© Neue Zürcher Zeitung; 03.05.2006; Seite 65; Nummer 101 Gicht - eine alte Wohlstandskrankheit Von üppigem Essen, Harnsäure und plötzlichen Gelenkschmerzen Früher ein Leiden der Oberschicht, ist die Gicht längst zur Volkskrankheit geworden, bei deren Entstehung die Ernährung eine wesentliche Rolle spielt. Moderne Medikamente haben die oft zu Verkrüppelungen führenden Spätfolgen inzwischen selten gemacht. Mitten in der Nacht erwachte Benjamin Franklin, von Schmerzen in seinen Beinen und Füssen gepeinigt und von einer Stimme geweckt, die er zu hören glaubte. Die Stimme warf ihm vor, zu reichhaltig gegessen und getrunken zu haben und seinen Extremitäten durch mangelnde körperliche Bewegung geschadet zu haben. «Wer ist es, der mich so anklagt?», fragte der berühmte Naturforscher und Staatsmann. «Ich bin es, kam es zurück, die Gicht.» Franklin nannte sie seinen schlimmsten Feind, doch die Unsichtbare blieb gelassen und listete dem zunehmend nachdenklich werdenden Franklin seine Sünden auf: dick gebutterte Toasts mit Fleisch zum Frühstück, viele Tassen Tee mit Sahne und statt eines abendlichen Spaziergangs stundenlanges Sitzen am Schachbrett. Anklagen, denen Franklin nichts entgegenzusetzen hatte. In guter Gesellschaft In der 1780 verfassten Schrift «Dialogue between the Gout and Mr. Franklin» zieht der zu diesem Zeitpunkt als Gesandter der neugegründeten Vereinigten Staaten am französischen Hof wirkende Franklin eine augenzwinkernde Bilanz seiner Lebensführung und lässt die Gicht, seine imaginäre nächtliche Gesprächspartnerin, als unausweichliche Konsequenz seiner Liebe zu den Freuden der Tafel auftreten. Bei aller Selbstironie war sich Franklin bewusst, dass er sich mit diesem Leiden in guter Gesellschaft befand. So war etwa 1778 der britische Staatsmann William Pitt gestorben, dessen Gichtleiden weitherum bekannt und so schwer war, dass man ihm im Parlament erlaubt hatte, seine Reden im Sitzen zu halten. Mehr noch, die gelegentlichen emotionalen Ausbrüche des Politikers wurden von Gegnern wie Freunden als «Gicht im Gehirn» bespöttelt. In Preussen regierte mit Friedrich II. ein König, der unter Gichtattacken litt. Und ein Blick in die Geschichte überzeugte Franklin, dass Gicht offenbar das Leiden der Grossen in Politik, Geistesleben und Kunst ist, tauchen doch auf der Liste berühmter Gichtkranker Namen auf wie der römische Kaiser Augustus, Erasmus von Rotterdam, Leibniz, Rubens und viele gekrönte Häupter, Angehörige des Habsburgerhauses ebenso wie britische Herrscher. Nicht immer ist jedoch die von Zeitgenossen oder späteren Biografen gestellte Diagnose über jeden Zweifel erhaben. Alexander der Grosse etwa, dem das Leiden ebenfalls zugeschrieben wird, war von seiner Lebensführung her das exakte Gegenteil eines Stubenhockers; das Leben des makedonischen Königs war oft sogar voller entbehrungsreicher Aktivitäten. Und auch der als Krankheitsauslöser verdächtigte exzessive Weingenuss, dem der Eroberer in kaum vorstellbarem Ausmass frönte (einen seiner besten Freunde ermordete Alexander im Rausch), weisen moderne Gichtspezialisten zurück. Denn Wein scheint im Unterschied zu Bier und hochprozentigen Spirituosen das Gichtrisiko nicht zu erhöhen. Unabhängig davon, ob die Diagnose bei allen historisch «grossen» Gichtkranken stimmt oder nicht - das Leiden ist seit der Antike bekannt, und es wurde schon früh auf den persönlichen Lebensstil zurückgeführt. Bereits Hippokrates erwähnt die Krankheit, und antike Autoren wie Galen und Seneca führten sie auf ausschweifenden Lebenswandel zurück. Der Name kommt wahrscheinlich vom lateinischen «gutta» (Tropfen), der sich im englischen Begriff «gout» besser widerspiegelt als im deutschen «Gicht». Die in der Antike vorherrschende Vier-Säfte-Lehre ging davon aus, dass dabei krankmachende Säfte heruntertropfen und jenes Gelenk an der Grosszehe befallen, an dem sich ein akuter Gichtanfall meistens manifestiert. Für diese Form der Gicht hat sich der Begriff Podagra eingebürgert, der bereits im Titel der ersten gedruckten Veröffentlichung über die Gicht auftaucht, eines 1534 in Strassburg erschienenen Büchleins des Arztes Dominicus Burgawer. Dessen Zeitgenosse Paracelsus erklärte in einer drei Jahre zuvor erschienenen Schrift die Schweiz zum gesündesten ihm bekannten Land, da es dort keine Gicht, keine Kolik und keinen Rheumatismus gebe. Dem Auslöser der Gicht begann man erst im Zeitalter der Aufklärung auf die Spur zu kommen. 1776 isolierte der schwedische Chemiker Karl Wilhelm Scheele aus Harnsteinen von Patienten eine zuvor unbekannte Substanz: die Harnsäure. 1797 gelang William Hyde Wollaston der Nachweis der Harnsäure in den für die klinische Erscheinung der Gicht so typischen Knoten. Harnsäure ist ein Endprodukt des sogenannten Purin-Stoffwechsels; Purine sind chemische Verbindungen, die in vielen Lebensmitteln enthalten sind. Menschen fehlt das Enzym Uricase, das bei den meisten Tierarten die Harnsäure in das leichter lösliche und im Harn ausscheidbare Allantoin umbaut. Zu viel Harnsäure im Blut Im Blut ist die Harnsäure bis zu einer Konzentration von etwa 6,8 Milligramm pro Deziliter löslich. Bei Werten über 7 Milligramm pro Deziliter wird von einer Hyperurikämie, also einem erhöhten Harnsäurespiegel im Blutserum, gesprochen, der nach neueren Untersuchungen bei bis zu knapp 20 Prozent der Bevölkerung vorliegt. Bei rund 90 Prozent ist der erhöhte Harnsäurespiegel auf eine nicht ausreichende Ausscheidung durch die Nieren zurückzuführen, bei den übrigen 10 Prozent auf eine gesteigerte Synthese, die zum Beispiel auf einen genetisch bedingten Enzymdefekt zurückzuführen ist. Zu einer verminderten Ausscheidung tragen aber auch etliche Medikamente bei, etwa gewisse wassertreibende Mittel, Aspirin und das nach Transplantationen oft verabreichte Immunsuppressivum Cyclosporin A. Eine Hyperurikämie ist allerdings nicht mit einer Gicht gleichzusetzen. Etwa zwei Drittel der Menschen mit erhöhtem Harnsäurespiegel werden nie Beschwerden entwickeln, so dass die meisten Mediziner bei ihnen eine Behandlung nicht für notwendig halten. Allerdings nimmt mit steigendem Harnsäurespiegel das Gichtrisiko zu. Bei einer deutlich über der Löslichkeit liegenden Konzentration fällt die Harnsäure in Form kleiner Kristalle aus und befällt vor allem die Gelenke. Das Grundgelenk der Grosszehe ist in zwei Dritteln der Fälle der Ort, an dem sich ein akuter Gichtanfall mit starken Schmerzen und einer deutlichen Entzündung manifestiert. Sprung-, Hand-, Knie- und Fingergelenke sind von einem Gichtanfall ebenfalls oft befallen. Zwischen zwei Gichtanfällen können für den Patienten lange Zeiten der Ruhe liegen, bis das Leiden erneut in aller Heftigkeit ausbricht. Bei der chronischen Form der Gicht kommt es zu charakteristischen Knoten aus Harnsäurekristallen (Tophi), die sich insbesondere an den Ohrmuscheln, an Sehnen, Schleimbeuteln und in den gichtgeschädigten Gelenken bilden. Mit einer Prävalenz von einem Prozent ist die Gicht in der Schweiz die häufigste Ursache von Arthritis. Doch das Leiden greift oft auch andere Organsysteme an. An der Niere etwa kann es sowohl zu einer Entzündung als auch zur Bildung von harnsäurehaltigen Nierensteinen kommen. Zudem kann die Gicht, wie eine Studie aus Grossbritannien zeigt, auch mit Herzkrankheiten, Bluthochdruck und Nierenversagen einhergehen. Vor allem aber die Verbindung mit Übergewicht deutet auf die wahre Ursache des Leidens bei vielen Patienten hin: eine unausgewogene und vor allem zu reichliche Nahrung. Dass es vor allem die üppige Ernährung ist, die gichtkrank macht, formulierte bereits im frühneuzeitlichen Europa der englische Arzt Thomas Cogan in seinem 1584 erschienenen Werk «The Haven of Health». Darin schreibt er, dass die Gicht vor allem «Gentlemen» treffe, seltener die armen Leute, weil die Krankheit meist durch Exzesse und Gier verursacht werde. Und tatsächlich, in Krisenzeiten gerät die Gicht oft zu einer vergessenen Krankheit, wohingegen in Phasen der Prosperität die Patientenzahlen rapide ansteigen. Immer mehr Frauen betroffen «Historisch eine Erkrankung wohlhabender Männer mittleren oder gehobenen Alters mit einem allzu genusssüchtigen Lebensstil, ist die Gicht demokratischer geworden.» So skizziert der Rheumatologe Andrew J. Luk von der University of Washington in Seattle den Wandel der Epidemiologie des Leidens. Die Krankheit befalle inzwischen immer mehr auch Frauen sowie eine breite Spanne des sozioökonomischen Spektrums, so Luk. Nach den neusten epidemiologischen Daten ist die Gicht allein in den USA im Laufe der 1990er Jahre vor allem unter älteren Menschen deutlich angestiegen - von 2,1 Prozent auf 4,1 Prozent bei Bürgern über 70 Jahren. Wie man weiss, erhöht sich das Gichtrisiko, je mehr rotes Fleisch, purinhaltiger Fisch und Schalentiere verzehrt und je mehr Bier getrunken wird. Eine zwischen 1986 und 1998 durchgeführte Studie mit mehr als 47 000 männlichen Teilnehmern kam zum Schluss, dass Personen, die sich purinreich ernährten, ein um fast 50 Prozent höheres Gichtrisiko hatten als Probanden, die diese Lebensmittel mieden. Umgekehrt hatte Milch in dieser Untersuchung einen positiven Effekt auf den Harnsäurespiegel. Purinarme Kost und gegebenenfalls eine Gewichtsreduktion sind denn auch die wichtigsten Schritte einer nachhaltigen Gichtbehandlung. Darüber hinaus gibt es ein breites Spektrum an Medikamenten, die dazu beigetragen haben, dass heute nur noch rund 5 Prozent der Gichtpatienten das Endstadium der Krankheit mit Ausbildung von Tophi erreichen - unbehandelt würden 75 Prozent der Patienten innerhalb von zwanzig Jahren nach der ersten Attacke jene verkrüppelnde Form der Krankheit entwickeln, unter der etwa der erwähnte Staatsmann William Pitt litt. Die medikamentöse Therapie der Gichterkrankung basiert auf Substanzen, die entweder die Harnsäure-Ausscheidung fördern oder durch die Hemmung eines wichtigen Enzyms die Bildung der Harnsäure drosseln. Im akuten Gichtanfall indes stehen die Linderung der Schmerzen und die Reduktion der Entzündung im betroffenen Gelenk im Vordergrund. Dazu steht Colchizin zur Verfügung, eine seit dem frühen 19. Jahrhundert bekannte Substanz aus der Herbstzeitlosen, sowie eine Vielzahl von modernen entzündungs- und schmerzhemmenden Medikamenten. Das Ziel jeder Therapie ist die Verhinderung eines Geschehens, das jedem Gichtpatienten nur allzu gut bekannt ist: «Gesund geht er zu Bette und überlässt sich dem Schlafe. Da wird er etwa in der zweiten Stunde nach Mitternacht von einem Schmerz geweckt, der meistens die grosse Zehe, zuweilen auch Ferse, Sohle oder Knöchel erfasst. Es folgen bald danach Frostschauer und Fieber. So verbringt der Kranke eine qualvolle Nacht in beständiger Unruhe. Erst nachdem von Beginn an 24 Stunden verflossen sind, wird der Patient plötzlich schmerzfrei und atmet erleichtert auf.» Der Autor dieser klassischen Beschreibung war der englische Arzt Thomas Sydenham (1624-1689). Er wusste, wovon er schrieb, litt er doch selber seit seinem 30. Lebensjahr an Gicht. Fragen: 1. Warum verändern sich bei Gicht die Gelenke? 2. Welche Ursachen hat Gicht? 3. Wie wird Gicht therapiert? Fragen: 1. Warum verändern sich bei Gicht die Gelenke? 2. Welche Ursachen hat Gicht? 3. Wie wird Gicht therapiert?