2. Vorlesung

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Thomas Alkemeyer
SS 2003
2. Vorlesung
Perspektiven und Problemfelder der Sportsoziologie / Haben schon die alten
Griechen "Sport" getrieben? Die Entstehung des Sports als eigenes soziales
System im Prozess der Moderne
I.
Perspektiven einer Soziologie des Sports
Angelehnt an die Unterscheidung in makro- und mikrotheoretische Ansätze der Soziologie
lassen sich grob (!) zwei bzw. drei Perspektiven sportsoziologischer Forschung und
Theoriebildung unterscheiden:
1. Makrotheoretische Perspektive: Gegenstand ist das Verhältnis von Sport und
Gesellschaft bzw. anderen gesellschaftlichen Teilsystemen wie Wirtschaft, Politik,
Recht, Massenmedien, Religion usw.
Leitfragen u. a.: In welchem historischen Kontext und aus welchen strukturellen
Gründen hat sich der Sport als ein eigenständiges gesellschaftliches Teilsystem
entwickelt? Wie hat sich dieses Teilsystem aus anderen gesellschaftlichen und
kulturellen Zusammenhängen herausgelöst bzw. ausdifferenziert? Was sind die
charakteristischen Merkmale dieses Teilsystems? Welche Beziehungen, Abhängigkeiten
und Wechselwirkungen zwischen dem Teilsystem des Sports und anderen
gesellschaftlichen Teilsystemen (besonders Wirtschaft, Massenmedien und Politik)
lassen sich feststellen?
In einer solchen, primär makrotheoretischen Perspektive werden aber auch die internen
Differenzierungsprozesse des Sportsystems betrachtet, z.B. die Entwicklung
verschiedener Sportformen und -modelle innerhalb des bereits etablierten Sportsystems.
Zu beobachten ist ja, dass sich besonders in den vergangenen zwanzig Jahren die
Möglichkeiten und Modelle des Sporttreibens enorm vervielfältigt haben: neben
traditionellem Wettkampf- und Leistungssport z.B. die Entstehung zahlreicher
kommerzieller Sportanbieter (Fitnessstudios etc.), informeller Sportformen (Jogging,
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Inlineskating, Skateboarding etc.), des massenmedial – besonders im Fernsehen
inszenierten – Show- bzw. Spektakelsports usw. Die neuere Soziologie spricht in
diesem Zusammenhang von Pluralisierung und Diversifizierung. Parallel dazu sind in
jüngerer Zeit auch zahlreiche Entdifferenzierungsprozesse zu verzeichnen. Damit ist die
die Wiedereingliederung des Sporttreibens in alltägliche Lebenszusammenhänge, in die
städtische Öffentlichkeit, eine „Sportifizierung“ der Gesellschaft, gemeint. Beispiele:
Jogger und Inlineskater in den Städten (Straßen, Stadtparks usw.); die Verbindung von
Sporttreiben und Popkultur, besonders mit Mode, Musik, Lifestyle in Szenen von
Streetballspielern, BMX-Radfahrern, Mountainbikern usw. (darauf komme ich später
zurück). D.h. heute sind eine Gleichzeitigkeit von Differenzierungsprozesse und
fortschreitender Institutionalisierung im Rahmen des organisierten Sports einerseits
sowie Entdifferenzierungs- und Deinstitutionalisierungsprozessen im informellen Sport
(die Verbindung von Sport, Öffentlichkeit und Alltagsleben) andererseits festzustellen
(s. die Tagung der Sektion Sportsoziologie in der dvs im Juni 2002 in Oldenburg).
In Abhängigkeit von der wissenschaftlichen Herkunft des jeweiligen Autors werden
dabei ganz verschiedene Sportformen und –modelle unterschieden. Gängig und trivial
ist die Unterscheidung von Freizeit-, Wettkampf- und Leistungssport. Etwas präziser ist
bereits die Klassifizierung von Klaus Heinemann, der folgende Sportmodelle
unterscheidet:
Traditionelles Sportmodell
– bestimmte Leistungsziele werden angestrebt
– diszipliniertes, langfristig angelegtes Training
– Definition durch eindeutiges, sportartenspezifisches Regelwerk, welches das
sportliche Handeln als Wettkampf organisierte bzw. strukturiert
– Kennzeichnung durch spezielle Wertstruktur
– unproduktiv, ohne Konsequenzen und selbstreferentiell (Wettkampf um seiner selbst
willen)
– umfasst Breiten-, Leistungs- und Hochleistungssport gleichermaßen
Showsportmodell
– konstitutive Variablen des traditionellen Modells bleiben erhalten, jedoch
keine Zweckfreiheit mehr (dient der Unterhaltung, Verknüpfung mit kommerziellen
Interessen usw., das heißt mit Verwertungsinteressen)
Expressives Sportmodell
– Typus unproduktiver Bewegung
– Leistungselemente vorhanden, aber kein Streben nach Leistungsvergleich und kein
(zukunftsbezogenes) Bemühen um Leistungssteigerung
– Selbstverständnis und Ethos zusammengesetzt aus Werten wie Spaß, Freude,
unmittelbares Erlebnis; Erregung, „thrill“ usw.; Zurückdrängen von Leistungs- und
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Wettkampfmomenten
– Ausblendung von Alltag, Zukunft, Zweck; völlige Gegenwartsbezogenheit
Funktionalistisches Sportmodell
– instrumentelles Verständnis des Sports, d.h. Ableitung des Sinns und der Strukturen
des Sports aus körperbezogenen Funktionen
– Anstreben spezifischer einzelner Wirkungen (Fitness-Studio = Körperformung,
Kräftigung usw.; Yoga = Entspannung etc.), d.h. Verselbständigung von Motiven
bzw. Motivkomplexen wie Gesundheit, Fitness, Spaß, Wohlbefinden, Spannung usw.
– Effizienzsteigerung durch Differenzierung, d.h. gezielte Anpassung an spezifische,
individualisierte Wünsche
– Ausgrenzung all dessen, was nicht dem unmittelbaren Bedürfnis entspricht und vom
Standpunkt der Effizienz überflüssig ist (Rituale, Gemeinschaftlichkeit, langfristiger
Übungsbetrieb usw.
Traditionelle Spiel- und Sportkultur
– wiederaufkeimendes Interesse an traditionellen (vorindustriellen) Spiel- und
Sportkulturen a) als Touristenattraktion (Folklore), b) als Suche nach Möglichkeiten
lokaler Identifikation, c) als Opposition gegen die Vereinnahmung durch eine globale
Kultur, d) als ein Rückbesinnen auf die (vermeintlichen) Wurzeln der eigenen Kultur
(d.h. Dialektik von Globalisierung und Lokalisierung)
Fragen der Differenzierung und Entdifferenzierung werden heute vor allem in einer
systemtheoretischen Perspektive verfolgt. HauptvertreteIinnen einer solchen Perspektive in
der Sportsoziologie sind heute: Klaus Cachay (Bielefeld), Karl-Heinrich Bette (Darmstadt),
Ansgar Thiel (Chemnitz), Ilse Hartmann-Tews (Köln).
2.
Mikrotheoretische Perspektive: Sie richtet sich primär auf die Prozesse, die
sich in überschaubaren Situationen des Sports beobachten lassen. Beispiele: Formen
der Gruppenbildung und der Vergemeinschaftung im Sport; Zusammenhänge
zwischen Gruppenstruktur, Gruppenzusammensetzung und Leistungsfähigkeit in
Sportspielmannschaften; (geschlechtsspezifische) Sozialisation in den und durch
den Sport; Probleme der Integration und der Diskriminierung im Sport; der
Gebrauch und die Inszenierung des Körpers in den verschiedenen Sportmodellen
innerhalb und außerhalb des organisierten Sports; die Spektakularisierung des
Sports (in den visuellen Massenmedien) etc.
Hauptvertreter der (Klein-)Gruppenforschung in der Sportsoziologie: Michael Klein
(Erfurt), Bero Rigauer (Oldenburg), auch Ansgar Thiel (Konflikte in
Sportspielmannschaften); geschlechtsspezifische Sozialisation: Sabine Kröner,
Gertrud Pfister (Berlin/Kopenhagen), Gabriele Sobiech (Freiburg), Claudia
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Kugelmann; Integration und Diskriminierung: Bernd Bröskamp (Berlin), MarieLuise Klein (Bochum); Gebrauch und Inszenierung des Körpers sowie neue Formen
der Vergemeinschaftung im informellen Sport (aus einer primär ethnographischen
Perspektive): Jürgen Schwier (Gießen); Robert Schmidt (Berlin); ebenfalls Gabriele
Klein (Hamburg) u. Karl-Heinrich Bette; Spektakularisierung des Sports: Gunter
Gebauer (Berlin), Thomas Alkemeyer (Oldenburg).
3.
Mikro-Makro-Perspektiven: In neueren sportsoziologischen Arbeiten geht es
vor allem um die Analyse des Zusammenhangs zwischen den Wandlungen im Feld
des Sports und der (Sport-)Spiele einerseits und gesellschaftlichem Wandel,
besonders in der Sphäre der Erwerbsarbeit, andererseits. Die Hauptthese dieser
Forschungsrichtung lautet: Der Wandel von Sport und Spiel hat eine
Indikatorfunktion, d.h. er zeigt gesellschaftlichen Wandel besonders klar und
deutlich an, ja ahmt diesen sogar vor. Z.B. wird angenommen, dass in neuen
Sportarten Formen der Gemeinschaftsbildung und des Risikoverhaltens ausgeprägt
werden, die auch Bedeutung für andere soziale Felder bzw. Systeme haben. In
diesen Arbeiten wird also in einer doppelten Richtung untersucht: a) in der
Perspektive vom Sport auf die Gesellschaft; b) in der Perspektive von der
Gesellschaft auf den Sport. Methodologisch werden dabei die aus der
Mikrosoziologie stammenden Methoden der Ethnografie (Beobachtung und
Befragung) mit Theorien verbunden, die den strukturellen Zusammenhang zwischen
Spiel bzw. Sport und Gesellschaft zu denken erlauben (besonders Bourdieu und
Caillois). Ein Hauptaugenmerk liegt auf der Frage des Zusammenhangs zwischen
der sozialen Formung und dem Gebrauch des Körpers im Sport auf der einen Seite
und seiner Formung und seinem Gebrauch in anderen gesellschaftlichen Feldern,
besonders der Arbeit, auf der anderen Seite. Die zentrale These dieses Ansatzes
lautet mithin: Wenn sich die Spiele einer Gesellschaft ändern, dann ändert sich auch
in anderen sozialen Feldern etwas, dann wird anders gearbeitet, dann verändern sich
die Familienbeziehungen usw.
Hauptvertreter dieser Forschungen: Berlin-Oldenburger Arbeitsgruppe um Gunter
Gebauer, Thomas Alkemeyer, Robert Schmidt und Bernhard Boschert. Sie wird in
ihrer empirischen Arbeit von Uwe Flick unterstützt. Die Gruppe greift vor allem auf
kultursoziologische Theorien zurück, in denen in besonderer Weise auf die
Bedeutung des Körpers für die Konstruktion des Sozialen reflektiert wird (N. Elias,
M. Mauss, P. Bourdieu usw.). Diese Theorie sind für die Analyse des Sports
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besonders wichtig, weil im Sport nicht primär in den Medien von Wort und Schrift,
sondern stumm von Körper zu Körper kommuniziert wird. Es ergeben sich
Überschneidungen mit Forschungsthemenn von Bette, Gabriele Klein und Eugen
König (Berlin).
Nach einem aktuellen Bericht von Bero Rigauer in der Zeitschrift „Soziologie“ der
DGS (Nr. 2/2003) sind heute in der deutschen Sportsoziologie zum einen die
systemtheoretischen Ansätze um Cachay und Bette, zum anderen die
kultursoziologischen Ansätze um Gebauer und Alkemeyer dominant.
Zusammenfassend ließe sich also festhalten: Es können in der gegenwärtigen deutschen
Sportsoziologie 3 Perspektiven unterschieden werden:
1. Perspektive: Diese schaut theoretisch fundiert‚von oben’ auf die im langfristigen
historischen Prozess sich verändernden Beziehungen zwischen Sport und Gesellschaft /
anderen gesellschaftlichen Teilsystemen. Vernachlässigt werden dabei jedoch empirische
mikroskopische Feinbeobachtungen und Scharfstellungen.
2. Perspektive: Sie Betrachtet vornehmlich empirisch von innen bzw. aus einer
Nahperspektive die sozialen Prozesse, die sich im Sportsystem selbst vollziehen.
Vernachlässigt werden allerdings die (theoretische) Untersuchung des Zusammenhangs mit
größeren, langfristigen gesellschaftlichen Strukturwandlungen.
3. Perspektive: Sie zielt darauf ab, detaillierte empirische Beobachtungen und Beschreibungen
des Wandels im Sport (z.B. der Formen körperlicher Vergemeinschaftung, der Bewegung, der
Körpertechniken usw.) im Zusammenhang mit dem gesellschaftlichen Strukturwandel zu
untersuchen, um auf diesem Weg eine Theorie des komplexen Zusammenhangs zwischen
Spiel (Sport) und Gesellschaft auszuformulieren. Ziel ist hier die Verbindung der
Perspektiven 1 und 2 (s. auch die 3. Vorlesung).
II.
Ich möchte nun zunächst auf das Verhältnis von Sport und Gesellschaft eingehen, wie es vor
allem aus einer systemtheoretischen Perspektive thematisiert wird. Die leitende Frage in
diesem Zusammenhang ist: Wann und aus welchen Gründen hat sich der Sport als
eigenständiges Sozialsystem ausgebildet?
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Uns heute erscheint es selbstverständlich, dass es Sport gibt, und wir glauben, dass es Sport
schon immer gegeben hat. Haben nicht schon die alten Griechen Sport getrieben? Hatten nicht
bereits sie ihre Olympischen Spiele usw.? Hat Sport nicht schon seit jeher einen angeblich
natürlichen Bewegungsdrang der Menschen befriedigt?
Skeptisch sollte allerdings bereits machen, dass der Begriff „Sport“ recht jung ist. Seine
Wurzeln liegen im 17. Jahrhundert, in dem mit dem englischen Begriff „disport“ (= sich
vergnügen, amüsieren usw.) zunächst der Zeitvertreib des europäischen Adels z.B. bei
Ballspielen wie dem „jeu de paume“ bezeichnet wurde. Erst im 18. Jhdt. erlangte der Begriff
„sport(s)“ seine moderne Spezialbedeutung, als es in der englischen Oberschicht (gentry) Sitte
wurde, zur Unterhaltung Wettläufe zwischen den eigenen Lakaien, den footmen, sowie
Wettkämpfe zwischen Fährleuten im Rudern zu arrangieren. Auch im Fechten, Ringen,
Boxen und Cricket wurden zum Vergnügen der Oberschicht der gentlemen als Sport
bezeichnete Preiskämpfe von Akteuren aus dem niederen Volk veranstaltet. Zum Sport
schlechthin entwickelten sich schließlich Pferderennen mit bezahlten Jockeys und hohen
Wetteinsätzen (turf). Erst am Ende des 18. Jahrhunderts wurden die gentlemen selbst
‚sportlich’ aktiv. Sie ahmten manche dieser sports zum Vergnügen nach und trugen
untereinander auf ihren Landsitzen (rural sports) oder in ihren Herren-Clubs (Cricket)
spielerische Wettkämpfe nach allgemeinen Regeln und anerkannten gesellschaftlichen
Konventionen der Fairness aus. Sportsman wurde nun an der Wende vom 18. zum 19.
Jahrhundert geradezu ein Synonym für gentleman.
Schon diese Begriffsgeschichte zeigt: Sport ist alles andere als eine überhistorische,
ungesellschaftliche, transkulturelle, allgemein-menschliche Praxis. Er realisiert nicht einfach
ein allgemein-menschliches Bewegungsbedürfnis, sondern hat spezifische historische, soziale
und kulturelle Voraussetzungen. Wenn überhaupt, dann verwirklicht er ein
Bewegungsbedürfnis nur in bestimmten, historisch gewachsenen, gesellschaftlichen Formen.
Aus soziologischer Perspektive darf Sport deshalb auch nicht länger, wie der Soziologe
Norbert Elias postuliert hat, „als etwas Selbstverständliches hingenommen werden. Man muss
sich vielmehr die Frage stellen, wie und warum er aufkam“ (Die Genese des Sports als
soziologisches Problem, S. 105). Elias eigene Forschungen legen die Vermutung nahe, dass
die Entstehung des modernen Sports eng an einen spezifischen historischen Kontext sowie
eine besondere soziale Klasse – die Klasse der gentleman – geknüpft war, die im Sport ihre
spezifischen Werte des fair play (und des Amateurismus) sowie die Freiheit demonstrierte,
etwas aus freiwilligen Stücken tun zu können, ohne es tun zu müssen, wie bspw. die Arbeiter
aus den unteren Schichten. Sport ist ja gewissermaßen eine Verschwendung von Lebenskraft,
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ein im ökonomischen Sinn überflüssiges Tun. Mit diesem überflüssigen sportlichen Tun
demonstrierten die Gentlemen, dass sie die Zeit und das Vermögen hatten, sich aus reinem
Selbstzweck zu bewegen, ohne dazu gezwungen zu sein. So gesehen war der Sport in dieser
Phase seiner Entstehung stets auch eine Praxis der sozialen Distinktion – der Unterscheidung
und Abgrenzung von anderen sozialen Klassen.
Ich möchte diese Überlegungen jetzt jedoch durch eine größere systemtheoretische orientierte
Erklärung für die Genese des modernen Sports erweitern. In dieser Perspektive wird die
Entstehung des Sports aus der strukturellen Entwicklung moderner Gesellschaften heraus
erklärt. Sport ist ja offenkundig ein eigener Teilbereich der Gesellschaft mit eigenen
Institutionen, Regeln, Akteursgruppen und Rollenspezialisierungen (Sportler, Trainer,
Funktionäre, aber auch Zuschauer, Journalisten usw.), mit eigenen Massenmedien, einer
eigenen Sportartikelindustrie usw. Außerdem haben sich im Rahmen dieses Sportsystems
ganz eigene und neue Formen und Typen des Sichbewegens entwickelt, die man so außerhalb
des Sports nicht findet, denken Sie nur an die virtuosen Salti und Schrauben beim Turnen, den
Fosbury-Flop in der Leichtathletik, die komplizierten Spielmuster des Fußballs usw. Zwar
kommen im Sport auch „Körpertechniken“ (M. Mauss) und Bewegungen vor, die außerhalb
des Sports ebenfalls anzutreffen sind, wie besonders das Laufen, im Sport läuft man jedoch
auf eine besondere Weise in einem besonderen Rahmen, der das sportliche Geschehen von
seinem Umfeld abgrenzt, es aus dem alltäglichen Fluss der Ereignisse heraushebt. Einer
Straßenbahn hinterherzulaufen, um sie zu erreichen, wird gemeinhin nicht als Sport
wahrgenommen. Erst wenn ein vergleichbarer Bewegungsablauf unter speziellen
Rahmenbedingungen stattfindet – in einem Stadion, im geregelten Wettkampf mit anderen,
auf einer normierten Laufbahn, unter Anwesenheit von Schiedsrichtern, werden wir das
Laufen als Sport bezeichnen.
Eine solche Herauslösung von Bewegungen aus anderen, alltäglichen
Handlungszusammenhängen ist der zentrale und wegweisende Grundgedanke des modernen
Sports. Diese Isolierung der Bewegung und ihre gleichzeitige Formung und Konstruktion als
spezifisch sportliche Bewegung ist letztlich eine Erfindung moderner Gesellschaften. Bereits
in der griechischen Antike finden wir zwar etliche Bewegungsformen und Wettkämpfe vor,
die dem Sport ähneln, aber diese Bewegungsformen und Wettkämpfe standen seinerzeit noch
nicht für sich, sie hatten noch keine Autonomie, sondern waren Bestandteil anderer
Handlungs- und Sinnzusammenhänge. Sie waren gewissermaßen ‚organisch’ eingebunden in
den religiösen Kult, die Politik und das kriegerische Ethos einer männlichen
Kriegeraristokratie. Die Verflechtung mit dem Kult wird an den Wettkämpfen im antiken
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Olympia besonders deutlich, den olympischen Agonen. So hat der Altphilologe Walter
Burkert in seiner bahnbrechenden Studie über den „tötenden Mensch“, den „homo necans“,
die These aufgestellt und anhand von altgriechischen Schriftstücken des Schriftstellers
Philostrat untermauert, dass diese olympischen Agone eine wichtige religiöse bzw. kultische
Bedeutung hatten. Entsprechend verfügte Olympia über ein sakrales Zentrum, den Zeusaltar,
der nur aus einem Aschehaufen – den Überresten vergangener Opfer – bestand. Ursprünglich,
im 8. Jhdt. Vor unserer Zeitrechnung, gab es hier nur einen einzigen Wettkampf, den
Wettlauf. Die Stätte dieses Wettlaufs, das so genannte Stadion, führte direkt auf den Zeusaltar
zu. An diesem Altar schlachtete man dem Zeus Opfertiere, vor allem Stiere. Knochen und Fett
wurden auf dem Aschehügel deponiert, das Fleisch fürs Kochen in einem Dreifußkessel
vorbereitet. Genau auf diesen Altar mit dem Dreifußkessel darauf führte die Laufbahn, das
Stadion, zu; und die Sieger im Wettkampf hatten die Ehrenaufgabe, das Feuer auf dem Altar
zu entzünden. Walter Burkert schreibt dazu: „Der sportliche Wettkampf, der in seinem Kern
und ursprünglich allein aus diesem Stadionlauf besteht, hat seinen Platz also gleichsam in
einem Hiat der Opferhandlung, zwischen Schlachten und Gebet einerseits und dem Entzünden
des Feuers für die Götter und fürs Festmahl andererseits“. (In: Gebauer, Körper- und
Einbildungskraft, S. 34). Anders gesagt: Der Wettkampf war untrennbarer Teil einer
kultischen Opferhandlung. Erst in klassischer Zeit, im 4. Jhdt. vor unserer Zeitrechnung,
rückte das Stadion von der Opferstätte ab; es wurde größer und schließlich durch eine Mauer
von dieser getrennt. Diese architektonisch vollzogene, räumliche Abtrennung dokumentierte
einen ersten wesentlichen Schritt auf dem Weg zur Selbständigkeit des Sports, die dieser nun
gegenüber der kultischen Opferhandlung erlangte. Außerdem kamen nun weitere Wettkämpfe
wie z.B. der Ringkampf, der Pankration, hinzu.
Gleichwohl blieben diese Wettkämpfe etwas ganz Anderes als das, was wir heute unter Sport
verstehen. Besonders bemerkenswert und auffällig ist die große Brutalität der antiken
Wettkämpfe, die auch von Norbert Elias eindrucksvoll beschrieben worden ist (Zitate aus
Elias: Die Genese des Sports .... und Einzelkopie!). Das hat mit heutigem Sport offenbar
nichts zu tun. Vor allem der Tod gehört heute nicht mehr ins Universum des Sports. Der
moderne Sport hat sich von der Sphäre der Gewalt und des Todes vollständig emanzipiert.
Der Tod taucht in einigen Sportarten zwar noch auf, aber nicht mehr als akzeptierter
Bestandteil der sportlichen Praxis, sondern als Unfall, d.h. als ein Ereignis, das eigentlich
nicht dazugehört. Die Bezeichnung und Wahrnehmung des Todes als Unfall ist eine Form der
Rationalisierung eines Ereignisses, das nicht mehr auftreten soll und darf. Tritt der Tod
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dennoch ein, so sind wir alle schockiert. Überdies gab es in der Antike offenbar auch kaum
Regeln, die die Gewalt wirklich eindämmten. Wenn es Regeln gab, dann waren diese nicht
schriftlich fixiert, sondern wurden nur mündlich tradiert. Schriftlich sind Regeln erst in
modernen Gesellschaften der Schriftkultur (Literalität) fixiert worden (s. auch unten zur
Unterscheidung von Oralität und Literalität), zu einem Zeitpunkt, als sich auch Institutionen
und Organisationen, die Schiedsrichterfunktion, Sportverbände usw. entwickelten. All diese
Prozesse der Gewalteindämmung durch Institutionalisierung und Verregelung des Sports sind
eindrucksvoll von Norbert Elias und Eric Dunning am Beispiel der Genese des Fußballsports,
seiner Entwicklung aus mittelalterlichen Spielen wie dem hacking, nachgezeichnet worden.
Im Übrigen ist parallel zu diesem Prozess auch die Sensibilität der Menschen gegenüber der
Gewaltanwendung immer größer geworden. Die von Elias beschriebene Gewalt antiker
Wettkämpfe würde bei den meisten Menschen heutzutage große Abscheu hervorrufen; sie
würden sich entsetzt und empört abwenden, würden Ekel, Scham und Pein empfinden.
Warum aber war das Ausmaß der erlaubten Gewalt in der griechischen Antike so viel größer
als heute? Diese Frage ist nur zu beantworten, wenn man den gesellschaftlichen Kontext mit
betrachtet, in den die antiken Agone noch unmittelbar eingebettet waren. Einen ersten
wichtigen Anhaltspunkt liefert die Frage nach der sozialen Herkunft der antiken Wettkämpfer.
Es handelte sich nämlich ausnahmslos um freie Männer aus dem Kriegeradel, also einer
speziellen Schicht bzw. einem speziellen Stand der altgriechischen Gesellschaft.
Charakteristisch für diesen Stand war, sich durch die Fähigkeit zur Gewaltanwendung zu
definieren, also eine kollektive Identität durch das Demonstrieren von Gewaltbereitschaft zu
erlangen. Anders gesagt: In der Gewalt der ‚sportlichen’ Wettkämpfe drückten die
Angehörigen der griechischen Kriegeraristokratie ihre ureignen Standesideale und
Wertvorstellungen aus, über die sie sich als Einheit definierten und von anderen Ständen
abgrenzte. Die Wettkämpfe waren eine Art „Strukturübung“ (Bourdieu) zum Erwerb und zur
Aufführung eines Kriegerethos des Kampfes und des Heldentums, das in Begriffen wie
„virtus“ und „arete“ gebündelt war. Mit diesen Begriffen waren gemeint: männliche Tugend
und Kraft, Mut und Ausdauer die Fähigkeiten zum Kämpfen und Standhalten bis zum Tode.
Wer diese Tugenden im ‚sportlichen’ Wettkampf unter Beweis stellte, konnte sich ein hohe
soziale und politische Position verschaffen. D.h.: Die Erfolge in den ‚sportlichen’ Agonen
waren direkt konvertierbar in gesellschaftliche und politische Positionen, ja sie begründeten
diese Positionen sogar. Auch dies weist auf die enge Verflechtung der ‚sportlichen’ Agone
mit dem gesellschaftlichen Umfeld hin. Die einzelnen Sphären des Handelns waren noch
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nicht in dem Maße voneinander getrennt, wie es heute der Fall ist. Insbesondere die
Wettkämpfe in Sport und Krieg galten als gleichwertig und austauschbar. Deshalb, und nicht
weil man irgendeiner übergeordneten Friedensidee huldigte, ruhten bspw. die Kriege während
der Zeit der antiken „Olympischen Spiele“: Der Sport galt als Fortführung des Krieges mit
anderen Mitteln – und umgekehrt. Sport und Krieg wurden als strukturell homolog und
psychologisch gleichwertig aufgefasst.
Auch wenn heutzutage in der Sportberichterstattung noch Kriegsvokabular vorhanden ist, ist
dies heute ganz anders: Sport, Kult und Krieg haben nichts mehr miteinander zu tun; es
handelt sich um klar voneinander abgegrenzte Sphären. Und sportlicher Erfolg kann auch
nicht mehr direkt, sondern allenfalls über den Umweg von Geld oder Status in soziale oder
politische Positionen umgemünzt werden. Die Entstehung des Sports ist mithin auf einer
ersten Stufe als eine Art Ablösungsprozess beschreibbar: als eine Ablösung zunächst vom
Kult und vom Krieg, dann aber auch von anderen Ereignissen etwa der Volkskultur wie
Erntefeste usw., in die körperliche Spiele einst eingebettet waren. Überreste solcher
volkskulturellen Spiele sind z.B. noch im baskischen Steinewerfen oder in den schottischen
Highland Games vorhanden.
Ein wichtiger sozialer Ort dieser Ablösung war im 19. Jahrhundert die britische public school.
Hier wurden zuvor in Rituale und Feste eingebundene Körperpraktiken und Wettkämpfe in
Übungen und Veranstaltungen umgewandelt, die um ihrer selbst willen betrieben werden.
Bourdieu hat diese aus anderen Sinnbezügen heraus gelösten Übungen deshalb als „L’art pour
L´art des Leibes“ bezeichnet. Man könnte nun Einiges über die gesellschaftliche und
pädagogische Funktion dieser Übungen an den public schools sagen, aber ich breche diesen
Argumentationsstrang hier erst einmal ab, um kurz zusammenzufassen:
Der moderne Sport entsteht infolge eines Ablösungsprozesses von körperlichen Bewegungen
und Wettkämpfen von anderen sozialen Sinnbezügen. Anzeichen dieses Ablöseprozesses sind
u.a.: Die Einrichtung eigener Sporträume und –zeiten, die Bewegungen aus anderen
Kontexten herausschneiden, sie geradezu isolieren; die Genese eigener Institutionen,
Verbände, Regeln, Funktionen und Rollen usw.; die Kodifizierung, Formalisierung und
Normierung von Bewegungen im Innern der neuen Sporträume; die Entwicklung eigener
sport(art)spezifischer Bewegungen; die Entstehung eigener Massenmedien und Industrien
usw. Wir haben es also mit einem Prozess der Ausdifferenzierung auf drei Ebenen zu tun:
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1. Ausdifferenzierung auf kultureller Ebene: Ablösung des Sports bzw. Emanzipation des
sportlichen Handelns vor allem von der Religion; der moderne Sport schöpft seinen Sinn
nicht mehr aus einer Einbettung in religiöse Zusammenhänge, sondern bildet eine Art
„Eigensinn“ aus;
2. Ausdifferenzierung auf sozial-struktureller Ebene: Sport erhält ganz eigene Normen
und Regeln und eine eigene Bürokratie, d.h. er wird nach seinen eigenen inneren
Notwendigkeiten organisiert,: es entsteht ein gewisser „Eigenweltcharakter“ des Sports;
dazu gehört auch: die erwähnte Ausbildung interner (Rollen-) Spezialisierungen und
Arbeitsteilungen sowie die Tatsache, dass der Sport nun – wie man in der Systemtheorie
sagen würde – nach einem eigenen Code – einer eigenen Leitorientierung – funktioniert
(Sieg/Niederlage bzw. Code Leistungsverbesserung und Überbietung)
3. Ausdifferenzierung auf personaler Ebene: d.h., die Alltagsidentitäten der Athleten
werden gleichgültig; die modernen Sportler treten im Sport nicht mehr in anderen
Funktionen auf, z.B. als Angehöriger einer Aristokratie, als Mitglied einer Kirche, als
hoher Politiker usw., sondern einzig und allein als Sportler, in der sozialen Person des
Sportlers (von persona = Maske); es ist formal egal, ob jemand Angestellter, Arbeiter,
Familienvater, Mutter oder was auch immer ist; die Differenzen des Alltags werden
ausgeblendet, es wird formale Gleichheit hergestellt; auf dieser Basis kann sich dann ein
neues eigenes Differenzensystem ausbilden, das mit den Hierarchien des Alltags nicht
identisch ist, nämlich ein Differenzensystem bzw. eine Ordnung des Wettkampfes, die auf
den individuell erbrachten Leistungen beruht.
Da nun viel von Differenzierung und Ausdifferenzierung die Rede war, werde ich im
Folgenden knapp etwas zur Theorie gesellschaftlicher Differenzierung sagen.
III.
Die Annahme, dass die Entwicklung der menschlichen Gesellschaft durch zunehmende
Differenzierung bei gleichzeitiger Integration der verschiedenen Teile bzw. Systeme
gekennzeichnet ist, ist eine Grundlage vieler soziologischer Ansätze ist (Cachay/Thiel, S.
29ff.): D.h. es wird vom Entstehen immer neuer, eigenständiger sozialer Subsysteme
ausgegangen, die zugleich voneinander abhängig sind. Nach dieser Annahme sind
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Differenzierung und Integration die zentralen und komplementär aufeinander bezogenen
Mechanismen gesellschaftlicher Entwicklung. Dieses Denken ist besonders von Niklas
Luhmann in seiner Systemtheorie aufgegriffen und weiterentwickelt worden. Allerdings hat
Luhmann den mit älteren Differenzierungstheorien verbundenen Entwicklungs- und
Fortschrittsgedanken aufgibt. Die zentrale These Luhmanns lautet: Das einzig erkennbare
Richtungskriterium der gesellschaftlichen Evolution ist zunehmende Komplexität. Damit ist –
stark vereinfacht – gemeint, dass immer mehr Elemente (Bereiche) in einer Gesellschaft
zueinander ins Verhältnis treten können.
Luhmann unterscheidet zunächst unterschiedliche Gesellschaftstypen hinsichtlich ihrer
Differenzierungsform und ihrer Komplexität: segmentäre, stratifiziert und funktional
differenzierte Gesellschaften. Jedem Gesellschaftstypus entspricht dabei ein bestimmtes
Kommunikationsmedium: orale Sprache für die segmentären, Schrift für die
stratifikatorischen, Buchdruck für die funktional differenzierten Gesellschaften. Diese
bedürfen nämlich der Kommunikation über Räume und Zeiten hinweg.
Funktional differenzierte Gesellschaften (seit dem 19. Jhdt.) bestehen aus verschiedenen
gesellschaftlichen Teilsystemen, die sich jeweils primär an einer bestimmten Funktion
orientieren. Politik und Verwaltung, Wirtschaft, Religion, Familie, Wissenschaft, Erziehung,
Sport usw.) „treten als verschiedene Sozialsysteme mit relativ hoher Autonomie
nebeneinander, wodurch die Gesellschaft eine neue Stufe der Komplexität erreicht ..“
(Cachay/Thiel, S. 33). „D.h. die Gesellschaft gliedert sich nun in verschiedene Teilsysteme,
die untereinander in wechselseitiger Beziehung stehen. Dabei scheint dem Wirtschaftssystem
... Motorfunktion für die verstärkte und weitere Ausdifferenzierung von Teilsystemen
zuzukommen. (System kann dabei definiert werden als ein autopoietischer
Kommunikationszusammenhang, der sich gegen eine Umwelt abgrenzt). Dabei möchte ich
gleich einem Missverständnis vorbeugen: Das Prinzip der funktionalen Differenzierung setzt
das stratifikatorische Differenzierungsprinzip nicht völlig außer Kraft, aber es rückt nun in
den Vordergrund; es wird zur Leitdifferenzierung. Nach wie vor findet sich aber auch im
Rahmen funktional differenzierter Gesellschaften noch die Stratifikation in Form von sozialen
Klassen.
Wichtig ist nun die Frage nach der Ursache des Übergangs von einem Gesellschaftstypus zum
nächsten. Dabei gibt es nach Luhmann keine einfachen Kausalerklärungen, sondern man muss
bei den Strukturproblemen des jeweils vorhergehenden Gesellschaftstypus ansetzen, müsste
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also, um das Entstehen funktional differenzierter Gesellschaften zu erklären, von den
Strukturproblemen segmentärer Gesellschaften ausgehen.
Dies kann ich hier nicht tun. Wichtig ist mir an diesem Punkt nur so viel: Jedes Teilsystem
muss sich als gesamtgesellschaftlich relevant behaupten, also spezifische Aufgaben für das
Funktionieren des Ganzen übernehmen und prinzipiell alle Gesellschaftsmitglieder
inkludieren können. D.h. jedes Teilsystem bearbeitet ein spezifisches Problem und übernimmt
eigene Aufgaben im Ganzen (und zwar auf der Grundlage einer je eigenen
Leitunterscheidung, eines systemspezifischen Codes). Stabilitätsbedingung für Teilsysteme
ist, dass sie Leistungen für andere Systeme übernehmen.
Bezogen auf die Frage nach den strukturellen Gründen dafür, dass sich im 18. Jhdt. ein neues
Teilsystem, genannt Sport, ausdifferenziert hat, wäre eine eingehende historische
Detailforschung zu betreiben; dies ist nur ein Beispiel dafür, dass Soziologie ohne Geschichte
nicht zu betreiben ist. Eine solche Detailforschung ist ansatzweise von Klaus Cachay
vorgelegt worden. Sie kann an dieser Stelle aus Zeitgründen nicht rekonstruiert. Ich werde
auch nicht genauer in die hochkomplexe und –komplizierte systemtheoretischen Terminologie
eindringen, sondern nur knapp ein systemtheoretisch inspiriertes Erklärungsmodell für die
Ausdifferenzierung des modernen Sports als eigenes gesellschaftlichen Teilsystems in
funktional differenzierten Gesellschaften andeuten, nämlich das Modell von Karl-Heinrich
Bette (Luhmann selbst hat das Sportsystem nicht behandelt; neben Bette aber auch Schimank
und Stichweh). Die Argumentation von Bette kann vor allem in dessen Buch Körperspuren:
Zur Paradoxie und Semantik moderner Körperlichkeit (1989) nachgelesen werden,
ergänzt durch Überlegungen von Cachay/Thiel (Einführung in Sportsoziologie).
Der zentrale Gedankengang von Bette ist folgender:
Im Zuge der Transformation von vormodernen in moderne Gesellschaften kommt es zu einer
zunehmende Verdrängung aus bzw. einer Überlastung des Körpers in zentralen Bereichen
(Systemen) der neuen, industriellen Gesellschaft. Dies betrifft besonders die folgenden
Bereiche: a) Kommunikation: Ablösung von körperlicher Präsenz durch Buchdruck, Telefon
bis hin zu Internet; b) Transport/Verkehr: Ablösung der Ortsveränderung von körperlicher
Bewegung durch moderne Verkehrsmittel (Eisenbahn, Auto, Flugzeug); der Körper wird
bewegt, ohne dass er sich selbst bewegt; c) Arbeit/Produktion: Einsatz von Maschinen;
Ablösung der Produktion vom Körper; Körperkraft wird unerheblich. Weitere Beispiele
wären etwa auch in den (technologischen) Veränderungen des Kriegswesens zu finden.
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All diese technologischen Entwicklungen führen u. a. zu einer unerhörten Beschleunigung des
Lebens. Neue Kommunikations- und Transportmittel lassen die Räume zusammenschmelzen
(s. auch Schivelbusch: Geschichte der Eisenbahnreise). Binnen kürzester Zeit können nun
große Distanzen zurückgelegt werden. Damit kommt es auch zu veränderten
Raumerfahrungen. Ebenso werden die vom Körper tendenziell abgekoppelten, maschinellen
und dann automatisierten Produktionsprozesse immer schneller.
Allerdings ist der Körper in allen Bereichen der Gesellschaft ja noch vorhanden. Wir können
uns von unserem Körper nicht trennen, er bleibt der ständige Begleiter des Menschen. D.h.
wir können auch nur mit unseren Körpern in die verschiedenen Teilsysteme der Gesellschaft
eintreten bzw. nur als körperliche Wesen in diese inkludiert werden. Eine Folge ist: Die
Körper geraten unter Druck; sie können z.B. der zunehmenden Beschleunigung aufgrund ihrer
begrenzten biologischen Ausstattung, ihrer anthropologischen Grenzen, nicht standhalten,
halten gewissermaßen nicht mehr mit und entwickeln charakteristische neue
Krankheitssymptome wie Stress, Kreislaufstörungen, Orientierungsverluste usw., aber auch
neue Bedürfnisse z.B. nach Selbstbewegung, körperlicher Nähe zu anderen usw.
Kurzum. infolge sozialen Wandels entstehen gesellschaftliche Problemlagen, die gelöst
werden müssen, damit die Gesellschaft weiterhin funktionieren kann. Zum Zweck der
Bearbeitung dieser neuen Problemlagen entstehen nun im 18. und 19. Jhdt. durch
Ausdifferenzierung allmählich neue gesellschaftliche Funktionssysteme, die Leistungen für
die anderen Systeme erbringen, und zwar im selben historischen Prozess das Medizin- bzw.
Gesundheitssystem, das Erziehungssystem und das System des Sports. Ihre Aufgaben sind im
u.a.: die Rehabilitation, d.h. die Wiederherstellung des geschundenen Körpers, später auch die
Prävention im Medizinsystem einerseits und die Ertüchtigung des Körpers für die neuen
gesellschaftlichen Anforderungen der Arbeitswelt, aber auch des Militärs wesentlich im
Sportsystem andererseits. In diesem Zusammenhang wird auch der Begriff ‚Fitness’ zentral.
Er bedeutet so viel wie Anpassungsfähigkeit. Fitmachen heißt so viel, die Menschen den
neuen Kommunikations- und Produktionsbedingungen anzupassen. Zugleich übernimmt der
Körper in diesem Zusammenhang Zeichenfunktion: ein trainierter Körper soll Fitness nach
außen signalisieren.
Für die einzelnen Subjekte garantiert die Beschäftigung mit dem eigenen Körper darüber
hinaus ein Stück weit Sicherheit und Orientierung in unsicheren, sich rasch verändernden
Zeiten. Durch Beschleunigung entsteht ja eine große Unsicherheit darüber, was die Zukunft
bringen wird. Der Historiker Reinhard Koselleck hat so gezeigt, wie Erfahrungshorizont und
Erwartungshorizont im Prozess der Moderne auseinander fallen. Die Zukunft ist nun nicht
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mehr aus der Vergangenheit ableitbar, wie in vormodernen bzw. vorindustriellen
Gesellschaften. In dieser Situation garantiert die Beschäftigung mit dem Körper im Sport
unmittelbare Gegenwartserfahrungen und Entlastungen vom Erwartungsdruck. Im Sport kann
man ‚ganz’ im Hier und Jetzt aufgehen. Weil der Körper zudem ständiger Begleiter des
Menschen ist, garantiert er eine Kontinuität zwischen Vergangenheit, Gegenwart und
Zukunft. Der Körper wird im Sport deshalb auch als Ressource individueller Sinngebung
benutzt. Dies schließt mit ein, dass im Sport komplementär zur Distanzierung der Körper in
anderen gesellschaftlichen Bereichen Erfahrungen körperlicher Nähe gemacht werden können
– ein Gedanke, den auch Volker Rittner bereits 1983 formuliert hat.
Bettes zentrale These lautet also: Körperverdrängung (in Kommunikation, Verkehr, Arbeit,
Rechtswesen usw.) und Körperaufwertung (zunächst im Medizin- und Sportsystem, später
auch in der Alltagskultur usw.) sind gleichzeitige komplementäre Prozesse. Sie gehören beide
zum Grundriss moderner Gesellschaften. Die eine Entwicklung bedingt die andere, treibt sie
hervor und federt sie zugleich ab. Die Bedeutung des Sports wird in modernen Gesellschaften
insgesamt in dem Maße größer, wie der Körper in zentralen Bereichen bzw. Teilsystemen
dieser Gesellschaften an Bedeutung verliert, entwertet bzw. verdrängt wird.
Anhang
Konstitutives Merkmal für alle Systeme ist, der Systemtheorie zufolge, die System-UmweltDifferenz, d.h. die Ausbildung von Grenzen. Systeme sind Umwelt füreinander. Auch die
Menschen – Luhmann spricht von psychischen Systemen – sind Umwelt für die
verschiedenen sozialen Systeme. Sie werden nur am Leitfaden systemspezifischer
Funktionsabsichten in die Systeme hinein genommen (inkludiert): partiell, rollenhaft und
nach teilsystemspezifischen Erfordernissen.
Daran wird bereits deutlich: Die Umwelt eines Systems ist nach Luhmann komplexer als das
System selbst. So verfügt jede Person über ganz verschiedene Dimensionen, Absichten etc.,
aber nicht alle sind für das System wichtig. Die wichtigste Funktion eines Systems ist die
Reduktion von Komplexität; Die Funktion sozialer Systeme ist „die Erfassung und
Reduktion von Komplexität. Sie dienen der Vermittlung zwischen der äußeren Komplexität
der Welt und der sehr geringen, aus anthropologischen Gründen kaum veränderbaren
Fähigkeit des Menschen zu bewusster Erlebnisverarbeitung.“ (Luhmann 1970, S. 116). Ein
Beispiel ist die Unterscheidung des Systems der Massenmedien zwischen Information / Nicht15
Information: Was als Information ausgewählt wird (=Problem der Selektion), wird durch
besondere Programme und Programmbereiche entschieden. Aufgrund von Selektionen und
Neuzusammensetzungen des Selektierten wird dann eine eigene Realität der Massenmedien
konstruiert.
Fragen zur 2. Vorlesung:
1. Welche Perspektiven einer Soziologie des Sports lassen sich unterscheiden?
Skizzieren Sie diese Perspektiven stichpunktartig! Nennen Sie Vertreter der
unterschiedlichen Perspektiven!
2. Welche verschiedenen Sportmodelle kennen Sie?
3. Welche Merkmale unterscheiden den modernen Sport von den „sportlichen“ Agonen
der Antike?
4. Nennen Sie in Stichpunkten einige Gründe für die vergleichsweise große Brutalität des
‚Sports’ in der Antike!
5. Nennen Sie die verschiedenen Merkmale und Ebenen der Ausdifferenzierung des
modernen Sports!
6. Nennen Sie Vertreter der systemtheoretischen Perspektive in der Sportsoziologie!
7. Erklären Sie stichpunktartig die Entstehung des modernen Sports aus der
systemtheoretischen Perspektive Karl-Heinrich Bettes!
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