine Angemessenheit des menschlichen voraussetzen würde, entschieden verneinen. <Das ist schon der Standpunkt der Bibel, ohne daß dort die Frage in ihrer Allgemeinheit gestellt worden wäre. Auch der biblische Gott entzieht sich jeder unmittelbaren Anschauung seines eigentlichen Seins, und in dem einzigen Fall, wo eine derartige Aspiration überhaupt erhoben worden ist, weist er sie zurück: Exod. 33,18ff.> Mit Vorliebe greift Philo auf diese Bitte des Mose "Offenbare dich mir, daß ich dich sehe und erkenne" (emphánisón moi sautón, gnostôs ído se - so Philo nach LXX; "Laß mich deine Herrlichkeit schauen", Masoret.Text.) und auf Gottes abschlägige Antwort zurück. Im Judentum ist es kein erkenntnistheoretischer Grund, der solche Unmöglichkeit bedingt, sodern die ungeheure Machtüberlegenheit des göttlichen Seins über das menschliche, die jede Näherung in einem Anschauen im Interesse des Menschen selbst, nicht nur in dem der Majestät Gottes, verbietet: "Von Angesicht kannst du mich nicht schauen, denn kein Mensch schaut mich und bleibt am Leben" (v.20). Die tiefe Scheu vor einer letzten, abstandstilgenden Schau der Gottheit, der Glaube, daß dem Menschen solches nicht ziemt und Gott selbst sich dem versagt, ist die eine Wurzel des typisch philonischen Agnostizismus in der Frage der gnôsis theoû und trennt ihn von der Schauzuversicht aller sonstigen spätantiken Frömmigkeit, die in ihrer Identitätsmystik ja das gerade Gegenteil von jüdisch-kreatürlichem Abstandsgefühl vertritt. Im Gegensatz zur Bibel aber, der schon die Tendenz als solche fremd ist, bedeutet dies für Philo, dessen wesentliche Sehnsucht sie darstellt, einen schmerzlichen Verzicht. Zu demselben Ergebnis wie sein Judentum mußte von ganz anderen, gewissermaßen erkenntnistheoretischen Voraussetzungen her auch sein Platonismus kommen, wenn er den Grundsatz der Ideenerkenntnis auf das völlig entgrenzte, formfremde Wesen der gnostischen Gottheit bezieht: die gnostische Transzendenz bedeutet ja nicht einfach lokale Abgesondertheit Gottes vom Kosmos, sondern eine Weltlosigkeit des Wesens, die auch jeder weltgegenständlichen Anschaubarkeit und Bestimmbarkeit entzogen ist. Nach den Gesichtspunkten eines sich selbst treuen Platonismus kann das nur einen strengen Agnostizismus übrig lassen, und insofern ist der gnostische Gott in jedem Fall ein ágnostos theós, unbeschadet der ganz anders gearteten mystischen Gnosis. Ist jenes Wesen "besser als das Gute, ursprünglicher als die Einheit und reiner besser als das Gute an sich - autò tò agathón - und das Schöne an sich"), so ist das gleichsam der phänomenologische Grund, warum Gott für jedes menschliche theoreîn unerreichbar, streng genommen überhaupt gegenstandsunfähig ist. es ist die Transzendierung Gottes über alle die Seinsbestimmungen hinaus, die dem Gegenstand eines menschlichen Erkennens als solchem zukommen müssen und auf die es (nach griechischer Anschauung) auch letztlich bezogen ist. Gott ist "jenseits" dieser ontologischen Bestimmungen, d.h. er ist über sie erhaben; an Stelle dieser überbietenden Ausdrucksweise kann man aber auch negativ sagen: er besitzt nicht die durch sie bezeichneten Eigenschaften des Seins überhaupt; er ist ihrer gänzlich entblößt. Natürlich wird zunächst die via eminentiae der direkten via negationis vorgezogen; der innerste Sinn ist aber schon 91 derselbe. Wenn Philo Gott trotzdem tò ón nennt, so ist das, wenn man griechisches Seinsverständnis zugrundelegt, nur noch eine Metapher, kein strenger Begriff der Ontologie mehr. Die spätere Mystik scheute dann auch nicht davor zurück, Gott als anoúsios oder geradezu als den Nichtseienden (Basilides) zu bezeichnen. Die Frage ist aber, ob diese Transzendenz des Gottesbegriffs "nichts anderes ist, als die Form, die der gnostische akosmische Dualismus auf dem Boden hellenistischer Philosophie annehmen mußte." (H.Jonas) 7.7 Mittelbare Gotteserkenntnis Wir haben gesehen, daß Judentum und Platonismus gleicherweise dazu führen, die Erkennbarkeit Gottes zu verneinen. Derselbe Platonismus gibt auch die Möglichkeit einer eingeschränkten Gotteserkenntnis her: durch die Sonderung von Dasein und Wesen. Ist auch das tí estin, die ousía Gottes dem Menschen nicht erkennbar, so doch das hóti, die hyparxis; also zwar nicht was er ist, aber daß er ist -und dies letztere kann wirklich Gegenstand einer Erkenntnis, nicht nur eines Glaubens, werden. Diese Scheidung von Essenz und Existenz beherrscht Philos Begriff einer menschenmöglichen Gotteserkenntnis - mit dem Vorbehalt: die Scheidung entstammt dem ontologischen Bereich der Anschauungserkenntnis (Objekterkenntnis), und reicht nur so weit wie dieser. Sie verliert sich, wo er einmal verlassen werden sollte, d.h. auf jener mystischen Stufe, wo überhaupt das Bild des Sehgegenstandes und eines gegenständlichen Anschauungsbezugs preisgegeben wird und die substantielle Unio an die Stelle der intentionalen Subjekt-ObjektBeziehung tritt. Das würde aber in der Sprache des griechischen Erkenntnisbegriffs nicht mehr "Erkenntnis" zu nennen sein, nicht mehr "Schau", welcher immer das gegenständliche eidos als die abgelöste Essenz (eidos choristón) entspricht, sondern unmittelbares Angefülltwerden von der Wirklichkeit Gottes selber, in der Essenz und Existenz nicht mehr oder noch nicht geschieden sind.118 es im Anschluß an Deut. 32,39 "Sehet, sehet, daß ich bin" heißt: "Er sagt nicht 'Sehet mich' - denn unmöglich ist es, daß Gott, wie er an sich ist (tòn katà tò einai theón) überhaupt vom Geschaffenen erkannt werde (katanoethênai), sondern 'Sehet, daß ich bin', d.h. schaut mein Dasein (hyparxis). Denn es ist genug, mit menschlichem Vernunftschluß (logismô) In diesem Zusammenhang ist daran zu erinnern, daß die Begriffe Glauben und Wissen nur einer bestimmten Gruppe religiöser Traditionen eigen sind und daß es keinesfalls gewiß ist, daß diese Begriffe dem Selbstverstehen anderer Religionen angemessen sind. In den indischen Traditionen des Advaita Vedanta und der buddhistischen Philosophie ist das Wissen im höchsten Sinn direkt und unvermittelt, eine erfahrene Wirklichkeit, in der der Dualismus zwischen dem erkennenden Subjekt und dem erkannten Objekt verschwindet. Religion ist "ein Pfeil der Sehnsucht nach dem anderen Ufer", der auf seinem Weg zur Wahrheit ist, und alle seine Methoden, die Wahrheit zu symbolisieren, und all sein Glauben, alle Begriffe, durch die er sich Rechenschaft über seine Wirklichkeitsbezogenheit abzulegen versucht, die heilige Schrift oder die Offenbarung, die ihm Botschaft jener Wirklichkeit bringt, sogar das ihn auf dieser Reise begleitende Gefühl des Heiligen, seine Verehrung und sein Gebet: all das muß wegfallen, muß weggelassen werden wie ein zerbrochenes Spielzeug" (Rilke, Duineser Elegien. Die erste Elegie). Der amerikanische religiöse Denker Robert Bellah behauptet, daß "the confusion between belief and religion, which is found only in the religious traditions deeply influenced by Greek thought Christianity and Islam - and is almost completely missing in China and India, involves a fundamental missapprehension of the nature of religion." (Beyond Belief, N.Y. Harper & Row, 1970, S.220.) Vgl. Jarava L. Mehta, Jenseits von Glauben und Wissen,in: Transzendenz und Immanenz. Philosophie und Theologie in der veränderten Welt. Tagungsbeiträge eines Symposiums, Hrsg.v.Dietrich Papenfuss u. Jürgen Söring, Stuttgart etc. Kohlhammer 1977. S.119 118 92 bis zu der Erkenntnis vorzuschreiten, daß ist und besteht die Ursache des Alls; darüber hinaus aber zu gelangen trachten und über Wesen und Beschaffenheit nachforschen, wäre vermessene Torheit. Denn nicht einmal dem allweisen Moses gewährte Gott dies, obwohl er unzählige Bitten an ihn richtete, sondern der Bescheid ward ihm: 'Meinen Rücken wirst du sehen, mein Antlitz aber nicht' (Exod. 33,23); das bedeutet aber: alles was nach Gott kommt, ist dem Trefflichen erfaßbar, er allein aber unerfaßbar, nämlich unerfaßbar dem direkten, unmittelbaren Zugang (ek tês antkrys kai kath' euthuorían prosbolês - der direkten Objektintention) - denn durch einen solchen würde kundgetan, wie beschaffen er ist -, erfaßbar aber aus den nachfolgenden und begleitenden Kräften; denn diese stellen nicht sein Wesen, wohl aber sein Bestehen aus dem Gewirkten vor ihn (den Forschenden) hin." Hier handelt es sich also um kosmologische Gotteserkenntnis, und insbesondere die Argumente des physiko-theologischen Gottesbeweises der Stoa werden von Philo bei zahlreichen Gelegenheiten ausführlich herangezogen: die Wohlgeordnetheit und Vollkommenheit des Kosmos, die einen Baumeister voraussetzt, der Vergleich des Kosmos mit einem großen Hauswesen oder einer pólis, die kosmische prónoia usw. An dieser Stelle ist an die Aktualität des Gedankens der mittelbaren Gotteserkenntnis zu erinnern. Es gibt sogar in der von Karl Rahner und Heinrich Schlier begründeten und von Heinrich Fries und Rudolf Schnackenburg herausgegebenen Reihe der Quaestiones disputatae den Band 125 mit dem Titel: "Kann man Gott aus der Natur erkennen?" (Herder Freiburg etc. 1990) mit dem Untertitel: "Evolution als Offenbarung". Sigurd Martin Daecke schrebt in der Einführung (S.9): "Kann man Gott aus der Natur erkennen? Diese Frage scheint auf den ersten Blick nicht aktuell, nicht mehr unsere heutige Frage zu sein. Ein großer Teil der philosophischen und theologischen Tradition hat sie (...) in mehr oder weniger differenzierter Weise mit "ja" beantwortet. Und die Diskussion über diese Frage schien bereits 1870 definitiv abgeschlossen worden zu sein, als einerseits das I. Vatikanische Konzil - diese Überlieferung verbindlich machend - konstatierte: "Gott, aller Dinge Grund und Ziel, kann mit dem natürlichen Licht der menschlichen Vernunft aus den geschaffenen Dingen mit Gewißheit erkannt werden" - und als andererseits etwa zur gleichen Zeit der methodische und weithin auch materiale Atheismus der beginnenden modernen Naturwissenschaft allein schon die Frage für illegitim erklärte, sofern nicht der weltanschauliche Atheismus vieler Naturwissenschaftler aus der Naturerkenntnis sogar die Nichtexistenz Gottes postulierte. Die Frage "Kann man Gott aus der Natur erkennen?" schien für beide Seiten also ein für allemal beantwortet zu sein, mit "Ja" oder aber mit "Nein"." Die evangelische Theologie hielt sich aus diesem Streit weitgehend heraus und stellte sich die Frage erst gar nicht. Die Frage nach der Erkenntnis Gottes konzentrierte sich im Protestantismus sowieso auf die Wortoffenbarung Gottes in der Heiligen Schrift, in Jesus Christus. Und auch im Gespräch mit der Philosophie stellte sich die Frage einer "natürlichen Gotteserkenntnis" nicht. Denn diejenige, auf die die liberale Theologie sich stützte, war ebenso spiritualistisch, personalistisch und subjektivistisch orientiert. Im 20.Jh. wurde die natürliche Theologie dann einerseits durch Karl Barth tabuisiert, andererseits durch Rudolf Bultmann und Friedrich Gogarten eliminiert, indem Gott "unwelthaft" und der Glaube "entweltlicht" wurde und "der Mensch zwischen Gott und Welt" (F.Gogarten) existierte: im Glauben diente er Gott, mit der Vernunft beherrschte er die Welt. Der Weg zu Gott und der Weg zur Natur führten gleichsam in entgegengesetzte Richtungen, und jede Synthese von Glauben und Wissen, von Gott und Natur, galt als illegitime "Weltanschauung" und - im negativen Sinne "religiöse" Ideologie. Für Gogartens "Säkularisierungsthese" bedeutete jede Verquickung von Gott und Natur eine Vergöttlichung der Natur und damit "Säkularismus", während - so hieß es - der christliche Schöpfungsglaube die "Säkularität", die bloße, pure Weltlichkeit der Natur entdeckt habe, einer Schöpfung, über der der Schöpfer thront und über die der Mensch herrscht. 93 Evangelische Naturwissenschaftler bis hin zu Carl Friedrich von Weizsäcker machten sich damals diese "Säkularisierungsthese" gerne zu eigen und empfanden sie als befreiend - ließen sich doch der methodische Atheismus der neuzeitlichen Naturwissenschaft und ihr Selbstverständnis als wertneutral mit dem christlichen Gottes- und Schöpfungsglauben bequem harmonisieren, wenn auf beiden Seiten die Natur als rein weltlich verstanden und in ihr nichts Göttliches gefunden und erkannt wird. Kann man Gott aus der Natur erkennen? Naturwissenschaftler und evangelische Theologen, für die übereinstimmend die weltliche Natur Objekt kritischen Forschens und nicht ehrfürchtig staunenden Glaubens war, antworteten einmütig: nein! Doch in dieser Trennung und Entgegensetzung von Gott und Natur sah Pierre Teilhard de Chardin nicht nur einen die Wirklichkeit spaltenden Dualismus, sondern auch eine das Bewußtsein des christlichen Naturwissenschaftlers und des die Natur bejahenden Christen spaltende "Schizophrenie". Für ihn führen die Wege zu Gott und zur Natur nicht in entgegengesetzte Richtungen, sondern der Weg zu Gott führt eben durch die Erkenntnis und Gestaltung der Natur hindurch; Gott ist nur aus der Natur und durch sie hindurch zu erkennen: Durch "Erziehung der Augen" möchte Teilhard "lehren, Gott überall zu sehen: ihn im Geheimsten, im Konsistentesten, im Endgültigsten der Welt zu sehen". Gott erwartet uns in den Dingen und kommt uns in ihnen entgegen. "Kraft der Schöpfung und mehr noch der Inkarnation ist hier unten nichts profan für den, der zu sehen versteht... Alles ist im Gegenteil geheiligt." Und genau im Gegensatz zum profanen Verständnis der Natur, nach dem sie undurchsichtig für Gott ist, betont Teilhard "nicht das Erscheinen, sondern das Durchscheinen Gottes im Universum... Nicht Deine Epiphanie, Jesus, sondern Deine Diaphanie"119 Kann man Gott aus der Natur erkennen? Teilhard antwortet also eindeutig: ja! Und da er in seinem späteren Werk die Natur als in Evolution begriffene Wirklichkeit versteht, sieht er, mit der Formulierung Carsten Breschs, die "Evolution als Offenbarung" Gottes den er allerdings sehr persönlich mit "Jesus" anredet, weil er ihn aus der Wortoffenbarung und durch die Inkarnation kennt. Doch zurück zu Philo Alexandrinus. 7.8 Unmittelbare Gotteserkenntnis Es gibt bemerkenswerte Stellen, an denen Philo selber den kosmologischen Zugang zum Dasein Gottes als minderen und überbietbaren kennzeichnet und vom Glanz anderer Möglichkeiten verdunkelt sein läßt, daß es fast einer Verwerfung dieses vulgären Weges "von unten nach oben" gleichkommt. Fast gnostische Töne erklingen, wenn Philo im Hinblick auf den besseren Weg die grundsätzliche Untauglichkeit der Welt überhaupt feststellt, den eigentlichen Zugang zu Gott zu gewähren. Der vermittelten Erkenntnis stellt er eine unmittelbare gegenüber, manchmal mit deutlich polemischer Wendung gegen die stoische Methode der Gotteserkenntnis, welche es ja eigentlich ist, die hier überboten werden soll. Daß aber schließlich doch beide, die eine unter der anderen, bestehen gelassen werden, beweist wieder die Kompromißstellung Philons. Z.B. in Leg.Alleg. III 97ff. <Handout 7> beginnt Philo mit der Schilderung der kosmologischen Gotteserkenntnis und führt sie als die Lehre von Philosophen ein, die als dokoûntes árista philosopheîn (ironisch?) bezeichnet werden; zweifellos sind die Stoiker gemeint. Nach der "Die derart schlußfolgern, erfassen Gott nur durch seinen Schatten, indem sie aus den Werken den Meister erkennen. Es gibt aber eine vollkommenere und reinere Vernunft, die in die großen Mysterien eingeweiht ist: diese erkennt nicht aus den gewordenen Dingen die Ursache, wie aus einem Schatten das Bleibende, sondern sie empfängt, über alles Gewordene hinwegblickend (hyperkypsas), einen deutlichen Eindruck (unmittelbar) vom Ungewordenen selbst, sodaß sie ihn von ihm her erfaßt... Von solcher Art ist Moses, der spricht: 'Offenbare dich mir, daß ich dich P.Teilhard de Chardin, das göttliche Milieu, Olten, Freiburg 1969 (7.Aufl.), 21 f., 51 f., 156. 119 94 deutlich sehe'. Denn nicht durch Himmel oder Erde oder Wasser oder Luft oder überhaupt irgendetwas aus der Schöpfung mögest du mir offenbart werden und in keinem anderen Spiegel will ich dein Bild betrachten (katoptrisaímen tèn sèn idéan) als in dir, der Gottheit selbst..." Vgl. De Abr. 119ff. (zu Gen 18 - Besuch der drei Männer bei Abraham). Vgl. auch de praem et kontrastiert werden. Das ist eine der schönsten Umschreibungen für eine Gotteserfassung, die gegenüber aller dinglichen eine Erkenntnis völlig eigener Art darstellt und in einer erst seit dem Einbruch der orientalischen Religionen möglich gewordenen Weise von aller Anknüpfung an die Gegebenheiten der Welt absehen will. Das ist zwar noch nicht streng dualistischer Akosmismus, aber schon hat die Transzendenz Gottes, die Gott und Natur einander fremd werden ließ, für den Frommen eigene Weisen des Übersprungs über alle Erscheinungen auszubilden begonnen und eine eigene Erfüllung zum Ziel gesetzt, die zur Weltgegebenheit grundsätzlich unbezüglich ist. Der höhere Weg, der hier angezeigt und für Auserwählte auch zugestanden ist, Gott in ihm allein zu erkennen, schließt zugleich ein, daß Gott dieses Erkennen ermöglichen muß, dieses also eigentlich ein Handeln Gottes und nicht des Menschen darstellt: wiederholt wird die Moses-Bitte "Offenbare dich mir" dahin interpretiert, daß Gott selbst sich von sich her, kraft eigener Zuwendung, dem Menschen zeigen muß, so daß des letzteren Selbsttätigkeit, die sonst seinem Erkennen eignet, hier ausscheidet. (z.B. de post Cai. 16. In gleichem Sinn wird Gen.12,7 "Gott erschien dem Abraham" gedeutet, de Abr 79f.: "...Gott wandte sich nicht ab, sondern ging der Seele entgegen und zeigte sein Wesen, soviel davon dem Schauenden zu sehen möglich war. Darum heißt es nicht, daß der Weise Gott sah <eîde tòn theón>, sondern, daß Gott dem Weisen 'erschien' <óphthe tô sophô>. Denn niemandem wäre es möglich, von sich aus den wahrhaft Seienden zu erfassen, wenn jener sich nicht selbst zeigte und offenbarte.") Dann handelt es sich aber um einen grundsätzlich anderen Typus des Erkennens als den theoretischen und gegenständlichen überhaupt; und allem menschlich-tätigen Erschließen, das an den Vermittlungen des Gegebenen fortscheitet, stellt sich ein unmittelbarer, genuin religiöser Zugang aus göttlichem Tun selber gegenüber, der in seinem ganzen Umfang mit jenem nichts gemein hat. 7.9 Die zwei Grundmöglichkeiten an sich: Pistis (Glaube) und Gnosis Ungeachtet der Einschränkungen, die Philo selbst anzubringen für nötig hält, ist in der Idee einer Erkenntnis Gottes durch sein eigenes Licht, unter Ausschluß aller Weltvermittlungen, ein wesenhafter Zugang zu Gott bezeichnet, der nur durch die Auslegung im Sinne der Gegenstandserkenntnis und des Sehvorrangs nicht zu seiner eigentlichen Geltung kommt. Welchen Bezug stiftet ein solcher unmittelbarer Zugang, wenn die bloße Daß-Erkenntnis den wirklichen Raum des Verhältnisses bei weitem nicht ausfüllt, und andererseits die ekstatische Einigung (die absolute gnôsis theoû), die den Abstand des Menschen zu Gott tilgt, eben um der geschöpflichen Grenzen willen nicht zugelassen wird? Eine zweitausendjährige abendländische Tradition legt uns die Antwort sehr nahe: es ist der Glaube, der so wenig wie die mystische Schau durch Vernunftschluß vermittelt ist, wie diese unmittelbar zu Gott ist, ihn nur durch ihn und dank ihm hat - aber seinem Sinne nach gar nicht auf ein Sehen entworfen ist und Gott nicht in der Gegenstandsrichtung intendiert, vielmehr ihn hörend vernimmt und ihm im Sein gehörig ist. Der sehenden steht gleichursprünglich eine hörende Ausrichtung gegenüber: der Glaube setzt Gott nicht vor sich als Ziel seines Strebens, sondern weiß ihn hinter sich und hat "vor" ihm zu sein - inmitten der Welt der Dinge; und ist doch ein vollgültiges Sein zu Gott, das Gott nur durch Gott, kraft seiner Selbstbekundung hat. Wir stehen hier an dem Punkt, wo sich die Möglichkeiten des neuen jenseitigen, entweltlichten Gottesverständnisses in die zwei Hauptäste gabeln: dem en eídei steht das peripateîn en pístei gegenüber. Jenes ist die direkte mystische, dieses die indirekte existentielle Form der Realisierung 95 der Entweltlichung, die aber ebenfalls um Gott aus seinem eigenen Licht weiß und nicht erst aus den Anzeigen der Welt. Verglichen mit jener, die auf Gott unmittelbar als Inhalt gerichtet ist, scheint sie (die gar nicht auf Gott gerichtet, sondern von ihm her gerichtet ist) freilich vermittelt: vermittelt aber ist sie durch das Faktum der menschlichen Geschöpflichkeit als solcher, die sie nicht überspringen, sondern durchvollziehen will. Im christlichen Glaubensbegriff zeigt sich diese "Vermittlung" darin, daß Inhalt des Glaubens nicht das Sein Gottes als ein Wesen an sich ist (dann wäre der Glaube nur eine ungenügende Erkennntis), sondern Wille und Heilshandeln Gottes für den Menschen. Woran geglaubt wird, ist nicht eigentlich Gott, sondern Gottes Sohn und seine Mittlertat mit der in ihr beschlossenen Forderung an menschliches Sein-Sollen. D.h. aber: Inhalt des Glaubens ist überhaupt kein Sein, sondern ein Geschehen und dessen Anspruch, dem mit einem Selbstgeschehen geantwortet wird, und er selbst ist nicht Erkennen, sondern eben dies Antwortgeschehen: Gerufensein, Hören, Gehorchen, Nachfolge - zur Jenseitigkeit in der Welt. Die dogmatischen Bemühungen der alten Kirche um die "Substanz" Gottes, seiner Prsonen usw., haben diesen ursprünglichen Ansatz aus dem Auge verloren. Hans Jonas: "Gnosis und Pistis stellen sich uns als die beiden großen Daseinsbildungen dar, die sich auf dem gemeinsamen Boden des akosmischen Grunderlebnisses als dessen praktische Entsprechungen und Vollziehungsmöglichkeiten entwickeln konnten: Die Gnosis, auf "Sehen" hin entworfen, als die zu Ende geführte Objektivation, für welche dem Mythos entsprechend auch das Unweltliche objektiv ist, Gott mit all seiner Negativität in der Gegenstandsrichtung für die ekstatische Schau bereit liegt; die Pistis, auf "Hören" entworfen, als Existentialisierung des gleichen Akosmismus in einer vorläufigen Innerweltlichkeit." <Vielleicht liegt hier aber ein grundsätzliches Mißverständnis vor: das Mißverständnis der hellenischen Welt gegenüber der biblischen Religiosität: die lebendige, personale Gottesbeziehung des jüdischen Menschen, wird, weil sie eine Beziehung über den unendlichen Abstand zwischen Gott und Geschöpf hinweg ist, als akosmisch als Entweltlichung mißverstanden, kann vielleicht gar nicht anders als so mißverstanden werden. Vielleicht findet eine latent schon vorhanden gewesene Weltfeindlichkeit hier nur ihre Bestätigung?> Philon hat - und darin scheint das originalste Element seiner Frömmigkeit zu liegen - die Überzeugung von dem radikalen, fast feindlichen Gegensatz zwischen menschlich-irdischkosmischem ('psychischem') und göttlich-transzendentem ('pneumatischem') Sein, und davon, daß jenes sich preisgeben muß, damit dieses anwesend sein kann. Das ist ein auf die Gnosis vorausweisendes Motiv. Lassen wir diese philonische Gestalt des Gottsuchens gerade in ihrer Ungeschiedenheit von mystisch-realer und ethisch-ideeller Verwirklichung noch einmal zu Wort kommen: "Wenn du Gott suchst, o Vernunft, so suche ihn, indem du zuvor aus dir selbst heraustrittst. Verbleibst du aber in körperlicher Schwere oder im Dünkel der Vernunft, so verhältst du dich nicht gottsuchend, auch wenn du dir den Anschein gibst zu suchen. Ob du aber bei deiner Suche Gott finden wirst, ist ungewiß, denn vielen hat er sich nicht offenbart und ihr Streben gelangte nie ans Ziel. Es genügt aber zu einer Teilhabe am Guten schon das bloße Suchen allein, denn immer erfreut der Drang zum Schönen, auch wenn er das Ziel nicht erreicht, im voraus die, die ihn betätigen. - So flüchtet also der Schlechte, der die Tugend flieht und sich vor Gott versteckt, zum kraftlosen Beistand seines eigenen Nus; der Gute dagegen entrinnt sich selbst, wendet sich zu der Erkenntnis des Einen und siegt in diesem schönsten aller Wettkämpfe" (Leg all III 47f. <Handout 8>). Wir sehen an dieser Stelle, wie Denkmotive der Skepsis in religiöses Schrifttum integriert werden können, ja für dieses sogar eine wesentliche Bereicherung darstellen können. 96 Wir sehen auch das Motiv der theoretischen Neugierde ohne Erfüllung, als Keim des wissenschaftlichen Fortschrittsglaubens. 8. Plotins Schrift "Gegen die Gnostiker" II 9 (33) 8.1 Zur Person und zur Stellung in der Geistesgeschichte Nach Philon von Alexandrien, der uns als Beispiel dafür dienen kann, wie weitgehend Hans Jonas recht gesehen hat, wenn er von einem gnostischen Zeitalter sprach, nach der frappierenden Konvergenz der hellenistischen Vorstellungswelt, soll an einem anderen Beispiel gezeigt werden, daß man die Unterschiede bei aller Ähnlichkeit nicht außerachtlassen darf. Wir sehen uns einen Text von Plotin, einem anderen Großen der Spätantike, an. Mit ihm befinden wir uns wieder im Bereich der hellenisch-griechischen Kultur.120 Erst im 20. Jahrhundert hat sich die Erkenntnis durchgesetzt, daß Plotin (unter den erhaltenen griechischen Philosophen) nach den Klassikern Plato und Aristoteles der bedeutendste Denker und der folgenreichste Anreger gewesen ist. Für frühere Generationen waren unter den Philosophen der römischen Kaiserzeit die bekanntesten Epiktet aus dem 1. und Marc Aurel aus dem 2.Jh., beide Anhänger der stoischen Lehre. Plotin, der Platoniker aus dem 3.Jh. galt als dunkel oder phantastisch und wurde wenig beachtet. Plotin lebte von etwa 204 bis 270 n.Chr. Heimat und Herkunft sind unbekannt, da er sie geheimhielt. Erst mit 28 Jahren wendet er sich der Philosophie zu und findet nach vorangehenden Enttäuschungen in Alexandreia einen Lehrer in Ammonios Sakkas, von dem er sagt: toûton ezétoun. Mit ihm lebt er in intensivem Austausch und in angestrengter geistiger Arbeit, im Sinn des platonischen "gemeinsamen Philosophierens", 11 Jahre lang. Daran schließt sich eine Bildungsreise, die fast letal ausgeht: Er schließt sich nämlich dem Feldzug des Kaisers Gordian III gegen den Perserkönig an, der durch den Tod des Kaisers scheitert. Plotin hat offenbar Gönner in römischen Senatskreisen, die ihm die Möglichkeit einer philosophischen Lehrtätigkeit in Rom eröffnen. Ab 244, als Plotin in Rom zu lehren anfängt, erfahren wir mehr Details. Er gewinnt nicht nur Anhänger seiner Philosophie, sondern auch die Sympathie durch Vertrauensaufgaben wie Vormundschaften und Streitschlichtungen. Kaiser Gallienus, der ab 253 regiert, und seine Gattin Salonina hatten Sympathie für Plotin. Er rief durch seine integre und schlichte Art Verehrung hervor; man hielt ihn okkulter Erfahrungen für fähig. Er verkündet die Grundlehren des Platonismus, den Vorrang des Seelischen vor dem Stofflichen, die Kraft der Schönheit der geistigen Welt, die unasusprechliche Erhabenheit des obersten, göttlichen Einen. Er ruft auf zur Selbstreinigung, zum Aufstieg in die höhere Welt, zur Schau. Plotin ist dabei kein schöngeistiger Salonphilosoph, er vermeidet Effekte. Überwiegend zeigen seine Schriften uns den "harten, ehrlichen Denker" (Armstrong), der präzise Probleme scharfsinnig und konsequent bis in alle Schlupfwinkel verfolgt. das meiste der Schriften sind Kolleghefte, diktiert, nicht redigiert. Plotini opera ed. Paul Henry et Hans-Rudolf Schwyzer, Tom.I, Oxonii 1964,p.203: Enn. II 9 (33) Pròs toùs gnostikoús. Deutsch: Plotins Schriften übers.v.Richard Harder, Bd.III, Leipzig (F.Meiner) 1936, S.55: Gegen die Gnostiker. <Handout 9> 120 97 Unter den Schülern und Mitphilosophen ist als der bedeutendste Porphyrios zu nennen, ein Syrer. Von ihm ist die Lebensbeschreibung Plotins, und ihm verdanken wir auch die Herausgabe der Schriften. Porphyrios ist selbst ein außerordentlich gelehrter Philosoph und Autor. Über das Nachwirken Plotins in der europäischen Geistesgeschichte sagt sein Übersetzer Richard Harder sehr schön: "Nicht wie eine Ursache wirkt ein Denker weiter, sondern durch sein helfendes, entbindendes "Dabeisein", - so wie auf den griechischen Bildwerken die Gottheit "dabeisteht", wenn die Helden ihre Taten vollbringen." Plotin hat einer der Grundkräfte des europäischen Denkens, dem Platonismus, mehrmals entscheidende Impulse gegeben. Ein paar Beispiele: Plotin war dabei, als Augustinus sich zum Christentum bekehrte. Plotin war dabei, als Boethius, der Kanzler Theoderichs, im Jahr 525 n.Chr. im Kerker die Hinrichtung erwartend, Trost in der Philosophie fand. Das Buch "Trost der Philosophie" ist im Mittelalter unendlich viel gelesen und kommentiert worden, auch übersetzt in die Nationalsprachen: eines der Beispiele für die verzweigten Kanäle, durch die der Platonismus das Abendland durchsetzt hat. Plotin war dabei, als ein paar Jahre später einer einer jener platonischen Philosophen, die nach Schließung der athenischen Akademie durch Kaiser Justinian nach Persien emigrieren durften, es war Priscian, seine Schriften verfaßte: "Lösungen der Fragen, über die der Perserkönig Chosroes Zweifel hatte". Es gibt philosophische Werke in arabischer Sprache, die nichts anderes sind als Paraphrasen ausgewählter Schriften Plotins. Auch die islamische Mystik soll von Plotin beeinflußt sein. (Die islamischen Denker wurden dann ab dem 13.Jh. ins Lateinische übersetzt und haben so auf das Abendland zurückgewirkt.) Plotin ist natürlich auch dabei gewesen, als im 5.Jh. Proklos, der "Hegel des Altertums" einen systematischen Neubau des Platonismus unternahm. Dieses sein System hat wieder die Philosophie des christlichen Mittelalters entscheidend angeregt. (Der Parmenides-Kommentar des Proklos war z.B. in lateinischer Übersetzung in der Bibliothek des Nikolaus von Cues (1401-1461), der sich auch intensiv damit befaßte, wie die Randbemerkungen zeigen.) Man müßte auch den Bezug zu Dantes Göttlicher Komödie, zur Mystik, zu Meister Eckhart zeigen. Marsilio Ficino (1433-1499) hat unter dem Patronat des Mediceers Cosimo den ganzen Plotin ins Lateinische übersetzt. Ficino war das geistige Zentrum der platonischen Akademie, die Lorenzo di Medici gegründet hatte. Von ihm gehen Beziehungen zum Cusaner, zu Paracelsus, Kopernikus. Besonders Plotins Schrift über das Schöne wirkte in die Breite und wurde so etwas wie ein Grundbuch der aristokratischen Erziehung in Italien. - Der im Schönen sich offenbarende Geist, die höhere Liebe zum geistigen Schönen, das sind Gedanken, die bei den Dichtern zünden, und wir hören ihren Widerhall aus den Sonetten Michelangelos, Spencers, Shakespeares. Später gibt es die Cambridge Platonists, deren Bedeutung von Ernst Cassirer gewürdigt worden ist. Auch für sie steht Plotin als Klassiker der religiösen Erfahrung neben den Zeugnissen der Bibel. Während die einen - Bacon, Descartes - die Natur erforschen, um sie in ihre Verfügung zu bekommen, wollen diese englischen Platoniker schauen, um die Natur zu verstehen. (Diesen Antagonismus finden Sie wiederum heute, wenn Sie Fritjof Capra's "Wendezeit" lesen.) 98 Eine Schlüsselfigur für die Weiterentwicklung des englischen Plotinismus auf den Kontinent ist der Graf Shaftesbury (1671-1713), dessen schöngeistige Schriftstellerei die in Deutschland sich entfaltende Bewegung anregt; Winckelmann, Herder, Schiller empfangen von ihm Motive, so den Gedanken von der reinen Anschauung des Schönen, die frei von Zwecken und Interessen ist (wie sie etwa Schiller in den Briefen über die ästhetische Erziehung darlegt); so den fruchtbaren Gedanken von der "inneren Form". Auch Goethe ist an Plotin nicht vorbeigekommen, wie die Wiedergabe eines plotinischen Satzes in den zahmen Xenien zeigt: "Wär nicht das Auge sonnenhaft, Die Sonne könnt es nie erblicken; Läg nicht in uns des Gottes Kraft, Wie könnt uns Göttliches entzücken?" Hegel ist das geschichtliche Schwergewicht Plotins durchaus bewußt gewesen; in seinen Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie III 95 spricht er von einem "Ruck des Weltgeistes". So viel über das Nachwirken Plotins. 8.2 Und nun zur Frage, wie Plotin unter religionsphilsophischem Blickwinkel kurz charakterisiert werden soll. 8.2.1 Religion und Philosophie scheinen ihm völlig zusammenzufließen. Alles bei ihm hat eine religiöse Färbung. Es ist eine Geistesreligion, wie sie schon von Platon begründet worden ist, die er in schöpferischer Interpretation fortsetzt. Dabei arbeitet er energischer die Hierarchie der Wirklichkeitsstufen heraus und läßt er die Einheit der Welt enger, organischer zusammenwachsen. 8.2.2 Das "Ich" (dieser Begriff taucht bei Plotin zuerst auf) wird zum Hauptträger der Wirklichkeit. Dodds hat gemeint: "Die Erforschung des Selbst ist der Kern der Philosophie Plotins. Gerade in der Analyse des Ego machte Plotin Entdeckungen, die sich am meisten durch Selbständigkeit auszeichnen. Plotin war offensichtlich der erste, der die entscheidende Differenzierung zwischen Gesamtpersönlichkeit (psyché) und Ich-Bewußtsein (hemeîs) unternahm.121 Die Persönlichkeit des Menschen ist ein Kontinuum; in ihr gibt es nicht einerseits einen natürlichen, anderseits einen göttlichen, von außen stammenden Teil wie den nous thyrathen des Aristoteles; es gibt keine exakte Trennungslinie zwischen Psyche und Noûs. Doch das Ichbewußtsein umfaßt nie die Gesamtheit dieses Kontinuums: es wandert wie ein Scheinwerfer und erfaßt bald einen höheren, bald einen tieferen Sektor. Plotin erkennt, (wie später Leibniz), daß es Sinnesempfindungen gibt, die unser Bewußtsein erst erreichen, wenn wir gezielt unsere Aufmerksamkeit auf sie richten (IV, 4<28>8; V, 1<10>12); er erkennt auch (wie später Freud), daß es Wünsche gibt, die "im triebhaften Teil bleiben und von denen wir keine Kenntnis haben" (IV 8<6>8,9). Die Erkenntnis, daß Bewußtsein und geistiges Leben nicht nebeneinander verlaufen, ist ohne Zweifel eine der bedeutendsten psychologischen Einsichten. Plotin ist daher, neben Alexander von Aphrodisias, der erste, der den allgemeinen Gedanken des Ich-Bewußtseins (synaísthesis oder parakoloúthesis heautô), des Bewußtseins des Ego über die eigene Aktivität, klar formulierte.122 8.2.3 Die konkrete Religion seiner Zeit - wie sie etwa seinen Schüler Porphyrios bewegt, der auch 121 122 Vgl. J.Stenzel, Metaphysik des Altertums, München 1931, S.191. Vgl. Schwyzer, "Bewußt" und "Unbewußt" bei Plotin. 99 gegen die Christen publiziert hat - interessiert ihn kaum, seine Antriebe sind durchaus denkerische. 8.2.4 Ich versuche die Grundmotive dieses plotinischen Platonismus in Thesenform nebeneinander zu stellen. (1) Der Mensch besteht nicht aus Leib und Seele, sondern aus Leib, Seele und Geist. (2) Seele und Geist werden in dem Menschen angetroffen, aber ihr Sein erstreckt sich weit über ihr Erscheinen im Menschen hinaus, sie sind außermenschliche und übermenschliche Wirklichkeit, sind Stufen der Wirklichkeit überhaupt. (3) Diese Stufen haben ein verschiedenes Maß von Seinsgehalt. Unter ihnen (im metaphysischen Sinn von "unter" befindet sich die Materie, sie ist (in einer näher zu erörternden Weise) nichtseiend. Die Elemente und die Körper, die die Seele aus der Materie schafft, haben eine erste Spur von Seinsgehalt; die Seele selbst hat Teil am Seienden. Der Geist ist das Seiende selber. Da aus ihm alles Lebendige stammt, ist er höchstes Leben. Er ist reines Denken, ist das Denken selber. (4) Gleichlaufend mit dieser Abstufung des Seinsgehalts verteilt sich das Maß von Einheit und Vielheit. So weit ein Ding ein Eines ist, wird es von der nächst höheren Stufe, der Seele, dazu gemacht. Aber auch sie und selbst der Geist sind noch Vielheit; der Geist als Sitz des Urlebens, als Inbegriff der Fülle des Seins, in der auch die Urformen des Seins, die Ideen, gegenwärtig sind, muß Vielheit sein, und ist zugleich als einheitliche Denkkraft Eines. (5) Diese und andere Erwägungen führen uns dazu, daß über dem Geist noch eine andere Stufe zu postulieren ist, die keine Vielheit mehr kennt, die reine Einheit ist und daher "das Eine" genannt wird. Doch ist diese Bezeichnung mißverständlich, sie ist nicht im Sinne der Zahl zu verstehen, überhaupt nicht im Sinn einer bestimmten Aussage. Das Eine ist das Übereine, das Überseiende, das Übergute. Es ist zugleich die höchste Gottheit. Es ist nur negativ bestimmbar: man kann nur von ihm sagen, was es nicht ist, nicht, was es ist. Das Verständnis dieses Stufenbaus stößt beim neuzeitlichen Menschen auf grundsätzliche Schwierigkeiten. Wenn er von der gegebenen Welt in Gedanken sich auf das Nichtwahrnehmbare richtet, so vermeint er, zu einem immer Dünneren, Wesenloseren zu gelangen. Mag er auch eine seelische und geistige Welt anerkennen, so denkt er sie sich doch als unwirklicher, seinsärmer und kraftloser verglichen mit der konkreten Wirklichkeit, als ein Schattenreich - wobei er denn die größte Not hat, in dieser höheren Welt irgendeine Idee der Gottheit als der allermächtigsten und seinserfülltesten anzusiedeln. Die intelligible Welt ist für Plotin nicht die sinnlich wahrnehmbare nach Abzug der Stofflichkeit, die höhere Welt ist keine Abstraktion der tieferen. - áphele pánta ist der Appell an die Seele, auf dem Weg zur mystischen Einung. Allerdings: irgendetwas hat das áphele zu tun mit den Ikonoklasmen, der Ikonenkunst und dem russischen Abstrakten Kandinsky. Für das antike Denken, und besonders für den Platonismus, sind die seelischen und geistigen Wirklichkeiten nicht schwächer als die "sinnlichen", sondern stärker, seinshafter; der Aufstieg in die höhere Welt ist ein schrittweises Emporsteigen zu immer Wirklicherem und Wirksamerem, und die oberste Stufe ist der Inbegriff aller Kraft und Seinsfülle. Denn es ist ja dieser Weg ein Hinaufsteigen zu einer immer reineren Göttlichkeit. Das Verhältnis der je höheren Stufe zur niederen ist nicht nur das eines Überwiegens, es ist ein überwältigendes Höhersein, so überwältigend, daß die niedere von der höheren "abhängt", in ihrem ganzen Sein bedingt ist. In mythischer Sprache lautet das so, daß die niederen Stufen von der höheren "erzeugt" worden sind, daß die ganze Wirklichkeit zuletzt aus dem Einen hervorgegangen ist, daß das Eine überquellend aus sich erflossen ist; man nennt das "Emanation". Für Meister Eckhart hieß es "usflus". Bei Plotin begegnet gelegentlich dieses Bild, neben dem von der Ausstrahlung, die von dem Einen herkommt. 100 Aber immer ist festzuhalten, daß der Quell dieses Fließens oder Strahlens nichts von sich aussendet oder hergibt; auch dieses Bild bezeichnet, wie Plotin oft betont, die Sache nur ungenügend. Alle zeitlichen Aussagen sind hier nur mythische Metaphern, Schöpfungsgeschichte ist dem griechischen Denken fremd. Über einen Richtungssinn der menschlichen Geschichte, der ja erst mit der christlichen Heilsgeschichte interessant geworden ist, sagt Plotins Stufenbau gar nichts aus. Das zeitliche Hervorgehen ist nur ein Symbol für die sachliche Rangordnung; "früher" und "später" sind metaphysische Wertbegriffe wie besser und schlechter. Einen göttlichen Entschluß zur Schöpfung kann es nicht geben. Die Stufen sind alle gleich ewig. So ist diese unsere Welt, der Kosmos, keine Stätte des Bösen, kein Ort der Strafe und der Buße. Der Kosmos ist, wie Plato gesagt hatte, ein "seliger Gott". Aus Gegensätzen und sich ergänzenden Mängeln aufgebaut, ist er ein wohlgefügtes Ganzes, ein Organismus unter einem einheitlichen Gesetz. Es herrscht zwischen seinen Gliedern "Sympathie", eine Gemeinschaft des Wirkens und Erleidens. Wegen dieser sympathetischen Einheit des Kosmos interessiert sich Plotin so positiv für die Phänomene der Astrologie, Mantik und Magie. Die menschliche Seele hat sich aus der höheren Welt herabgeneigt in die Verstrickung des Irdischen. Ein Hauptthema Plotins. Aber gegenüber den Thesen von ihrem Fürwitz, vom Sündenfall, wie sie bei den Gnostikern laut wurden, gibt Plotin immer wieder zu bedenken, daß dieser Seelenabstieg eine Notwendigkeit war und im Weltplan lag, eine unvermeidliche Fortsetzung des Prozesses, der aus dem Einen den Geist und aus diesem die Seele hatte "hervorgehen" lassen. Ungeachtet aller Schwierigkeiten, die hier beim Schicksal des einzelnen Menschen die Zeitkategorie macht, erkennt er der Menschenseele zu, daß sie auch im Erdendasein in Verbindung mit den oberen Seinsstufen, ja mit dem "Einen" bleibt. Es wird hier nichts weggeleugnet, nicht die Verstrickung der Seele in Irrtum und Schuld, nicht die Anwesenheit des Bösen in der Welt, nicht die Unvollkommenheit der irdischen Weltordnung. Trotzdem legt Plotin immer wieder den Ton auf die Rechtfertigung des Seelenabstiegs, auf die Harmonie auch des sichtbaren Kosmos. So hoch auch das letzte Überwirklich-Wirkliche hinausgerückt ist über alles Seiende, so hoch auch das Sein über dem Dasein steht, nirgends darf es hier einen Graben geben, eine Mauer zwischen Welt und Überwelt, zwischen Göttlichem und Menschlichem; zuletzt ist alles miteinander verwandt, oder - genauer - alles ist ein Ganzes. Man hat Plotin den eigentlichen Denker der Ganzheit bezeichnet, weil er dieses Motiv, das es seit den Eleaten, seit Plato und Aristoteles gibt, erneut in den Mittelpunkt stellt. Der Leitbegriff der Ganzheit ermöglicht uns den Zugang zu dem, was man Plotins Mystik nennen muß. Es gibt für das mystische Erlebnis eine methodische Vorbereitung. Vorausgesetzt ist dabei "Askese", das ist eine schlichte, geregelte, vernunftgemäße Lebensweise. Vorausgesetzt ist Reinheit, d.h. tugendgemäßes Verhalten. Wichtigste Vorübung ist die Pflege des "inneren Gesichts", der Fähigkeit, unsinnliche Wirklichkeiten zu Gesicht zu bekommen; sie wird geweckt durch die Anschauung des reinen "Schönen", durch Vertiefung in die Wissenschaften, durch das Trachten hinauf und hin zur ursprünglichen Ganzheit des Menschen. Dieser Weg hinauf ist zugleich der Weg ins eigene Innere, zum eigentlichen Selbst. So gelangt man zur Schau der geistigen Welt. Theoría. Es wird von dieser Schau in erotischer Sprache gesprochen, sie ist etwas Lustvolles. Aber immer wieder wird gemahnt, daß es vor allem des Stillwerdens und Stillseins bedarf, um zu dieser Schau zu gelangen. Es gibt kein Erzwingen, nur geduldige Bereitschaft. 101 Es gibt auch nicht die Methodik eines "autogenen Trainings" oder einer Yoga-Schulung. Der Meister kann nur Hinweise geben, der Schüler muß im Grund seinen Weg allein finden. (Ein Unterschied zu Plato: Bei Plotin findet die Einübung nicht im Zusammenleben statt, sondern der Weg ist allein zurückzulegen.) Der Zustand der Schau tritt "plötzlich" ein - es ist das der Ausdruck dafür, daß sein Eintreten nicht in die Macht des Menschen gegeben ist, daß er sich zuletzt ohne aktives Zutun "ereignet". Plotin geht einen Schritt über alle anderen hinaus, und das ist so neu, daß man ihn (wohl zu Unrecht) mit der indischen Philosophie in Verbindung bringen wollte: Die Schau, das unmittelbare Anschauen des gesuchten Gegenstandes, steht grundsätzlich auf einer höheren Stufe als das immer nur mittelbare logische Erkennen. Aber eines hat sie mit ihm doch gemeinsam: Wie Erkennender und Erkanntes, so ist auch Schauender und Geschautes eine Zweiheit; diese Zweiheit gilt es für Plotin zu überwinden. Der bisherige Weg ging von der Reinigung zur Wendung nach innen, über die Konzentration zur Kontemplation; er bedeutet zugleich höchste Steigerung des menschlichen Selbst. Nun heißt es umgekehrt, dieses Selbst auszulöschen, alle Eigenbewegung, auch die schauende, stillegen, sich gänzlich darangeben und mit dem Geschauten vereinigen, selber das geschaute nicht mehr schauen, sondern es werden. Die höchste geistige Aktivität schlägt nun in reine Passivität um, bzw. in einen Zustand, in dem beides nicht mehr unterscheidbar ist; das ist die unio mystica. So gelangt der Schauende über das Schauen hinaus zur Vereinigung mit dem, was mangels aller geistigen Bestimmtheit nicht mehr geistig erschaut werden kann, zum höchsten Einen selber, dessen man nur innewerden kann, indem man es selber wird. Mit dieser letzten Paradoxie rührt Plotin an die Grenzen der menschlichen Möglichkeiten. Der mystische Zustand der Ekstase hat einen festen Platz im System. Persönlich hat Plotin nach dem Zeugnis des Porphyrios diesen Zustand nur sehr selten erlebt. Er war auch nicht einer, der sich nur der einsamen Meditation hingegeben hätte, sondern er war vor allem ein Lernender und Lehrender. Als Lehrender preist er jenen Zustand des Glücks und der Ruhe, in dem die Seele alles von sich abtut, auch das sonst von ihr so geliebte Denken, denn es ist Bewegung, sie will aber unbewegt sein, wie das Erste. (Es ist eine Nektar-Trunkenheit, vgl. sobria ebrietas) 9. Die christlichen Alexandriner Aus Zeitgründen kann der große christliche Gegenpart zu Plotin, Origenes, nicht ebenso vorgestellt werden. Ihm ist eine eigene Vorlesung gewidmet. Einige Gesichtspunkte sind aber kurz anzusprechen. 9.1 Gleichzeitigkeit der großen Systeme (Origenes, Plotin, Mani) Hans Jonas hat es (o.c. II 171) festgestellt: "Drei große Systeme brachte im Zeitraum einer Generation (Origenes 185-254, Plotin ca.204/5-270, Mani 216-ca.275) die erste Hälfte des dritten Jahrhunderts hervor". (Die Zusammengehörigkeit von Plotin und Origenes hatte schon J.Geffken, Der Ausgang des griechisch-römischen Heidentums <1920>, S.55f. betont). Jeder dieser drei hat, ohne viel vom anderen zu wissen, die Summe ihrer Weltauslegung in einer das Ganze umspannenden und seine Erzeugungsordnung nachbildenden Deduktion gezogen. Wenn sie sonst nichts gemeinsam hätten, hätten sie allein dadurch bewiesen, daß das Zeitalter selber auf die Ziehung einer solchen Summe, auf Totalbildungen also, und zwar eben in der Form des Systems, aus war; aber auch, daß aus der vergangenen Denkbewegung etwas da sein mußte, dessen 102 Summe nunmehr und derart zu ziehen war. Man kann also bei der bloß formalen Feststellung gar nicht stehen bleiben. Jonas ist aufgefallen, daß einerseits die Philosophie des vorangegangenen 2.Jh. eklektizistisch, theoretisch kraftlos und allgemein schwach war, anderseits, wenn man den Blick über die Grenzen der Schulphilosophie hinaus hebt, das 2.Jh. ein wahres Treibhaus der Systeme war, "wenn man nur von der "Philosophiegeschichte" in die "Religionsgeschichte" hinüberblickt. Und wenn man sich gar aus der Gefangenschaft dieser künstlichen Einteilungen mindestens für unsere Epoche überhaupt befreit und ihre wesenhafte Einheit sieht, erkennt man, daß "das" 2.Jh. eben nicht bei den hellenischen Philosophenschulen war, sondern weit entscheidender bei den wilden Schößlingen gnostischer Spekulation. Ganz formal zeigt sich dort ein Wuchern von Sytemen, und nichts drängt sich einer quasi ästhetischen, vom Inhalt noch absehenden Betrachtung an diesem Zeitraum mehr auf, als jener allgemeine Wille zum Universalsystem "um jeden Preis", der mit der Anmaßung, aber auch Unerschöpflichkeit der Unreife sich auslebt. Allenthalben zeigten sich uns ja jene Kunstmythen <denn sie sind als theoretische, absichtliche Erzeugnisse wohl zu unterscheiden von den "echten Mythen" der Frühantike>, und selbst noch die gedanklich kümmerlichsten oder ausschweifendsten unter ihnen, beherrscht von dem einen Bestreben: das Sein in seiner unbedingten Gänze zu ergreifen und als durchgehenden Zusammenhang darzustellen, in lauter umfassenden - notwendig sehr willkürlichen und meist überaus summarischen - Totalentwürfen, worin die letzten Ausläufer der Mannigfaltigkeit durch eine lineare (und zwar vertikale) Ordnung der Zwischenglieder hindurch, und nach einer Spirituallogik, die jeder Induktion spottet, mit dem Urgrund verknüpft sind (dessen sie alle a priori versichert sind, Anfang sowohl der Welt wie der Spekulation). Diese Entschlossenheit, die Wirklichkeit insgesamt - Weltexistenz und Seelenschicksal - auf einen Nenner zu bringen und aus dem einen Prinzip den transzendenten Erzeugungsvorgang jeweils von neuem als Deduktion zu entwickeln, führt mit Notwendigkeit immer wieder eben zu "Systemen". 9.2 Vorarbeit für Origenes: Clemens Alexandrinus. Titus Flavius Clemens, um 150 geboren, zwischen 211 und 216 gestorben. 202 oder 203 hat er Alexandrien wegen einer Christenverfolgung verlassen. In den Stromateis in sieben Büchern, entwickelt Clemens den Inhalt des christlichen Glaubens, also das Wesen des Christentums, in seinem Verhältnis zum Judentum, zur griechischen Philosophie und zu den christlichen Häretikern. Hier versucht er, vom bloßen Glauben zur Erkennntis, zu der wahrhaften Gnosis, fortzugehen. Wie er selbst zugesteht und durch den Titel andeutet, (ein buntdurchwirkter Teppich) geschieht die Darstellung nicht in systematischem Zusammenhang, sondern aphoristisch. Mit ein Zweck der Stromateis scheint die Rechtfertigung der griechischen Philosophie gewesen zu sein. Der göttliche Logos, der überall hin ausgegossen ist, wie das Licht der Sonne, (Str. VII, 3, ed. Stählin 3,15f.), hat von Anfang an die Seelen erleuchtet. Durch Moses und die Propheten belehrte er die Juden (Päd. I, 7 ed. Stählin 1, 121ff.). Unter den Griechen aber erweckte er weise Männer, und gab ihnen die Philosophie als Anleitung zur Gerechtigkeit (Str. I, 5, ed.Stählin 2,18). Sie haben zwar vieles heimlich von den Orientalen und insbesondere aus den jüdischen Religionsbüchern geschöpft, aber manches haben sie doch wirklich sebst gefunden, vermöge des ihnen eingesenkten Samens des göttlichen Logos (Protr. VI, 6, ed. Stählin 1, 51f.). Die positive Beurteilung der griechischen Philosophie überwiegt bei Clemens. Er findet die wahre Philosophie aber nicht bei einer einzelnen Schule, sondern in einer Auslese aus allen. Wir bedürfen der Philosophie, um von der pístis zur gnosis fortzuschreiten. Die pístis verhält sich zur gnosis so, wie die prólepsis zur epistéme. Das eine ist die notwendige Voraussetzung für das andere. Der Gnostiker steht zu dem, der ohne die Erkennntis bloß glaubt, in dem gleichen Verhältnis wie der Erwachsene zum Kind. Aber die Übereinstimmung mit dem Glauben ist das Entscheidungsmerkmal der Echtheit der 103 Wissenschaft (Str. II, 4, ed. Stählin 2, 120: Kyrióteron oun tes epistémes he pístis, kaí estin autes kritérion. Die gnosis ist apódeixis tôn dià písteos pareilemménon tê pístei epoikodouméne, sie ist teleíosis anthrópou - Strom. VII, 10, ed.Stählin 3,40. Auf weite Strecken ist Clemens philonisch. (Direkte Lektüre kann vorausgesetzt werden. Im Westen dürfte der Einfluß Philos auf Augustinus über Ambrosius gehen.) Eine positive Gotteserkennntnis hält er so wie dieser für unmöglich. Wir wissen nur, was Gott nicht ist. Er ist gestalt- und namenlos, obwohl wir mit Recht uns der schönsten Namen zu seiner Bezeichnung bedienen. Er ist unendlich; er ist weder Gattung noch Differenz, weder Art noch Individuum, weder Zahl noch Akzidens, noch etwas, dem etwas zukommt. (Str. V, 11 u. 12, ed. Stählin 2, 370-381). Er ist über die Einheit und über das Wesen von allem erhaben. (epékeina tou henòs kaì hypèr autèn monáda - Päd. I, 8, ed. Stählin 1, 131, vgl. Plato Rep VI 509b: ouk ousías óntos tou agathou, all' éti epékeina tes ousías presbeía kaì dynámei hyperéchontos). Daß sich Clemens aber doch nicht bei dieser bloßen Negation voll zufrieden gibt, sondern daß er Gott nach der Schrift und auch nach dem Vorgang Philos vielfach analog dem menschlichen Geist sich vorstellt, ist nicht verwunderlich. Besonders wird aber hervorgehoben: anendeès tò theion kaì apathés. Nur der Sohn, der des Vaters Macht und Weisheit ist, ist positiv erkennbar (Str. V, 1ff., ed. Stählin 2, 326ff.) Er ist vor aller Welt erzeugt, aber nicht geworden wie die Geschöpfe. Er ist dem ewigen Gott wesensgleich, steht in Wesenseinheit mit dem Vater und ist selbst Gott. Er ist ánarchos - archè ton ónton (Str. VII, 1f., ed. Stählin 3,3f.). Doch meist neigt sich Clemens auch dem Subordinatianismus zu, wenn er den Sohn als eine Natur bezeichnet, welche dem Allherrscher am nächsten stehe, und anderseits ihn wieder gleichsam als eine Tätigkeit des Vaters erklärt (éstin hos eipein patriké tis enérgeia - Strom. VII, 2, ed. Stählin 3,7). So daß ein gewisses Schwanken bezüglich des Verhältnisses zwischen dem logos und dem Vater, wie bei Philo, so auch bei Clemens nicht zu verkennen ist. Weiters ist der Logos das Urbild der Welt, und durch ihn hat Gott die Welt geschaffen. Er ist der Mittler zwischen Gott und Welt und erhält die Welt. Er ist die Vernunft und das Gesetz des Weltganzen. Hiernach ist auch die Weltordnung eine vernünftige. Durch den Logos erkennen wir auch den Vater, soweit wir ihn erkennen. Wie bei Philo ist der Logos die Zusammenfassung der Ideen und der schöpferischen Kräfte. Vielleicht war die wichtigste Leistung des Clemens, mit dem Ausspruch des Johannesprologs Ernst gemacht zu haben, daß der Logos einen jeden erleuchtet, der in diese Welt kommt, und damit den Nachweis der Berechtigung für die Benützung der griechischen Philosophie erbracht zu haben. (Ohne diesen Nachweis hatten ja schon vorher ein Hippolyt oder Tertullian die Philosophie benützt). Mit Clemens ist das Christentum als Mitbewerber im Kampf um das Bildungsideal aufgetreten. Nicht Rhetorik, nicht Philosophie, das Evangelium erzieht zum vollendeten Menschen. Christus, der Logos, ist der Pädagog des Menschengeschlechts und jedes einzelnen. Das im vollkommenen Christen verkörperte Ideal der allseitig entwickelten Persönlichkeit schildert der Alexandriner mit rhetorischem Pathos und in schönen Gleichnissen. Daß Clemens hier etwas Wesentliches gesehen hat, dafür kann an die Parabeln und ihre Bilderwelt im Evangelium erinnert werden, die ja auch nichts anderes sind als ein mit den Mitteln einer freundlichen und starkten Phantasie immer wieder erneuerter Versuch, den Menschen klar zu machen, daß die Seele ein Zentrum ist, von dem Leben und Güte, Kraft ausströmen sollen. Die Erziehung zum gütigen, starken, harmonischen und von Klarheit durchleuchteten Menschen ist der Gegenstand der Schriftstellerei des Clemens. Etwas vom Stärksten und Persönlichsten ist seine Hochschätzung des Wissens, die Auflösung der religiösen Überlieferung in Begriffe, also die Vereinigung von Wissen und Glauben im Sinne 104 umfassender Systembildung, aber mit Überordnung des Wissens. 9.3 Platonismus und Gnosis bei Origenes Origenes hat mit Anhängern gnostischer Richtungen viel zu tun. Er sah den Kampf gegen diese als eine Hauptaufgabe an, und manche Schriften stehen im Dienst dieser Aufgabe. So ist z.B. sein Johanneskommentar eine Gegenschrift zum Johannes-Kommentar des Gnostikers Herakleon. Nun hat man aber mit Überraschung festgestellt, daß in der Weltanschauung des Origenes selbst manche Züge mit den Gnostikern übereinstimmen. Es ist etwas eingetreten, was in der Geistesgeschichte nicht selten ist. der Streiter gegen eine Lehre nimmt, ohne es zu wollen und zu wissen, gewisse Züge seines Gegners an. So kommt es, daß die Theologie des Origenes zwar einseitig, aber nicht ganz falsch als ein gnostisches System beschrieben werden konnte. Hier kommt es darauf an, zu differenzieren. Origenes bekämpfte die gnostische Vorstellung, die Welt, die Schöpfung sei in sich schlecht. Auf gnostischer Seite wurde behauptet, der Schöpfer, der Demiurg, sei gar nicht mit Gott identisch, sondern ein anderes, ein ignorantes oder gar boshaftes Wesen. Marcion hatte erklärt, der Gott des AT sei von dem des NT verschieden: jener sei gerecht, dieser gut. Ein anderes kontroverses Thema war der freie Wille. Die Gnostiker neigten dazu, ihn zu leugnen; Valentinus sprach von drei Arten der Menschen, den Hylikern, Psychikern und Pneumatikern, den stoff-, seele- oder geistorientierten; sie seien von Geburt, ihrer Natur nach verschieden, und nur die letzteren einer vollen Erlösung fähig. Origenes verfocht dagegen leidenschaftlich die Gleichheit aller Menschen im Wesen (physis), und er dehnte diese Gleichheit bis zu Engeln und Teufeln aus: Alle Unterschiede seien eine Folge freier Willensentscheidungen für oder gegen Gott. Das ist für ihn ein Axiom, das bis in die letzten Konsequenzen durchgeführt wird. Der Sinn dieser antignostischen Positionen läßt sich leicht begreifen, wenn man an die These von Hans Jonas denkt, daß ein wesentliches Element der gnostischen Religiosität die Angst ist; Angst vor der Welt, ihren undurchschaubaren Mächten (den Archonten) und ihrem unentrinnbaren Zwang (der astrologischen Schicksalsnotwendigkeit, der Heimarmene). Immer wieder findet man bei Gnostikern das Gefühl einer hilflosen Verlassenheit; sie können ihr In-der-Welt-Sein wie einen Alptraum empfinden, in dem man beklemmend-unheimlichen Bedrohungen ausgesetzt ist und nur die eine Hoffnung haben kann, endlich aufzuwachen. Das ist der Hintergrund gnostischer Erlösungshoffnung. Origenes dagegen verkündet das Vertrauen auf eine Welt, die von einem fürsorglichen Gott weise organsiert ist, um zu unserer Läuterung zu dienen, eine Welt, die uns zwar Not und Gefahr bereitet, aber letztlich zu unserem Wohl, und immer so, daß unsere Kräfte der Herausforderung gewachsen sind (De principiis III 2,3) und daß sittliche Bewährung und Leistung den Aufstieg zu Gottesnähe und Gotteserkenntnis bringt. Worin besteht nun aber anderseits die Verwandtschaft mit den Gnostikern? Vor allem in der Konzeption des kosmischen, Äonen umspannenden Dramas, in dem unser Leben nur eine Episode bildet. Solche Kosmos-Dramen hatten die Gnostiker in verschiedenen Varianten entworfen und mythologisch ausgemalt. Immer spielt Fall und Errettung der Seelen darin eine Rolle. Sicher liegt hier ein altes Mythologem zugrunde, das zuerst bei Empedokles im 5.Jh.v.Chr. auftritt und bei Platon im Seelenmythos des Phaidros verwendet wurde. Diese kosmisch-dramatische Schau hat Origenes vor allem in ihrem gedanklichen Status verändert: aus mythologisch-bildhaften Schilderungen machte er eine rationale, vernünftig nachvollziehbare Verlaufskurve; das Phantastische bekommt einen wissenschaftlichen Anspruch und wird nicht prophetisch verkündet, sondern mit Argumenten lückenlos bewiesen. Man mag sich wundern, wie ein solches Gedankengebäude in eine Religionsgemeinschaft paßt, die von Anfang an sich den niederen Volksschichten, den Bedrückten, Hilflosen und Ungebildeten 105 zuwandte. In Alexandrien gab es einerseits eine religiös lebhaft interessierte intellektuelle Schicht, anderseits aber auch ein großes Proletariat, das im Religiösen seelischen Halt suchte. Origenes war überzeugt, daß die christliche Kirche beiden Gruppen gerecht werden müsse und drückte das aus, indem er haploústeroi und téleioi unterschied: die "Einfacheren", simpliciores, und die "Vollendeten". Seine spekulative Theologie war für die letzteren bestimmt, während für die ersteren das gläubige Hinnehmen einfacher kirchlicher Lehrsätze genügte (De principiis I, Praefatio 3). Besonders kommt er im Zusammenhang seiner Bibelauslegung auf das Problem zu sprechen. Der höhere Sinn ist nur für die "Vollendeten" zugänglich; die "Einfacheren" erbauen sich am wörtlichen Sinn und lassen sich allenfalls vom psychischen Sinn sittlich belehren.123 10. Augustinus 10.1 Allgemeines Aurelius Augustinus wurde 354 als Sohn eines römischen Provinzialen in Thagaste in Numidien, Nordafrika, geboren. Er brachte es zum Lehrer der Grammatik und Rhetorik in seiner afrikanischen Heimat, von wo er über Rom nach Mailand ging, um als kaiserlicher Redenschreiber zu arbeiten. Sein geistiger Werdegang wurde bestimmt durch seine christliche Mutter, die sich letztlich durchgesetzt hat, durch die griechische und römische Bildungswelt, durch die Philosophie, vermittelt besonders durch Plato, Akademiker und Neuplatoniker sowie durch Cicero, durch die gnostische Richtung des Manichäismus, schließlich durch den Mailänder Bischof Ambrosius. Zurückgekehrt nach Afrika, wirkte Augustinus als Bischof von Hippo Regius und überaus fruchtbarer Schriftsteller bis zu seinem Tod 430, während der Belagerung Hippos durch die Vandalen. Die große theologische Leistung Augustins besteht nicht allein darin, daß er in der Kirchen- und Sakramentenlehre die Grundzüge vorgegeben hat, die in der Ekklesiologie der katholischen Kirche bis heute bestimmend geblieben sind. Nicht allein darin, daß seine Trinitätslehre und Christologie das Abendland weitgehend geleitet haben. Seine große Leistung – wie alle wirkliche Größe auch immer ambivalent zu bewerten – besteht in der Herausarbeitung einer christlichen Anthropologie und in ihrer Applizierung auf die soziale Wirklichkeit in der Konzeption der beiden Staaten. Auswahlbibliographie: * Werke: Migne, J.-P.: Patrologia Latina, Bde. 32-47, Paris 1841/42 * Übersicht über die Werke: Geerlings, W.: Augustinus, in: Lexikon der antiken christlichen Literatur, Freiburg/Basel/Wien ²1999, 65-85 * Lexika: Mayer, C. (Hrsg.): Augustinus-Lexikon, Basel 1 1986ff. * Einführung: Flasch, K.: Augustin. Einführung in sein denken, Stuttgart ²1994. * Biographie: Brown, P.: Augustinus von Hippo. Eine Biographie, Frankfurt ²1982. * Theologie: Brachtendorf, J. (Hrsg.): Gott und sein Bild. Augustinus De trinitate im Spiegel gegenwärtiger Forschung, Paderborn 2000. 10.2 Dualismus124 Peter Brown berichtet in seiner Augustinus-Biographie: Etwa neun Jahre lang war Augustinus ein „Hörer“ unter den Manichäern. Er hätte seine Weisheit in keiner extremeren Gruppe von Menschen finden können. Die Manichäer waren eine kleine Sekte von schlechtem Ruf. Sie waren illegal und wurden später grausam verfolgt. Ihnen haftete etwas vom Hauch eines Geheimbundes an. In fremden Städten pflegten Manichäer nur bei Mitgliedern Vgl. Herwig Görgemanns, Origenes, in: Gnosis und Mystik in der Geschichte der Philosophie. Hrsg.v.Peter Koslowski, Zürich u.München (Artemis) 1988. S.71 124 Vgl. H.C.Puech, Der Begriff der Erlösung im Manichäismus, in: Eranos Jahrbuch, 1936, 183-286. 123 106 ihrer eigenen Sekte zu wohnen. (Vgl. Conf V, 10, 145) Ihre Führer bereisten ein Netzwerk von „Zellen“, das die ganze römische Welt überzog. Heiden blickten nur mit Schrecken auf sie (De utilitate credendi 1, 2) und rechtgläubige Christen mit Furcht und Haß. Sie waren die „Anarchisten“ des vierten Jahrhunderts: eine „fünfte Kolonne“ fremden Ursprungs, entschlossen, die christliche Kirche zu unterwandern, die Träger einer einzigartig radikalen Lösung der religiösen Probleme ihrer Zeit. Nur diese Gruppe, so dachte Augustinus, konnte die Frage beantworten, die ihn „quälte“, seit seine „Konversion“ zur Philosophie ihn zu ernstem Denken veranlaßte: Was ist „die Natur des Bösen“? (De libero arbitrio I, 2, 4.) Die manichäische Antwort auf das Problem des Bösen ist der Kern des Manichäismus des jungen Augustinus. Die Antwort war einfach und drastisch und ist uns aus den Schriften des Augustinus völlig bekannt. Seit dem 20.Jh. sind wir wiederum in der Lage, in das innerste religiöse Fühlen der Manichäer einzudringen, und zwar durch die Entdeckung bewegender Liturgien manichäischer Gemeinschaften von Ägypten bis Sinkiang. [Die eindrucksvollste ist die Psalmensammlung in Koptisch, fast zeitgleich mit Augustinus und ebenso aus einer Provinz des christlich römischen Imperiums, hrsg. u. übers. von C.R.C.Alberry, A manichaean Psalmbook, Part II, in: Manichaean Manuscripts in the Chester Beatty Collection, vol. II, 1938; vgl. P.-J. de Menasce, Augustin manichéen, in : Freundesgabe für Ernst Robert Curtius, 1956, 79-93.] Augustinus besuchte die Zusammenkünfte der Manichäer, um den großen „Brief der Gründung“ des Mani zu hören. In diesem feierlichen Augenblick wurden die „Hörer“ mit „Licht erfüllt“ (Contra epistulam quam vocant fundamenti, 5). Diese „Erleuchtung“ war die erste, die grundlegende religiöse Erfahrung eines Manichäers: Nun war ein Mensch, der sich seines eigenen Zustandes ganz klar bewußt geworden war. Es war, als wäre er durch einen fernen Ruf aus tiefem Schlaf erweckt worden: „... So erweckt, vergegenwärtigte sich der Manichäer lebhaft, daß er nicht frei war. Er konnte sich nur mit einem Teil seiner selbst identifizieren, mit seiner „guten Seele“ (De duabus animabus 1.). So viel von ihm gehörte einfach nicht zu dieser Oase der reinheit: Die Spannungen seiner eigenen Leidenschaften, seine Wut, seine sexualität, sein verdorbener Körper, die unermeßlich wuchernde Außenwelt jener „Natur, so rot in zahn und Klaue“ (Disp. c. Fort.21.). All das lastete auf ihm. Es war offenkundig, daß das Gute in ihm wünschte, „freigesetzt zu werden“, „zurückzukehren“ und wieder in einen ungetrübten, ursprünglichen Stand der Vollkommenheit einzutauchen, in ein „Reich des Lichtes“, von dem er sich getrennt fühlte. Doch war es ebenso klar, daß die Menschen daran scheiterten, dies zu vollbringen, diesen einzig möglichen Wunsch ihrer besseren Natur. Darum handelte die „gute Seele“ einfach unter Zwang. Aus irgendeinem geheimnisvollen Grunde fand sie sich „gefangen“, „zurückgehalten“, gehemmt, „verletzt“ und zurückgestoßen von einer Kraft, die zeitweilig stärker als sie selbst war. (Conf. IV, 15 121.) „Weil es eine Tatsache ist, daß wir gegen unseren Willen sündigen, ... suchen wir aus diesem Grunde nach einem Wissen um den Grund der Dinge.“ (Disp. c. Fort. 20) Dieses „Wissen um den Grund der Dinge“ machten die Manichäer Augustinus klar. Kurz gesagt, während sich jedermann der innigen Mischung von Gut und Böse in ihm und in der Welt um ihn bewußt wird, ist es doch gleichzeitig für den religiösen Menschen höchst abstoßend und für den vernünftig denkenden Menschen absurd, daß solch ein Übel von Gott kommen könnte. Gott ist gut und völlig unschuldig. Er muß vom leisesten Verdacht direkter oder indirekter Verantwortlichkeit für das Böse bewahrt bleiben. Diese verzweifelte „Frömmigkeit dem göttlichen Wesen gegenüber“ (Simplicius, Kommentar zum Enchiridion des Epictetus, 27; in: Adam, Texte, 74, Nr. 51.) ist der Grund für die drastische Art und Weise des religiösen Systems der Manichäer. Sie waren Dualisten und so überzeugt, daß das Böse nicht von einem guten Gott kommen könne, daß sie glaubten, es käme von einer Invasion in das Gute – das „Reich des Lichtes“ – durch eine feindliche Macht des Bösen – des „Reiches der Finsternis“ -, gleich an Macht, ewig und völlig getrennt. Der chinesische manichäische Katechismus sagt: „Das erste, was der Mensch zu tun hat, ist die Unterscheidung der Zwei Prinzipien (das Gute und das Böse). Wer unserer Religion beitreten will, muß wissen, daß die Zwei Prinzipien von absolut verschiedener Natur sind. Wie kann jemand, der diese Unterscheidung nicht lebhaft empfindet, die Lehre in die Praxis umsetzen?“ (Chavannes-Pelliot, 107 Un traité manichéen retrouvé en Chine: JA, sér. XI, 1, 1913, 114.) Hinsichtlich dieses Streitpunktes waren die Manichäer kompromißlose Rationalisten. Als Manichäer war Augustinus überzeugt, er könne die fundamentale Lehre seiner Religion durch die Vernunft allein aufrechterhalten. (Disp. c. Fort. 19) „Woher kommen diese Sünden ?“ fragt er sich. „Woher kommt das Böse überhaupt? ... Wenn von einem Menschen, woher kommt dann der Mensch? Wenn von einem Engel, woher dann der Engel? Und wenn man sagt, daß beide aus Gott seien, ... scheint es, als ob Übel und Sünden wie mit einer Kette an Gott gebunden seien. In dieser Frage allein sehen die Manichäer bereits ihren Triumph: als ob Fragen schon Wissen wäre. Wenn das in der Tat so wäre: es gäbe niemand, der wissender ist als ich!“ (De dua. anim. 10) Als Manichäer konnte der junge, ernste und empfindsame Mann Augustinus die schreckenerregende vaterfigur des Alten testaments aufgeben. Das manichäische System vermied sorgfältig die scharfe Ambivalenz, die später im Gottesbild des alten Augustinus so wichtig werden sollte: ein Vater, der zu gleicher Zeit Quelle zarter Großherzigkeit sein konnte wie auch Quelle der Strafe, der Vergeltung und des Leidens. (C. Faustum XXI, 1, 3) Man könnte den Verdacht hegen, Augustinus habe es nötig gehabt, so „erhaben“ zu denken. Denn es gab vieles in seinem Leben, das ihm akute Schuldgefühle bereitete, so daß er rückblickend zugibt: „Ich aber, so arm und schwach in meiner Jugend, hatte Keuschheit von dir erfleht und dir gesagt: Gib mir Keuschheit und Enthaltsamkeit, doch gib sie mir nicht gleich.“ (Conf. VIII, 7, 237) Vielleicht war die Notwendigkeit, sich in seinem Inneren eine makellose Oase der Vollkommenheit zu bewahren, der tiefste Grund seiner Anhänglichkeit an die Manichäer. Noch lange nachdem er die Denkschwierigkeiten im manichäischen System erkannt hatte, zog ihn dessen moralische Haltung an. Rückblickend sieht er: „Und damals war ich noch des Glaubens, nicht wir seien es, die da sündigten, sondern es sei ich weiß nicht welche andere Natur in uns, die sündige ... Lieber war es mir, mich freizusprechen und ein irgend anderes anzuklagen, das in mir sei und das ich selbst nicht sei. In Wahrheit aber“, so fügt der katholische Bischof hinzu, „war ich es, ganz ich, und mir zum Bösen hatte nur meine Gottlosigkeit mich geteilt in mich und jenen.“ (Conf. V, 10, 145) Der Preis, den die Manichäer offenbar für dieses völlige „Nicht-als-eigen-Anerkennen“ des Bösen zahlen mußten, war, daß sie das Gute einzigartig passiv und wirkungslos darstellten. Diesen Aspekt des manichäismus wird Augustinus als Bischof besonders betonen, dnn es ist dasjenige Element des manichäischen Systems, das er später am stärksten zurückwies. (Vgl. Contra secundam Juliani responsionem, opus imperfectum. I, 97) Jede Schrift Manis zeigt diese Einstellung, nach der das Gute wesentlich passiv ist und von der heftigen Aktivität des Bösen getroffen wird. Für den Manichäer war das bestehende Universum, in dem Gut und Böse so unheilvoll vermischt sind, durch ein plötzliches Eindringen des Bösen, des „Reiches der Finsternis“, in das Gute, das „Reich des Lichtes“ entstanden. Dieses „Reich des Lichtes“ war in völliger Ruhe gewesen und kannte keinerlei Spannung zwischen Gut und Böse. Der „Herrscher“ des „Reiches“, der „Vater des Lichtes“, war derart vom Bösen geschieden, daß er dagegen machtlos war. Er konnte nicht einmal in die Auseinandersetzung mit den Eindringlingen eingreifen, ohne einer drastischen und späten Umwandlung seines Wesens zu erliegen. Im Manichäismus ist es also durchweg das Gute, das zur Passivität verurteilt ist. Der Christus der Manichäer war vor allem der „leidende Jesus“ (C. Faust. XX, 2), „der im ganzen sichtbaren Universum gekreuzigt ist“ (Enarr. In Ps. 140, 12). Der Manichäer befand sich in einem schweren Dilemma. Seine Religion versprach dem Gläubigen, daß er, einmal „erweckt“, seine wesenhafte Identität völlig bewahren und seine Befreiung sicherstellen könne. Sie sagte ihm, daß ein Teil seines Selbst immer unbefleckt bleiben würde, und bot ihm ein strenges Ritual, das überdies den unzurückführbar guten Stoff seiner Seele zutage bringen sollte. Doch dieses Vertrauen wurde fortgesetzt durch die machtvollen Mythen der Sekte selbst untergraben, durch Mythen, die das Gute gänzlich verlassen und hilflos vor dem Angriff des Bösen erscheinen ließen. Gerade dieser Manichäismus war die Religion des heranwachsenden Mannes Augustinus gewesen. Sie hatte ihn in die Lage versetzt, für eine gewisse Zeit und um einen hohen Preis beunruhigende 108 Eigenschaften zu verleugnen, die er erst später sowohl in Gott wie auch in sich selbst bereit war anzunehmen. (Das waren harte Eigenschaften, verknüpft mit dem allmächtigen Vater des katholischen Glaubens: ein Vater, der eines gerechten Zornes fähig ist, fähig, Strafe zu verhängen, und dessen einzigartige Güte durch einen unüberbrückbaren Abgrund von der innersten Schuld seiner Kinder getrennt ist.) Die initme Kenntnis des Manichäismus (siehe Augustins Reflexionen in Conf VII, 1-8 u.a.) befähigte und motivierte Augustinus in seiner Haupt-Schaffensphase als katholischer Bischof (zw. 388 u. 399) zu einer Reihe von apologetischen Schriften, z.B.: De moribus ecclesiae catholicae et de moribus Manichaeorum; De Genesi contra manichaeos, Acta contra Fortunatum Manichaeum, Contra Faustum manichaeum, Contra Felicem manichaeum, De natura boni contra manichaeos, Contra Secundinum Manichaeum.125 10.3 Freiheit und Gnade Das Lebensthema des Augustinus war die „causa gratiae“, die Sache der Gnade. Ein Thema, das die Bibel angeschlagen hatte, und das Philosophie, Manichäismus und Lebenserfahrung in Augustinus mit immer wieder neuen Facetten reifen ließen. Die Bibel kennt schon das Grübeln über unauflösbare Denkschwierigkeiten. Eine klassische Stelle ist die vom Segen = von der wirksamen Glücksverheißung Isaaks für seinen Sohn Jakob, den er eigentlich dem anderen Sohn, Esau zugedacht hatte. Eine altorientalische Erzählung. Die Geschichte ist allgemein bekannt: Eine Mutter hat recht ungleiche Zwillinge. Der eine ist ungebärdig und rauh; der Vater mag ihn aber, nicht zuletzt weil er ihm das Wildbret heimbringt, das ihm so schmeckt. Der andere gefällt der Mutter besser; er bleibt brav bei den Zelten und ist von zarterer Art. Nach der Väter Sitte hat der Erstgeborene, der rauhe Esau, das Sagen. Der aber verkauft sein Erstgeburtsrecht gegen ein Linsengericht an Jakob, und der bringt dem Vater den so geschätzten Braten. Die Mutter, die den Zarten bevorzugt, hat ihn angeleitet, seine Haut an Händen und im Nacken mit Ziegenfell zu umwickeln. Der erblindete Vater glaubt den rauhen Esau zu tasten. Der Sterbende segnet ihn, und der erschlichene Segen verbleibt bei Jakob und seinen Nachkommen. Die krummen Wege, von denen die Geschichte erzählt, brachte manchen Leser zum Grübeln: Warum endeten die Zwillinge so verschieden? Warum blieb es bei dem erschlichenen Segen? Was war das für ein Gott, der sich auf solche Schliche einließ?126 Als im ersten christlichen Jahrhundert das Problem akut wurde, wie sich die Christen zum alten Israel verhalten sollten, glaubte der Apostel Paulus dadurch Klarheit zu schaffen, daß er in seinem Brief an die Römer (IX 10-29) das Verhältnis der Christen zu Israel mit dem Verhältnis Jakobs zu Esau verglich: Gott hatte Jakob erwählt, auf welchen Wegen auch immer. Das Recht der Ersterwählung war erloschen. Aber wie war das möglich? War Gott dann nicht ungerecht? Machte er mit den Menschen, was er gerade wollte? Philosophisch gebildeten Christen bereitete diese Geschichte Schwierigkeiten: Galten menschliche Maßstäbe nichts vor Gott? Machte dieser Gott nicht die menschliche Moral zuschanden? Widersprach er nicht dem rationalen Denken, das die Antike entwickelt hatte und das viele antike Christen als Annäherung des Menschen an das göttliche Wissen anerkannten? Zerstörte Gottes wild-kriterienloses Eingreifen nicht die spätantike, ja jede Kultur? Ein philosophierender Christ aus Mailand namens Simplicianus, Nachfolger des Ambrosius als Edition: Jolivet, R., et M.Jourjon, Six traités antimanichéens. Œuvres de St.Augustin 17. Bruxelles 1961. 126 Zum Folgenden vgl.: Kurt Flasch (Hrsg.), Logik des Schreckens. Augustinus von Hippo, De diversis quaestionibus ad Simplicianum I 2; (latein. u. deutsch). Dt. Erstübers.v. Walter Schäfer. - Mainz : Dieterich 1990. 125 109 Bischof von Mailand, wandte sich ungefähr im Jahr 397 an seinen alten Bekannten Augustinus, der inzwischen Bischof von Hippo in Nordafrika geworden war, an den größten Kirchendenker der lateinischen Christenheit, und bat ihn, ihm die schwierige Paulusstelle zu erklären. Augustin konnte sich der Frage nicht entziehen, denn er verstand, daß Simplician die Stelle ausgewählt hatte, weil sie das Selbstverständnis einer intellektuellen Führungsschicht bedrohte, die zwischen dem Neuen Testament und der spätantiken Kultur einen Ausgleich gefunden zu haben glaubte (und in die Augustin zehn Jahre zuvor in Mailand Eintritt gefunden hatte). Das Verhältnis von Religion und Kultur, von Glauben und Wissen, von Autorität und Freiheit stand auf dem Spiel. Das Antwortschreiben Augustins ist der Text De diversis quaestionibus ad Simplicianum I 2 (Verschiedene Probleme, an Simplician). Augustin hat diesen Text als einen entscheidenden Einschnitt in seiner Denkentwicklung angesehen; man könnte ihn das Dokument einer letzten Bekehrung nennen. Die Vorstellung eines unvordenklich erwählenden Willkürgottes konfrontiert Augustin mit den Denkmaßstäben der antiken Bildung. Daraus entstand das Dokument eines welthistorischen Zusammenbruchs, die „Todesurkunde des Gottes der Philosophen“ (Kurt Flasch, Logik des Schreckens. ). Niemand hatte je zuvor die Ohnmacht des Menschen und die unvorgreifliche Souveränität der Beschlüsse Gottes bei einem so hohen Grad an theoretischem Vermögen so radikal formuliert. Die Spezialisten nennen die Theorie, die Augustin hier entwickelt, seine Gnadenlehre. Dieses Wort verdeckt die kulturelle Fremdheit (um nicht zu sagen: die Grausamkeit) dieser Konzeption. Offenbar verstand Augustinus unter Gnade etwas anderes, als heute den meisten Menschen dabei einfällt. Der Text lehrt, daß Gnade eine Geschichte hat und daß Gnade und Schrecken zusammengehören. Denn, worum geht es in dieser Gnadenlehre? Alle Kinder Adams sind beladen mit Schuld, nicht also nur mit den Folgen einer Schuld. Alle Menschen haben die ewige Hinrichtung verdient. Die überwiegende Mehrheit der Menschen endet tatsächlich in ewigem Unglück. Und in dem Blut das dabei fließt, mögen die wenigen Erwählten ihre frommen Hände waschen, bevor sie Jubellieder singen. „Der Gerechte wasche seine Hände im Blut des Sünders.“ So lautet tatsächlich ein Psalmvers (57,11), den Augustin dazu heranzieht. (Das Blut bezieht sich zunächst nicht auf diesseitige Gewalt, sondern auf den ewigen Tod der Sünder, auf ihren jenseitigen Untergang. Aber Augustin nahm diese Katastrophe realistisch. Er spricht noch nicht von Ketzerverfolgung, aber er schafft hier die Grundlage für seine Rechtfertigung der Gewalt und macht sich zum Klassiker der religiösen Intoleranz, auf den sich Katholiken wie Protestanten, und noch die Verfolger der Hugenotten im späten 17.Jh. berufen konnten. Die politische Brisanz dieser Gnadenlehre über so viele Jahrhunderte ist also evident.) Die Gnadenlehre von 397 zerschlägt menschliche Wertmaßstäbe. Nichts von dem, was wir wertschätzen und was wir fertigbringen, würdigt uns der göttlichen Zuwendung, nichts davon rettet uns aus dem universalen Verderben. Hier setzt ein philosophischer Kopf die Philosophie an der für ihn entscheidenden Stelle außer Kraft. Er argumentiert noch in ihren Figuren, er gibt sie nicht gänzlich auf. Aber er entwertet sie, und nicht nur sie, sondern jedes menschliche Denken und Wollen. In dem göttlichen Willkürregime ist auch die mögliche Rechtfertigung der Inquisition und anderer Formen der methodischen Gewaltanwendung zum Besten des Delinquenten grundgelegt. Dieser Text illustriert die Geschichte des Terrors in Europa; er wirft Licht auf die Geschichte des westlichen Christentums, bis hin zum Tugendfanatismus Robespierres und zu Säuberungen des 20. Jh. Augustinus plagt sich offenkundig sehr mit dem Problem, findet aber keinen Ausweg als den, zu sagen: Glauben wir einfach! [Riskiert man von diesem Text aus einen Blick auf das Christentum der Gegenwart, so bestätigt sich Nietzsches Urteil: Das Christentum hat seine Schauder verloren. Anders gesagt: Das Problem der Theodizee scheint heute weithin merkwürdig verdrängt, (bei einer Katastrophe wie der Springflut in Südostasien taucht es wohl kurz auf), zu Augustins Zeit hat man sie ernst 110 genommen: Wie konnte Gott nur sagen, er habe Jakob geliebt, Esau aber gehaßt, und das bereits vor beider Geburt, und keineswegs im Vorblick auf ihr künftiges Verhalten? (Vgl. auch die Hiob-Geschichte, in der Gott dem Teufel freie Hand läßt, Hiob zu versuchen, d.h. ihn die volle Wucht der unlösbaren Theodizee-Problematik spüren zu lassen. Der vorher im Glück schwimmende Hiob wird zu einem Häuflein Unglück. - Unverfügbarkeit des Glücks.] Wir werden gut daran tun, neben dem Befremdlichen, das uns hier entgegentritt, auch den gedanklichen „Mehrwert“ zu beachten. Die Gebildeten der spätantiken Welt gingen, wenn sie nicht Skeptiker waren, davon aus, der Mensch sei Herr seiner Handlungen. Auch wenn sie die Natur als eine allumfassende Gottheit verehrten und ihrem Gang eiserne Notwendigkeit zuschrieben, priesen sie die menschliche Selbstgestaltung. Cicero und Seneca waren von der Schwäche des Menschen überzeugt; sie sahen ihn umgeben von einem Meer der Bosheit. Aber sie hielten ihn für fähig, das Ziel aller Dinge zu erfassen, sie dachten, er sei mächtig, sich dem Andrang all des Überflüssigen zu entziehen, das ihm die Gesellschaft zuträgt. Er sollte sich selbst ein Maß setzen: genug, nicht viel zu haben. Er sollte seine eigenen Angelegenheiten ordnen, vor allem seine Affekte. Durch vernünftige Lebensführung und freie Entscheidung sollte er sich ein seliges Leben (vita beata) sichern. Daß der Mensch dies könne, daß er dazu seine Vernunft bekommen habe und daß alle Philosophie diesem Ziel diene – dies war allgemeine Überzeugung der spätantiken Welt. In ihr wuchs auch Augustin auf. Er berichtet in den Bekenntnissen, welch einen Durchbruch zu sich selbst anno 373 die Lektüre Ciceros für ihn gebracht hatte. Weisheit und damit Herrschaft über die bloße Natur in uns war erreichbar; beim Lesen Ciceros erfaßte er diese Weisheit als den Sinn seines Lebens. Die Seele galt Cicero wie vielen in der Antike als göttlich. Lassen wir sie ihre natürliche Tätigkeit entfalten, dann sind wir frei. Wir überwinden so die Irrungen der Menschen und kehren zurück zur Sternenheimat der Seelen. Dieses Lebenskonzept muß Augustin bald brüchig erschienen sein, denn er schloß sich einer Gruppe radikaler Christen an, den Manichäern. Sie nannten ihre Grunderfahrung den Zwang, der auf ihnen lastete – auf ihnen, sofern sie der sichtbaren Welt zugehörten. Daß wir nicht tun können, was wir als vernünftig ansehen und wollen, dies hatte nach ihrer Philosophie seinen Grund in der Herrschaft des bösen Prinzips über die sichtbare Welt. Freiheit gab es für sie nur durch die Befreiung aus dem Gefängnis der Körperwelt, nicht durch Selbstgestaltung des vernünftigen Willens. Etwa neun Jahre lang gehörte Augustin den Manichäern an. Dann, 386, entdeckte er mit Hilfe der platonischen Bücher die Einheit des göttlichen Prinzips. Dies bedeutete zugleich die Wiederentdeckung der freien Entscheidungskraft des Menschen. Die selbsttätige Beziehung der menschlichen Vernunft auf ein glückseliges Leben trat wieder in Kraft. Als Augustin sich Ostern 387 taufen ließ, bejahte er das christliche Credo, weil es der Aufstiegsbewegung des menschlichen Geistes Durchsetzungskraft gebe in der sichtbaren Welt: Die Menschwerdung des weltbegründenden Logos, die sichtbaren Glaubensmysterien und die kirchliche Predigt deuteten ihm darauf hin, daß wir nicht die Gefangenen dieser Weltmaschine sind. Augustin schrieb sofort ein Buch „Über das glückliche Leben“. Noch im Jahr der Taufe schrieb er „über die Unsterblichkeit der Seele“. Im Jahr darauf, 388, begann er sein Buch „über den freien Willen“. Danach hat die Sünde Adams die Menschheit geschwächt, aber ihr nicht den freien Willen genommen. Der Mensch, der sich dem Guten zuwendete, durfte mit der Hilfe Gottes rechnen. 10 Jahre später, für den frisch geweihten Bischof, schaut die Sache wieder anders aus. Nun hat all das, was man in der spätantiken Welt als richtiges Handeln oder als gutes Leben ansah, für das endgültige, das jenseitige Schicksal des Menschen keine Bedeutung mehr. > Wenn es einen einzelnen Text gibt, der dabei auslösend wichtig war, dann war es der Satz aus dem 1. Korintherbrief 4,7: „Was hast du, das du nicht empfangen hättest?“ Gegen die Entscheidung Gottes gibt es keine Appellation, ja schon die Absicht dazu wird als Unverschämtheit abgetan. Der Anfang des Glaubens liegt nicht mehr in unserer Hand. 111 Ausdrücklich lehnt Augustin jetzt ab, eine Initiative auch nur teilweise auf den Menschen zurückzuführen. Er verwirft die Vorstellung von einem gemeinsamen Wirken von Mensch und Gott. Eine große Anzahl von Menschen hat nach dieser neuen Lehre keine Lebenschance. Es kommt gar nicht auf ihr Wollen und Laufen an; Gott haßt sie. Die Erwählten werden erschrocken gewahr, aus welchem Abgrund sie grundlos erwählt worden sind. Der Gott Platons und Plotins, der Augustin 386 die Überwindung des Manichäismus ermöglicht hatte, verhielt sich vorbehaltlos als reine Güte. Er teilte sich neidlos mit. Der Gott der antiken Philosophen zürnte nicht und forderte keine Menschenopfer. Der Bischof Augustin setzt nun offenbar voraus, daß die Selbstbestimmung des menschlichen Willens nicht zugleich das Wirken Gottes sein könne, daß also Gott sein Wirken nicht modifizieren lasse durch das Wollen des Menschen, daß es also nicht zu einem gemeinsamen Wirken kommen könne. Wenn Jakob den Glauben aufgrund seines eigenen Willensentscheides hat, dann hat er ihn nicht von Gott. Er hat ihn aber von Gott, also nicht aufgrund seines freien Willensentscheides. Augustin setzt ein Konkurrenzmodell voraus. Aus seiner Sicht sei es darum gegangen, daß in dem Konflikt von freiem Willen und Gnade die Gnade gesiegt habe. Das schreibt er in den Retractationes II 1, etwa 427. „Danach gibt es keine natürliche Moralität, keine heidnische Sittlichkeit mehr.“ (K.Flasch) Natürlich kann Augustin diesen Weg nicht konsequent bis zu Ende gehen. Er muß sich doch an den umgangssprachlichen Gebrauch des Wortes Gerechtigkeit halten, sonst kann er letztlich Gott nicht mehr gerecht nennen. Er merkt, daß er die Gemeinsamkeit von irdischen und himmlischen Maßstäben nicht ganz zerstören darf. Er besinnt sich auf sie und stellt fest: Wir haben ein Abbild und eine Spur von Gerechtigkeit, von der Gerechtigkeit Gottes, auch im irdischen Leben; und dieser Abbild- und Spurcharakter des Alltagslebens erlaubt uns, den Blick ins göttliche Innere zu richten. Dieses ist uns also nicht ganz verborgen. Es ist zumindest so präsent, daß wir Durst nach der Gerechtigkeit entwickeln. Es ist uns ein Bild (imago) oder eine Spur (vestigium) der höchsten Richtigkeit und Gerechtigkeit eingeprägt (impressum); wir finden es wieder, nicht nur in einem verborgenen Seelengrund, sondern im alltäglichen Treiben. Augustinus war die Unabgeschlossenheit seiner Gedankengänge nur zu bewußt. Im Jahr 412 schrieb er an Marcellinus: „Cicero, der bedeutendste der römischen Redner, sagte von jemandem, daß ‚er niemals ein Wort äußerte, das er zu widerrufen wünschte’. Welch ein Lob! Doch eher auf einen vollkommenen Narren anzuwenden als auf einen vollständigen Weisen ... Wenn Gott es mir gewährt, so will ich in einem Werk, das besonders diesem Zwecke dient, alles, was mir mit Recht in all meinen Büchern mißfällt, sammeln und aufzeigen. Dann werden die Menschen sehen, daß ich kein befangener Richter in eigener Sache bin ... Denn ich gehöre zu denen, die vorankommend schreiben und schreibend vorankommen.“ (Ep. 143, 2-3) 10.4 Wirkung auf die weitere Geistesgeschichte Neben der Prädestinationslehre (Gnade und Erwählung) wird das gnostische Erbe am sichtbarsten in die großartige Geschichtsschau von den beiden „Bürgerschaften“ (civitates), der des Teufels bzw. der Bösen (civitas diaboli bzw. impiorum) und der Gottes (civitas Dei) aufgenommen und damit die christliche Geschichtsmetaphysik des Mittelalters geprägt. Auch andere Lehrpunkte sind ohne dieses Erbe nicht zu verstehen, wie die Rolle der Seele als gottebenbildliches und daher unsterbliches Element und die Konzeption der Erbsünde, die aus dem selbstverschuldeten Fall des Menschen aus dem göttlichen Urstand resultiert und deren großer Stellenwert bei Augustin ein Nachhall der manichäischen Idee der verhängnisvollen „Mischung“ von Licht und Finsternis, Geist und Materie ist, die das Dasein notwendig bestimmt.127 127 Siehe dazu A.Adam, Lehrbuch der Dogmengeschichte, Bd.1, S.255-302. Noch Luther ist entscheidend von Augustins Sündenverständnis bestimmt und hat sich 112 Man hat Augustin wegen seiner Abkehr von der manichäischen Gnosis und der Bewältigung der von daher rührenden Probleme eine entscheidende Bedeutung bei der endgültigen Rezeption des antiken Kosmosverständnisses als einer guten Schöpfung Gottes gegenüber der gnostischen Weltfeindschaft zugeschrieben.128 „Die Welt als Schöpfung aus der Negativierung ihres demiurgischen Ursprungs zurückzuholen und ihre antike Kosmos-Dignität in das christliche System hinüberzuretten war die zentrale Anstrengung, die von Augustin bis in die Hochscholastik reicht.“ Die christliche Theologie des Mittelalters mit ihrer schließlichen Aufnahme des Aristoteles als Kronzeugen kann daher „als Versuch der endgültigen Absicherung gegen das gnostische Syndrom verstanden werden.“ (ebd.) Da sich die alte Frage nach der Herkunft des Bösen, die ja die Gnosis so dringend gestellt hatte, damit nicht erledigte, versuchte sie Augustinus mit der Verantwortung bzw. Freiheit des Menschen, der durch den Sündenfall die göttliche Urordnung zerstörte, zu beantworten. Dies war aber nur eine Verschiebung des Problems, keine Lösung, denn die Verfehlung des Menschen rief seine Bestrafung nach sich; war so nicht die Freiheit der Willensentscheidung ein Übel, wenn sie zum Bösen führte? Damit war die Selbständigkeit und Selbstbehauptung des Menschen erneut in Mißkredit gekommen, und die Prädestinationslehre, die zur Aufteilung der Menschheit in Erlöste und Verdammte führte, war nur ein Ausweg aus diesem Dilemma. „Der gnostische Dualismus war für das metaphysische Weltprinzip beseitigt, aber er lebte im Schoße der Menschheit und ihrer Geschichte als absolute Sonderung von Berufenen und Verworfenen fort. Diese zur Rechtfertigung Gottes ersonnene Krudität hat ihre verschwiegene Ironie darin, daß auf dem Umweg über die Vorstellung der Prädestination eben doch die Urheberschaft des absoluten Prinzips für die kosmische Verderbnis wieder hereingeholt wird, deren Elimination der ganze Aufwand gegolten hatte.“ (Blumenberg, a.a.O. 155f.) Dahinter stand letztlich der eben von der Gnosis (vor allem von Marcion) beschworene Glaube an den verborgenen und unbegreiflichen Gott, der für das Christentum die absolute Souveränität Gottes bedeutete. Die gegenüber diesem „verborgenen Gott“ (Deus absconditus) zur Sinnlosigkeit und Resignation verurteilte Selbstbehauptung des Menschen war ein Erbe der letztlich nicht überwundenen, sondern nur „übersetzten Gnosis“ (Blumenberg, a.a.O. 157.) So ist die von der Gnosis eingeleitete Verteufelung des Kosmos zwar vom Christentum aufgefangen und rückgängig gemacht worden, aber es blieb doch der Rest einer Distanz zur Welt, der sich immer wieder stärker artikulieren konnte und mit der vom Christentum gleichfalls rezipierten Vorstellung vom Teufel und Widersacher Gottes eine enge Verbindung einging. Die christliche Theologie hat gegenüber der gnostischen Herausforderung an der Einheit von Schöpfer- und Erlösergott festgehalten und dadurch ein entscheidendes Band der jüdischchristlichen Heilsgeschichte bewahrt. Aber die Probleme waren dadurch nicht aus der Welt geschafft. Dies zeigt sich nicht nur in der Erörterung von Schöpfung und Kosmos, sondern auch auf dem Gebiet der Christologie. Bekanntlich hatte die gnostische Soteriologie durch Aufnahme der historischen Erlösergestalt Jesu ihren Dualismus auch auf diese übertragen und war zum sogenannten Doketismus gelangt. Die altchristlichen Väter haben sich redlich Mühe gegeben, hier Formen zu finden, die die eingerissene Aufspaltung des einen Jesus Christus – hier der himmlische Christus (lógos), dort der Dulder und Erlöser – im nichtgnostischen Sinn verstehbar zu machen. Gelungen ist es ihnen strenggenommen nicht. Schon Harnack mußte feststellen: „Wer kann behaupten, daß die Kirche die gnostische Zwei-Naturen-Lehre, ja auch den valentinianischen Doketismus je überwunden habe?“ 129 Auch die späteren Konzilien, die die christologischen Probleme in komplizierten, heute kaum den Vorwurf des Manichäismus eingehandelt. Vgl. Th.Beer, Der fröhliche Wechsel und Streit, Leipzig 1975, Teil 1, S.126ff., 148ff. Hans Blumenberg, Säkularisierung und Selbstbehauptung. Frankfurt/M. 1974, S.150ff. 129 [Lehrbuch der Dogmengeschichte I, S.287, Anm.] 128 113 noch verständlichen Festlegungen zur Sprache brachten, haben dies nicht vermocht. 11. Gnosis als ideenpolitischer Begriff im 20.Jh. Philon, Plotin und (andeutungsweise) Origenes, also ein Jude, ein paganer Grieche und ein Christ haben uns dazu gedient, zu überprüfen, wieweit es sinnvoll scheint, die Kennzeichnung einer religiösen Bewegung der Spätantike durch einen ihrer Leitbegriffe -"gnosis" / "Erkenntnis" - zum Anlaß zu nehmen, Gemeinsamkeiten dieser religiösen Bewegung mit anderen Bewegungen bzw. Religionsgemeinschaften oder religiösen Denkern so sehr zu betonen, daß von einer gemeinsamen "gnostischen" Weltsicht oder von einem "gnostischen Zeitalter" geredet werden kann. Wie schon im Zusammenhang der Ursprungsfrage der Gnosis kommt es auch hier darauf an, daß man dem Wesensbegriff, der immer etwas Willkürliches an sich haben wird, wenn er aus der Fülle einen Aspekt heraushebt, treu bleibt und nicht nachträglich verschiedene Wesensbegriffe durcheinanderwirft. Wir machen jetzt einen großen Sprung über die lange Geschichte hinweg, in der die christliche Großkirche zunächst die gnostische Bewegung äußerlich überwand und sich innerlich von ihr abgrenzte, wobei durch das Abgrenzen selbst die überwundene Gegnerin ihre unverwischbaren Spuren hinterließ. Der gnostische Systemwille zwang ja die junge Kirche, (was wir aus Zeitgründen nicht näher ausführen können) ihre eigene Theologie zu systematisieren. Die Konzilsgeschichte ist eine Geschichte notwendig gewordener Maßnahmen der Systematisierung: hinsichtlich des Problems von Schöpfer und Erlöser, von Kosmologie und Soteriologie; von pistis und gnosis; der Trinitätslehre (gegen die gnostische Äonen-Spekulation und gegen die Verschiedenheit von höchstem Gott und Demiurgen); der Inkarnation (gegen den Doketismus); des Kirchenbegriffs (gegen den Spiritualismus), der Gnadenlehre (gegen die ethischen Positionen der Gnosis). Hierzu kann auf A.Harnack, Lehrbuch der Dogmengeschichte, Tübingen 1931 verwiesen werden. Durch eben diese Abgrenzung wurden automatisch alle die Denkmotive der Gnosis säuberlich konserviert und standen jederzeit zur Reaktivierung bereit. Sie wurden auch zu verschiedenen Zeiten reaktiviert. Dabei sollte man sich aber bewußt bleiben, daß die europäische Überlieferung insgesamt etwas viel Komplexeres ist und innerhalb dieser Überlieferung unendlich viele Querverbindungen, Kombinationen und Mutationen sich ergeben haben. Daß wir hier "Gnosis und 2o.Jh." eigens thematisieren, hat einen handfesten Grund, nämlich den, daß Gnosis als ideenpolitischer Begriff in Dienst genommen worden ist und daß sich daraus ein "Handlungsbedarf" ergeben hat, nämlich der Bedarf der Unterscheidung. 11.1 Denuntiation des neuzeitlichen Denkens als "gnostisch" Der Begriff Gnosis ist mehrfach benutzt worden, um bestimmte Phänomene der Moderne130 zu charakterisieren, sei es, daß die Neuzeit selbst das "gnostische Zeitalter" genannt wurde, sei es, daß in Umkehrung dieser These die Neuzeit als die zweite Überwindung der Gnosis interpretiert wurde, nachdem die erste Überwindung am Anfang des Mittelalters nicht gelungen sei. Für ersteres steht Eric Voegelin, der nach dem 2.Weltkrieg, also in der Zeit der großen Abrechnung mit den als verderblich erfahrenen Ideologien, im Frontalangriff auf das neuzeitliche Denken dieses als gnostisch denunziert hat. Zuerst in The New Science of Politics, 1952, dann in seiner Münchener Antrittsvorlesung Wissenschaft, Politik und Gnosis, München (Kösel) 1959. Auch in einem zum Begriff "Moderne" s. Hans Ulrich Gumbrecht, "Modern, Modernität, Moderne", in: Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politischsozialen Sprache in Deutschland. Hrsg. v. Otto Brunner. Bd.4. Stuttgart, Klett, 1978, S.93-131. 130 114 Aufsatz in der österreichischen Zeitschrift "Wort und Wahrheit" 1/1960 führt er den Ausdruck "gnostische Massenbewegungen" ein. Er versteht darunter "Bewegungen von der Art des Progressivismus, des Positivismus, des Marxismus, der Psychoanalyse, des Kommunismus, des Faschismus und des Nationalsozialismus". Er denkt also dabei nicht nur an politische Massenbewegungen, sondern auch an Intellektuellenbewegungen wie den Positivismus. Lassen wir Voegelin kurz selbst zu Wort kommen : "In den modernen Massenbewegungen hat sich die gnostische Haltung, zu ihrem angemessenen Ausdruck, eine reiche, vielgestaltige Symbolik geschaffen. Sie ist so reich, daß sie in diesem Zusammenhang nicht vollständig dargestellt werden kann: nur einige der wichtigsten Symbolkomplexe können herausgehoben werden. Als ersten wollen wir den Komplex von Symbolen behandeln, die sich als Abwandlungen der christlichen Vollendungsidee erkennen lassen. Unter der christlichen Vollendungsidee soll die Einsicht verstanden werden, daß die menschliche Natur ihre Vollendung nicht in dieser Welt findet, sondern nur in der visio beatifica, in der übernatürlichen Vollendung durch Gnade im Tod. Wenn es also keine diesseitige Vollendung gibt, so empfängt das christliche Leben doch seine besondere Form durch das Hinleben auf die jenseitige ; es wird gestaltet durch die sanctificatio, durch die Heiligung des Lebens. In der christlichen Vollendungsidee lassen sich daher zwei Komponenten unterscheiden. Die erste Komponente ist die der Bewegung auf das Vollendungsziel hin, die durch den Ausdruck "Heiligung des Lebens", im englischen Puritanismus durch die Formel pilgrim's progress, beschrieben wird. Sie wird als die der Bewegung auf ein Ziel hin die teleologische Komponente genannt. Das Ziel ferner, das telos, auf das sich die Bewegung richtet, wird als das der letzten Vollendung verstanden; und da das Ziel ein Zustand höchsten Wertranges ist, wird diese zweite Komponente, die axiologische genannt. Die beiden Komponenten, die teleologische und die axiologische, wurden von Ernst Troeltsch unterschieden. Die Vollendungsideen der gnostischen Massenbewegungen leiten sich von der christlichen her. Gemäß den eben unterschiedenen Komponenten gibt es prinzipiell drei Möglichkeiten der Derivation. In der gnostischen Vollendung, die sich innerhalb der geschichtlichen Welt ereignen soll, können entweder die teleologischen und axiologischen Komponenten jede für sich immanentisiert werden oder beide zugleich." (S. 5) Voegelins Urteil über alle diese Bewegungen lautet (ebd. S.16): "...große Massen von christianisierten Menschen, die nicht stark genug waren für das heroische Abenteuer des Glaubens, wurden anfällig für Ideen, die ihnen einen höheren Grad von Gewißheit über den Sinn ihrer Existenz geben konnten als der Glaube." In "Wissenschaft, Politik und Gnosis" (S.54) führt Voegelin aus: "Philosophie entspringt der Liebe zum Sein; sie ist das liebende Bemühen des Menschen, die Ordnung des Seins zu erkennen und sich auf sie einzustimmen. Gnosis will Herrschaft über das Sein; um sich des Seins zu bemächtigen, konstruiert der Gnostiker sein System. Das System ist eine gnostische Denkform, nicht eine philosophische. Der Denker kann sich des Seins jedoch nur dann durch das System bemächtigen, wenn das Sein wirklich in seinem Griff liegt. Solange der Ursprung des Seins jenseits des Welt-Seins liegt; solange ewiges Sein mit dem Werkzeug innerweltlicher, finiter Erkenntnis nicht vollständig durchdrungen werden kann; solange über göttliches Sein nur in der Denkform der analogia entis131 gedacht werden kann, ist die Konstruktion eines Systems unmöglich. Um das Unternehmen überhaupt sinnvoll in Gang zu bringen, muß der Denker vor allem diese Störungen ausschalten - er muß das Sein so auslegen, daß es grundsätzlich im Griff der Konstruktion liegt. Lassen wir wieder Hegel zu analogia entis: lateinisch "Entsprechung des Seienden", jene Beziehung zwischen dem ewigen Sein Gottes und dem vergänglichen Sein der Schöpfung, die durch Ähnlichkeit und Unähnlichkeit bestimmt ist. Vgl. Erich Przywara, Analogia entis. Metaphysik. München, J.Kösel & F.Pustet, 1932. Rückführung auf Platons Liniengleichnis. 131 115 der Frage sprechen: 'Es kommt nach meiner Einsicht, welche sich nur durch die Darstellung des Systems selbst rechtfertigen muß, alles darauf an, das Wahre nicht als Substanz, sondern ebensosehr als Subjekt aufzufassen und auszudrücken.' Wie bei einem mathematischen Problem werden die Bedingungen der Lösung formuliert. Wenn das Sein die Substanz und in einem das Subjekt ist, dann liegt die Wahrheit allerdings im Griff des zugreifenden Subjekts. Aber, so müssen wir fragen, sind das Subjekt und die Substanz denn wirklich identisch? Hegel wird mit dieser Frage fertig, indem er die Wahrheit seiner Einsicht für erwiesen erklärt, wenn er sie 'durch die Darstellung des Systems rechtfertigen' kann. Wenn ich also ein System konstruieren kann, dann ist damit die Wahrheit seiner Prämisse erwiesen; daß ich ein System auch auf Grund einer falschen Prämisse konstruieren kann, kommt nicht in Frage. Das System rechtfertigt sich durch die Tatsache seiner Konstruktion; eine Instanz, die das Konstruieren des Systems als solches in Frage stellen könnte, wird nicht anerkannt. Daß die Wissenschaft Systemform habe, muß als fraglos vorausgesetzt werden. Wir stehen wieder vor dem Phänomen des Frageverbotes, wie bei Marx. Aber wir sehen jetzt klarer, daß zwischen dem Frageverbot und der Konstruktion des Systems ein Wesenszusammenhang besteht. Wer das Sein ins System bringt, kann nicht Fragen zulassen, die das System als Denkform aufheben." Der zentrale Gedanke Voegelins in diesem Zusammenhang scheint mir zu sein, daß Gnosis "Herrschaft über das Sein" will. Damit verbunden sind die Gedanken über das Hegelsche oder Marxsche System als Versuche, diesen Herrschaftsanspruch umzusetzen, und über das christliche Vollendungsziel, das vom Systemgedanken her bestenfalls als heroisches Abenteuer wegen seines Unsicherheitsfaktors verstanden werden kann. Die Fragen, die an Voegelin zu richten sind, lauten wohl: 1. Wird er Hegel und Marx mit seinem Vorwurf gerecht? Wie aussagekräftig ist der Vergleich? 2. Hat er die Gnosis richtig verstanden, wenn er sie als Herrschaftswunsch über das Sein sieht? Zur ersten Frage: Hegel und Marx stehen ja nur als Exponenten für das neuzeitliche Denken. Was er Frageverbot nennt, ist ja in Wirklichkeit die neuzeitliche Überzeugung von einer erreichten höheren Gewißheit. Von einer "gnosis", wenn man so will. Es ist bekannt, daß gegen Ende des Mittelalters der Glaube in wachsendem Maße der Vernunft mächtig geworden ist, daß deren Zuständigkeit im Bereich der göttlichen Dinge immer mehr zusammenschrumpft, daß das Vertrauen auf die natürliche Vernunft zusammenbricht und am Ende der Glaube fast ausschließlich das Feld beherrscht. Das ist dann auch die geschichtliche Voraussetzung, unter der Luthers schroffe Verwerfung einer Philosophischen Theologie zugunsten des Glaubens möglich wurde. Das ist auch Voraussetzung dafür, daß das Thema "Gott", das die mittelalterliche Philosophie beherrscht, durch das Thema "der Mensch" abgelöst wurde. Der Mensch, das Subjekt, wird sich in der Neuzeit in wachsendem Maße fragwürdig und wird damit in besonderem Grade zum Gegenstand der philosophischen Frage. Wir wissen auch, daß Renée Descartes es war, der unbeschadet seiner grundsätzlichen Unterwerfung unter den Glauben ein eigenes Feld philosophischer Nachforschung nach Gott und den göttlichen Dingen in Anspruch genommen hat: den Bereich der voll und ganz natürlichen Vernunft. Daß er behaupten kann, "daß all das, was von Gott gewußt werden kann, durch Gründe aufgezeigt werden kann, die nicht von anderswoher genommen werden als aus unserem eigenen Geist"132 Die äußerste Ungewißheit schlägt um in Gewißheit. Eine mystische Gewißheit. Oeuvres de Descartes, hrsg.v. Ch.Adam und P.Tannéry, 12 Bde, Paris 18971910. Bd. 7, S.15. Übersetzung nach Wilhelm Weischedel, Der Gott der Philosophen, Darmstadt 1979, Bd 1, S.167. 132 116 Wie dieses Ereignis aber zu beurteilen ist, ist eine große Frage und kann hier nicht zureichend verhandelt werden. Nur eine Hypothese sei angemerkt: Triebfeder der Entwicklung könnte das Paradigma der Gottebenbildlichkeit des Menschen sein. Wenn, wie im Mittelalter geschehen, das Gottesbild an Größe und Macht gewinnt, dann ist es innerhalb dieses Paradigmas der Gottebenbildlichkeit des Menschen notwendige Folge, daß auch das Menschenbild an Größe und Macht wächst. Gott ganz der menschlichen Glaubenskraft anheimzustellen, heißt, ihn ganz dem Menschen anheimzustellen. Elend des Menschen und Größe des Menschen sind eins. Ob man das ernst nimmt und an das Wort denkt: Im Kreuz ist Heil, oder witzig, und an den braven Christen denkt, der von sich sagt: Meine Demut ist mein ganzer Stolz. Abgesehen von dieser Hypothese von der Gottebenbildlichkeit als Triebkraft der europäischen Geistesgeschichte läßt sich nachweisen, daß eine Kontinuität von gnostischer Spekulationslust zum neuzeitlichen wissenschaftlichen Forschereros besteht. Mit der Tatsache, daß in der Gnosis Erkenntnis und Erlösung identisch waren, hing zusammen, daß die gnosistischen Systeme oft in einer bisher kaum gekannten Weise den Urgrund der Welt und des Seins in "Tiefen" und "Höhen" suchten, die der menschlichen "Wißbegierde" (curiositas) alle Ehre machte, auch wenn sie dabei in Phantasie und Absurdität abglitt. Die antignostischen Polemiker haben daher gern diesen Zug verhöhnt und als menschliche Hybris hingestellt. Selbstbescheidung und Anerkennung der göttlichen Geheimnisse gebührt dem Menschen; Glaube, nicht ungezügelte Erkenntnissuche. "Besser ist es", sagt Irenäus, "wenn einer gar nichts weiß und nicht eine einzige Ursache der erschaffenen Dinge kennt, aber im Glauben an Gott und in der Liebe verharrt, als daß er durch eine derartige Wissenschaft (scientia) aufgeschwollen von der Liebe abfällt, die den Menschen lebendig macht... und als daß er durch Spitzfindigkeiten seines Forschens und durch Haarspalterei (per quaestionum subtilitates) der Gottlosigkeit verfällt." Hier wird sehr deutlich die gnostische Erkenntnissuche zur Vorläuferin der wissenschaftlichen Neugierde erklärt, der gegenüber die "gesunde, ungefährdete, vorsichtige und der Wahrheit zugewandte Vernunft sich mit Eifer nur um das sorgt, was Gott in die Zuständigkeit der Menschen gegeben und unserer Erkennntis (scientia) unterworfen hat. ... Dazu gehört, was uns sinnfällig und deutlich vor Augen liegt und was unzweideutig und ausdrücklich in der göttlichen Schrift niedergelegt ist. Diese heraufbrechende Konkurrenz von "Wissensanspruch und Glaubensanerkenntnis" (H.Blumenberg) führt schließlich zu einer folgenreichen Entscheidung, die vor allem Tertullian fällt, indem er die "Wißbegierde" in den Lasterkatalog aufnimmt (diese Abwertung der curiositas ist allerdings schon in der spätantiken Philosophie angebahnt – Gegenbegriff: eulabeia / Vorsicht, Svheu) und damit aus den positiven Tugenden verbannt. "Die frei gewählte ignorantia kann so zum Akt der Anerkennung des ausschließlich göttlichen Besitzrechtes an der Wahrheit und der Verfügung über sie werden". (Blumenberg).133 Die endmittelalterliche Krise des Christentums ist Voraussetzung für die Formierung der neuzeitlichen Rationalität. Von Voegelin und anderen Autoren wird die ständige Selbstbestätigung ihrer Autonomie und Authentizität durch Wissenschaft und Technik in Frage gestellt durch die These, "daß die moderne Blumenberg beschreibt die endmittelalterliche Krise des Christentums so: "Eine Religion, die über Heilserwartung und Rechtfertigungsvertrauen hinaus geschichtlich ihrem Anspruch nach zum ausschließlichen System der Welterklärung geworden ist, die aus der Grundidee der Schöpfung und aus dem Gedanken der Gottebenbildlichkeit des Menschen die Angemessenheit seines Erkennntisvermögens an die Natur folgern konnte, aber schließlich in der mittelalterlichen Konsequenz ihrer Sorge um die unendliche Macht und absolute Freiheit ihres Gottes die Bedingungen selbst zerstörte, die sie für das Weltverhältnis des Menschen vorgegeben hatte, eine solche Religion bleibt unausweichlich mit dieser widerspruchsvollen Abwendung von ihren Voraussetzungen dem Menschen das Seinige schuldig." 133 117 Welt ihren unheimlichen Erfolg zum großen Teil ihrem christlichen Hintergrund verdankt".134 Das Maß des Erfolgs bedingt den Unrechtsgehalt, der darin liegt, seine wahren Voraussetzungen vergessen zu haben, zu verleugnen, nicht wahrhaben zu wollen.135 Dagegen wendet sich Hans Blumenberg mit seinem Buch "Die Legitimität der Neuzeit". Blumenberg säkularisiert seinerseits den Säkularisierungsgedanken: es handelt sich zuallererst nicht um einen Abfall oder eine widerrechtliche Wegnahme, sondern um eine Bestreitung der Legitimität. Die Beweislast liegt daher beim Kläger, bei der Bestreitung der Legitimität, nicht beim Angeklagten. Aber gerade dieser Beweislast wird ausgewichen, indem die Säkularisierung als unhinterfragbares Faktum dargestellt wird. Blumenberg fordert demgegenüber die "Bereitschaft, eine Hypothek der vorgegebenen Fragen anzunehmen und als eigene Verbindlichkeit abzutragen". Erst das "läßt uns weithin die geistige Geschichte der Neuzeit verständlich werden.""Was in dem als Säkularisierung gedeuteten Vorgang überwiegend... geschehen ist, läßt sich nicht als Umsetzung authentisch theologischer Gehalte in ihre säkulare Selbstentfremdung, sondern als Umbesetzung vakant gewordener Positionen von Antworten beschreiben, deren zugehörige Fragen nicht eliminiert werden konnten."136 Die Problematik des Fragenüberhangs ist vor allem eine solche der Epochenschwellen, der Phasen sich mehr oder weniger schnell wandelnder Grundsätze für die Beschaffung sehr allgemeiner Erklärungen. Eine solche Epochenschwelle hatte das Christentum schon in der Antike zu überwinden, und vielleicht ist die zweite große Epochenschwelle, zwischen Mittelalter und Neuzeit, an der wir immer noch laborieren, darin schon angelegt, daß die erste Überwindung nicht wirklich gelungen ist. So Blumenberg. Zu seiner Sicht der Gnosis etwas später. Die andere Frage an Voegelin, ob er die Gnosis richtig verstanden hat, wird u.a. von Barbara Aland negativ beantwortet. Nach ihrer Meinung ist eine Übertragung des Begriffes Gnosis auf die Neuzeit nicht möglich, weil das Wesen und der Ausgangspunkt der Gnosis nicht in einer Negativierung der Welt bestehen, (wie alle Benützer des Terminus in der Moderne voraussetzen), sondern, wie auch die Polemik der Väter zeige, in einer einseitig eschatologisch überspitzten Offenbarungstheologie, aus der sich die Negativierung der Welt erst sekundär ergab. Alands Charakterisierung der Gnosis: "Der erste Beweggrund für diese Texte und damit das Auslösungsmoment für das Phänomen der historischen Gnosis ist m.E. Freude und grenzenloser Jubel. Beides rührt daher, daß die Autoren die "Gnosis" eines transzendenten Gottes empfangen haben und sich ihm als zutiefst zugehörig erfahren, mehr noch: sich in ihrem eigentlichen Selbst als mit diesem Gott identisch erkennen. Das bedeutet Erlösung von dieser Welt und ihren Zwängen. Davon reden die gnostischen Texte, daher der Jubel. Charakteristisch beginnt das Evangelium Veritatis mit den Worten: 'Das Evangelium der Wahrheit ist Freude für die, die vom Vater der Wahrheit die Gnade empfangen haben, ihn zu erkennen...' Dasselbe meint Marcion mit dem berühmten Anfang seiner Antithesen: 'O Wunder über Wunder, Verzückung, Macht und Staunen ist, daß man gar nichts über das Evangelium sagen, noch über dasselbe denken, noch es mit irgendetwas vergleichen kann.'" C.F.v.Weizsäcker, Die Tragweite der Wissenschaft. I. Stuttgart 1964, 196. Vgl. Romano Guardini, das Ende der Neuzeit, Basel 1950, spricht ausdrücklich die "neuzeitliche Unredlichkeit" an, "jenes Doppelspiel, welches auf der einen Seite die christliche Lehre und Lebensordnung ablehnte, auf der anderen aber deren menschlich-kulturelle Wirkungen für sich in Anspruch nahm." (S.128) Ob durch das, was an Macht über die Natur schrittweise gewonnen wird, die Menschheit menschlicher wird, ist für Guardini der einzige Maßstab, der an die Kultur gelegt werden kann. Aber "kein Hymnus auf Fortschritt und Kultur schafft die Tatsache aus der Welt, daß... die Anstrengung des Menschen mit einer innerlichsten Unfruchtbarkeit geschlagen ist". Woher sonst die Ungeheuerlichkeit des wachsenden Welthungers, der Verelendung, der Verfeindungen auf höchster politischer Ebene, des Rassenhasses?“ 136 H.Blumenberg, Säkularisierung und Selbstbehauptung. Erweiterte und überarbeitete Neuausgabe von "Die Legitimität der Neuzeit", erster u. zweiter Teil, Suhrkamp, Frankfurt am Main 1983, S.77. 134 135 118 Wenn das aber richtig sein soll, so Aland, dann kann es keine angemessene Übertragung des Begriffs auf irgendein Phänomen der Neuzeit geben. "Für die Neuzeit ist heute nichts zweifelhafter als die Frage, ob Gott ist."137 11.2 Die Neuzeit als zweite und endgültige Überwindung der Gnosis (Hans Blumenberg) In „Legitimität der Neuzeit“, 1963, nimmt Hans Blumenberg die These Voegelins auf und kehrt sie um, indem er die Neuzeit als zweite und endgültige "Überwindung der Gnosis" (S.78) darstellt. Blumenberg setzt voraus, daß die erste Überwindung der Gnosis am Anfang des Mittelalters nicht gelungen war und ihr Schatten als Frage das christliche Mittelalter begleitet. Das christliche Mittelalter hat in der "Auseinandersetzung mit der spätantiken und frühchristlichen Gnosis seinen Ausgang genommen". Es ließe sich sogar die These vertreten, "daß die Einheit seines rationalen Systemwillens aus der Bewältigung der gnostischen Gegenposition begriffen werden kann" (ibid.). Die zweite und endgültige Überwindung der Gnosis am Ausgang des Mittelalters ist das Resultat des Siegeszugs von Wissenschaft und Technologie. Dieses Geschehen steht von Anfang an "unter der Macht des Zweifels, daß die Welt schon ursprünglich nicht zugunsten des Menschen geschaffen sein könnte" (S.90). Durch das Projekt Wissenschaft habe in der Neuzeit eine "Flucht in die Transzendenz" als "Ausweg" seine humane Relevanz verloren. Die Last des neuzeitlichen Menschentums sei anderer Art als die ihm von Gnosis und Christentum auferlegte: "sie ist Verantwortung für den Zustand der Welt als zukunftsbezogene Forderung, nicht als vergangene Urschuld" (ibid.). Es gibt im Kosmos Atheos der Neuzeit keinen Fluchtpunkt "jenseits" der Welt. Darum kann es in der Neuzeit auch keinen gnostischen Exodus aus der Welt geben. Blumenberg legt diese Auffassung dar im zweiten Teil: "Theologischer Absolutismus und humane Selbstbehauptung", und darin im 1.Kapitel: "Die mißlungene Abwendung der Gnosis als Vorbehalt ihrer Wiederkehr". Seine Deutung der Gnosis setzt sich der gleichen Kritik Barbara Alands aus wie die Voegelins, wenn er sagt: "Das Problem, das die Antike ungelöst hinterließ, war die Frage nach dem Ursprung des Übels in der Welt. Die Idee des Kosmos, die die klassische Philosophie der Griechen beherrschte und die den Vorrang der platonisch-aristotelischen und der stoischen Tradition fundierte, hatte darüber entschieden, daß die Frage nach dem Übel in der Philosophie nur einen sekundären, systematisch nebenläufigen Rang erhielt. Die antike Metaphysik ist noch nicht einmal Kosmodizee, Rechtfertigung der Welt, weil die Welt der Rechtfertigung weder bedarf noch fähig ist. Kosmos ist alles und der platonische Mythos vom Demiurgen versichert, daß in der Welt die Möglichkeit dessen, was sein konnte und wie es sein konnte, in der Nachbildung der Ideen ausgeschöpft worden ist... Die Gnosis ist von einem radikaleren metaphysischen Typus. Wo sie das platonische System benutzt, ist sie doch nicht dessen Konsequenz, sondern besetzt die Stellen des Systems um. Der Demiurg ist zum Prinzip des Übels geworden, zum Gegenspieler des transzendenten Heilsgottes, der mit der Erschaffung der Welt nichts zu tun hat. Die Welt ist das Labyrinth des verirrten Pneuma, als Kosmos ist sie die Ordnung des Unheils, das System einer Falle..." Diese wenigen Zeilen genügen schon um zu sehen, daß Blumenberg die Gnosis nicht als Religion zur Kenntnis nimmt, sondern als einen metaphysischen Typus. Auf dieser Ebene findet Blumenberg auch die erste Überwindung der Gnosis vor: Es ist für ihn Augustinus, der die Bilanz zwischen dem Zustand der Welt und der Schuld des Menschen eröffnet hat und der dabei zum Theologen der einmaligen ganz großen Urschuld der Menschheit geworden ist. Barbara Aland, Was ist Gnosis? Wie wurde sie überwunden? Versuch einer Kurzdefinition. In: J.Taubes, Hrsg., Religionstheorie und Politische Theologie. Bd.2, Gnosis und Politik. München 1984. S.54-65. 137 119 "Genau dort, wo Marcion zur Überzeugung von der Bösartigkeit des alttestamentlichen Gesetzgebers gekommen war, im Römerbrief des Paulus, fand Augustin das theologische Instrumentarium für das Dogma von der universalen Schuld des Menschen und für die Auffassung von seiner Rechtfertigung als einem Freispruch, der im Gnadenwege gewährt wurde und die Folgen der Schuld nicht aus der Welt schaffte. Dort fand er auch die Lehre von der absoluten Prädestination, die den Gnadenweg auf die kleine Zahl der Erwählten beschränkte und dadurch die Schuld der Allzuvielen als Erklärung der fortdauernden Verderbnis der Welt in Geltung ließ. Der gnostische Dualismus war für das metaphysische Weltbild beseitigt, aber er lebte im Schoße der Menschheit und ihrer Geschichte als absolute Sonderung von Berufenen und Verworfenen fort. Diese zur Rechtfetigung Gottes ersonnene Krudität hat ihre verschwiegene Ironie darin, daß auf dem Umweg über die Vorstellung der Prädestination eben doch die Urheberschaft des absoluten Prinzips für die kosmische Verderbnis wieder hereingeholt wird, deren Elimination der ganze Aufwand gegolten hatte. Für diese Sünde in ihrer universalen Auswirkung konnte letztlich eben doch nur der Urgrund der Dinge selbst verantwortlich gemacht werden - die massa damnata hatte dafür nur noch die Folgen zu tragen."138 Der späte Augustin, der Theologe der Erbsünde und der Prädestination, ist die wichtigste Quelle und Autorität für die theologische Spekulation des späten Mittelalters. Daher kann Blumenberg resumieren: "Die nicht überwundene, sondern nur transponierte Gnosis kehrt in Gestalt des verborgenen Gottes und seiner unbegreiflichen absoluten Souveränität zurück. Mit ihr bekam es die Selbstbehauptung der Vernunft zu tun.“ (ibid.) "Augustins folgenreiche Wendung von der Gnosis zur menschlichen Freiheit rettet die 'Ordnung' für das Mittelalter und bereitet die Wiederkehr des Aristoteles auf der Höhe der Scholastik vor. Der Preis für diese Rettung des Kosmos war nicht nur die Schuld, die der Mensch sich daran zumessen sollte, wie er die Welt vorfand, sondern auch die Resignation, die ihm seine Verantwortung für den Weltzustand auferlegte: der Verzicht darauf, eine Wirklichkeit durch Handeln zu seinen Gunsten zu verändern, deren Ungunst er sich selbst zuzuschreiben hatte. Die Sinnlosigkeit der Selbstbehauptung war das Erbe der nicht überwundenen, sondern nur 'übersetzten' Gnosis." (o.c.157) Ich halte dafür, daß Blumenberg ungeachtet seines antireligiösen Vorurteils bzw. "blinden Flecks" bedeutsame Zusammenhänge gesehen hat. Seine Thesen haben andere provoziert, weiterzudenken. 11.3 Positivistische Inversion der Gnosis? Daß die Realität viel komplexer ist, als die einzelnen Schneisen, welche von einzelnen Forschern durch den Wald geschlagen werden, glauben machen wollen, läßt sich am Beispiel Ernst Machs (1838-1916), des Physikers und Wissenschaftshistorikers, der zum Begründer des österreichsichen Positivismus und zum Ahnherrn des Wiener Kreises geworden ist, zeigen. (Als sich in den zwanziger Jahren dieser Zirkel begründete, von dem die in den angelsächsischen Ländern lange dominierende analytische Philosophie abstammt, nannte er sich "Verein Ernst Mach"; der Wiener Kreis wollte damit dokumentieren, daß er die Gedanken Machs weiterzuführen beabsichtigte.) In einem Aufsatz über Mach schildert Manfred Sommer dessen Schlüsselerlebnis: "Im Jahre 1855 machte ein junger Mann, der eben angefangen hatte, Physik zu studieren, vor den Toren der Stadt Wien einen Spaziergang. Es war, wie er drei Jahrzehnte später berichtet, ein 'heiterer Sommertag', als folgendes geschah: ganz 'plötzlich' fühlte er sein Ich nicht mehr der Welt gegenüberstehen, sondern als eins mit ihr. Dieser mystische Augenblick der Ununterschiedenheit Blumenberg, o.c., Neuausgabe: Säkularisierung und Selbstbehauptung, 1983², S.156. 138 120 von Ich und Welt, der Indifferenz von Subjekt und Natur ist, wie der Spaziergänger uns weiter mitteilt, 'für seine ganze Anschauung bestimmend geworden'. Diese Anschauung bestand, wie sich zeigen sollte, darin, daß es nichts Subjektives und nichts Objektives mehr gab, sondern nur noch neutrale Empfindungen."139 Manfred Sommer hat sich gefragt, wie die Philosophie Ernst Machs mit seinem mystischen Erlebnis an jenem heiteren Sommertag des Jahres 1855 zusammenhängt; seine Antwort lautet: Machs Positivismus ist die Inversion der Gnosis. Die geistige Situation, in der Mach lebt und denkt, ist geprägt vom cartesianischen Dualismus von res cogitans und res extensa, Innenwelt und Außenwelt, Bewußtsein und Wirklichkeit. Da innercartesianisch nicht auszumachen ist, daß es überhaupt eine Beziehung zwischen ihnen gibt, geschweige denn, wie ein solches commercium aussehen könnte, wird das Bewußtsein, in dem das Subjekt mit sich selbst vertraut wird, zu einer Dimension, die mit der realen Welt nichts mehr zu tun hat. Da ist es kein Wunder, wenn man eine Art Höhlenbewußtsein ausbildet, wie es schon in Platons Höhlengleichnis als Ausdruck der Entfremdung literarisch ausgestaltet ist. Mach sagt einmal: "Die Welt, von der wir doch ein Stück sind, kam uns ganz abhanden und wurde uns in absehbare Ferne gerückt."140 - ein Stück gnostischer Mythos! Eine weitere gnostische Formel Machs lautet: "Gewiß wird man sich aber wundern, wie uns die Farben und Töne, die uns doch am nächsten liegen, in unserer physikalischen Welt von Atomen abhanden kommen konnten, wie wir auf einmal erstaunt sein konnten, daß das, was da draußen so trocken klappert und pocht, drinnen im Kopfe leuchtet und singt"141 Mach nimmt in einer Art prophetischer Heilsverheißung einen heilen monistischen Zustand vorweg, von dem aus man verwundert auf den dualistischen zurückblicken wird. Sommer dazu: "Auffällig ist hier: Im Innern der 'Höhle' ist es hell, und draußen ist es dunkel. Hier im 'Gefängnis' 'leuchtet und singt' es, während es dort draußen 'klappert und pocht'. Da haben sich, nimmt man die antike Gnosis zum Vergleich, die Verhältnisse umgekehrt. Licht und Finsternis haben ihre Plätze getauscht: Hell leuchtend ist nicht der gute Gott dort draußen (Pneuma) und dunkel ist nicht die böse Welt hier innen (Kosmos). Diese Umkehrung - helles Diesseits, dunkles Jenseits - ist eine erste Komponente dessen, was ich mit Inversion der Gnosis bezeichne."142 11.4 Das gnostische Rezidiv als Gegenneuzeit (Taubes, Marquard) Die Rede vom Ende der Neuzeit ist in den 70er Jahren von konservativ-christlichen Kreisen auf andere, kulturkritische übergesprungen. Es gab die Diskussion um die sog. Postmoderne. Jacob Taubes sagt einmal: "...vorausgesetzt, daß die Thesen von Hans Blumenberg Gewicht haben, und man sagen kann, daß die Neuzeit eine endgültige Überwindung der Gnosis darstelle, so ist zu fragen, ob das gnostische Rezidiv seit den zwanziger Jahren unseres Jahrhunderts nicht ein Ende jener Jahrhunderte überspannenden Sinnstruktur, genannt "Neuzeit", anzeigt, so daß der Topos: "Ende der Neuzeit", zuerst als kulturkritischer Gemeinplatz in Umlauf gekommen, nicht doch ein Symptom für eine Krise im Selbstverständnis der Gegenwart seit dem Ende des 1.Weltkriegs darstellt."143 Manfred Sommer, Positivismus als Inversion der Gnosis: Ernst Mach. In: Gnosis und Mystik in der Geschichte der Philosophie. Hrsg.v.Peter Koslowski. Artemis Verlag Zürich und München 1988. S.276-295. 140 Ernst Mach, Die Analyse der Empfindungen, Jena, 6.Aufl. 1922, 9. 141 Ernst Mach, Populär-wissenschaftliche Vorlesungen, Leipzig 5.Aufl. 1923, S.244. 142 M.Sommer, o.c. 286. 143 Jacob Taubes, Das stählerne Gehäuse und der Exodus daraus oder ein Streit um Marcion, einst und heute. In: Ders., Hrsg., Religionstheorie und Politische Theologie, Bd.2, Gnosis und Politik. München etc. 1984. S.9-15. 139 121 (Angekündigt habe sich diese Wende schon in Max Webers frühen Studien zum "Geist des Kapitalismus", 1905. In diesem Zusammenhang bezeichnet Taubes Max Webers Terminus "Verhängnis" als "gnostische Hieroglyphe" - ein wie mir scheint etwas großzügiges Verfahren der Zuordnung zur Gnosis. Ein wichtiger Beitrag zu dieser Diskussion um die Krise der Moderne stammt von Karl Löwith: Das Verhängnis des Fortschritts. Verhandlungen des Siebten Deutschen Kongresses für Philosophie 1962, edd. H.Kuhn, F.Wiedemann, München 1964, 15-29.) Odo Marquard über dieses gnostische Rezidiv: "Es liegt in der Konsequenz von Blumenbergs Ansatz, zu sagen: der Nominalismus ist die Wiederbelebung, die Wiederkehr der Gnosis: die Rache der Gnosis an ihrer ersten Überwindung".144 "Die Negation der Universalien ist ein eschatologischer Vorgang, sozusagen auch ein Weltende: das Ende der alten Erkennbarkeit der Welt. Die Universalien-Negation - durch die Weltfremdheit des Gottes der 'potentia absoluta' - ist Weltnegation: Nominalismus ist Negativierung der Welt durch Positivierung der Weltfremdheit Gottes."145 Das Schema der Eschatologie146 macht es komplizierter, ist aber tatsächlich nicht zu umgehen. Die gnostische Negativierung der Welt und Positivierung der Weltfremdheit verbindet sich unvermeidlich mit Gedanken der biblischen Eschatologie: die Welt ist übel und böse; sie kann erlöst werden nur noch durch ihr Ende. Aber dieses heilsbringende Ende läßt auf sich warten und bleibt aus ("verzögerte Parusie"): Gott zögert. Das löst auf Seite des Menschen zunächst Ungeduld aus. Es kommt - weil das Weltende auf sich warten läßt und ausbleibt - zu interimistischen Erlösungssuchen: dem gnostisch-spekulativen Weg in die Innerlichkeit und dem - gnostischmanichäischen Weg ins Engagement für das gute Prinzip gegen das böse. Mit Hans Urs von Balthasar kann man es auch so ausdrücken: "Zwei Richtungen also bedrohen vor allem die christliche Endlehre: der vulgäre wie gelehrte Chiliasmus maßt sich einen innergeschichtlichen Absolutheitsstandpunkt an, zieht den Himmel auf die Erde herab, die naturalistische Gnosis stellt den Menschen auf den jenseitigen Absolutheitsstandpunkt, hebt ohne Sprung die Erde in den Himmel."147 Das scheint ein praktisches Kriterium der verschiednen geistigen Strömungen unseres Jahrhunderts zu sein. Ein Haus, das einsturzgefährdet ist und mich daher existentiell bedroht, kann ich entweder fliehen oder zerstören. ("Macht kaputt, was euch kaputt macht!") Konversion und Revolution sind die zwei Möglichkeiten. Berühmte Beispiele für Konversionen sind die des Paulus vor Damaskus und die des Blaise Pascal, dokumentiert in seinem Memorial von 1654. Letztere wird oft mit der cartesischen "certitude" kontrastiert, die anscheinend erfolgreicher war. Thomas Macho stellt dazu fest: "Angesichts der theoretisch postulierten Differenz zwischen einem gütigen oder einem boshaften Gott zog sich Descartes auf den Boden der Selbstvergewisserung zurück; Pascal dagegen fing Feuer an der Erfahrung einer Differenz zwischen dem Gott der Gelehrten (der Philosophen wie Odo Marquard, Das gnostische Rezidiv als Gegenneuzeit. In: J.Taubes, Religionstheorie und Politische Theologie, Bd.2, Gnosis und Politik, München etc. 1984, S.31-36. S.32 145 l.c. 146 Literatur zum Stichwort "Eschatologie": H.U.v. Balthasar, Eschatologie. Die Theologie der letzten Dinge. In: Theologie heute. Eine Vortragsreihe des Bayerischen Rundfunks, hrsg. v. Leohard reinisch. München, Beck, 1959. Christian Schütz, Grundlegung der Eschatologie. In: Mysterium Salutis. Grundriß heilsgeschichtlicher Dogmatik. Josef Ratzinger, Eschatologie - Tod und ewiges Leben. Kleine katholische Dogmatik Bd.X, Regensburg 1977 147 H.U.v.Balthasar, Apokalypse der deutschen Seele. Studie zu einer Lehre von letzten Haltungen. Bd.I. Der deutsche Iealismus. Salzburg-Leipzig 1937. S.26. 144 122 Theologen) und dem lebendigen Gott eines kontingenten Offenbarungsgeschehens. In der wahrheitstheoretischen Auseinandersetzung zwischen Descartes und Pascal stand die Frage des Wissens - die Frage der Gnosis - in elementarer Hinsicht zur Disposition. Welche Auffassung den Sieg davongetragen hat, ist bekannt. Die Gnosis wurde durch Diagnosen überwunden."148 Macho trauert über die Niederlage der gnostischen Konversion und sucht die Spuren eines gnostischen undergrounds, der gegen den mainstream der römisch-katholischen Welteroberung am Primat der Seele festhält. - Sie sehen, daß das, was Voegelin den gnostischen Bewegungen, wie er sie versteht, vorwirft, nämlich ein Herrschaftswissen, vom Freund der Gnosis Macho der christlichen Großkirche vorgeworfen wird. - Descartes und alles, was er nach sich zog, samt der Kirche auf der einen Seite, Pascal und der underground auf der anderen Seite. - Solche Einteilungen führen in die Irre. Wahr an ihnen sind nur die Zusammenhänge, aber die lassen sich nicht zähmen und in ein System bringen. Was ist nun mit "gnostisches Rezidiv" eigentlich gemeint? Dazu könnte man einzelne "Symptome" (um in der medizinischen Terminologie zu bleiben) heranziehen, vielleicht möglichst kräftige wie die Anthroposophie. Das stärkste Symptom einer Krankheit ist der durch sie hervorgerufene exitus. Reden wir also gleich vom "Tod des Subjekts", einem typischen Thema der jüngsten Jahrzehnte. Am Anfang steht die Kritik Nietzsches an Descartes' Satz "Ego cogito, ergo sum". - "Es gibt keine unmittelbaren Gewißheiten: cogito, ergo sum setzt voraus, daß man weiß, was 'denken' ist und zweitens was 'sein' ist. es wäre also, wenn das est (sum) wahr wäre, eine Gewißheit auf Grund zweier richtiger Urtheile, hinzugerechnet die Gewißheit, daß man ein Recht überhaupt zum Schlusse, zum ergo hat - also jedenfalls keine unmittelbare Gewißheit."149 "Nietzsche stellt diesem cartesianischen Ansatz einen anderen Ausgangspunkt und eine andere Behandlungsart gegenüber. Er hat beides - die thematische und die methodische Umstellung - auf eine Formel gebracht, die in die Zeit der eben zitierten Auseinandersetzung mit Desacrtes gehört: 'Wesentlich, vom Leibe ausgehen und ihn als Leitfaden zu benutzen.' (Ebd. S. 635) Nicht das Denken bildet den Ausgangspunkt der von Nietzsche projektierten neuen Philosophie, sondern der Leib, doch dieser fundamentale Paradigmenwechsel ist auch für die Behandlungsart der neuen Thematik nicht ohne Folgen: An die Stelle der einheitlichen, 'die' Wahrheit gewährleisten sollenden Methode rückt der 'Leitfaden'; eine vorsichtigere, beweglichere, aber auch gefährlichere Orientierungsmöglichkeit ist damit gemeint (auch wenn an anderer Stelle Nietzsche der Physiologie exemplarischen Charakter zuerkennt), wenn auch damit der Vorrang der Methode gegenüber der 'Realität' im Vergleich zu Descartes womöglich noch gesteigert ist - das Bedürfnis nach Sicherung wächst angesichts höchster Unsicherheit, und eine Welt von solcher Art, daß es zur Orientierung in ihr einen Leitfaden braucht, heißt, wie bekannt, Labyrinth."150 Im Gefolge Nietzsches ist ein wichtiger Meilenstein die Descartes-Interpretation Martin Heideggers. Darin ist ein Grundgedanke: Mit Descartes wird die Auslegung des Menschen als Subjekt vollzogen. Damit vollzieht sich ein grundsätzlicher Wandel in der Auslegung des Verhältnisses des Menschen zum Sein. "Haec cognitio, ego cogito, ergo sum, est omnium prima et certissima, quae cui libet ordine philosophanti occurat."151 Heidegger "übersetzt", d.h. interpretiert, das cogitare als Vorstellen. Damit erhält das Wesen des Menschen eine bisher nicht gekannte zentrale Stellung, und die spätere Kritik am Subjekt geht von Peter Sloterdijk/Th.H.Macho (Hrsg), Weltrevolution der Seele, Bd.II, S.493 Nietzsche, Krit. Studienausgabe Bd. 11, München 1980, S. 641. 150 Helmuth Vetter, Welches Subjekt stirbt? In: Tod des Subjekts? Hrsg.v. Herta Nagl-Docekal und Helmuth Vetter, Wien München (R.Oldenbourg) 1987 (=Wiener Reihe Themen der Philosophie Bd 2). S. 30f. 151 R.Descartes, Principia I 7, in: Ch.Adam/P.Tannéry (Hrsg.), Oeuvres de Descartes VIII-1, Paris 1964, S.7. 148 149 123 diesem "Zentrismus" aus. Die Kritiker erkennen in solchem Zentrismus einen "Machtanspruch". Koslowski: Absolute Vernunftherrschaft ist ein verfehltes Projekt der Moderne. Der Linkshegelianismus und Marxismus als der Diskurs der Moderne sind eine Form der Gnosis ohne transmundanen Erlöser. Ich gehe jetzt nicht darauf ein, ob mit der kritischen Abrechnung mit dem neuzeitlichen Subjektbegriff nicht nur eine isolierte Fragestellung, sondern die Philosophie selbst auf dem Spiele steht. Mit den verschiedenen Versuchen, das vernünftige autonome Subjekt als eine Fiktion zu erweisen und es einer Theorie der irreduziblen Pluralität und historischen Kontingenz der Bedingungen allen Denkens und Handelns aufzulösen, bzw. alle Ansprüche auf Wahrheit und normative Verbindlichkeit genealogisch zu entlarven, verbindet sich ja die These vom Ende der Philosophie.152 Ich rede auch nicht davon, was es bedeuten könnte, jenseits des "Grundsätzlichen", also "postmodern", nach dem Tod des Subjekts dennoch zu philosophieren; nicht von Lyotard, Foucault, Derrida etc. Ich mache nur auf die Assoziation zur Gnosis aufmerksam, die einem in diesem zeitgenössischen Diskurs kommen muß. Entweltlichung, Rückkehr zum transzendenten Ursprung: das ist die Lehre, die Heilslehre der Gnosis nach dem vorherrschenden Verständnis in unserem Jahrhundert. Das Gegenteil ist dann "Verweltlichung", also das, was bei Husserl "objektivierende Auffassung" und bei Heidegger "Verfallen" genannt wird.153 Ist also der von Nietzsche, Husserl und Heidegger eingeleitete Prozeß wirklich eine Wiederkehr der Gnosis? Vielleicht beantwortet sich diese Frage von selbst, wenn man zusätzlich frägt: überwiegt das Gemeinsame oder das Trennende? 11.5 Existentialanalytik als pneumatische Gnosis oder Meta-Gnosis? 1928 hat Hans Jonas mit einer Dissertation in Marburg bei Heidegger promoviert, aus der er dann sein Werk "Gnosis und spätantiker Geist" weiterentwickelt hat. Rudolf Bultmann hat das Entstehen dieses Werks mit aufmerksamer Anteilnahme verfolgt. Das ist interessant, weil Jonas damit von vornherein in den Zusamenhang der phänomenologischen Schule gestellt ist. Die husserlsche "objektivierende Auffassung" spielt denn auch eine zentrale Rolle bei Jonas. Daß, mit Husserl, das Bewußtsein seine Erlebnisse objektiviert; daß, mit Heidegger, das Dasein sich verweltlicht und der Welt verfällt; daß, mit Bultmann, das Heilsereignis welthaft verstanden und in Mythen vergegenständlicht wird: darin manifestiert sich durchgängig eine Tendenz zur Veräußerlichung und Hypostasierung. Vom Ich zum Ding, vom Dasein zur Welt, vom Ereignis zum Symbol. Diese gleichsam natürliche Inklination macht den Gegenzug entsprechend mühsam. Was not tut, mag "phänomenologische Reduktion", Wende zur "Eigentlichkeit" oder "Entmythologisierung" heißen: immer geht es um die schwierige Zurückholung des 'Subjekts' aus den 'Objekten', an die es sich so leicht verliert und in denen es sich so gern verkennt. Diese zwei konträren Bewegungsrichtungen 'Objektivation' und 'Resubjektivierung', 'Verweltlichung' und 'Entweltlichung' - durchziehen denn auch Jonas' Buch "Gnosis und spätantiker Geist" von Anfang bis Ende.154 Gesetzt den Fall, ein nachdenklicher Mensch des 20.Jh., der in dieser Schultradition aufgewachsen ist, erkennt fasziniert in den Zeugnissen der alten Gnosis sein philosophisches Weltbild wieder. Er erkennt auch das geschichtliche Fortwirken dieser alten Gnosis. Daß z.B. der genius malignus des Herta Nagl-Docekal, Tod des Subjekts? Einleitung zum gleichnamigen Band o.c., S.7f. 153 Vgl.Martin Heidegger, Sein und Zeit, 11., unveränd.Aufl., Max Niemeyer Verlag Tübingen 1967, S.175f.: 38 Das Verfallen und die Geworfenheit. <Handout 10,1> 154 Manfred Sommer, Positivismus als Inversion der Gnosis: Ernst Mach. In: Gnosis und Mystik in der Geschichte der Philosophie. Hrsg. v. Peter Koslowski. Zürich und München (Artemis) 1988. S. 278. 152 124 Descartes, wenn auch nur als Hypothese, der fortwirkende gnostische böse Demiurg ist, ist ja nicht zu übersehen. Er erkennt schließlich, daß er mit seinem Weltbild selbst in der gnostischen Deszendenz steht. Er möchte Klarheit über die Bedingtheiten seiner eigenen Sicht gewinnen. Er unternimmt es daher, die gesamte Geistesgeschichte im Licht des erkannten Zusammenhangs durchzuarbeiten. Er kommt nicht sehr weit damit, weil ihm, was ihn ehrt, nach dem ersten Drittel klar ist, welch ungeheure, in einem Menschenleben nicht zu bewältigende Arbeit er sich da vorgenommen hat. Sein Werk bleibt aber ein außerordentlich interessantes Fragment. Es reizt, sich zu überlegen, wie es weitergegangen wäre, und Spuren des Gesamtplans im ersten Teil aufzufinden. Manfred Sommer hat es versucht und eine These aufgestellt, die im Detail zu diskutieren hier ebenfalls die Zeit fehlt. Er meint den Gesamtplan als einen Dreischritt zu erkennen, der dem gnostischen Schema der drei Stufen des Humanen entspricht: Hyle, Psyche, Pneuma, dieses als geschichtliche Entwicklung vom Niederen zum Höheren darstellt. Gnosis wäre demnach nicht etwas ein für allemal dingfest zu Machendes, sondern ein sich Entwickelndes. Es beginnt mit dem Mythos, mit der mythologisch-objekthaften Gestalt der Gnosis, in der die Entweltlichung selber weltlich-kosmisch dargestellt, also "verweltlicht" ist. Aber der Weg, den die Gnosis als eine Gestalt menschlicher Daseinsauslegung in der Geschichte zurücklegt, ist selber gnostisch-weltflüchtig. Während im Mythos noch die "Verweltlichung" der Entweltlichungstendenz dominiert, hat die "mystische Philosophie" diese Entweltlichungstendenz selbst schon ein Stück weit entweltlicht. In der neuplatonischen Metaphysik, die hier gemeint ist, wird nämlich das äußerlich-kosmische Heilsdrama zu einem innerseelischen Vorgang und somit "die Entweltlichung ganz ins Innere hineingenommen". (Jonas, o.c., I., S.63) Aber: als Metaphysik hat sich der Neuplatonismus noch nicht restlos von der "Verweltlichung", sprich: Verdinglichung, befreit. Schon subjektivierend, aber noch objektivierend; schon "ins Innere" gekehrt, aber noch an Hypostasen gebunden: so ist die Entweltlichungstendenz im Neuplatonismus noch nicht zu ihrer "eigentlichen", das heißt restlos entweltlichten Darstellung gekommen. Dies gelingt erst in der dritten und letzten Phase: in eben der Daseinsanalyse, die Jonas alias Heidegger selber in seinem Gnosis-Werk darstellt. Das ist also das Grundschema der sukzessiven Entweltlichung: die Gnosis ist, erstens als Mythologie 'kosmisch'; zweitens als Metaphysik 'psychisch'; und drittens als Existenzanalyse 'pneumatisch'.155 Wenn das stimmte und Jonas tatsächlich dieser Dreischritt vorschwebte, so hätte er sein eigenes Werk also als Endgestalt der Gnosis aufgefaßt. Wohlgemerkt: diese Endgestalt selbst und nicht nur deren historisch-distanzierte Darstellung. Aber erstens hat er dieses Werk nicht zu Ende geführt. es gibt neben der Darstellung der narrativmythologischen und der mystisch-metaphysischen Gnosis nicht noch eine eigene existenziale. Sommer meint, im Übergang von der ersten zur zweiten Stufe bzw. in der Darstellung dieses Übergangs liege selbst schon die dritte. Ich halte mich lieber an die Aussage von Jonas, seine Darstellung sei ironisch gemeint. Zwischen dem Anfang des Werks von Hans Jonas und seinem als vorläufig deklarierten, aber dann doch endgültigen Ende liegt die Katastrophe des 20. Jahrhunderts, die in ihrem Charakter als Apokalypsis - Enthüllung des Wesens des Menschen und seines Gottes - sich erst durchsetzen muß. Ein anderer deutscher Jude, der diese Katastrophe ebenfalls in Amerika überlebt hat, hat vielleicht die treffendste Erklärung für das Abbrechen der Arbeit von Hans Jonas gegeben: Theodor Wiesengrund Adorno, mit den Schlußsätzen seiner Minima moralia.156 M.Sommer, o.c. 283. Theodor W.Adorno, Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1951. S.333f. <Handout 10,2> Vgl. Ders., Kierkegaard. Konstruktion des Ästhetischen. Dritte, erweiterte Ausgabe, 155 156 125 Inhalt 1. Einleitung 1.1 Drei Texte (Perlenlied, Böhme, Bloch) 1.2 Zugänge (Biographie, "Wiederkehr der Religion", Wiederbegegnung von Philosophie und Theologie, Projekt der Moderne, Hilfsdisziplinen der Religionsphilosophie, Definitionsfragen zu "Religion" und "Religionsphilosophie", Wozu heute Religionsphilosophie?, Zusammenhang mit dem Thema "Gnosis" 1.3 Überblick über die Vorlesung; Literaturempfehlung 2. Umfang des Sachgebiets, Definitionsfragen 2.1 Der Terminus "Gnosis"; ginóskein; Abgrenzung gegen aisthánesthai, dokein, doxázein; Zusammenhang mit eidénai; Erkenntnistheorie der Griechen (Plato Resp 476 c ff., 50c ff.) 2.2 Gnosis als historische religiöse Bewegung 2.2.1 Die Frage ihrer "Herleitung" (hellenistische, orientalische, heterodox-jüdische) 2.2.2 Die Frage ihres "Wesens" (Paradigma für das Grundproblem der Religionsphilosophie; Vielgestaltigkeit; Grundzüge - der Begriff "gnosis" selbst, Dualismus, Kosmologie, Soteriologie, Eschatologie, Gemeindestruktur, Kult) 2.3 Geschichtlicher Umfang des Sachgebiets 2.3.1 Zeittafel, Entstehungszeitraum (Apokalyptik und Weisheitsliteratur) 2.3.2 Mittelalterliche Ketzerbewegungen 2.3.3 Wirkung auf den Islam 3. "Gnosis" als Zentralbegriff der spätantiken Gnosis - Fragen zur Typologie 3.1 Erkennntis des eigenen Geist-Selbst des Gnostikers und der mit diesem Geist-Selbst Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1966, s.197ff.: "Wenn Haecker gegen den Kiekegaardschen Spiritualismus sagt: 'Der Mensch soll Geist werden, als der er angelegt ist, wenn möglich reiner Geist, ein fast gnostischer Irrtum Kierkegaards': dann setzt Gnosis von der Bestimmung des Menschen als eines bloß Geistigen sich fort in einer Theologie, die Gott in die Kategorien des reinen Geistes einordnet, als der ihm der Mensch erscheint; damit aber Gott in jene Natur auflöst, welche in Wahrheit gerade die absolute Spiritualität des Menschen ist. Mythische Dialektik verschlingt den Gott Kierkegaards wie Kronos seine Kinder." 126 konsubstantialen Gottheit. "Wer wir sind"; Philosophie des Subjekts 3.1.1 Gnostischer Kunstmythos und Idealtypos 3.1.2 Wer bin ich? 3.1.3 Gnôthi sautón (1) Bescheidung (2) Entfremdung 3.1.4 Selbsterfahrung und Gotteserfahrung 3.2 Offenbarung (Anthropogonie, Theogonie) 3.3 Erlösung 3.3.1 Erlösung im christlichen Verständnis 3.3.2 Zu Erlösung, Erlöstsein, Erlöser in der Gnosis 3.3.3 Mythos (1) Literatur (2) Allgemeines (3) „Entmythologisierung“, „Arbeit am Mythos“ (4) Dialektik der Aufklärung (5) Albert Camus, Der Mythos von Sisyphos (6) Zur Annahme eines gnostischen Grundmythos 3.4 Dualismus 3.4.1 Aspekte des gnostischen Dualismus 3.4.2 Der gnostische Dualismus im religionsgeschichtlichen Vergleich 3.5 Der unbekannte Gott 3.5.1 Areopag-Rede 3.5.2 Negative Theologie 3.5.3 Abstraktion 3.5.4 Das Böse 4. Quellenkunde 4.1 Vorbemerkung 4.2 Die sekundären Quellen (1) Justin, (2) Irenäus, (3) Hippolyt, (4) Tertullian, (5) Clemens, (6) Origenes, (7) Eusebius, (8) Epiphanius, (9) Spätere 4.3 Primärquellen 4.3.1 Quellenzitate bei den Häresiologen 4.3.2 Weitere Originaltexte 4.3.3 Der Nag Hammadi - Fund 5. Zur Geschichte und Methodologie der Forschung 5.1 Ältere Forschung 5.2 Hans Jonas 5.3 Aspekte der gegenwärtigen Forschungssituation 5.3.1 Einsicht in die Zirkelstruktur der typologischen und historischen Abgrenzungsversuche 5.3.2 Einsicht in die "Arbeit des Mythos" in der Philosophie 5.3.3 Faszination der Ansätze einer theologischen Ästhetik 5.3.4 Berührungspunkte der Gnosis mit dem Existentialismus 5.3.5 Glanz und Elend der Phänomenologie 6. Gnosis und Neues Testament 6.1 1 Kor 13 127 6.2 Literatur 6.3 Das hermeneutische Problem 6.4 Die Fakten 6.5 Erläuterung 6.5.1 Konkurrenz 6.5.2 Gegensätze 6.5.3 Innerchristliche Erscheinung 6.5.4 Einfluß 6.5.5 Methodologische Reflexion 7. Gotteserkenntnis, Schau und Vollendung bei Philo Alexandrinus 7.1 Zur Person Philos 7.2 Philos Werke 7.3 Unterschiede in der Handhabung der allegorischen Methode 7.4 Gotteserkenntnis bei Philo 7.5 Transzendenz und Immanenz Gottes 7.6 Die Wurzeln des philonischen Agnostizismus 7.7 Mittelbare Gotteserkenntnis ("Kann man Gott aus der Natur erkennen?") 7.8 Unmittelbare Gotteserkenntnis 7.9 Die zwei Grundmöglichkeiten: Pistis und Gnosis 8. Plotins Schrift "Gegen die Gnostiker" II 9 (33) 8.1 Zur Person und zur Stellung Plotins in der Geistesgeschichte 8.2 Charakterisierung aus religionsphilosophischem Blickwinkel 8.2.1 Religiöse Färbung 8.2.2 "Ich" 8.2.3 Konkrete Religion interessiert kaum 8.2.4 Grundmotive 9. Die christlichen Alexandriner 9.1 Gleichzeitigkeit der großen Systeme 9.2 Der Wegbereiter: Clemens Alexandrinus 9.3 Platonismus und Gnosis bei Origenes 10. Augustinus 10.1 Allgemeines 10.2 Dualismus 10.3 Freiheit und Gnade 10.4 Wirkung auf die weitere Geistesgeschichte 11. Gnosis als ideenpolitischer Begriff im 20. Jahrhundert 11.1 Denuntiation des neuzeitlichen Denkens als "gnostisch" 11.2 Die Neuzeit - zweite und endgültige Überwindung der Gnosis? 11.3 Positivistische "Inversion" der Gnosis? 11.4 Das "gnostische Rezidiv als Gegenneuzeit"? 11.5 Existentialanalytik als "pneumatische Gnosis" oder "Meta-Gnosis"? 128