Arturo_Ui_Materialien - Lise-Meitner

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Baustein 1
Literarische Gespräche führen
Thesen zum Stück (Auswahl):
- Es gibt keine großen politischen Verbrecher, sondern nur
Verüber großer politischer Verbrechen.
- Das Verbrechen selbst löst häufig Bewunderung aus.
- So wenig das Misslingen seiner Unternehmungen Hitler zu
einem Dummkopf stempelt, so wenig stempelt ihn der
Umfang dieser Unternehmungen zu einem großen Mann.
( jeweils gefunden bei Dieter Thiele, GGzD, Diesterweg)
-
„In jedem einfachen Menschen steckt ein primitiver Sinn
für Historie, da wo sie schauerlich ist.“ (Brecht in einem Brief an Hans
Tombrock, wo er ihn bittet, „große Tafeln“ für das Stück herzustellen; Briefe Band 1, 1981
1
Baustein 2
Der biografisch-historische Hintergrund
B. Brecht (1898-1956)
Gedanken über die Dauer des Exils (um 1937)
I
Schlage keinen Nagel in die Wand
Wirf den Rock auf den Stuhl.
Warum vorsorgen für vier Tage?
Du kehrst morgen zurück.
Laß den kleinen Baum ohne Wasser.
Wozu noch einen Baum pflanzen?
Bevor er so hoch wie eine Stufe ist
Gehst du froh weg von hier.
Zieh die Mütze ins Gesicht, wenn Leute vorbeigehn!
Wozu in einer fremden Grammatik blättern?
Die Nachricht, die dich heimruft
Ist in bekannter Sprache geschrieben.
So wie der Kalk vom Gebälk blättert
(Tue nichts dagegen!)
Wird der Zaun der Gewalt zermorschen
Der an der Grenze aufgerichtet ist
Gegen die Gerechtigkeit.
II
Sieh den Nagel in der Wand, den du eingeschlagen hast:
Wann, glaubst du, wirst du zurückkehren?
Willst du wissen, was du im Innersten glaubst?
Tag um Tag
Arbeitest du an der Befreiung
Sitzend in der Kammer schreibst du.
Willst du wissen, was du von deiner Arbeit hältst?
Sieh den kleinen Kastanienbaum im Eck des Hofes
Zu dem du die Kanne voll Wasser schlepptest!
Über die Bezeichnung Emigranten (1937)
Immer fand ich den Namen falsch, den man uns gab: Emigranten.
Das heißt doch Auswanderer. Aber wir
Wanderten doch nicht aus, nach freiem Entschluss
Wählend ein anderes Land. Wanderten wir doch auch nicht
Ein in ein Land, dort zu bleiben, womöglich für immer.
Sondern wir flohen. Vertriebene sind wir, Verbannte.
Und kein Heim, ein Exil soll das Land sein, das und da aufnahm.
Unruhig sitzen wir so, möglichst nahe den Grenzen
Wartend des Tags der Rückkehr, jede kleinste Veränderung
Jenseits der Grenze beobachtend, jeden Ankömmling
Eifrig befragend, nichts vergessend und nichts aufgebend
Und auch verzeihend nichts, was geschah, nichts verzeihend.
Ach, die Stille der Stunde täuscht uns nicht! Wir hören die Schreie
Aus ihren Lagern bis hierher. Sind wir doch selber
Fast wie Gerüchte von Untaten, die da entkamen
Über die Grenze. Jeder von uns
Der mit zerrissenen Schuhn durch die Menge geht
Zeugt von der Schande, die jetzt unser Land befleckt.
Aber keiner von uns
Wird hier bleiben. Das letzte Wort
Ist noch nicht gesprochen.
Fundort: Blickfeld Deutsch, neu, Verlag Schöningh
 Untersuchen Sie, welches Lebensgefühl in diesen beiden Texten erfasst wird, und stellen
Sie exemplarisch dar, wie das gewählte sprachlich-stilistische Instrumentarium zwischen
lyrischem Sprecher und Leser vermittelt.
2
 Infokasten – biografische Daten
„Ich beobachte, dass ich anfange, ein Klassiker zu werden.“
„In mir habt ihr einen, auf den könnt ihr nicht baun.“
„Schreiben Sie, dass ich unbequem war und es auch nach meinem Tod zu bleiben
gedenke.“ (Kurz vor seinem Tod diktiert)
-
-
geb. 1898 in Augsburg, stammt aus gutbürgerlichen Verhältnissen
galt als durchschnittlicher, recht aufsässiger Schüler („Während meines neunjährigen
Eingewecktseins an einem Augsburger Realgymnasium gelang es mir nicht, meine Lehrer
wesentlich zu fördern.“)
1917 Notabitur, beginnt wenig ernsthaft in München Studium der Medizin und
Naturwissenschaften, bricht Studium ab
verfasst erste Theaterkritiken, besucht Literatur- und Theaterseminare
1918 – erstes Drama „Baal“ ,Uraufführung 1923
1922 Kleistpreis für „Trommeln in der Nacht“
1923 „Im Dickicht der Städte“
Dramaturg an Münchner Kammerspielen
1924 Umzug nach Berlin, Dramaturg am Deutschen Theater unter Max Reinhardt
linke politische Ausrichtung prägt sich aus, Auseinandersetzung mit Marx’ Schrift „das Kapital“
(„Ich vergesse meine Anschauungen immer wieder, kann mich nicht entschließen, sie auswendig
zu lernen.“)
Brecht hat zu dieser Zeit bereits drei Kinder: Sohn Frank mit Jugendliebe Paula Banholzer,
Tochter Hanne mit Sängerin Marianne Zoff (erste Ehefrau), Sohn Stefan mit Schauspielerin
Helene Weigel (zweite Ehefrau), Tochter Barbara (mit Helene Weigel) wird 1930 geboren
- Brechts vielfältige Beziehungen zu Frauen (oft unverzichtbare Mitarbeiterinnen)sind
bedeutsam für die Entstehung seines Werkes; dazu gehören insbesondere: Elisabeth
Hauptmann(ab 1925), Margarete Steffin (1931-1941), Ruth Berlau (ab 1933)
- Brecht war auch ein bedeutender Lyriker, verfasste Parabeln und Kurzgeschichten, z. B.
Geschichten vom Herrn Keuner (1930)– und begründete mit zahlreichen theoretischen
Schriften eine neue dramatische Poetik, das epische Theater;
- 1928 größter, auch kommerzieller Erfolg „Die Dreigroschenoper“ unter Zusammenarbeit
mit Komponisten Kurt Weill
- zwischen 1929 und 1932 Entstehung kommunistisch orientierter Lehrstücke, u.a.: „Der
Jasager und der Neinsager“, „Die heilige Johanna der Schlachthöfe“, „Aufstieg und
Fall der Stadt Mahagonny“(Oper), „Die Mutter“ (nach Maxim Gorkis Roman)
----------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------- --- 28.02.1933 (einen Tag nach Reichstagsbrand) geht Brecht mit Familie ins Exil
Stationen: Dänemark  Schweden  Finnland  (über Leningrad, Moskau, Wladiwostok)
USA/Santa Monica/Kalifornien
- auf Opernplatz in Berlin werden auch seine Bücher und Schriften den Flammen übergeben
- 1935 Aberkennung der deutschen Staatsbürgerschaft
- im Exil entstehen u.a.: Szenenfolge „Furcht und Elend des Dritten Reiches“, „Die
Gewehre der Frau Carrar“, „Leben des Galilei“, „Mutter Courage und ihre Kinder“,
„Herr Puntila und sein Knecht Matti“, „Der aufhaltsame Aufstieg des Arturo Ui“
- 1944 „Der gute Mensch von Sezuan“ und „Der Kaukasische Kreidekreis“ fertiggestellt
- Verhör vor dem „Komitee für unamerikanische Tätigkeit/unamerikanisches Verhalten“
unter Senator McCarthy  Entschluss zur Rückkehr nach DT
- Brecht über seinen Aufenthalt im kalifornischen Exil: „In Kalifornien komme ich mir vor wie
Franz von Assisi im Aquarium, Lenin im Prater (oder auf dem Oktoberfest), eine
Chrysantheme im Bergwerk oder eine Wurst im Treibhaus.“ (23. März 1942)
Brecht in seinem Gedicht „An die Nachgeborenen“ (1939):
Gingen wir doch, öfter als die Schuhe die Länder wechselnd
Durch die Kriege der Klassen, verzweifelt
Wenn da nur Unrecht war und keine Empörung.
----------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------- ----- 1947 Rückkehr über Zürich in Ostsektor von Berlin, wo er bis zu seinem Tod blieb, obgleich er
die österreichische Staatsbürgerschaft erworben hatte
- 1949 Gründung des BE (Theater am Schiffbauerdamm) mit Helene Weigel
- 1953 Lyrikband „Buckower Elegien“ – gilt als Ausdruck seines Vermächtnisses
- 1956 stirbt Brecht an den Folgen eines Herzinfarktes
-
3
Infokasten
Historische Daten – der Aufstieg Hitlers zum Diktator – Bezüge zum Stück
20. April
1889
1905
Adolf Hitler in Braunau am Inn als viertes von sechs Kindern geboren, Vater = Zollbeamter
H. muss wegen unzureichender Leistungen Realschule verlassen, bleibt ohne
Berufsausbildung
1907
Interesse an Kunst führt H. nach Wien, Ablehnung an Kunstakademie wegen mangelnder
Begabung
Tod der Mutter, H. erhält Waisengeld, Erbe vom Vater und Verkauf einiger Zeichnungen
sichern Lebensunterhalt
H. bleibt Einzelgänger, ist geltungssüchtig, träumt vom Künstlerleben, politische uns soziale
Spannungen in Wien prägen sein Weltbild, insbesondere den Hass auf die Juden, in denen er
Gefahr für die „germanische Herrenrasse“ sieht, H. hegt Hassliebe für bürgerliche
Anschauungen und Lebensgewohnheiten, ohne sich politisch festzulegen
1913
H. entzieht sich österreichischem Militärdienst durch Übersiedlung nach München, trat dann
allerdings bei Kriegsausbruch freiwillig in die bayerische Armee ein
1914-1918
Meldegänger an der Westfront; 1915 Gefreiter; 1918 erhält H. das Eiserne Kreuz 1. Klasse; im
Oktober nach Gasvergiftung vorübergehend erblindet; er bleibt bis 1920 Soldat
1919-1920
H. wird in München und Umgebung Vertrauensmann und Agitator einer ReichswehrPropaganda-Abteilung;
1919 wird H. Mitglied der Deutschen Arbeiterpartei  ab 1920 Nationalsozialistische
Deutsche Arbeiterpartei (NSDAP) und wird deren Werbeobmann (zu den ersten Mitgliedern
zählte auch Reichswehroffizier Ernst Röhm
im Februar 1920 verkündet H. das von ihm mitverfasste 25-Punkte-Parteiprogramm
1921
nach innerparteilichen Auseinandersetzungen übernimmt H. den Vorsitz der NSDAP 
weitreichende Machtbefugnisse; bis Hebst steigt Mitgliederzahl auf 50.000 an, Gründe dafür
liegen in Hs. Radikaler Agitation gegen Versailler Vertrag, gegen das „jüdische Großkapital“
und das liberal-demokratische System der Weimarer Republik; H. findet Unterstützung durch
rechtsgerichtete Kräfte in bayerischen Reichswehr-, Polizei-, Regierungs-, und
Wirtschaftskreisen
 =Verweise auf das Stück
Höhepunkt der Inflation; äußerst angespannte politische Lage  „Das Geld ist teuer jetzt.“
8./9.
(Sz 2);  „Dieser Wechsel / Vom Überfluß zur Armut kommt heut schneller / Als
November
mancher zum Erbleichen braucht.“ (Sz 1)
1923
H. versucht zusammen mit General Ludendorff die zaudernden rechtsgerichteten Kreise durch
Ausrufung einer „Regierung der nationalen Revolution“ zum Handeln zu zwingen  der
dilettantisch angelegte Putsch scheitert  Verbot der NSDAP; H. wird verhaftet
 „Kein Mensch / spricht von mir noch. Die Stadt hat kein Gedächtnis. Ach, kurzlebig /
Ist hier der Ruhm. Zwei Monate kein Krawall /Und zwanzig Schießereien sind
vergessen.“ (Sz 4)
 „Nicht jetzt. Nein, nicht von unten. ´s ist zu früh.“
Roma: „Und brütest. Pläne! Pläne! Halbherzige / Versuche! Der Besuch beim Trust
brach dir / Das Rückgrat. Und der kleine Zwischenfall / In Harpers Bank mit diesen
Polizisten / Liegt dir noch in den Knochen!“ (Sz 4)
1.Apr.1924
H. wird vom Münchner Volksgerichtshof zu 5 Jahren Festung verurteilt;
erster Band von „Mein Kampf“ entsteht (zweiter Band 1927)
H. wird schon wieder entlassen; H. erreicht Aufhebung des Parteiverbots
Dez. 1924
Febr.1925
H. beginnt mit Wiederaufbau der Partei
1925 - 1928 Redeverbot in den meisten Reichsländern für H., vorübergehende Konsolidierung der
wirtschaftlichen Verhältnisse  zögerliche, aber unaufhaltsame Entwicklung der NSDAP zur
„Führerpartei“; H. hat ihm vorbehaltlos ergeben Gefolgsleute
Durchbruch der NSDAP zur Massenpartei unter Hs. Führung
ab 1929
H. erhält Schlüsselrolle
Juli 1932
H. erhält 37,3% der Stimmen bei Reichstagswahl
Weltwirtschaftskrise  über 6 Mio Arbeitslose bei 12,5 Mio Beschäftigten; Vertauen in
demokratische Kräfte, Probleme lösen zu können, schwindet auf breiter Ebene
April 1932
H. verliert Reichspräsidentenwahl gegen Hindenburg, dieser weist Hitlers Anspruch, als Führer
der stärksten Partei zum Reichskanzler berufen zu werden, strikt zurück  ernste Krise der
Partei
 Giri: „Das rostige alte Aushängeschild! Der biedre / Verantwortungsbewusste
Händedrücker. / Der unbestechliche wasserdichte Greis“. (Sz 4)
 Gaffles: „Dogsborough, das ist / Nicht nur ein Name und nicht nur ein Mann / ´s ist
eine Institution!“ (Sz 5)
 Dogsborough: „Niemals! / Bevor ich mich mit ihnen einlass’, will ich /Lieber zugrund
gehen!“
4
Hindenburg ernennt H. letztlich doch zum Reichskanzler (u.a. eigennütziges Eingreifen von
Papens und mit Unterstützung der Reichswehrführung)
Tag von Potsdam – Machtergreifung der Nationalsozialisten in Deutschland
 „Herr Dogsborough, ich fühle /
In dieser Stunde tief, wie sehr ich ihnen / Zu Dank verpflichtet bin. Die Vorsehung / Hat
uns vereinigt. Daß ein Mann wie Sie / Mich Jüngeren, den einfachen Sohn der Bronx / Zu
seinem Freund, ich darf wohl sagen, Sohn / Erwählte, das wird ich Ihnen nie
vergessen.“ Er fasst Dogsboroughs schlaff herabhängende Hand und schüttelt sie.
Reichstagsbrand (Verhaftung, später Verurteilung, von Marinus van der Lubbe, einem
27.Febr.
1933
Holländer, der im brennenden Gebäude aufgegriffen wird)
wird den Kommunisten zugeschrieben und ist willkommener Anlass zu deren verstärkter
Verfolgung
 Ui: brüllend „´s ist weit gekommen in dieser Stadt. Erst Mord / Dann Brandstiftung!
Ja, jedem, wie mir scheint / geht da ein Licht auf! Jeder ist gemeint!“ (Sz 9 –
„Speicherbrandprozess“)
 Ui: „Der Band war ein Erfolg! Die Läden zahlen.“(Sz 11)
25.Juli 1934 mit Wissen und Billigung der NSDAP-Führung Putschversuch der nationalsozialisten in
Österreich  Ermordung des österreichischen Bundeskanzlers Engelbert Dollfuß, kurz danach
Niederschlagung des Putsches – H. greift nicht ein und stellt Anschluss Österreichs noch
zurück (in „mein Kampf“ aber schon als unabdingbar erklärt); 1936 sogar noch Vertrag mit
Österreichs Bundeskanzler Schuschnigg über Nichteinmischung
2. August
Hindenburg stirbt (Fakten um Testament bis heute nicht endgültig geklärt, 2. Teil, Brief an
+ 5.August
Hitler, nie veröffentlicht = Nährboden für Gerüchte der Testamentfälschung)
1934
Hindenburgs Testament wird veröffentlicht, darin lobt er ausdrücklich die Leistungen Hitlers
und seiner Regierung – bestätigt von seinem Sohn in Rundfunkansprache
 Givola beim Fälschen des Testaments: „Ich empfehl euch herzlich / Arturo Ui für
meinen eigenen Posten.“ (Sz 11)
H. schafft Amt des Reichspräsidenten ab und konzentriert alle Machtbefugnisse auf sich als
„Führer und Reichskanzler“  der Nationalsozialismus ist in Dt. als politische Doktrin
manifestiert; allein der „Führerbefehl“ war maßgeblich
 Ui: „Bei mir heißt es: / Die Pflicht getan, und bis zum Äußersten!“
ab 1933
H. konzentriert sich auf Außen-, Militär- und Rüstungspolitik
Verhaftung und Hinrichtung des SA-Führers Ernst Röhm; lancierten Gerüchten um dessen
1934
Putschpläne, besonders durch Kreise um Göring, Goebbels und Himmler, die Röhms
Einflussbereich eingeschränkt sehen wollten, schenkte Hitler schließlich Glauben
 Ui: „Euer schändlicher Anschlag auf mich ist enthüllt.“ (Sz 12)
Röhm glaubte offenbar bis zuletzt an einen Anschlag g e g e n Hitler
 Roma: „Was mit Arturo? Mord! Ich wusste es! Hunde!“ (Sz 12)
2. Juli 1934 H. erlässt „Gesetz über Maßnahmen der Staatsnotwehr“ und legitimiert so sein Vorgehen
ab 1936
Hs. Politik ist auf militärische Expansion ausgerichtet
 Ui: „Wir sind / Durch mit Chicago. Ich will mehr haben.“ (Sz 11)
ab Februar H. auch formal Oberbefehlshaber der Wehrmacht
 Roma: „Dogsborouhs Testament! / das ist bestellt vom Trust! / Sie wolln den
1938
Anschluß / Von Cicero.“ (Sz 11)
11.März
Österreichs Kanzler weicht Hs. Druck und ernennt Nationalsozialisten Seyß-Inquart zum
1938
Innenminister, Schuschnigg tritt zurück, Innenminister schickt abgesprochenen „Hilferuf“ an
Deutschland
Hs. Truppen marschieren in Wien ein, Bevölkerung stimmt mit 99,6 % Anschluss zu
 Ui: „Wer da nicht für mich ist / Ist gegen mich und wird für diese Haltung / Die Folgen
selbst sich zuzuschreiben haben. / Jetzt könnt ihr wählen!“ (Sz 16)
1.Sept.
Überfall auf Polen  Beginn des Zweiten Weltkrieges
1939
 Ui: „... denn nach Schutz / Schrein nicht nur Cicero und Chicago, sondern /
30. Jan.
1933
21.März
1933
Auch andre Städte...!“
5
Baustein 3
Zur Genese des Stückes
Infokasten
Brecht: „Ui ... ist ein Versuch, der kapitalistischen Welt den Aufstieg Hitlers dadurch zu
erklären, dass er in ein ihr vertrautes Milieu versetzt wurde.“
-
-
-
10.-29. März 1941 Finnland/Helsinki: Für das amerikanische Theater denkt B an ein
Gangsterstück, das „gewisse Vorgänge, die wir alle kennen in die Erinnerung ruft“, und
entwirft den ersten Plan für Der Aufstieg des Arturo Ui“: „Natürlich muß es in großem Stil
geschrieben werden.“  vgl. Prolog: „Und alles im g r o ß e n S t i l e aufzuführen.“
/“Was wir hier zeigen, weiß der ganze Kontinent:/ Es ist das Gangsterstück, das jeder kennt!“
Am 29. März 1941 schließt B. eine erste Niederschrift des neuen Stückes ab, und zwar unter
dem Titel Der aufhaltsame Aufstieg des Arturo Ui. Später verwendet B. diesen Titel ebenso
wie Der Aufstieg des Arturo Ui.
Bei dem in der ersten Fassung vorliegenden Stück kam es B. darauf an, hinter der
eigentlichen Handlung „immerfort die historischen Vorgänge durchscheinen zu lassen“, ohne
dabei die „beiden Handlungen“ (Gangster- und Nazihandlung)“ zu sehr zu verknüpfen. „Das
war besonders schwer“, sagt B. in seinem Arbeitsjournal. (die folgende Kleinschreibung
entspricht Brecht)
Arbeitsjournal 28.03.1941:
... nur noch die letzte szene fehlt. Die Wirkung der Doppelverfremdung – gangstermilieu und
großer stil – kann schwer vorausgesagt werden. ... steffs (Sohn Stefan)kenntnisse über die
verwebungen der gangsterwelt mit der verwaltung kommen mir zustatten.
- Deshalb die Idee, „große Tafeln“ über die „Zustände im Vaterland“ anfertigen zu lassen,
von denen er hoffte, dass sie „auch drüben“ Aufsehen erregen müssten.
- In New York (während Probenarbeiten zur Inszenierung seines Stückes „Die Mutter“ sammelt
Brecht Material über die Auseinandersetzung von rivalisierenden Gangsterbanden und deren
Territorialkämpfe zur Zeit der Prohibition vgl.  „prohibition act“ (Verbot von Alkohol)
- Auseinandersetzungen eskalierten zu brutalen Monopolkämpfen, die von korrupter Polizei und
erpressten/erpressbaren Politikern gedeckt wurden
- Die Rücksichtslosigkeit der großen Gangsterbosse führte zu deren zweifelhafter Berühmtheit
(vgl. Al Capone), denn in der Öffentlichkeit stellten sie sich als biedere Geschäftsleute und
bürgerliche Ehrenmänner dar und hatten sowohl wirtschaftlichen als auch gesellschaftlichen
Erfolg.
Arbeitsjournal 1.4. 1941
Im Ui kam es darauf an, einerseits immerfort die historischen vorgänge durchscheinen zu lassen,
andererseits die „verhüllung“ (die eine enthüllung ist) mit eigenleben auszustatten, dh, sie muß –
theoretisch genommen – auch ohne ihre anzüglichkeit wirken. unter anderem wäre eine zu enge
Verknüpfung der beiden handlungen (GANGSTER- und NAZIHANDLUNG), also eine form, bei
der die gangsterhandlung nur eine symbolisierung der andern handlung wäre, schon dadurch
unerträglich, weil man dann unaufhörlich nach der „bedeutung“ dieses oder jenes zuges suchen
würde, bei jeder figur nach dem urbild forschen würde.
- Figur des Ui verweist auf Prosasatire Brechts  „Die Geschichte des Giacomo Ui“
- Satire = im Gegensatz zum Stück „Der aufhaltsame Aufstieg des Arturo Ui“ ganz auf Hitlers
Aufstieg konzentriert
- erzählt wird retrospektiv (nach seinem Tod) die Geschichte des Ui aus Padua; im Mittelpunkt
steht Uis Aufstieg vom Dachdecker (!!!) zum Parteiführer, „der eine Zeitlang die Welt in Atem
gehalten hat“ – die Geschichte eines „großen Mannes“, dessen Größe aber von den
Kleinbürgern, dem „Kroppzeug“, verkannt wird. Der „große Krieg“, in dessen „unglücklichem
Verlauf die Halbinsel (Europa) so sehr verwüstet worden ist, dass auch die Urkunden zum
großen Teil verloren gingen, die seine Größe bezeugten“, hat inzwischen stattgefunden.
- einige Motive, wie z. B. Schauspielausbildung, werden für Stück übernommen
- Der „Arturo Ui bleibt zunächst unaufgeführt, offensichtlich war Brecht lange unzufrieden mit
seiner Arbeit, 1953 werden unter Mitarbeit von Schülern noch einmal Veränderungen
vorgenommen.
- November 1958 (nach Brechts Tod) Uraufführung in Stuttgart mit Wolfgang Kieling in der
Hauptrolle; Erstaufführung am BE im März 1959 – Hauptrolle Eckehard Schall (?)
6
Baustein 4
Zum Personal und zur Struktur des Stückes
 Untersuchen Sie das Personenregister des Stückes und versuchen Sie, die Figuren nach
bestimmten Prinzipien zu ordnen. Unterziehen Sie dabei auch die Namensgebung einer
genaueren (semantischen und klanglichen) Betrachtung. Ziehen Sie Schlussfolgerungen.
Mögliche Lösung:
Die Gangster mit politischen Ambitionen und Zielstellungen
Arturo Ui – der Gangsterchef (evtl.: Dominanz der gleichen Vokale vgl. Adolf Hitler)
Ernesto Roma – Befehlshaber der Kampftruppen (klangliche Ähnlichkeit mit Ernst Röhm, SA Führer)
Emanuele Giri – (klangliche Ähnlichkeit mit Hermann Göring, Reichsmarschall, jovial, schallendes Lachen,
das in der anderen Sekunde in höchste Gefährlichkeit umschlagen konnte; Name wirkt „gedrungen“)
Guiseppe Givola – Blumenhändler (klanglich erinnernd an Joseph Goebbels, Reichsminister für
Volksaufklärung und Propaganda, wie Givola hinkend)
Inna - Vertauter von Roma
Dockdaisy – Gangsterbraut („Hafengänseblume“ – eine dumme Gans, die sich verkauft??)
darüber hinaus: Leibwächter Uis
 alle männlichen Gangsterfiguren haben italienisch klingende Namen  Reminiszenz an Mafia
Die Bürger
Geschäftsleute
des
Karfioltrusts
Flake (etwa:
dünne Schicht,
Fetzen, Splitter)
Caruther
Butcher
(Fleischer,
Metzger)
Mulberry
(Maulbeerbaum)
Clark
Sheet –
Reedereibesitzer,
später ermordet
(dünnes Blatt
Papier, Leintuch)
Bowl –
ehemaliger
Kassierer bei
Sheet,
Überläufer,
später ermordet
(Napf, Schüssel,
aber auch bowler
 bez. für Hut)
Geschäftsleute
aus Chicago
Bürger Chicagos
Das Gericht im
Presse
Speicherbrandprozess
Geschäftsleute
aus Cicero
(Stadtteil
Chicagos)
Ted
Ignatius Dullfeet,
Ragg,
besitzt Zeitung für
Reporter Gemüsehandel,
des Star wird später
weitere
ermordet
Reporter (Österreichs
Bundeskanzler
Engelbert Dollfuß;
dull =schwerfällig,
dumm; feet =
Füße)
Betty Dullfeet,
seine Frau
weitere
Grünzeughändler
der alte
Goodwill, Vertreter der Der Angeklagte Fish
Dogsborough, Stadtverwaltung
(mehrfach taucht das
(guter Wille)
Wort fishig auf,
der sich vom
Gaffles, Vertreter der
Slangwort für eine
Trust
Sache ist faul, )
korrumpieren
Stadtverwaltung
O´Casey
Der Ankläger
lässt –
Hindenburg
Untersuchungsbeamter (Parallelen zu Dimitroff)
Der Verteidiger
für die Kaianlagen
(dog =Hund
Der Arzt
Hindin;
borough
Stadtteil)
der junge
Dogsborough,
der
papageienhaft
dem Vater
nachplappert)
Hook,
Gemüsehändler,
+ Ansager 
wird terrorisiert
Prolog
und erpresst
dann selbst
+ Frau  Epilog
(Hook = Haken,
erinnert an
Seeräuberfigur)
 alle Geschäftsleute und Figuren mit bürgerlichen Berufen tragen englisch klingende Namen
 Verquickung von Politik/politischem Verbrechertum mit korrupten, erpressbaren Vertretern der Wirtschaft
 Integrität hat Seltenheitswert (Verteidiger im Gericht)
 Infokasten - Struktur
Das Stück gliedert sich in eine Abfolge von 17 Bildern oder Szenen, eingerahmt von einem Prolog und
einem Epilog nach klassischem Vorbild. Ausschnitthaft und blitzlichtartig werden – ähnlich wie in
Tableaus, Stationen von Uis Aufstieg gezeigt. Charakteristisch sind schnelle Ortswechsel, Zeitsprünge
und ein großes Personal an Figuren. Das Stück gewinnt dadurch an Tempo, die Konzentration des
Zuschauers ist gefordert. Brecht schrieb in seinem Arbeitsjournal, erhabe „dem epischen
geschwindigkeit verleihen“ wollen. Die sprunghafte Konstruktion der Handlung wird durch die
Zeittafeln am Ende der meisten Szenen konturiert und erhält zeitgeschichtliche Chronologie. Das
Hutmotiv (vgl. z. B. Szenen 7 Ui: „Was für Hüte?“ Givola: „Hüte / Von Leuten, die er abgeschossen
hat.“; ) verweist auf die verbrecherische Skrupellosigkeit der Gangster, die vor Morden nicht
7
zurückschrecken (vgl. eventuell mit dem Motiv der gelben Schuhe in Dürrenmatts Stück „Der Besuch
der alten Dame“).
Brechts Stück folgt in wesentlichen Aspekten dem Prinzip des offenen Dramas.
Die 7. Szene (Schauspielszene) erhält eine zentrale Stellung, denn die Szenen 1-6 zeigen Uis Weg
an die Macht, die Szenen 8-17 zeigen ihn beim Ge- und Missbrauch dieser Macht (vgl. Gabriele
Lietke). Ebendort wird von der Autorin auch eine mögliche Gliederung in 5 Abschnitte vorgeschlagen.
1
2
3
4
5
Historische Bezüge zwischen 1929-1938
Gliederung des Stückes
Hitlers Strategie der „legalen“ Revolution, nach Szenen 1-3
Ui in Wartestellung (indirekte Exposition)
Scheitern des Putschversuches on 1923
von Ui ist fast nur indirekt die Rede, er ist noch
nicht Akteur der Handlung, bleibt im
Hintergrund
Das Bündnis der konservativen Kräfte und der Szenen 4-6
Ui im Geschäft – Ui tritt in Handlung ein,
Wirtschaft mit Hitler
schiebt sich in den Vordergrund
Szenen 7-8
Übernahme der Führung durch Hitler,
Ui übernimmt die Führung
Ausschalten der Opposition
Szenen 9-12
Abschaffung demokratischer Freiheiten und
Uis „Geschäftsgebaren
Ausschaltung innerparteilicher Gegner
Szenen 13-17
Festigung der Macht durch imperialistische
Expansion (Wahlen, Einmarsch in Österreich) Uis expansive Bestrebungen
 Stellen Sie in einem sinnvollen Schaubild die szenische Struktur des Stückes dar.
 Tragen Sie in die leeren Felder des Schaubildes jeweils eine prägnante Aussage ein,
begründen Sie Ihre Wahl.
Mögliche Lösungen:
Szene 1:
Szene 2:
Szene 3:
Szene 4:
Szene 5:
Szene 6:
Szene 7:
Szene 8:
Szene 9:
Szene 10:
Szene 11:
Szene 12:
Szene 13:
Szene 14:
Szene 15:
Szene 16:
Szene 17:
„Wer an Gott / Längst nicht mehr glaubt, glaubt noch an Dogsborough.“
„Das Geld ist teuer jetzt.“
„Euer Antrag stinkend wie ein fauler Fisch.“ – „Mein Vater nimmt’s.“
„Hab ich den Richter nicht in meiner Tasche / Indem er was von mir in seiner hat / Bin ich
ganz rechtlos.“
„Wir sind in eine Fall gegangen, Sohn.“
„Sheets Selbstmord ist die Folge von Sheets Verbrechen.“
„Selbstredend ist’ für die kleinen Leute.“
„Herr Dogsborough, ich fühle / In dieser Stunde tief, wie sehr ich Ihnen / Zu Dank
verpflichtet bin.“
„Der Gerichtshof stellt fest, dass er von keiner Seite irgendeinem Druck ausgesetzt wurde
und in völliger Freiheit amtiert.“
„So habe ich, der ehrliche Dogsborough / In alles eingewilligt...“
„Ich empfehl euch herzlich / Arturo Ui für meinen eigenen Posten.“
„Macht ihn fertig.“ „Euer schändlicher Anschlag auf mich ist enthüllt.“
„Mir mißfällt der Mann.“
„Gott schütz uns vor dem Schützer!“ (Betty)
„Weg, blutige Schatten! Habt Erbarmen! Weg!“
„Wer da nicht für mich ist /Ist gegen mich...“
„...Und alle dulden’s!“
8
Wer an Gott längst nicht mehr glaubt,
glaubt noch an Dogsborough
Szene 1 Chicago City - Führer des Karfioltrusts
diskutieren Lösung zur Absatzkrise, wollen sich an
Dogsborough wenden
Szene 2 Börse von Chicago ausweglose
wirtschaftliche Situation  Sheets Reederei soll an
Karfioltrust verkauft werden
Szene 3 Hinterzimmer in Dogsboroughs Gasthof
Man bietet Dogs.die Aktienmehrheit von Sheets
Reederei zu einem Vorzugspreis an, er akzeptiert!
Szene 4 Wettbüro der 122. Straße
Ui tritt in Handlung ein, lehnt illegale Wege
(Schutzgelderpressung  rackets) zunächst ab...
Szene 5 Dogsboroughs Landhaus
Dogs. sieht in Befürwortung der Anleihe +Annahme
des Landgutes Fehler - Ui hat ihn in der Hand
Szene 6 Stadthaus von Chicago
Untersuchung des Dockshilfeskandals- Intrige
funktioniert, Zeugen ausgeschaltet
Szene 7 Suite im Mammoth-Hotel /Schauspielszene
Ui bekommt von heruntergekommenem Schauspieler Unterricht, im
Zentrum berühmte Rede des Antonius aus Shakespeares „Julius
Cäsar“
Szene 8 Büro des Karfioltrusts – Ui tritt als Vertrauter des
„ehrlichen“ Dogsborough auf; unterbreitet „Schutzangebote“,
sein Auftritt wird inszeniert  Speicherbrand
Szene 9 Gericht in Chicago – Speicherbrandprozess, die
zunehmende Verquickung von Gerichtsbarkeit und neuen
Machthabern wird gezeigt, Verurteilung von Fish
Szene 10 Dogsboroughs Landhaus – Dogs., alt und
gebrochen, verfasst Testament, bekennt in allem seine
Mitschuld, unternimmt Erklärungsversuche
Szene 11 Mammoth-Hotel, Suite des Ui – Givola arbeitet
an Fälschung von Dogs.’ Testament, interne Machtkämpfe
werden deutlich, Expansionspläne Uis (Cicero)
Szene 12 Garage – Roma und seine Anhänger werden
liquidiert – Vorwand: sie hätten Anschlag auf Ui geplant
Szene 13 Givolas Blumenladen – Ui bemüht sich um
Vertrauen der Dullfeets, Schmeicheleien und scheinbare
Vertraulichkeit lassen Uis Absichten erkennen Plan: Tod Df.
Szene 14 Mausoleum von Cicero – Uis Rede zu Dullfeet’s
Beerdigung,Werbung um Betty scheitert zunächst
Szene 15 Mammoth-Hotel, Uis Schlafzimmer – Geist des
ermordeten Roma erscheint, Vorwurf des Verrats
Szene 16 Chicago City – Händler aus Chicago u. Cicero
beklagen Uis Willkür; Auftritt Ui  Kundgebung, „Auftrag“,
Cicero unter Schutz zu stellen eindeutige Drohungen Uis
Szene 17 Cicero – Ui wird von sterbender Frau des Terrors
und Mordes angeklagt
9
Baustein 5 Die Doppelverfremdung im Stück
Arbeitsjournal 1.4. 1941
Im Ui kam es darauf an, einerseits immerfort die historischen vorgänge durchscheinen zu lassen,
andererseits die „verhüllung“ (die eine enthüllung ist) mit eigenleben auszustatten, dh, sie muß –
theoretisch genommen – auch ohne ihre anzüglichkeit wirken. unter anderem wäre eine zu enge
Verknüpfung der beiden handlungen (GANGSTER- und NAZIHANDLUNG), also eineform, bei der
die gangsterhandlung nur eine symbolisierung der andern handlung wäre, schon dadurch
unerträglich, weil man dann unaufhörlich nach der „bedeutung“ dieses oder jenes zuges suchen
würde, bei jeder figur nach dem urbild forschen würde.
 Das Stück ist unter drei bezeichnenden Kategorisierungen bekannt, die in der Lit.wiss.
immer wieder fundiert wurden:
Politparabel
Historienfarce
Gangsterhistorie
verweist auf die Form
verweist auf satirische
Absicht
Verweist auf primäre
Verfremdung ins
Gangstermilieu
Verknüpfung von formalen, inhaltlichen und technischen Aspekten strukturiert das Stück
Für die Bezeichnung Parabel oder Politparabel spricht (vgl. GGzD D. Thiele, der
wiederum auf zahlreiche andere Autoren rekurriert)
-
-
Die Parabel wird als geeignetes Mittel der Wahrheitsvermittlung gerechtfertigt.
Als didaktische Form, die episierende und illusionszerstörende Mittel einsetzt, statt
gedichtete Wahrheit hermeneutisch zu verschließen, und die so ihre gesellschaftliche
Botschaft sinnfällig macht, ist sie eine einfache Gattung.
Die Parabel verweist auf außerästhetische Wirklichkeit und kann Theoretisches
vermitteln.
Die Parabel selbst ist Verfremdung und gewissermaßen ein (gesellschaftliches /
soziales) Modell.
Die Parabel gestattet es, das Komplizierte zu entwirren.
Die Parabel ist in der Abstraktion konkret, indem sie das Wesentliche auffällig macht.
Eine solche Sichtweise auf die Parabel geht über reine Formfragen hinaus und stellt
die Parabel in den großen Kontext des „realistischen Schreibens“.
Zur Historienfarce
-
-
Brecht: „Der Kreis ist absichtlich eng gezogen: er beschränkt sich auf die Ebene von
Staat, Industriellen, Junkern und Kleinbürgern. Das Stück will keinen allgemeinen
gründlichen Aufriss der historischen Lage der dreißiger Jahre geben.“
Brecht will durch Ausschnitte Schnittpunkte der historischen Spezifik verdeutlichen.
Die Darstellung des (aufhaltsamen) Aufstiegs von Arturo Ui realisiert sich über die
Verknüpfung von primärer Handlung mit geschichtlicher Konkretion.
Daraus ergibt sich aber auch eine Differenz von Realität und Fiktion. Reale Personen
werden in Kunstfiguren aufgelöst, in dieser Abstraktion liegt die Chance der
Konkretheit politischer Aussagen.
Die verblüffenden Parallelen zwischen A. H. und A. C.
10
 Infokasten
Beziehungen zwischen Arturo Ui und seinen beiden „alter egos“
A. Hitler
A. Ui
A. Capone
geb. 1889
geb. 1899
kommt aus einfachen,
betont beständig seine Herkunft Aufstieg beginnt in der Bronx
kleinbürgerlichen Verhältnissen aus der Bronx
italienisch klingender Name
bricht Schule ab
bricht Schule ab
Österreich  Deutschland
Italien  USA
nimmt Schauspielunterricht
nimmt kurz Sprachunterricht
legt Wert auf Umgangsformen,
(Provinzschauspieler Basil,
will als kultivierter Bürger gelten
Operntenor Paul Devrient)
steigt gern in Hotels ab
Hauptquartier in einer Suite des
Metropolhotels
hat Suite im Mammoth-Hotel
annektiert Österreich
bringt zunächst Chicagoer
Stadtteil Cicero unter Kontrolle
erobert Cicero
bringt engste Vertraute in hohe
Staatspositionen (Göring,
Goebbels)
wird 1924 verhaftet und zu 5
Jahren Festung verurteilt 
vorzeitig entlassen
vgl. Giri, Givola
redet von Ärger mit Polizei (vgl.
Sz 4 / 5)
vgl. Gangster O’Banion
verkürztes Bein
W. H. Thompson, enger
Verbündeter von Capone wird
Bürgermeister von Chicago
1931 wegen Steuerbetrugs zu
elf Jahren Gefängnis verurteilt 
vorzeitig entlassen
nutzen wirtschaftliche Krisen für ihre Zwecke
Weltwirtschaftskrise
Wirtschaftliche Krise des
Karfioltrusts
Krise durch Prohibitionszeit 
Monopol im illegalen
Alkoholhandel
stellen enge Verbindungen zu Militär (Polizei) und Wirtschaft her, nutzen Korrumpierbarkeit und damit
Erpressbarkeit dieser Kräfte aus
1933 Osthilfeskandal
Missbrauch öffentlicher Mittel für
sanierung hoch verschuldeter
Rittergüter , insbesondere für
„ostelbische Junker“ in
Ostpreussen;
Der besitzlose Reichspräsident
erhält zwei Schenkungen, die
ihn zu Gutsbesitzer („Junker“) in
Pommern machen; Gut Neudeck
zum 80. Geburtstag im Jahr
1927und Gut Langenau im Jahr
1933
Dockshilfeskandal
Dogsborough wird die
Aktienmehrheit von Sheets
Reederei zum Vorzugspreis
angeboten, er stimmt zu und
bewilligt die Anleihe
Dogs. nimmt Landgut als
Schenkung
Syndikate strebten politische
Absicherung ihrer Transaktionen
an  enge Verbindung von
verbrechen und Politik
erfreuen sich großer Popularität
schafft Arbeitsplätze (6 Mio
Arbeitslose bei 12,5 Mio
Beschäftigten
schafft Institutionen wie z. B.
KdF, ist für Etablierung von
konservativen Werten
will ein angesehener Bürger sein richtet Armenküche ein
wird 1929 von Jury
amerikanischer Journalisten
neben Einstein und Ghandi als
Mann des Jahrzehnt gekürt!!!
sind skrupellos im Ausschalten von „inneren“ Gegnern
„Röhmputsch“  Hinrichtung
von Röhm (offiziell sterben 85
Menschen, es dürften weit mehr
gewesen sein
Hinrichtung der Hitlerattentäter
Roma und seine Anhänger
werden liquidiert
St. Valentin’s Day-Massaker im
Februar 1929
„handshake murder“ 
O’Banion wird von Capones
Leuten ermordet
Bis in sprachliche und szenische Details hinein verknüpft Brecht über die Figur des Arturo Ui die Biografie Hitlers
mit der des Gangsters Al Capone
11
Baustein 6
Vom Text zur Aufführung
Brechts Ideen zur Ausstattung und Aufführung des Stückes im „g r o ß e n S t i l“:
-
Reminiszenzen an das elisabethanische Historientheater  Vorhänge, Podeste, Spiel vor
gekalkten Rupfenvorhängen, die ochsenblutfarben bespritzt sind
bemalte Prospekte
Orgel-, Trompeten- und Trommeleffekte
reine Travestie vermeiden
das Groteske mit der Atmosphäre des schauerlichen verbinden
übersichtliche Gruppenbilder im Geschmack der alten Historienmalerei
 Untersuchen Sie Brechts Regieanweisungen. Treffen Sie eine Auswahl und stellen Sie dar,
wann Brecht welche Effekte eingesetzt sehen will. Konzentrieren Sie sich z. B. auf Toneffekte
und das Arrangement der Auftritte wichtiger Figuren. Diskutieren Sie, welche
Funktion/Wirkung Brechts Ideen haben könnten.
(z. B. Roma, Givola, Giri und Ui treten immer mit „Gefolge“ bzw. Leibwächtern auf, vgl. Szene 5 –
indirekt – Roma zu Dogsbborough: „Im Flur, mag sein, sind ein paar Jungens, die / Dich
missverstehen könnten.“; vgl. auch Szene 6,Szene 7,Szene 8, Szene 9, Szene 9e, Szene 9, S. 76,
Szene 11 usw. / Toneffekte z. B. Szene 16. Auftreten unter Fanfarenstößen, Orgelspiel in Szene 9:
Szene 9a, 9b, 9d, 9e, 9f); Donner von Maschinengewehren, z. B. nach Prolog, Szene 6;Trommeln und
Fanfarenstöße, Szene 16)
 Brecht möchte, dass am Ende einiger Szenen große „Tafeln“ (Regieanweisung:
Eine Schrift taucht auf) gezeigt werden. Äußern Sie sich zu deren Funktion und
machen Sie Vorschläge für die textliche Gestaltung dieser Tafeln. Entscheiden Sie
sich für kurze und prägnante Texte.
12
Baustein 7
Die Wirkung des „g r o ß e n S t i l s“ als Teil der Doppelverfremdung und als
Historisierung der eigenen literarischen Formen – Intertextualität in Brechts Stücken
Die Verwendung klassischer Vorbilder und Stilelemente in Brechts Stücken begründet
Brecht wie folgt:  Er wolle nicht nur Stoffe und Vorgänge ausstellen, „sondern auch die
Art ihrer literarisch-theatralischen Bewältigung“. Es ging ihm um das Transparentmachen des
eigenen Handwerks – ein Hauptmerkmal des epischen Theaters  verfremdete Darstellung
Nachweisbare literarische sprachliche oder inhaltliche Anlehnungen im Stück –
Die Ausstellung klassischer Formen
- Ui, Szene 14 (Uis Werbeszene um Betty Dullfeet)  Shakespeare: Richard III,
I/2 (Richard, noch als Herzog von Gloster, wirbt nach dem Tod König Heinrich VI. um
Lady Anne) und VI/4 (Richard wirbt um die Tochter Elisabeths, nachdem er alle ihre
Söhne beseitigt hat)= inhaltliche Parallelen; außerdem: direkter Verweis auf Richard
III. im Prolog („Wem fällt da nicht Richard der Dritte ein?“)
- Ui, Szene 15 (Erscheinen von Romas Geist)  Shakespeare: Richard III, V/3;
Julius Cäsar V/3 = inhaltliche Parallelen
- Ui, Szene 13 (Givola/Dullfeet – Ui/ Betty)  Faust I, Marthes Garten
(Mephisto/Marthe – Faust Gretchen)= sprachliche, strukturelle Parallelen: z. B. Betty:
„Herr Ui, wie halten sie’s mit der Religion?“; Ui: „Mir missfällt der Mann.“
 Spielen Sie einen Teil von Szene 14 (vier Spieler, die vorher den entsprechenden
Fausttext auch studiert haben); und zwar ab: GIVOLA; Dies, teurer Dullfeet. sind
japanische Eichen bis zum Schluss.
- Ui, Szene 4 ( Text: Gangster Ragg; „Dem Gangster flicht die Nachwelt keine Kränze!/
Die wankelmütige Menge wendet sich zu neuen Helden.“)  Schiller, Prolog zur
Wallensteintrilogie („Schwer ist d i e Kunst, vergänglich ist ihr Preis, /dem Mimen flicht
die Nachwelt keine Kränze, / drum muß er geizen mit der Gegenwart / “) + Schiller:
Maria Stuart, (V 3260 f., Elisabeth: „Die wankelmütige Menge, / Die jeder Wind
herumtreibt“)
Darüber hinaus:
-
Referenzen auf die Bibel, z. B. Szene 2, Sheet: „Ich lief vom Pontius zum Pilatus...“,
Szene 16, zweiter Ciceroer: „Wir waschen unsere Hände / In Unschuld.“)
-
Referenzen auf historische Materialien, z. B. Szene 5, Ui mit Würde „Nun, Herr
Dogsborough / Ich bin erst vierzig. Sie sind achtzig, also / Wird ich mit Gottes Hilf Sie
überleben!“ vgl. Hitlers Rede vom 7.9. 1932 im Müchener Zirkus Krone: „Der
reichspräsident ist 85 Jahre alt. Ich fühle mich ganz gesund, das kann ich den Herren
versichern. Ich kann Ihnen weiter sagen, dass meine Zähigkeit und Beharrlichkeit
durch nichts erschüttert wird. Und bis ich einmal 85 Jahre alt bin, lebt Hindenburg
schon längst nicht mehr.“
-
Brechts Kriegsfibel – Sammlung von Dokumentationsmaterial (Fotos, Artikel aus
Zeitschriften, versehen mit vierzeiligen Kommentaren) entstanden im Exil Epilog: „Der
Schoß ist fruchtbar noch, aus dem das kroch.“
-
Verwendung von geflügelten Worten/Sprichwörtern, auch in leichter Abwandlung - z.
B. Szene 8, Ui: „Umsonst ist nur der Tod.“; Szene 12, Roma: „Vorsicht ist besser als
Nachsehn.“); Szene 7, Ui: „Dem Ochsen, der da drischt / Verbind ich nicht das Maul.“
Szene 5, Ui: „Die Macht hat stets, wer zahlt.“; Szene 6, O’Casey: „ Unerwartet /
Kommt oft erwartet“; Szene 1, Butcher und Mulberry: „ Wer noch nicht tot ist, lebt
noch!“ – „Nicht tot sein, heißt nicht: leben“
13
Shakespeares Julius Cäsar (III/2) und Brechts Arturo Ui (Szene 7) – ein Vergleich
Shakespeares Julius Cäsar (III/2)
1
5
10
15
20
25
30
35
Überetzung Schlegel /Tieck
ANTONIUS: Mitbürger! Freunde! Römer!
hört mich an! Begraben will ich Cäsarn, nicht ihn
preisen.
Was Menschen Übles tun, das überlebt sie,
Das Gute wird mit ihnen oft begraben.
So sei es auch mit Cäsarn! Der edle Brutus
Hat euch gesagt, dass er voll Herrschsucht war;
Und war er das, so war’s ein schwer Vergehen,
Und schwer hat Cäsar auch dafür gebüßt.
Hier, mit des Brutus Willen und der andern
(Denn Brutus ist ein ehrenwerter Mann,
Das sind sie alle, alle ehrenwert),
Komm’ ich, bei Cäsars Leichenzug zu reden.
Er war mein Freund, war mir gerecht und treu;
Doch Brutus sagt, daß er voll Herrschsucht war;
Und Brutus ist ein ehrenwerter Mann.
Er brachte viel Gefangne heim nach Rom,
Wofür das Lösegeld den Schatz gefüllt.
Sah das der Herrschsucht wohl am Cäsar gleich?
Wenn Arme zu ihm schrien, so weinte Cäsar;
Die Herrschsucht sollt aus härterm Stoff bestehn.
Doch Brutus sagt, daß er voll Herrschsucht war,
Und Brutus ist ein ehrenwerter Mann.
Ihr alle saht, wie am Lupercusfest1
Ich dreimal ihm die Königskrone bot,
Die dreimal er geweigert. War das Herrschsucht?
Doch Brutus sagt, daß er voll Herrschsucht war,
Und ist gewiß ein ehrenwerter Mann.
Ich will, was Brutus sprach, nicht widerlegen;
Ich spreche hier von dem nur, was ich weiß.
Ihr liebtet all ihn einst nicht ohne Grund;
Was für ein Grund wehrt euch, um ihn zu trauern?
O Urteil, du entflohst zu blödem Vieh,
der Mensch ward unvernünftig! – Habt Geduld!
Mein Herz ist in dem Sarge hier bei Cäsar,
Und ich muß schweigen, bis es mir zurückkommt.
Brechts Arturo Ui (Szene 7)
DER SCHAUSPIELER
Mitbürger, Freunde, Römer, euer Ohr!
Cäsar ist tot. Und Cäsar zu begraben
Nicht ihn zu preisen, kam ich her, Mitbürger!
Das Böse, das der Mensch tut, überlebt ihn;
Das Gute wird mit ihm zumeist verscharrt.
Sei’s so mit Cäsar! Der wohledle Brutus
Hat euch versichert: Cäsar war tyrannisch.
Wenn er das wär, so wär’s ein schwerer Fehler
Und schwer hätt Cäsar ihn nunmehr bezahlt.
Ui allein weiter
Ich stehe hier mit Brutus’ Billigung
(Denn Brutus ist ein ehrenwerter Mann
Das sind sie alle, ehrenwerte Männer)
An seinem Leichnam nun zu euch zu reden.
Er war mein Freund, gerecht und treu zu mir
Doch Brutus sagt uns, Cäsar war tyrannisch
Und Brutus ist ein ehrenwerter Mann.
Er brachte viel Gefangne heim nach Rom:
Roms Kassen füllten sich mit Lösegeldern.
Vielleicht war das von Cäsar schon tyrannisch?
Freilich, hätt das der arme Mann in Rom
Von ihm behauptet – Cäsar hätt geweint.
Tyrannen sind aus härterem Stoff? Vielleicht!
Doch Brutus sagt uns, Cäsar war tyrannisch
Und Brutus ist ein ehrenwerter Mann.
Ihr alle saht, wie bei den Luperkalien
Ich dreimal ihm die königliche Kron’ bot.
Er wies sie dreimal ab. War das tyrannisch
Und ist gewiß ein ehrenwerter Mann.
Ich rede nicht, Brutus zu widerlegen
Doch steh ich hier zu sagen, was ich weiß.
Ihr alle liebtet ihn einmal! – nicht grundlos!
Was für ein Grund hält euch zurück zu trauern?
1 Luperkalien = altrömisches fest, ursprünglich zu Ehren
des Hirtengottes Faun,
später Reinigungs- und
Fruchtbarkeitsfeier
Zu Shakespeares Stück:
Cäsars Stellung in Rom ist umstritten. Das Volk bejubelt ihn, ab die Volkstribunen hetzen gegen ihn. Cassius
sammelt die Feinde Cäsars um sich. Cäsar lehnt die Königskrone ab, die Marc Anton ihm vor allem Volk anbietet,
und schlägt die Warnungen eines Wahrsagers (vgl. Iden des März)in den Wind. Indes wächst die Zahl der
Verschwörer unter Cassius, zu ihnen gehört auch der edle Brutus. Beide sollen fallen: Cäsar und Antonius.
Letzteren will Brutus aber verschont wissen, denn die Verschwörer wollen vor dem Volk nicht als Mörder, sondern
als Reiniger dastehen. Marc Anton erscheint unmittelbar nach der Tat vor den Verschworenen und versteht es,
mit diplomatischer Redekunst, seinen Schmerz um Cäsars Tod zum Ausdruck zu bringen, ohne die Mörder
Cäsars dabei zu verletzen...
 Aufgabe:
Vergleichen Sie den Wortlaut der beiden Reden. Finden Sie heraus, welche sprachlichen und
inhaltlichen Änderungen Brecht vorgenommen hat und welche Wirkung sie erzielen?
(Herrschsucht  Tyrannei; indirekte Rede  direkte Rede, Auflösung von Hypotaxen in Parataxen; Begründung
für Cäsars Weinen)
14
Baustein 8
Das Spiel im Spiel
Die Schauspielszene (Szene 7) – eine Schlüsselszene - Von der Schwierigkeit, einen
Mann wie Hitler zur Bühnenfigur zu machen
(Vgl. auch Umkehrung der entsprechenden Hamletszene, wo Hamlet den Schauspielern für seine
„Mausefalle“ genaue Anweisungen für Bewegungen, Artikulation etc)
Brecht in einem Gespräch mit Lion Feuchtwanger:
„Man bekämpft Hitler nicht, wenn man ihn als besonders unfähig, als Auswuchs,
Perversität, Humbug, speziell pathologischen Fall hinstellt und ihm die andern
bürgerlichen Politiker als Muster, unerreichte Muster, vorhält.“
Brecht in einem Gespräch mit Adorno im März 1942 über die Spezifik des Theaters
gegenüber dem Film:
„Die Wirkung einer Kunstdarbietung auf die Zuschauer ist nicht unabhängig von der
Wirkung der Zuschauer auf die Künstler. Das Publikum im Theater reguliert die
Aufführung.“
Dieter Thiele in: Grundlagen und Gedanken zu Brechts Stück
Das Verbrechen selbst löst häufig Bewunderung aus.
So wenig das Misslingen seiner Unternehmungen Hitler zu einem Dummkopf stempelt, so
wenig stempelt ihn der Umfang dieser Unternehmungen zu einem großen Mann.
Herbert Böhme
Der Führer v 1934
Eine Trommel geht in Deutschland um,
Und der sie schlägt, der führt,
Und die ihm folgen, folgen stumm,
Sie sind von ihm gekürt.
Sie schwören ihm den Fahnenschwur,
Gefolgschaft und Gericht,
Er wirbelt ihres Schicksals Spur
Mit ehernem Gesicht.
Er schreitet hart der Sonne zu
Mit angespannter Kraft.
Seine Trommel, Deutschland, das bist du“
Volk, werde Leidenschaft.
Fundort: Texte und Methoden 2, Cornelsen 1995
15
 Untersuchen Sie, wie Brecht seine Hauptfigur den Schauspielunterricht motivieren
lässt. Stellen Sie Fotomaterial oder Filmausschnitte zusammen, um zu demonstrieren,
dass Brecht die Haltungen, Bewegungen und Gesten Hitlers genau studiert hat.
(Z. B. Ui: Wenn ich stehe, wünsche ich, dass man nicht /auf zwei Leute hinter mir, sondern auf mich
schaut.“; Selbstredend / ist’s für die kleinen Leute.“ „Nur kommt’s nicht darauf an, was der Professor
denkt / Der oder jener Überschlaue, sondern / Wie sich der kleine Mann halt seinen Herrn / Vorstellt.
Basta.“ „Was heißt unnatürlich? Kein Mensch ist heut natürlich. / Wenn ich gehe, wünsche ich, daß es
bemerkt wird, daß ich gehe.“
Szene 8: Regieanweisung: Ui reicht Dockdaisy (tritt als Witwe Bowl auf) die Hand und fasst dem Kind
unter das Kinn; Ui erhält Unterricht im Gehen, Stehen, Sitzen und Reden – für die ersten drei
Elemente sollte sich Demonstrationsmaterial beschaffen lassen...
Gehen: zurückgelegter Kopf; Fuß berührt Boden zuerst mit Fußspitze; Arme über Geschlechtsteil
zusammengefaltet
Sitzen: nicht angelehnt, Hände auf Oberschenkel – parallel mit dem Bauch, Ellenbogen stehen vom
Körper ab
Stehen: Arme über Brust verschränkt, aber so, dass die Handrücken, auf Oberarmen abgestützt,
sichtbar bleiben.  Hitlergruß wird daraus entwickelt)
 Uis Auftreten wird nicht als Kunst wahrgenommen, sondern als Verstellung
 Uis Handlungen sind streng zielorientiert
 es geht nicht um Inhalte, sondern um Formen
 Ui will nicht zeigen, wer er ist, sondern als was er erscheinen will
 Brechts Kunst dient dem Aufdecken gesellschaftlicher Wahrheiten – Uis „Kunst“ dient
deren Verschleierung
 Wechsel von Prosa und Versifizierung (Blankvers, reimloses fünfhebiges jambisches
Versmaß) in der Schauspielszene erinnert an Clownsszenen im elisabethanischen
Theater
 die rhetorische Musterszene (Antonius auf dem Forum) verweist ironisch auf später
praktizierte demagogische Rhetorik Uis (Hitlers) und das mimische und gestische
Repertoire Hitlers
16
Baustein 9
„Der große Stil“ und das Versetzen der Handlung ins Gangstermilieu als Elemente der
„Doppelverfremdung“
Die Rhetorik Uis – zwischen Pathos und Jargon
 eine Vermischung der Genera decendi
„Der große Stil denunziert und erhöht zugleich. Zwischen der kruden Wirklichkeit und ihrer
poetischen Präsentation wird eine andauernde Spannung hergestellt, deren Wirkungen mal
komisch, mal grauslich sind, meist aber beides zugleich. Die Figuren, denen diese Sprache
in den Mund gelegt ist, erscheinen so als Gestalten aus einem historischen Panoptikum: Sie
machen lachen, ihre Gefährlichkeit ist insofern gebannt, als keine Einladung zur Einfühlung,
also zur Imitation, letztlich zur Nachfolge ausgesprochen ist – aber diese Gefährlichkeit ist
nicht weggeleugnet, die Gewalt des großen Stils bleibt hinter der Distanzierung erhalten. Das
Warnbild ist weggerückt, aber nicht weggetäuscht.“ (vgl. GGzD D. Thiele, zitiert nach
Rischbieter)
 Die Diskrepanz von Form und Inhalt zielt auf das Erkennen von Zerfall von Form und
Inhalt in der faschistischen Propaganda. (Givola: „Wir sprechen durch die Blume.“ Szene 13)
 Verdeutlicht wird außerdem die Vereinnahmung der deutschen Klassiker durch
faschistische Kulturpolitik. Nicht die Klassik wird kritisiert, sondern ihre Umfunktionierung für
einen hohlen Zweck.
 Der hohe Stil des klassischen Musters ist in Wahrheit verbrämender Ausdruck der
(niederen) Verbrecherhandlung.
 ästhetischer und intellektueller Genuss an der Parodie kann nur durch Kenntnis des
Parodierten entstehen!!! Brechts Adressat ist der bürgerliche Zuschauer
 Untersuchen Sie die großen Reden (Vorschlag: Szenen 8, 11 und 16) und stellen
Sie exemplarisch Grundzüge der Rhetorik heraus, die Brecht seiner Hauptfigur
zugewiesen hat.
(Aufgabe für zwei Schüler, die Reden sollten in Teilen auch vorgetragen werden)
 Infokasten
Die Genera dicendi (lateinische Rhetorik)
genus grande = hoher Stil
genus mediocre = mittlerer Stil
genus humile = niederer Stil
Grundzüge faschistischer Rhetorik, z. B.
-
Inszenierung (Choreografie) von Redeauftritten  Leibgarden, Bewacher, ausgewähltes
Publikum, Fackeln, Trommeln, Fahnen, Mikrofone, Podeste, Rituale
große, kalkulierte Gesten
gewollte Theatralik des Auftretens
Vermischung von Stilebenen
Nominalstil, asyndetische Blockbildung
Benutzung von Schlagwörtern
Dominanz von Parataxen
Propagandistische Überformung: stereotype, formelhafte Wiederholungen, Steigerungen
(Superlative), Hyperbeln
Dominanz von Imperativen, beschwörender Gestus
Begriffe aus dem mystischen/mystifizierenden Bereiche, wie z. B. Glaube
Diskreditierung Andersdenkender
17
Baustein 10
Der Speicherbrandprozess (Szene 9) – eine Schlüsselszene
 Untersuchen Sie, wie Brecht die Verwirklichung von Uis Aussage aus der 4. Szene
„Hab ich den Richter nicht in meiner Tasche / Indem er was von mir hat/ Bin ich ganz
rechtlos“ durch die Gestaltung des „Speicherbrandprozesses“ realisiert.
-
-
der Szene kommt insbesondere entlarvende Funktion zu
der Reichstagsbrandprozess – geplant als Schauprozess vor Leipziger Reichsgericht
(Hitler nutzt Brand des Reichstages, um die scharfe Verfolgung der politischen
Opposition zu legitimieren, und die Abschaffung der parlamentarischen Demokratie
zu forcieren; Göring terrorisiert das Reichsgericht wegen Verdacht, der Brand sei von
Nationalsozialisten selbstgelegt worden) wird zur farcenhaften und grotesken
Inszenierung überformt
der Verteidiger erinnert an Dimitroff, der als mutiger Widersacher Görings auftrat
Infokasten
Brecht nimmt eine Rollenumverteilung vor: Angeklagte waren: Marinus van der Lubbe
und seine „Genossen“, Ernst Torgler = ehemaliger Vorsitzender der KPD-Fraktion im
Reichstag, der illegal in DT lebende bulgarische Kommunist Georgi Dimitroff, späterer
bulgarischer Regierungschef, Blagoj Popoff und Vasil Taneff. Trotz bestellter Zeugen und
gefälschter Beweise und Folter der Angeklagten konnte eine Mittäterschaft der
Kommunisten nicht nachgewiesen werden. Der „Schauprozess“ kam einer Blamage
gleich. Verurteilt und hingerichtet wurde nur van der Lubbe (10. Januar 1934).
Ein überlieferter Kommentar Hitlers zum Prozess: „Diese alten Männer werden bald
unsere Sprache sprechen. Sie sind längst alle pensionsreif, und dann setzen wir unsere
eigenen Leute hinein Bsp. Für asyndetische Blockung der Syntax Aber solange der Alte
Hindenburg noch lebt lässt sich nichts machen!“
Genutzte Quellen:
-
-
Werner Hecht: Brecht Chronik 1898-1956, Verlag Suhrkamp 1997
Interpretationshilfe Deutsch: B. Brecht: Der aufhaltsame Aufstieg des Arturo Ui,
interpretiert von Gabriele Lietdke, Verlag Stark
Grundlagen und Gedanken Drama: Dieter Thiele: B. Brecht, Der aufhaltsame
Aufstieg des Arturo Ui, Verlag Diesterweg
Arbeitstexte für den Unterricht, Theorie des Dramas, Verlag Reclam
Brecht: Über experimentelles Theater; Über eine nichtaristotelische Dramatik; Ist das
epische Theater etwa eine „moralische Anstalt“?
Bertolt Brecht: Der aufhaltsame Aufstieg des Arturo Ui, edition suhrkamp SV
Shakespeare: Julius Cäsar, Dramatische Werke in sechs Bänden, fünfter Band,
Aufbauverlag Berlin und Weimar 1964
Blickfeld Deutsch, Verlag Schöningh
Deutsch in der Oberstufe, Verlag Schöningh
Zur Inszenierung des Stückes am BE unter Heiner Müller (internet)
Marcel Reich-Ranicki: Nachprüfung, Aufsätze über deutsche Schriftsteller von
gestern, Verlag dtv, 1984
Zur Rhetorik des Faschismus. Ritual und Stil
Ferner:
- Goethe: Faust, Teil 1
- Skakespeare: Richard III., Julius Cäsar
- Schiller: Prolog zur Wallenstein-Trilogie
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Zur Verfremdung als Grundprinzip:
Brecht in: Über experimentelles Theater
Anstelle von „Einfühlung“  „Verfremdung“
Verfremden heißt Historisieren, heißt Vorgänge und Personen als historisch,
also als vergänglich darstellen.
Brecht in: Über eine nichtaristotelische Dramatik
Einen Vorgang oder einen Charakter verfremden heißt zunächst einfach, dem
Vorgang oder dem Charakter das Selbstverständliche, Bekannte, Erleuchtende
zu nehmen und über ihn Staunen und Neugierde zu erzeugen.
Brecht in: Ist das epische Theater etwa eine „moralische Anstalt“?
Zweck unserer Untersuchungen war es, Mittel ausfindig zu machen, welche die
betreffenden schwer ertragbaren Zustände beseitigen konnten.
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