Die neue Aufrichtigkeit von Yury Vinogradov „Man selbst zu bleiben in einer Welt, die Tag und Nacht ihr Bestes tut, um dich zu jemand anderem zu machen“, das bedeutet nach Edward Cummings „den schwersten Kampf zu führen, den ein Mensch nur führen kann.“ Aber was ist, wenn der Kampfplatz das unendliche Blau ist, das bevölkert wird von entkörperlichten Figuren, die sich nicht scheren um einen Frieden mit den Armeen der Leidenschaften? Vinogradov gelingt es in jedem seiner Werke so sehr er selbst zu bleiben, dass Sie seine raffinierten, schwebenden Figuren auch unter Tausenden von Werken anderer junger Künstler wiedererkennen werden. Diese Treue gegenüber sich selbst und den über die Jahre gewachsenen eigenen Stil würde ich „neue Aufrichtigkeit“ nennen. Der Welt der blau-goldenen Traumerscheinungen sind Heuchelei und Anmaßung fremd, zu denen unsere Welt mit ihren zwanghaften Ängsten und Leidenschaften, ihrer Ideologie und ihrem Mainstream die Künstler nötigt. Vinogradov dekonstruiert die gewohnte Welt, befreit sich von allem Unnötigen und schafft aus den übriggebliebenen kostbaren Quäntchen wahrhaftiger menschlicher Erfahrung seine eigene Traumwelt. Diese Dekonstruktion betrifft alle Ebenen – von der physikalischen bis zur semiotischen. Zuallererst verzichtet der Künstler auf überflüssige physikalische Parameter wie Volumen, Raumtiefe und Schwerkraft und zwingt so seine Figuren in der Schwerelosigkeit zu schweben. Einer strengen Selektion werden auch die Farben unterzogen: auf der Palette bevorzugt der Künstler Blau, Gold, Grün und Rot. Die nächste Ebene ist die Entkörperlichung der Personen: nur ihre äußerlichen, zum Teil recht verfremdeten Umrisse verraten, dass sie nach „Form und Ebenbild“ geschaffen sind, dabei aber individueller Züge und somit auch eines von außen aufgezwungenen Egos entbehren. Sie sehen aus wie isolierte Teile eines einheitlichen Ganzen, gewoben aus einer Materie der Phantasie. Letztlich beraubt der Künstler bekannte Dinge ihrer gewohnten Bedeutung: Ein Heiligenschein ist hier kein Zeichen individueller Heiligkeit mehr, sondern ein natürliches Attribut der hiesigen Bewohner, das Herz wird zur Lichtquelle, die eine Blume ausstrahlt, und somit eine Lebensquelle darstellt. Die gewohnten Bedeutungen zerfallen, doch die goldenen Figuren erweisen sich als Buchstaben, die sich zu neuen Wörtern und Texten zusammenlegen, in denen es keinen Platz gibt für die grundlegendste aller Antinomien: Hier verschwindet die Unterscheidung zwischen „Ich“ und dem „Anderen“. Heiligenscheine öffnen sich und verbinden sich zu einem, das strahlende Herz ist eins für zwei. Indem er die Realität dekonstruiert, gelingt es dem Künstler einer Verwicklung in das endlose und selbstzweckhafte Spiel der Bedeutungen zu entfliehen. Sein Minimalismus in der Wahl der Darstellungsmittel leitet sich aus seiner Hauptaufgabe ab: die Verkörperung all jener elementaren Wahrheiten, die für gewöhnlich unter jahrhunderteschweren Ablagerungen der vertrauten Bedeutungen verborgen sind. Die neue Aufrichtigkeit von Vinogradov beginnt mit dem Alphabet einer neuen Sprache und Schreibmustern, welche zeitlose Wahrheiten bekräftigen und die uralte Zersplitterung der Menschen überwinden. Doch die Zeitlosigkeit des Themas bedeutet keine Absage vom Prozess des Werdens, der sich in der Unausgesprochenheit und Unvollendetheit der Werke zeigt. Dem Betrachter wird die Möglichkeit gegeben, das Thema selbstständig fortzuführen, der Künstler gibt bloß den Vektor seiner Entwicklung vor. Dieser unsichtbare Pfeil zeigt immer nach oben, in die metaphysische Welt der Seele, nicht des Körpers, in die Welt der Einheit, nicht der Zersplitterung, und die Welt des Altruismus, nicht des Egoismus. Diese Ausrichtung nach oben wird nicht nur durch das vom Autor bevorzugte Vertikal-Format seiner Werke unterstrichen, sondern auch durch die besondere perspektivische Verzerrung der Proportionen, welche den Standpunkt des Betrachters nach unten verschiebt, so als würde sich das Sujet oberhalb seiner gewohnten Perspektive entfalten. In Vinogradovs Malerei lässt sich zweifelsfrei ein bedeutender Einfluss der religiösen Kunst ausmachen: Das sind die erwähnten Heiligenscheine, die besonderen S-förmigen Silhouetten, die charakteristisch für die Gotik sind, und teilweise auch direkte Verweise auf die christliche Ikonographie – von der Jungfrau, die unter ihrer Decke das Menschengeschlecht verbirgt, bis zum von Pfeilen durchbohrten Heiligen Sebastian und den Figuren am Baum der Erkenntnis. Doch auch in diesem Fall wird die ursprüngliche Bedeutung der Gestalten vom Künstler auf seine Art umgedeutet: In seinem Traum-Universum gibt es weder Schmerz noch Leid, weder Sünde noch Sühne, keine Verbannung, keinen Tod und keinen Zerfall. Vitalij Drozd