Baustein 1 Literarische Gespräche führen Thesen zum Stück (Auswahl): - Es gibt keine großen politischen Verbrecher, sondern nur Verüber großer politischer Verbrechen. - Das Verbrechen selbst löst häufig Bewunderung aus. - So wenig das Misslingen seiner Unternehmungen Hitler zu einem Dummkopf stempelt, so wenig stempelt ihn der Umfang dieser Unternehmungen zu einem großen Mann. ( jeweils gefunden bei Dieter Thiele, GGzD, Diesterweg) - „In jedem einfachen Menschen steckt ein primitiver Sinn für Historie, da wo sie schauerlich ist.“ (Brecht in einem Brief an Hans Tombrock, wo er ihn bittet, „große Tafeln“ für das Stück herzustellen; Briefe Band 1, 1981 1 Baustein 2 Der biografisch-historische Hintergrund B. Brecht (1898-1956) Gedanken über die Dauer des Exils (um 1937) I Schlage keinen Nagel in die Wand Wirf den Rock auf den Stuhl. Warum vorsorgen für vier Tage? Du kehrst morgen zurück. Laß den kleinen Baum ohne Wasser. Wozu noch einen Baum pflanzen? Bevor er so hoch wie eine Stufe ist Gehst du froh weg von hier. Zieh die Mütze ins Gesicht, wenn Leute vorbeigehn! Wozu in einer fremden Grammatik blättern? Die Nachricht, die dich heimruft Ist in bekannter Sprache geschrieben. So wie der Kalk vom Gebälk blättert (Tue nichts dagegen!) Wird der Zaun der Gewalt zermorschen Der an der Grenze aufgerichtet ist Gegen die Gerechtigkeit. II Sieh den Nagel in der Wand, den du eingeschlagen hast: Wann, glaubst du, wirst du zurückkehren? Willst du wissen, was du im Innersten glaubst? Tag um Tag Arbeitest du an der Befreiung Sitzend in der Kammer schreibst du. Willst du wissen, was du von deiner Arbeit hältst? Sieh den kleinen Kastanienbaum im Eck des Hofes Zu dem du die Kanne voll Wasser schlepptest! Über die Bezeichnung Emigranten (1937) Immer fand ich den Namen falsch, den man uns gab: Emigranten. Das heißt doch Auswanderer. Aber wir Wanderten doch nicht aus, nach freiem Entschluss Wählend ein anderes Land. Wanderten wir doch auch nicht Ein in ein Land, dort zu bleiben, womöglich für immer. Sondern wir flohen. Vertriebene sind wir, Verbannte. Und kein Heim, ein Exil soll das Land sein, das und da aufnahm. Unruhig sitzen wir so, möglichst nahe den Grenzen Wartend des Tags der Rückkehr, jede kleinste Veränderung Jenseits der Grenze beobachtend, jeden Ankömmling Eifrig befragend, nichts vergessend und nichts aufgebend Und auch verzeihend nichts, was geschah, nichts verzeihend. Ach, die Stille der Stunde täuscht uns nicht! Wir hören die Schreie Aus ihren Lagern bis hierher. Sind wir doch selber Fast wie Gerüchte von Untaten, die da entkamen Über die Grenze. Jeder von uns Der mit zerrissenen Schuhn durch die Menge geht Zeugt von der Schande, die jetzt unser Land befleckt. Aber keiner von uns Wird hier bleiben. Das letzte Wort Ist noch nicht gesprochen. Fundort: Blickfeld Deutsch, neu, Verlag Schöningh Untersuchen Sie, welches Lebensgefühl in diesen beiden Texten erfasst wird, und stellen Sie exemplarisch dar, wie das gewählte sprachlich-stilistische Instrumentarium zwischen lyrischem Sprecher und Leser vermittelt. 2 Infokasten – biografische Daten „Ich beobachte, dass ich anfange, ein Klassiker zu werden.“ „In mir habt ihr einen, auf den könnt ihr nicht baun.“ „Schreiben Sie, dass ich unbequem war und es auch nach meinem Tod zu bleiben gedenke.“ (Kurz vor seinem Tod diktiert) - - geb. 1898 in Augsburg, stammt aus gutbürgerlichen Verhältnissen galt als durchschnittlicher, recht aufsässiger Schüler („Während meines neunjährigen Eingewecktseins an einem Augsburger Realgymnasium gelang es mir nicht, meine Lehrer wesentlich zu fördern.“) 1917 Notabitur, beginnt wenig ernsthaft in München Studium der Medizin und Naturwissenschaften, bricht Studium ab verfasst erste Theaterkritiken, besucht Literatur- und Theaterseminare 1918 – erstes Drama „Baal“ ,Uraufführung 1923 1922 Kleistpreis für „Trommeln in der Nacht“ 1923 „Im Dickicht der Städte“ Dramaturg an Münchner Kammerspielen 1924 Umzug nach Berlin, Dramaturg am Deutschen Theater unter Max Reinhardt linke politische Ausrichtung prägt sich aus, Auseinandersetzung mit Marx’ Schrift „das Kapital“ („Ich vergesse meine Anschauungen immer wieder, kann mich nicht entschließen, sie auswendig zu lernen.“) Brecht hat zu dieser Zeit bereits drei Kinder: Sohn Frank mit Jugendliebe Paula Banholzer, Tochter Hanne mit Sängerin Marianne Zoff (erste Ehefrau), Sohn Stefan mit Schauspielerin Helene Weigel (zweite Ehefrau), Tochter Barbara (mit Helene Weigel) wird 1930 geboren - Brechts vielfältige Beziehungen zu Frauen (oft unverzichtbare Mitarbeiterinnen)sind bedeutsam für die Entstehung seines Werkes; dazu gehören insbesondere: Elisabeth Hauptmann(ab 1925), Margarete Steffin (1931-1941), Ruth Berlau (ab 1933) - Brecht war auch ein bedeutender Lyriker, verfasste Parabeln und Kurzgeschichten, z. B. Geschichten vom Herrn Keuner (1930)– und begründete mit zahlreichen theoretischen Schriften eine neue dramatische Poetik, das epische Theater; - 1928 größter, auch kommerzieller Erfolg „Die Dreigroschenoper“ unter Zusammenarbeit mit Komponisten Kurt Weill - zwischen 1929 und 1932 Entstehung kommunistisch orientierter Lehrstücke, u.a.: „Der Jasager und der Neinsager“, „Die heilige Johanna der Schlachthöfe“, „Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny“(Oper), „Die Mutter“ (nach Maxim Gorkis Roman) ----------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------- --- 28.02.1933 (einen Tag nach Reichstagsbrand) geht Brecht mit Familie ins Exil Stationen: Dänemark Schweden Finnland (über Leningrad, Moskau, Wladiwostok) USA/Santa Monica/Kalifornien - auf Opernplatz in Berlin werden auch seine Bücher und Schriften den Flammen übergeben - 1935 Aberkennung der deutschen Staatsbürgerschaft - im Exil entstehen u.a.: Szenenfolge „Furcht und Elend des Dritten Reiches“, „Die Gewehre der Frau Carrar“, „Leben des Galilei“, „Mutter Courage und ihre Kinder“, „Herr Puntila und sein Knecht Matti“, „Der aufhaltsame Aufstieg des Arturo Ui“ - 1944 „Der gute Mensch von Sezuan“ und „Der Kaukasische Kreidekreis“ fertiggestellt - Verhör vor dem „Komitee für unamerikanische Tätigkeit/unamerikanisches Verhalten“ unter Senator McCarthy Entschluss zur Rückkehr nach DT - Brecht über seinen Aufenthalt im kalifornischen Exil: „In Kalifornien komme ich mir vor wie Franz von Assisi im Aquarium, Lenin im Prater (oder auf dem Oktoberfest), eine Chrysantheme im Bergwerk oder eine Wurst im Treibhaus.“ (23. März 1942) Brecht in seinem Gedicht „An die Nachgeborenen“ (1939): Gingen wir doch, öfter als die Schuhe die Länder wechselnd Durch die Kriege der Klassen, verzweifelt Wenn da nur Unrecht war und keine Empörung. ----------------------------------------------------------------------------------------------------------------------------- ----- 1947 Rückkehr über Zürich in Ostsektor von Berlin, wo er bis zu seinem Tod blieb, obgleich er die österreichische Staatsbürgerschaft erworben hatte - 1949 Gründung des BE (Theater am Schiffbauerdamm) mit Helene Weigel - 1953 Lyrikband „Buckower Elegien“ – gilt als Ausdruck seines Vermächtnisses - 1956 stirbt Brecht an den Folgen eines Herzinfarktes - 3 Infokasten Historische Daten – der Aufstieg Hitlers zum Diktator – Bezüge zum Stück 20. April 1889 1905 Adolf Hitler in Braunau am Inn als viertes von sechs Kindern geboren, Vater = Zollbeamter H. muss wegen unzureichender Leistungen Realschule verlassen, bleibt ohne Berufsausbildung 1907 Interesse an Kunst führt H. nach Wien, Ablehnung an Kunstakademie wegen mangelnder Begabung Tod der Mutter, H. erhält Waisengeld, Erbe vom Vater und Verkauf einiger Zeichnungen sichern Lebensunterhalt H. bleibt Einzelgänger, ist geltungssüchtig, träumt vom Künstlerleben, politische uns soziale Spannungen in Wien prägen sein Weltbild, insbesondere den Hass auf die Juden, in denen er Gefahr für die „germanische Herrenrasse“ sieht, H. hegt Hassliebe für bürgerliche Anschauungen und Lebensgewohnheiten, ohne sich politisch festzulegen 1913 H. entzieht sich österreichischem Militärdienst durch Übersiedlung nach München, trat dann allerdings bei Kriegsausbruch freiwillig in die bayerische Armee ein 1914-1918 Meldegänger an der Westfront; 1915 Gefreiter; 1918 erhält H. das Eiserne Kreuz 1. Klasse; im Oktober nach Gasvergiftung vorübergehend erblindet; er bleibt bis 1920 Soldat 1919-1920 H. wird in München und Umgebung Vertrauensmann und Agitator einer ReichswehrPropaganda-Abteilung; 1919 wird H. Mitglied der Deutschen Arbeiterpartei ab 1920 Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei (NSDAP) und wird deren Werbeobmann (zu den ersten Mitgliedern zählte auch Reichswehroffizier Ernst Röhm im Februar 1920 verkündet H. das von ihm mitverfasste 25-Punkte-Parteiprogramm 1921 nach innerparteilichen Auseinandersetzungen übernimmt H. den Vorsitz der NSDAP weitreichende Machtbefugnisse; bis Hebst steigt Mitgliederzahl auf 50.000 an, Gründe dafür liegen in Hs. Radikaler Agitation gegen Versailler Vertrag, gegen das „jüdische Großkapital“ und das liberal-demokratische System der Weimarer Republik; H. findet Unterstützung durch rechtsgerichtete Kräfte in bayerischen Reichswehr-, Polizei-, Regierungs-, und Wirtschaftskreisen =Verweise auf das Stück Höhepunkt der Inflation; äußerst angespannte politische Lage „Das Geld ist teuer jetzt.“ 8./9. (Sz 2); „Dieser Wechsel / Vom Überfluß zur Armut kommt heut schneller / Als November mancher zum Erbleichen braucht.“ (Sz 1) 1923 H. versucht zusammen mit General Ludendorff die zaudernden rechtsgerichteten Kreise durch Ausrufung einer „Regierung der nationalen Revolution“ zum Handeln zu zwingen der dilettantisch angelegte Putsch scheitert Verbot der NSDAP; H. wird verhaftet „Kein Mensch / spricht von mir noch. Die Stadt hat kein Gedächtnis. Ach, kurzlebig / Ist hier der Ruhm. Zwei Monate kein Krawall /Und zwanzig Schießereien sind vergessen.“ (Sz 4) „Nicht jetzt. Nein, nicht von unten. ´s ist zu früh.“ Roma: „Und brütest. Pläne! Pläne! Halbherzige / Versuche! Der Besuch beim Trust brach dir / Das Rückgrat. Und der kleine Zwischenfall / In Harpers Bank mit diesen Polizisten / Liegt dir noch in den Knochen!“ (Sz 4) 1.Apr.1924 H. wird vom Münchner Volksgerichtshof zu 5 Jahren Festung verurteilt; erster Band von „Mein Kampf“ entsteht (zweiter Band 1927) H. wird schon wieder entlassen; H. erreicht Aufhebung des Parteiverbots Dez. 1924 Febr.1925 H. beginnt mit Wiederaufbau der Partei 1925 - 1928 Redeverbot in den meisten Reichsländern für H., vorübergehende Konsolidierung der wirtschaftlichen Verhältnisse zögerliche, aber unaufhaltsame Entwicklung der NSDAP zur „Führerpartei“; H. hat ihm vorbehaltlos ergeben Gefolgsleute Durchbruch der NSDAP zur Massenpartei unter Hs. Führung ab 1929 H. erhält Schlüsselrolle Juli 1932 H. erhält 37,3% der Stimmen bei Reichstagswahl Weltwirtschaftskrise über 6 Mio Arbeitslose bei 12,5 Mio Beschäftigten; Vertauen in demokratische Kräfte, Probleme lösen zu können, schwindet auf breiter Ebene April 1932 H. verliert Reichspräsidentenwahl gegen Hindenburg, dieser weist Hitlers Anspruch, als Führer der stärksten Partei zum Reichskanzler berufen zu werden, strikt zurück ernste Krise der Partei Giri: „Das rostige alte Aushängeschild! Der biedre / Verantwortungsbewusste Händedrücker. / Der unbestechliche wasserdichte Greis“. (Sz 4) Gaffles: „Dogsborough, das ist / Nicht nur ein Name und nicht nur ein Mann / ´s ist eine Institution!“ (Sz 5) Dogsborough: „Niemals! / Bevor ich mich mit ihnen einlass’, will ich /Lieber zugrund gehen!“ 4 Hindenburg ernennt H. letztlich doch zum Reichskanzler (u.a. eigennütziges Eingreifen von Papens und mit Unterstützung der Reichswehrführung) Tag von Potsdam – Machtergreifung der Nationalsozialisten in Deutschland „Herr Dogsborough, ich fühle / In dieser Stunde tief, wie sehr ich ihnen / Zu Dank verpflichtet bin. Die Vorsehung / Hat uns vereinigt. Daß ein Mann wie Sie / Mich Jüngeren, den einfachen Sohn der Bronx / Zu seinem Freund, ich darf wohl sagen, Sohn / Erwählte, das wird ich Ihnen nie vergessen.“ Er fasst Dogsboroughs schlaff herabhängende Hand und schüttelt sie. Reichstagsbrand (Verhaftung, später Verurteilung, von Marinus van der Lubbe, einem 27.Febr. 1933 Holländer, der im brennenden Gebäude aufgegriffen wird) wird den Kommunisten zugeschrieben und ist willkommener Anlass zu deren verstärkter Verfolgung Ui: brüllend „´s ist weit gekommen in dieser Stadt. Erst Mord / Dann Brandstiftung! Ja, jedem, wie mir scheint / geht da ein Licht auf! Jeder ist gemeint!“ (Sz 9 – „Speicherbrandprozess“) Ui: „Der Band war ein Erfolg! Die Läden zahlen.“(Sz 11) 25.Juli 1934 mit Wissen und Billigung der NSDAP-Führung Putschversuch der nationalsozialisten in Österreich Ermordung des österreichischen Bundeskanzlers Engelbert Dollfuß, kurz danach Niederschlagung des Putsches – H. greift nicht ein und stellt Anschluss Österreichs noch zurück (in „mein Kampf“ aber schon als unabdingbar erklärt); 1936 sogar noch Vertrag mit Österreichs Bundeskanzler Schuschnigg über Nichteinmischung 2. August Hindenburg stirbt (Fakten um Testament bis heute nicht endgültig geklärt, 2. Teil, Brief an + 5.August Hitler, nie veröffentlicht = Nährboden für Gerüchte der Testamentfälschung) 1934 Hindenburgs Testament wird veröffentlicht, darin lobt er ausdrücklich die Leistungen Hitlers und seiner Regierung – bestätigt von seinem Sohn in Rundfunkansprache Givola beim Fälschen des Testaments: „Ich empfehl euch herzlich / Arturo Ui für meinen eigenen Posten.“ (Sz 11) H. schafft Amt des Reichspräsidenten ab und konzentriert alle Machtbefugnisse auf sich als „Führer und Reichskanzler“ der Nationalsozialismus ist in Dt. als politische Doktrin manifestiert; allein der „Führerbefehl“ war maßgeblich Ui: „Bei mir heißt es: / Die Pflicht getan, und bis zum Äußersten!“ ab 1933 H. konzentriert sich auf Außen-, Militär- und Rüstungspolitik Verhaftung und Hinrichtung des SA-Führers Ernst Röhm; lancierten Gerüchten um dessen 1934 Putschpläne, besonders durch Kreise um Göring, Goebbels und Himmler, die Röhms Einflussbereich eingeschränkt sehen wollten, schenkte Hitler schließlich Glauben Ui: „Euer schändlicher Anschlag auf mich ist enthüllt.“ (Sz 12) Röhm glaubte offenbar bis zuletzt an einen Anschlag g e g e n Hitler Roma: „Was mit Arturo? Mord! Ich wusste es! Hunde!“ (Sz 12) 2. Juli 1934 H. erlässt „Gesetz über Maßnahmen der Staatsnotwehr“ und legitimiert so sein Vorgehen ab 1936 Hs. Politik ist auf militärische Expansion ausgerichtet Ui: „Wir sind / Durch mit Chicago. Ich will mehr haben.“ (Sz 11) ab Februar H. auch formal Oberbefehlshaber der Wehrmacht Roma: „Dogsborouhs Testament! / das ist bestellt vom Trust! / Sie wolln den 1938 Anschluß / Von Cicero.“ (Sz 11) 11.März Österreichs Kanzler weicht Hs. Druck und ernennt Nationalsozialisten Seyß-Inquart zum 1938 Innenminister, Schuschnigg tritt zurück, Innenminister schickt abgesprochenen „Hilferuf“ an Deutschland Hs. Truppen marschieren in Wien ein, Bevölkerung stimmt mit 99,6 % Anschluss zu Ui: „Wer da nicht für mich ist / Ist gegen mich und wird für diese Haltung / Die Folgen selbst sich zuzuschreiben haben. / Jetzt könnt ihr wählen!“ (Sz 16) 1.Sept. Überfall auf Polen Beginn des Zweiten Weltkrieges 1939 Ui: „... denn nach Schutz / Schrein nicht nur Cicero und Chicago, sondern / 30. Jan. 1933 21.März 1933 Auch andre Städte...!“ 5 Baustein 3 Zur Genese des Stückes Infokasten Brecht: „Ui ... ist ein Versuch, der kapitalistischen Welt den Aufstieg Hitlers dadurch zu erklären, dass er in ein ihr vertrautes Milieu versetzt wurde.“ - - - 10.-29. März 1941 Finnland/Helsinki: Für das amerikanische Theater denkt B an ein Gangsterstück, das „gewisse Vorgänge, die wir alle kennen in die Erinnerung ruft“, und entwirft den ersten Plan für Der Aufstieg des Arturo Ui“: „Natürlich muß es in großem Stil geschrieben werden.“ vgl. Prolog: „Und alles im g r o ß e n S t i l e aufzuführen.“ /“Was wir hier zeigen, weiß der ganze Kontinent:/ Es ist das Gangsterstück, das jeder kennt!“ Am 29. März 1941 schließt B. eine erste Niederschrift des neuen Stückes ab, und zwar unter dem Titel Der aufhaltsame Aufstieg des Arturo Ui. Später verwendet B. diesen Titel ebenso wie Der Aufstieg des Arturo Ui. Bei dem in der ersten Fassung vorliegenden Stück kam es B. darauf an, hinter der eigentlichen Handlung „immerfort die historischen Vorgänge durchscheinen zu lassen“, ohne dabei die „beiden Handlungen“ (Gangster- und Nazihandlung)“ zu sehr zu verknüpfen. „Das war besonders schwer“, sagt B. in seinem Arbeitsjournal. (die folgende Kleinschreibung entspricht Brecht) Arbeitsjournal 28.03.1941: ... nur noch die letzte szene fehlt. Die Wirkung der Doppelverfremdung – gangstermilieu und großer stil – kann schwer vorausgesagt werden. ... steffs (Sohn Stefan)kenntnisse über die verwebungen der gangsterwelt mit der verwaltung kommen mir zustatten. - Deshalb die Idee, „große Tafeln“ über die „Zustände im Vaterland“ anfertigen zu lassen, von denen er hoffte, dass sie „auch drüben“ Aufsehen erregen müssten. - In New York (während Probenarbeiten zur Inszenierung seines Stückes „Die Mutter“ sammelt Brecht Material über die Auseinandersetzung von rivalisierenden Gangsterbanden und deren Territorialkämpfe zur Zeit der Prohibition vgl. „prohibition act“ (Verbot von Alkohol) - Auseinandersetzungen eskalierten zu brutalen Monopolkämpfen, die von korrupter Polizei und erpressten/erpressbaren Politikern gedeckt wurden - Die Rücksichtslosigkeit der großen Gangsterbosse führte zu deren zweifelhafter Berühmtheit (vgl. Al Capone), denn in der Öffentlichkeit stellten sie sich als biedere Geschäftsleute und bürgerliche Ehrenmänner dar und hatten sowohl wirtschaftlichen als auch gesellschaftlichen Erfolg. Arbeitsjournal 1.4. 1941 Im Ui kam es darauf an, einerseits immerfort die historischen vorgänge durchscheinen zu lassen, andererseits die „verhüllung“ (die eine enthüllung ist) mit eigenleben auszustatten, dh, sie muß – theoretisch genommen – auch ohne ihre anzüglichkeit wirken. unter anderem wäre eine zu enge Verknüpfung der beiden handlungen (GANGSTER- und NAZIHANDLUNG), also eine form, bei der die gangsterhandlung nur eine symbolisierung der andern handlung wäre, schon dadurch unerträglich, weil man dann unaufhörlich nach der „bedeutung“ dieses oder jenes zuges suchen würde, bei jeder figur nach dem urbild forschen würde. - Figur des Ui verweist auf Prosasatire Brechts „Die Geschichte des Giacomo Ui“ - Satire = im Gegensatz zum Stück „Der aufhaltsame Aufstieg des Arturo Ui“ ganz auf Hitlers Aufstieg konzentriert - erzählt wird retrospektiv (nach seinem Tod) die Geschichte des Ui aus Padua; im Mittelpunkt steht Uis Aufstieg vom Dachdecker (!!!) zum Parteiführer, „der eine Zeitlang die Welt in Atem gehalten hat“ – die Geschichte eines „großen Mannes“, dessen Größe aber von den Kleinbürgern, dem „Kroppzeug“, verkannt wird. Der „große Krieg“, in dessen „unglücklichem Verlauf die Halbinsel (Europa) so sehr verwüstet worden ist, dass auch die Urkunden zum großen Teil verloren gingen, die seine Größe bezeugten“, hat inzwischen stattgefunden. - einige Motive, wie z. B. Schauspielausbildung, werden für Stück übernommen - Der „Arturo Ui bleibt zunächst unaufgeführt, offensichtlich war Brecht lange unzufrieden mit seiner Arbeit, 1953 werden unter Mitarbeit von Schülern noch einmal Veränderungen vorgenommen. - November 1958 (nach Brechts Tod) Uraufführung in Stuttgart mit Wolfgang Kieling in der Hauptrolle; Erstaufführung am BE im März 1959 – Hauptrolle Eckehard Schall (?) 6 Baustein 4 Zum Personal und zur Struktur des Stückes Untersuchen Sie das Personenregister des Stückes und versuchen Sie, die Figuren nach bestimmten Prinzipien zu ordnen. Unterziehen Sie dabei auch die Namensgebung einer genaueren (semantischen und klanglichen) Betrachtung. Ziehen Sie Schlussfolgerungen. Mögliche Lösung: Die Gangster mit politischen Ambitionen und Zielstellungen Arturo Ui – der Gangsterchef (evtl.: Dominanz der gleichen Vokale vgl. Adolf Hitler) Ernesto Roma – Befehlshaber der Kampftruppen (klangliche Ähnlichkeit mit Ernst Röhm, SA Führer) Emanuele Giri – (klangliche Ähnlichkeit mit Hermann Göring, Reichsmarschall, jovial, schallendes Lachen, das in der anderen Sekunde in höchste Gefährlichkeit umschlagen konnte; Name wirkt „gedrungen“) Guiseppe Givola – Blumenhändler (klanglich erinnernd an Joseph Goebbels, Reichsminister für Volksaufklärung und Propaganda, wie Givola hinkend) Inna - Vertauter von Roma Dockdaisy – Gangsterbraut („Hafengänseblume“ – eine dumme Gans, die sich verkauft??) darüber hinaus: Leibwächter Uis alle männlichen Gangsterfiguren haben italienisch klingende Namen Reminiszenz an Mafia Die Bürger Geschäftsleute des Karfioltrusts Flake (etwa: dünne Schicht, Fetzen, Splitter) Caruther Butcher (Fleischer, Metzger) Mulberry (Maulbeerbaum) Clark Sheet – Reedereibesitzer, später ermordet (dünnes Blatt Papier, Leintuch) Bowl – ehemaliger Kassierer bei Sheet, Überläufer, später ermordet (Napf, Schüssel, aber auch bowler bez. für Hut) Geschäftsleute aus Chicago Bürger Chicagos Das Gericht im Presse Speicherbrandprozess Geschäftsleute aus Cicero (Stadtteil Chicagos) Ted Ignatius Dullfeet, Ragg, besitzt Zeitung für Reporter Gemüsehandel, des Star wird später weitere ermordet Reporter (Österreichs Bundeskanzler Engelbert Dollfuß; dull =schwerfällig, dumm; feet = Füße) Betty Dullfeet, seine Frau weitere Grünzeughändler der alte Goodwill, Vertreter der Der Angeklagte Fish Dogsborough, Stadtverwaltung (mehrfach taucht das (guter Wille) Wort fishig auf, der sich vom Gaffles, Vertreter der Slangwort für eine Trust Sache ist faul, ) korrumpieren Stadtverwaltung O´Casey Der Ankläger lässt – Hindenburg Untersuchungsbeamter (Parallelen zu Dimitroff) Der Verteidiger für die Kaianlagen (dog =Hund Der Arzt Hindin; borough Stadtteil) der junge Dogsborough, der papageienhaft dem Vater nachplappert) Hook, Gemüsehändler, + Ansager wird terrorisiert Prolog und erpresst dann selbst + Frau Epilog (Hook = Haken, erinnert an Seeräuberfigur) alle Geschäftsleute und Figuren mit bürgerlichen Berufen tragen englisch klingende Namen Verquickung von Politik/politischem Verbrechertum mit korrupten, erpressbaren Vertretern der Wirtschaft Integrität hat Seltenheitswert (Verteidiger im Gericht) Infokasten - Struktur Das Stück gliedert sich in eine Abfolge von 17 Bildern oder Szenen, eingerahmt von einem Prolog und einem Epilog nach klassischem Vorbild. Ausschnitthaft und blitzlichtartig werden – ähnlich wie in Tableaus, Stationen von Uis Aufstieg gezeigt. Charakteristisch sind schnelle Ortswechsel, Zeitsprünge und ein großes Personal an Figuren. Das Stück gewinnt dadurch an Tempo, die Konzentration des Zuschauers ist gefordert. Brecht schrieb in seinem Arbeitsjournal, erhabe „dem epischen geschwindigkeit verleihen“ wollen. Die sprunghafte Konstruktion der Handlung wird durch die Zeittafeln am Ende der meisten Szenen konturiert und erhält zeitgeschichtliche Chronologie. Das Hutmotiv (vgl. z. B. Szenen 7 Ui: „Was für Hüte?“ Givola: „Hüte / Von Leuten, die er abgeschossen hat.“; ) verweist auf die verbrecherische Skrupellosigkeit der Gangster, die vor Morden nicht 7 zurückschrecken (vgl. eventuell mit dem Motiv der gelben Schuhe in Dürrenmatts Stück „Der Besuch der alten Dame“). Brechts Stück folgt in wesentlichen Aspekten dem Prinzip des offenen Dramas. Die 7. Szene (Schauspielszene) erhält eine zentrale Stellung, denn die Szenen 1-6 zeigen Uis Weg an die Macht, die Szenen 8-17 zeigen ihn beim Ge- und Missbrauch dieser Macht (vgl. Gabriele Lietke). Ebendort wird von der Autorin auch eine mögliche Gliederung in 5 Abschnitte vorgeschlagen. 1 2 3 4 5 Historische Bezüge zwischen 1929-1938 Gliederung des Stückes Hitlers Strategie der „legalen“ Revolution, nach Szenen 1-3 Ui in Wartestellung (indirekte Exposition) Scheitern des Putschversuches on 1923 von Ui ist fast nur indirekt die Rede, er ist noch nicht Akteur der Handlung, bleibt im Hintergrund Das Bündnis der konservativen Kräfte und der Szenen 4-6 Ui im Geschäft – Ui tritt in Handlung ein, Wirtschaft mit Hitler schiebt sich in den Vordergrund Szenen 7-8 Übernahme der Führung durch Hitler, Ui übernimmt die Führung Ausschalten der Opposition Szenen 9-12 Abschaffung demokratischer Freiheiten und Uis „Geschäftsgebaren Ausschaltung innerparteilicher Gegner Szenen 13-17 Festigung der Macht durch imperialistische Expansion (Wahlen, Einmarsch in Österreich) Uis expansive Bestrebungen Stellen Sie in einem sinnvollen Schaubild die szenische Struktur des Stückes dar. Tragen Sie in die leeren Felder des Schaubildes jeweils eine prägnante Aussage ein, begründen Sie Ihre Wahl. Mögliche Lösungen: Szene 1: Szene 2: Szene 3: Szene 4: Szene 5: Szene 6: Szene 7: Szene 8: Szene 9: Szene 10: Szene 11: Szene 12: Szene 13: Szene 14: Szene 15: Szene 16: Szene 17: „Wer an Gott / Längst nicht mehr glaubt, glaubt noch an Dogsborough.“ „Das Geld ist teuer jetzt.“ „Euer Antrag stinkend wie ein fauler Fisch.“ – „Mein Vater nimmt’s.“ „Hab ich den Richter nicht in meiner Tasche / Indem er was von mir in seiner hat / Bin ich ganz rechtlos.“ „Wir sind in eine Fall gegangen, Sohn.“ „Sheets Selbstmord ist die Folge von Sheets Verbrechen.“ „Selbstredend ist’ für die kleinen Leute.“ „Herr Dogsborough, ich fühle / In dieser Stunde tief, wie sehr ich Ihnen / Zu Dank verpflichtet bin.“ „Der Gerichtshof stellt fest, dass er von keiner Seite irgendeinem Druck ausgesetzt wurde und in völliger Freiheit amtiert.“ „So habe ich, der ehrliche Dogsborough / In alles eingewilligt...“ „Ich empfehl euch herzlich / Arturo Ui für meinen eigenen Posten.“ „Macht ihn fertig.“ „Euer schändlicher Anschlag auf mich ist enthüllt.“ „Mir mißfällt der Mann.“ „Gott schütz uns vor dem Schützer!“ (Betty) „Weg, blutige Schatten! Habt Erbarmen! Weg!“ „Wer da nicht für mich ist /Ist gegen mich...“ „...Und alle dulden’s!“ 8 Wer an Gott längst nicht mehr glaubt, glaubt noch an Dogsborough Szene 1 Chicago City - Führer des Karfioltrusts diskutieren Lösung zur Absatzkrise, wollen sich an Dogsborough wenden Szene 2 Börse von Chicago ausweglose wirtschaftliche Situation Sheets Reederei soll an Karfioltrust verkauft werden Szene 3 Hinterzimmer in Dogsboroughs Gasthof Man bietet Dogs.die Aktienmehrheit von Sheets Reederei zu einem Vorzugspreis an, er akzeptiert! Szene 4 Wettbüro der 122. Straße Ui tritt in Handlung ein, lehnt illegale Wege (Schutzgelderpressung rackets) zunächst ab... Szene 5 Dogsboroughs Landhaus Dogs. sieht in Befürwortung der Anleihe +Annahme des Landgutes Fehler - Ui hat ihn in der Hand Szene 6 Stadthaus von Chicago Untersuchung des Dockshilfeskandals- Intrige funktioniert, Zeugen ausgeschaltet Szene 7 Suite im Mammoth-Hotel /Schauspielszene Ui bekommt von heruntergekommenem Schauspieler Unterricht, im Zentrum berühmte Rede des Antonius aus Shakespeares „Julius Cäsar“ Szene 8 Büro des Karfioltrusts – Ui tritt als Vertrauter des „ehrlichen“ Dogsborough auf; unterbreitet „Schutzangebote“, sein Auftritt wird inszeniert Speicherbrand Szene 9 Gericht in Chicago – Speicherbrandprozess, die zunehmende Verquickung von Gerichtsbarkeit und neuen Machthabern wird gezeigt, Verurteilung von Fish Szene 10 Dogsboroughs Landhaus – Dogs., alt und gebrochen, verfasst Testament, bekennt in allem seine Mitschuld, unternimmt Erklärungsversuche Szene 11 Mammoth-Hotel, Suite des Ui – Givola arbeitet an Fälschung von Dogs.’ Testament, interne Machtkämpfe werden deutlich, Expansionspläne Uis (Cicero) Szene 12 Garage – Roma und seine Anhänger werden liquidiert – Vorwand: sie hätten Anschlag auf Ui geplant Szene 13 Givolas Blumenladen – Ui bemüht sich um Vertrauen der Dullfeets, Schmeicheleien und scheinbare Vertraulichkeit lassen Uis Absichten erkennen Plan: Tod Df. Szene 14 Mausoleum von Cicero – Uis Rede zu Dullfeet’s Beerdigung,Werbung um Betty scheitert zunächst Szene 15 Mammoth-Hotel, Uis Schlafzimmer – Geist des ermordeten Roma erscheint, Vorwurf des Verrats Szene 16 Chicago City – Händler aus Chicago u. Cicero beklagen Uis Willkür; Auftritt Ui Kundgebung, „Auftrag“, Cicero unter Schutz zu stellen eindeutige Drohungen Uis Szene 17 Cicero – Ui wird von sterbender Frau des Terrors und Mordes angeklagt 9 Baustein 5 Die Doppelverfremdung im Stück Arbeitsjournal 1.4. 1941 Im Ui kam es darauf an, einerseits immerfort die historischen vorgänge durchscheinen zu lassen, andererseits die „verhüllung“ (die eine enthüllung ist) mit eigenleben auszustatten, dh, sie muß – theoretisch genommen – auch ohne ihre anzüglichkeit wirken. unter anderem wäre eine zu enge Verknüpfung der beiden handlungen (GANGSTER- und NAZIHANDLUNG), also eineform, bei der die gangsterhandlung nur eine symbolisierung der andern handlung wäre, schon dadurch unerträglich, weil man dann unaufhörlich nach der „bedeutung“ dieses oder jenes zuges suchen würde, bei jeder figur nach dem urbild forschen würde. Das Stück ist unter drei bezeichnenden Kategorisierungen bekannt, die in der Lit.wiss. immer wieder fundiert wurden: Politparabel Historienfarce Gangsterhistorie verweist auf die Form verweist auf satirische Absicht Verweist auf primäre Verfremdung ins Gangstermilieu Verknüpfung von formalen, inhaltlichen und technischen Aspekten strukturiert das Stück Für die Bezeichnung Parabel oder Politparabel spricht (vgl. GGzD D. Thiele, der wiederum auf zahlreiche andere Autoren rekurriert) - - Die Parabel wird als geeignetes Mittel der Wahrheitsvermittlung gerechtfertigt. Als didaktische Form, die episierende und illusionszerstörende Mittel einsetzt, statt gedichtete Wahrheit hermeneutisch zu verschließen, und die so ihre gesellschaftliche Botschaft sinnfällig macht, ist sie eine einfache Gattung. Die Parabel verweist auf außerästhetische Wirklichkeit und kann Theoretisches vermitteln. Die Parabel selbst ist Verfremdung und gewissermaßen ein (gesellschaftliches / soziales) Modell. Die Parabel gestattet es, das Komplizierte zu entwirren. Die Parabel ist in der Abstraktion konkret, indem sie das Wesentliche auffällig macht. Eine solche Sichtweise auf die Parabel geht über reine Formfragen hinaus und stellt die Parabel in den großen Kontext des „realistischen Schreibens“. Zur Historienfarce - - Brecht: „Der Kreis ist absichtlich eng gezogen: er beschränkt sich auf die Ebene von Staat, Industriellen, Junkern und Kleinbürgern. Das Stück will keinen allgemeinen gründlichen Aufriss der historischen Lage der dreißiger Jahre geben.“ Brecht will durch Ausschnitte Schnittpunkte der historischen Spezifik verdeutlichen. Die Darstellung des (aufhaltsamen) Aufstiegs von Arturo Ui realisiert sich über die Verknüpfung von primärer Handlung mit geschichtlicher Konkretion. Daraus ergibt sich aber auch eine Differenz von Realität und Fiktion. Reale Personen werden in Kunstfiguren aufgelöst, in dieser Abstraktion liegt die Chance der Konkretheit politischer Aussagen. Die verblüffenden Parallelen zwischen A. H. und A. C. 10 Infokasten Beziehungen zwischen Arturo Ui und seinen beiden „alter egos“ A. Hitler A. Ui A. Capone geb. 1889 geb. 1899 kommt aus einfachen, betont beständig seine Herkunft Aufstieg beginnt in der Bronx kleinbürgerlichen Verhältnissen aus der Bronx italienisch klingender Name bricht Schule ab bricht Schule ab Österreich Deutschland Italien USA nimmt Schauspielunterricht nimmt kurz Sprachunterricht legt Wert auf Umgangsformen, (Provinzschauspieler Basil, will als kultivierter Bürger gelten Operntenor Paul Devrient) steigt gern in Hotels ab Hauptquartier in einer Suite des Metropolhotels hat Suite im Mammoth-Hotel annektiert Österreich bringt zunächst Chicagoer Stadtteil Cicero unter Kontrolle erobert Cicero bringt engste Vertraute in hohe Staatspositionen (Göring, Goebbels) wird 1924 verhaftet und zu 5 Jahren Festung verurteilt vorzeitig entlassen vgl. Giri, Givola redet von Ärger mit Polizei (vgl. Sz 4 / 5) vgl. Gangster O’Banion verkürztes Bein W. H. Thompson, enger Verbündeter von Capone wird Bürgermeister von Chicago 1931 wegen Steuerbetrugs zu elf Jahren Gefängnis verurteilt vorzeitig entlassen nutzen wirtschaftliche Krisen für ihre Zwecke Weltwirtschaftskrise Wirtschaftliche Krise des Karfioltrusts Krise durch Prohibitionszeit Monopol im illegalen Alkoholhandel stellen enge Verbindungen zu Militär (Polizei) und Wirtschaft her, nutzen Korrumpierbarkeit und damit Erpressbarkeit dieser Kräfte aus 1933 Osthilfeskandal Missbrauch öffentlicher Mittel für sanierung hoch verschuldeter Rittergüter , insbesondere für „ostelbische Junker“ in Ostpreussen; Der besitzlose Reichspräsident erhält zwei Schenkungen, die ihn zu Gutsbesitzer („Junker“) in Pommern machen; Gut Neudeck zum 80. Geburtstag im Jahr 1927und Gut Langenau im Jahr 1933 Dockshilfeskandal Dogsborough wird die Aktienmehrheit von Sheets Reederei zum Vorzugspreis angeboten, er stimmt zu und bewilligt die Anleihe Dogs. nimmt Landgut als Schenkung Syndikate strebten politische Absicherung ihrer Transaktionen an enge Verbindung von verbrechen und Politik erfreuen sich großer Popularität schafft Arbeitsplätze (6 Mio Arbeitslose bei 12,5 Mio Beschäftigten schafft Institutionen wie z. B. KdF, ist für Etablierung von konservativen Werten will ein angesehener Bürger sein richtet Armenküche ein wird 1929 von Jury amerikanischer Journalisten neben Einstein und Ghandi als Mann des Jahrzehnt gekürt!!! sind skrupellos im Ausschalten von „inneren“ Gegnern „Röhmputsch“ Hinrichtung von Röhm (offiziell sterben 85 Menschen, es dürften weit mehr gewesen sein Hinrichtung der Hitlerattentäter Roma und seine Anhänger werden liquidiert St. Valentin’s Day-Massaker im Februar 1929 „handshake murder“ O’Banion wird von Capones Leuten ermordet Bis in sprachliche und szenische Details hinein verknüpft Brecht über die Figur des Arturo Ui die Biografie Hitlers mit der des Gangsters Al Capone 11 Baustein 6 Vom Text zur Aufführung Brechts Ideen zur Ausstattung und Aufführung des Stückes im „g r o ß e n S t i l“: - Reminiszenzen an das elisabethanische Historientheater Vorhänge, Podeste, Spiel vor gekalkten Rupfenvorhängen, die ochsenblutfarben bespritzt sind bemalte Prospekte Orgel-, Trompeten- und Trommeleffekte reine Travestie vermeiden das Groteske mit der Atmosphäre des schauerlichen verbinden übersichtliche Gruppenbilder im Geschmack der alten Historienmalerei Untersuchen Sie Brechts Regieanweisungen. Treffen Sie eine Auswahl und stellen Sie dar, wann Brecht welche Effekte eingesetzt sehen will. Konzentrieren Sie sich z. B. auf Toneffekte und das Arrangement der Auftritte wichtiger Figuren. Diskutieren Sie, welche Funktion/Wirkung Brechts Ideen haben könnten. (z. B. Roma, Givola, Giri und Ui treten immer mit „Gefolge“ bzw. Leibwächtern auf, vgl. Szene 5 – indirekt – Roma zu Dogsbborough: „Im Flur, mag sein, sind ein paar Jungens, die / Dich missverstehen könnten.“; vgl. auch Szene 6,Szene 7,Szene 8, Szene 9, Szene 9e, Szene 9, S. 76, Szene 11 usw. / Toneffekte z. B. Szene 16. Auftreten unter Fanfarenstößen, Orgelspiel in Szene 9: Szene 9a, 9b, 9d, 9e, 9f); Donner von Maschinengewehren, z. B. nach Prolog, Szene 6;Trommeln und Fanfarenstöße, Szene 16) Brecht möchte, dass am Ende einiger Szenen große „Tafeln“ (Regieanweisung: Eine Schrift taucht auf) gezeigt werden. Äußern Sie sich zu deren Funktion und machen Sie Vorschläge für die textliche Gestaltung dieser Tafeln. Entscheiden Sie sich für kurze und prägnante Texte. 12 Baustein 7 Die Wirkung des „g r o ß e n S t i l s“ als Teil der Doppelverfremdung und als Historisierung der eigenen literarischen Formen – Intertextualität in Brechts Stücken Die Verwendung klassischer Vorbilder und Stilelemente in Brechts Stücken begründet Brecht wie folgt: Er wolle nicht nur Stoffe und Vorgänge ausstellen, „sondern auch die Art ihrer literarisch-theatralischen Bewältigung“. Es ging ihm um das Transparentmachen des eigenen Handwerks – ein Hauptmerkmal des epischen Theaters verfremdete Darstellung Nachweisbare literarische sprachliche oder inhaltliche Anlehnungen im Stück – Die Ausstellung klassischer Formen - Ui, Szene 14 (Uis Werbeszene um Betty Dullfeet) Shakespeare: Richard III, I/2 (Richard, noch als Herzog von Gloster, wirbt nach dem Tod König Heinrich VI. um Lady Anne) und VI/4 (Richard wirbt um die Tochter Elisabeths, nachdem er alle ihre Söhne beseitigt hat)= inhaltliche Parallelen; außerdem: direkter Verweis auf Richard III. im Prolog („Wem fällt da nicht Richard der Dritte ein?“) - Ui, Szene 15 (Erscheinen von Romas Geist) Shakespeare: Richard III, V/3; Julius Cäsar V/3 = inhaltliche Parallelen - Ui, Szene 13 (Givola/Dullfeet – Ui/ Betty) Faust I, Marthes Garten (Mephisto/Marthe – Faust Gretchen)= sprachliche, strukturelle Parallelen: z. B. Betty: „Herr Ui, wie halten sie’s mit der Religion?“; Ui: „Mir missfällt der Mann.“ Spielen Sie einen Teil von Szene 14 (vier Spieler, die vorher den entsprechenden Fausttext auch studiert haben); und zwar ab: GIVOLA; Dies, teurer Dullfeet. sind japanische Eichen bis zum Schluss. - Ui, Szene 4 ( Text: Gangster Ragg; „Dem Gangster flicht die Nachwelt keine Kränze!/ Die wankelmütige Menge wendet sich zu neuen Helden.“) Schiller, Prolog zur Wallensteintrilogie („Schwer ist d i e Kunst, vergänglich ist ihr Preis, /dem Mimen flicht die Nachwelt keine Kränze, / drum muß er geizen mit der Gegenwart / “) + Schiller: Maria Stuart, (V 3260 f., Elisabeth: „Die wankelmütige Menge, / Die jeder Wind herumtreibt“) Darüber hinaus: - Referenzen auf die Bibel, z. B. Szene 2, Sheet: „Ich lief vom Pontius zum Pilatus...“, Szene 16, zweiter Ciceroer: „Wir waschen unsere Hände / In Unschuld.“) - Referenzen auf historische Materialien, z. B. Szene 5, Ui mit Würde „Nun, Herr Dogsborough / Ich bin erst vierzig. Sie sind achtzig, also / Wird ich mit Gottes Hilf Sie überleben!“ vgl. Hitlers Rede vom 7.9. 1932 im Müchener Zirkus Krone: „Der reichspräsident ist 85 Jahre alt. Ich fühle mich ganz gesund, das kann ich den Herren versichern. Ich kann Ihnen weiter sagen, dass meine Zähigkeit und Beharrlichkeit durch nichts erschüttert wird. Und bis ich einmal 85 Jahre alt bin, lebt Hindenburg schon längst nicht mehr.“ - Brechts Kriegsfibel – Sammlung von Dokumentationsmaterial (Fotos, Artikel aus Zeitschriften, versehen mit vierzeiligen Kommentaren) entstanden im Exil Epilog: „Der Schoß ist fruchtbar noch, aus dem das kroch.“ - Verwendung von geflügelten Worten/Sprichwörtern, auch in leichter Abwandlung - z. B. Szene 8, Ui: „Umsonst ist nur der Tod.“; Szene 12, Roma: „Vorsicht ist besser als Nachsehn.“); Szene 7, Ui: „Dem Ochsen, der da drischt / Verbind ich nicht das Maul.“ Szene 5, Ui: „Die Macht hat stets, wer zahlt.“; Szene 6, O’Casey: „ Unerwartet / Kommt oft erwartet“; Szene 1, Butcher und Mulberry: „ Wer noch nicht tot ist, lebt noch!“ – „Nicht tot sein, heißt nicht: leben“ 13 Shakespeares Julius Cäsar (III/2) und Brechts Arturo Ui (Szene 7) – ein Vergleich Shakespeares Julius Cäsar (III/2) 1 5 10 15 20 25 30 35 Überetzung Schlegel /Tieck ANTONIUS: Mitbürger! Freunde! Römer! hört mich an! Begraben will ich Cäsarn, nicht ihn preisen. Was Menschen Übles tun, das überlebt sie, Das Gute wird mit ihnen oft begraben. So sei es auch mit Cäsarn! Der edle Brutus Hat euch gesagt, dass er voll Herrschsucht war; Und war er das, so war’s ein schwer Vergehen, Und schwer hat Cäsar auch dafür gebüßt. Hier, mit des Brutus Willen und der andern (Denn Brutus ist ein ehrenwerter Mann, Das sind sie alle, alle ehrenwert), Komm’ ich, bei Cäsars Leichenzug zu reden. Er war mein Freund, war mir gerecht und treu; Doch Brutus sagt, daß er voll Herrschsucht war; Und Brutus ist ein ehrenwerter Mann. Er brachte viel Gefangne heim nach Rom, Wofür das Lösegeld den Schatz gefüllt. Sah das der Herrschsucht wohl am Cäsar gleich? Wenn Arme zu ihm schrien, so weinte Cäsar; Die Herrschsucht sollt aus härterm Stoff bestehn. Doch Brutus sagt, daß er voll Herrschsucht war, Und Brutus ist ein ehrenwerter Mann. Ihr alle saht, wie am Lupercusfest1 Ich dreimal ihm die Königskrone bot, Die dreimal er geweigert. War das Herrschsucht? Doch Brutus sagt, daß er voll Herrschsucht war, Und ist gewiß ein ehrenwerter Mann. Ich will, was Brutus sprach, nicht widerlegen; Ich spreche hier von dem nur, was ich weiß. Ihr liebtet all ihn einst nicht ohne Grund; Was für ein Grund wehrt euch, um ihn zu trauern? O Urteil, du entflohst zu blödem Vieh, der Mensch ward unvernünftig! – Habt Geduld! Mein Herz ist in dem Sarge hier bei Cäsar, Und ich muß schweigen, bis es mir zurückkommt. Brechts Arturo Ui (Szene 7) DER SCHAUSPIELER Mitbürger, Freunde, Römer, euer Ohr! Cäsar ist tot. Und Cäsar zu begraben Nicht ihn zu preisen, kam ich her, Mitbürger! Das Böse, das der Mensch tut, überlebt ihn; Das Gute wird mit ihm zumeist verscharrt. Sei’s so mit Cäsar! Der wohledle Brutus Hat euch versichert: Cäsar war tyrannisch. Wenn er das wär, so wär’s ein schwerer Fehler Und schwer hätt Cäsar ihn nunmehr bezahlt. Ui allein weiter Ich stehe hier mit Brutus’ Billigung (Denn Brutus ist ein ehrenwerter Mann Das sind sie alle, ehrenwerte Männer) An seinem Leichnam nun zu euch zu reden. Er war mein Freund, gerecht und treu zu mir Doch Brutus sagt uns, Cäsar war tyrannisch Und Brutus ist ein ehrenwerter Mann. Er brachte viel Gefangne heim nach Rom: Roms Kassen füllten sich mit Lösegeldern. Vielleicht war das von Cäsar schon tyrannisch? Freilich, hätt das der arme Mann in Rom Von ihm behauptet – Cäsar hätt geweint. Tyrannen sind aus härterem Stoff? Vielleicht! Doch Brutus sagt uns, Cäsar war tyrannisch Und Brutus ist ein ehrenwerter Mann. Ihr alle saht, wie bei den Luperkalien Ich dreimal ihm die königliche Kron’ bot. Er wies sie dreimal ab. War das tyrannisch Und ist gewiß ein ehrenwerter Mann. Ich rede nicht, Brutus zu widerlegen Doch steh ich hier zu sagen, was ich weiß. Ihr alle liebtet ihn einmal! – nicht grundlos! Was für ein Grund hält euch zurück zu trauern? 1 Luperkalien = altrömisches fest, ursprünglich zu Ehren des Hirtengottes Faun, später Reinigungs- und Fruchtbarkeitsfeier Zu Shakespeares Stück: Cäsars Stellung in Rom ist umstritten. Das Volk bejubelt ihn, ab die Volkstribunen hetzen gegen ihn. Cassius sammelt die Feinde Cäsars um sich. Cäsar lehnt die Königskrone ab, die Marc Anton ihm vor allem Volk anbietet, und schlägt die Warnungen eines Wahrsagers (vgl. Iden des März)in den Wind. Indes wächst die Zahl der Verschwörer unter Cassius, zu ihnen gehört auch der edle Brutus. Beide sollen fallen: Cäsar und Antonius. Letzteren will Brutus aber verschont wissen, denn die Verschwörer wollen vor dem Volk nicht als Mörder, sondern als Reiniger dastehen. Marc Anton erscheint unmittelbar nach der Tat vor den Verschworenen und versteht es, mit diplomatischer Redekunst, seinen Schmerz um Cäsars Tod zum Ausdruck zu bringen, ohne die Mörder Cäsars dabei zu verletzen... Aufgabe: Vergleichen Sie den Wortlaut der beiden Reden. Finden Sie heraus, welche sprachlichen und inhaltlichen Änderungen Brecht vorgenommen hat und welche Wirkung sie erzielen? (Herrschsucht Tyrannei; indirekte Rede direkte Rede, Auflösung von Hypotaxen in Parataxen; Begründung für Cäsars Weinen) 14 Baustein 8 Das Spiel im Spiel Die Schauspielszene (Szene 7) – eine Schlüsselszene - Von der Schwierigkeit, einen Mann wie Hitler zur Bühnenfigur zu machen (Vgl. auch Umkehrung der entsprechenden Hamletszene, wo Hamlet den Schauspielern für seine „Mausefalle“ genaue Anweisungen für Bewegungen, Artikulation etc) Brecht in einem Gespräch mit Lion Feuchtwanger: „Man bekämpft Hitler nicht, wenn man ihn als besonders unfähig, als Auswuchs, Perversität, Humbug, speziell pathologischen Fall hinstellt und ihm die andern bürgerlichen Politiker als Muster, unerreichte Muster, vorhält.“ Brecht in einem Gespräch mit Adorno im März 1942 über die Spezifik des Theaters gegenüber dem Film: „Die Wirkung einer Kunstdarbietung auf die Zuschauer ist nicht unabhängig von der Wirkung der Zuschauer auf die Künstler. Das Publikum im Theater reguliert die Aufführung.“ Dieter Thiele in: Grundlagen und Gedanken zu Brechts Stück Das Verbrechen selbst löst häufig Bewunderung aus. So wenig das Misslingen seiner Unternehmungen Hitler zu einem Dummkopf stempelt, so wenig stempelt ihn der Umfang dieser Unternehmungen zu einem großen Mann. Herbert Böhme Der Führer v 1934 Eine Trommel geht in Deutschland um, Und der sie schlägt, der führt, Und die ihm folgen, folgen stumm, Sie sind von ihm gekürt. Sie schwören ihm den Fahnenschwur, Gefolgschaft und Gericht, Er wirbelt ihres Schicksals Spur Mit ehernem Gesicht. Er schreitet hart der Sonne zu Mit angespannter Kraft. Seine Trommel, Deutschland, das bist du“ Volk, werde Leidenschaft. Fundort: Texte und Methoden 2, Cornelsen 1995 15 Untersuchen Sie, wie Brecht seine Hauptfigur den Schauspielunterricht motivieren lässt. Stellen Sie Fotomaterial oder Filmausschnitte zusammen, um zu demonstrieren, dass Brecht die Haltungen, Bewegungen und Gesten Hitlers genau studiert hat. (Z. B. Ui: Wenn ich stehe, wünsche ich, dass man nicht /auf zwei Leute hinter mir, sondern auf mich schaut.“; Selbstredend / ist’s für die kleinen Leute.“ „Nur kommt’s nicht darauf an, was der Professor denkt / Der oder jener Überschlaue, sondern / Wie sich der kleine Mann halt seinen Herrn / Vorstellt. Basta.“ „Was heißt unnatürlich? Kein Mensch ist heut natürlich. / Wenn ich gehe, wünsche ich, daß es bemerkt wird, daß ich gehe.“ Szene 8: Regieanweisung: Ui reicht Dockdaisy (tritt als Witwe Bowl auf) die Hand und fasst dem Kind unter das Kinn; Ui erhält Unterricht im Gehen, Stehen, Sitzen und Reden – für die ersten drei Elemente sollte sich Demonstrationsmaterial beschaffen lassen... Gehen: zurückgelegter Kopf; Fuß berührt Boden zuerst mit Fußspitze; Arme über Geschlechtsteil zusammengefaltet Sitzen: nicht angelehnt, Hände auf Oberschenkel – parallel mit dem Bauch, Ellenbogen stehen vom Körper ab Stehen: Arme über Brust verschränkt, aber so, dass die Handrücken, auf Oberarmen abgestützt, sichtbar bleiben. Hitlergruß wird daraus entwickelt) Uis Auftreten wird nicht als Kunst wahrgenommen, sondern als Verstellung Uis Handlungen sind streng zielorientiert es geht nicht um Inhalte, sondern um Formen Ui will nicht zeigen, wer er ist, sondern als was er erscheinen will Brechts Kunst dient dem Aufdecken gesellschaftlicher Wahrheiten – Uis „Kunst“ dient deren Verschleierung Wechsel von Prosa und Versifizierung (Blankvers, reimloses fünfhebiges jambisches Versmaß) in der Schauspielszene erinnert an Clownsszenen im elisabethanischen Theater die rhetorische Musterszene (Antonius auf dem Forum) verweist ironisch auf später praktizierte demagogische Rhetorik Uis (Hitlers) und das mimische und gestische Repertoire Hitlers 16 Baustein 9 „Der große Stil“ und das Versetzen der Handlung ins Gangstermilieu als Elemente der „Doppelverfremdung“ Die Rhetorik Uis – zwischen Pathos und Jargon eine Vermischung der Genera decendi „Der große Stil denunziert und erhöht zugleich. Zwischen der kruden Wirklichkeit und ihrer poetischen Präsentation wird eine andauernde Spannung hergestellt, deren Wirkungen mal komisch, mal grauslich sind, meist aber beides zugleich. Die Figuren, denen diese Sprache in den Mund gelegt ist, erscheinen so als Gestalten aus einem historischen Panoptikum: Sie machen lachen, ihre Gefährlichkeit ist insofern gebannt, als keine Einladung zur Einfühlung, also zur Imitation, letztlich zur Nachfolge ausgesprochen ist – aber diese Gefährlichkeit ist nicht weggeleugnet, die Gewalt des großen Stils bleibt hinter der Distanzierung erhalten. Das Warnbild ist weggerückt, aber nicht weggetäuscht.“ (vgl. GGzD D. Thiele, zitiert nach Rischbieter) Die Diskrepanz von Form und Inhalt zielt auf das Erkennen von Zerfall von Form und Inhalt in der faschistischen Propaganda. (Givola: „Wir sprechen durch die Blume.“ Szene 13) Verdeutlicht wird außerdem die Vereinnahmung der deutschen Klassiker durch faschistische Kulturpolitik. Nicht die Klassik wird kritisiert, sondern ihre Umfunktionierung für einen hohlen Zweck. Der hohe Stil des klassischen Musters ist in Wahrheit verbrämender Ausdruck der (niederen) Verbrecherhandlung. ästhetischer und intellektueller Genuss an der Parodie kann nur durch Kenntnis des Parodierten entstehen!!! Brechts Adressat ist der bürgerliche Zuschauer Untersuchen Sie die großen Reden (Vorschlag: Szenen 8, 11 und 16) und stellen Sie exemplarisch Grundzüge der Rhetorik heraus, die Brecht seiner Hauptfigur zugewiesen hat. (Aufgabe für zwei Schüler, die Reden sollten in Teilen auch vorgetragen werden) Infokasten Die Genera dicendi (lateinische Rhetorik) genus grande = hoher Stil genus mediocre = mittlerer Stil genus humile = niederer Stil Grundzüge faschistischer Rhetorik, z. B. - Inszenierung (Choreografie) von Redeauftritten Leibgarden, Bewacher, ausgewähltes Publikum, Fackeln, Trommeln, Fahnen, Mikrofone, Podeste, Rituale große, kalkulierte Gesten gewollte Theatralik des Auftretens Vermischung von Stilebenen Nominalstil, asyndetische Blockbildung Benutzung von Schlagwörtern Dominanz von Parataxen Propagandistische Überformung: stereotype, formelhafte Wiederholungen, Steigerungen (Superlative), Hyperbeln Dominanz von Imperativen, beschwörender Gestus Begriffe aus dem mystischen/mystifizierenden Bereiche, wie z. B. Glaube Diskreditierung Andersdenkender 17 Baustein 10 Der Speicherbrandprozess (Szene 9) – eine Schlüsselszene Untersuchen Sie, wie Brecht die Verwirklichung von Uis Aussage aus der 4. Szene „Hab ich den Richter nicht in meiner Tasche / Indem er was von mir hat/ Bin ich ganz rechtlos“ durch die Gestaltung des „Speicherbrandprozesses“ realisiert. - - der Szene kommt insbesondere entlarvende Funktion zu der Reichstagsbrandprozess – geplant als Schauprozess vor Leipziger Reichsgericht (Hitler nutzt Brand des Reichstages, um die scharfe Verfolgung der politischen Opposition zu legitimieren, und die Abschaffung der parlamentarischen Demokratie zu forcieren; Göring terrorisiert das Reichsgericht wegen Verdacht, der Brand sei von Nationalsozialisten selbstgelegt worden) wird zur farcenhaften und grotesken Inszenierung überformt der Verteidiger erinnert an Dimitroff, der als mutiger Widersacher Görings auftrat Infokasten Brecht nimmt eine Rollenumverteilung vor: Angeklagte waren: Marinus van der Lubbe und seine „Genossen“, Ernst Torgler = ehemaliger Vorsitzender der KPD-Fraktion im Reichstag, der illegal in DT lebende bulgarische Kommunist Georgi Dimitroff, späterer bulgarischer Regierungschef, Blagoj Popoff und Vasil Taneff. Trotz bestellter Zeugen und gefälschter Beweise und Folter der Angeklagten konnte eine Mittäterschaft der Kommunisten nicht nachgewiesen werden. Der „Schauprozess“ kam einer Blamage gleich. Verurteilt und hingerichtet wurde nur van der Lubbe (10. Januar 1934). Ein überlieferter Kommentar Hitlers zum Prozess: „Diese alten Männer werden bald unsere Sprache sprechen. Sie sind längst alle pensionsreif, und dann setzen wir unsere eigenen Leute hinein Bsp. Für asyndetische Blockung der Syntax Aber solange der Alte Hindenburg noch lebt lässt sich nichts machen!“ Genutzte Quellen: - - Werner Hecht: Brecht Chronik 1898-1956, Verlag Suhrkamp 1997 Interpretationshilfe Deutsch: B. Brecht: Der aufhaltsame Aufstieg des Arturo Ui, interpretiert von Gabriele Lietdke, Verlag Stark Grundlagen und Gedanken Drama: Dieter Thiele: B. Brecht, Der aufhaltsame Aufstieg des Arturo Ui, Verlag Diesterweg Arbeitstexte für den Unterricht, Theorie des Dramas, Verlag Reclam Brecht: Über experimentelles Theater; Über eine nichtaristotelische Dramatik; Ist das epische Theater etwa eine „moralische Anstalt“? Bertolt Brecht: Der aufhaltsame Aufstieg des Arturo Ui, edition suhrkamp SV Shakespeare: Julius Cäsar, Dramatische Werke in sechs Bänden, fünfter Band, Aufbauverlag Berlin und Weimar 1964 Blickfeld Deutsch, Verlag Schöningh Deutsch in der Oberstufe, Verlag Schöningh Zur Inszenierung des Stückes am BE unter Heiner Müller (internet) Marcel Reich-Ranicki: Nachprüfung, Aufsätze über deutsche Schriftsteller von gestern, Verlag dtv, 1984 Zur Rhetorik des Faschismus. Ritual und Stil Ferner: - Goethe: Faust, Teil 1 - Skakespeare: Richard III., Julius Cäsar - Schiller: Prolog zur Wallenstein-Trilogie 18 Zur Verfremdung als Grundprinzip: Brecht in: Über experimentelles Theater Anstelle von „Einfühlung“ „Verfremdung“ Verfremden heißt Historisieren, heißt Vorgänge und Personen als historisch, also als vergänglich darstellen. Brecht in: Über eine nichtaristotelische Dramatik Einen Vorgang oder einen Charakter verfremden heißt zunächst einfach, dem Vorgang oder dem Charakter das Selbstverständliche, Bekannte, Erleuchtende zu nehmen und über ihn Staunen und Neugierde zu erzeugen. Brecht in: Ist das epische Theater etwa eine „moralische Anstalt“? Zweck unserer Untersuchungen war es, Mittel ausfindig zu machen, welche die betreffenden schwer ertragbaren Zustände beseitigen konnten. 19