Beispielaufgabe für die schriftliche Abiturprüfung Text 1: Der Historiker Harald Steffahn (*1930) über die Entwicklung zum Ausbruch des 2. Weltkrieges Bismarcks größter Ruhmestitel wird immer bleiben, daß er der Verlockung widerstanden hatte, die von ihm geschaffene europäische Zentralmacht über ihr natürliches Gewicht hinaus ins Unwägbare zu vergrößern. Die Nachfolger versuchten statt dessen, die Mittellage durch Weltpolitik aufzubrechen 5 (Michael Stürmer). Der Mißerfolg hätte eine Lehre für immer sein müssen, doch fehlte auch weiterhin der Sinn für Proportionen: daß Deutschland zwar stärker als jeder einzelne war, doch schwächer als alle zusammen. Für Andreas Hillgruber war Deutschland einfach zu groß und zu stark für das übrige Europa, ohne jedoch ein solches „natürliches Übergewicht ... wie die 10 USA auf dem amerikanischen Doppelkontinent auf die Waagschale zu bringen. So mußte am Ende der Zusammenschluß aller gegen den einen erneut den Ausschlag geben, diesmal wahrhaft zerschmetternd. Schon die Ausgangslage war ernüchternd für jeden Realisten: auf der einen Seite Deutschland mit seinem großartigen Geschick für untaugliche Verbündete, auf 15 der anderen Seite England und das britische Empire – und am fernen Horizont der Blutsverwandte Amerika. Ein solcher Krieg war, wie schon einmal, unmöglich zu gewinnen, auch dann nicht, wenn Rußland aufgrund des Dämonenpaktes neutral blieb. 20 Hitler in seiner Ungeduld begann ein Jahr zu früh, gemessen an der selbstgesetzten Frist im Vierjahresplan vom Sommer 1936. Die Generalität ging trotzdem mit. Generalstabschef Halder, noch im Vorjahr bereit zum Putsch, war strategisch ein vorzüglicher Kopf, doch auf moralischer Ebene kein Beck. Er rettete sich, so Bodo Scheurig, wider bessere Regungen in den 25 soldatischen Gehorsam und betäubte mit ihm sein Gewissen. Der Text ist entnommen aus: Harald Steffahn, Glanz und Elend der Deutschen. Von der französischen Revolution bis heute, Berlin: Propyläen 2006, S. 510/11 Der Text ist in alter Rechtschreibung verfasst. Die kursiv gedruckten Textteile sind Zitate von Historikern. Anmerkungen Z. 5: Michael STÜRMER (*1938): deutscher Historiker Z. 8: Andreas HILLGRUBER (1925 – 1989): deutscher Historiker Z. 22: Franz HALDER (1884 – 1972): seit 1938 Generalstabschef des deutschen Heeres, während des Russlandfeldzuges im Gegensatz zu Hitler, daraufhin 1942 entlassen, seit dem 20. Juli 1944 in verschiedenen Konzentrationslagern inhaftiert z. 24: Ludwig BECK (1880 – 1944): Generalstabschef, Rücktritt 1938 während der Sudetenkrise aufgrund von Meinungsverschiedenheiten mit Hitler über die geplante Auflösung des Tschechoslowakei, seitdem im Widerstand, Beteiligung am 20. Juli 1944, am gleichen Tag Hinrichtung Z. 24: Bodo SCHEURIG (*1928): deutscher Historiker Text 2: Der Historiker Ulrich Thamer (*1943) über die Entwicklung zum Ausbruch des 2. Weltkrieges Sicherlich hat die internationale Mächtekonstellation die permanente Krise der europäischen Staaten im Inneren wie in ihrer politischen Entscheidungsfähigkeit einen günstigen Rahmen für die Verletzung aller politischen Grenzen und Regeln geboten, bis sie von Hitler mit der Witterung für die Schwächen des 5 Gegners ausgenutzt wurde. Alle Staaten hatten für ihre Politik gute Gründe, die britische Politik für ihre Appeasement-Strategie, die französische für ihren Verzicht auf eine aktive Außenpolitik, die Sowjetunion für ihren Pakt mit Hitler, Polen für seine Schaukelpolitik zwischen Ost- und West, die Staaten Ostmitteleuropas und Südosteuropas für ihre Anpassungsbereitschaft. Dies 10 alles führte zu einer schwächlichen Gegenhaltung und zur Preisgabe der Instrumente der kollektiven Konfliktregelung, wie sie im Völkerbund und Locarno-Pakt in den 20er Jahren durchaus beispielhaft entwickelt worden waren. Seit der Weltwirtschaftskrise waren die Staaten nur noch um ihre nationalen Interessen und eine nationale Politik besorgt. Die Auflösung der 15 überkommenen Politikkonzepte einer internationalen Vertrags- und Konfliktlösungsstrategie führte zu einer fast anarchischen Situation in der internationalen Politik, während gleichzeitig die politische Massenmobilisierung im Gefolge des Ersten Weltkrieges die Ideologisierung des Politischen vorantrieb. Das alles waren die Hintergründe für eine zunehmende politische Fehleinschät- 20 zung und für ein grundlegendes Missverständnis: Während die westliche Seite in Kategorien der politischen und ökonomischen Vernunft dachte und mit ihrem Angebot eines economic-appeasements diesen Glauben zum Ausdruck brachte, übersah sie, dass es Hitler nicht um wirtschaftliche Vorteile ging, sondern um Raumeroberung und die Umsetzung seiner Rassenutopie. Bei 25 aller Kontinuität, in der die nationalsozialistische Großmachtspolitik zu den Traditionen des wilhelminischen Imperialismus noch stand, bedeutete diese Politik Hitlers letztlich einen revolutionären Bruch, und der sollte während des Krieges mit der Verwirklichung der Rasse- und Lebensraumvisionen immer deutlicher werden. Der Text ist entnommen aus: Ulrich Thamer, Der Nationalsozialismus, Stuttgart: Reclam 2002, S. 327/28 Anmerkungen Z. 12: LOCARNO-PAKT: Vertragssystem von 1925, zu dem ein zwischen Frankreich und dem Deutschen Reich geschlossener regionaler Sicherheitspakt gehörte, in dem die französische Ostgrenze garantiert wurde; in Schiedsverträgen mit der Tschechoslowakei und Polen wurde Deutschland die Möglichkeit einer friedlichen Revision seiner Ostgrenze eröffnet; gleichzeitig verpflichtete Großbritannien, neben Italien Garantiemacht des Vertrages, Deutschland dazu, dem Völkerbund beizutreten. Aufgaben 1. Vergleichen Sie die beiden Texte hinsichtlich ihrer Einschätzung der Entwicklung zum 2. Weltkrieg! 2. Erläutern Sie, unter Berücksichtigung der preußischen Außenpolitik von 1862 bis zur Reichsgründung 1871, inwieweit die von Steffahn (Z.1ff.) getroffene Behauptung, Bismarck habe eine maßvolle Außenpolitik geführt, zutrifft! 3. Nehmen Sie - unter besonderer Berücksichtigung der Entwicklung in Deutschland - Stellung zur Behauptung Thamers, dass „seit der Weltwirtschaftskrise (...) die Staaten nur noch um ihre nationalen Interessen und eine nationale Politik besorgt“ (Z. 13/14) gewesen seien! 4. Skizzieren Sie knapp die NS-Außenpolitik von 1933 bis zum 1. September 1939! 5. Thamer bezeichnet die Großmachtpolitik Hitlers im 2. Weltkrieg als „letztlich einen revolutionären Bruch“ (Z.27). Weisen Sie diese Aussage unter Berücksichtigung der politischen und militärischen Entwicklung während des 2. Weltkrieges in Europa nach! Lösungsschlüssel: Aspekte 1. Vergleichen Sie die beiden Texte hinsichtlich ihrer Einschätzung der Entwicklung zum 2. Weltkrieg! (15 Punkte) In dem Vergleich weisen die Prüflinge nach, dass sie unterschiedliche Beurteilungen der außenpolitischen Vorgeschichte des 2. Weltkrieges erkennen und herausstellen können: Wahrend Steffahn den Bruch der NS-Außenpolitik mit traditioneller Machtpolitik, die Unvernunft Hitlers und das Versagen der Generalität unterstreicht, betont Thamer das durch die Weltwirtschaftskrise entstandene Desinteresse europäischer Staaten an einer internationalen Konfliktlösung, wie sie noch in den 1920er Jahren praktiziert worden sei. Gleichzeitig hebt Thamer hervor, dass die westlichen Staaten Hitlers außenpolitische Konzeption nicht durchschaut hätten. 2. Erläutern Sie, unter Berücksichtigung der preußischen Außenpolitik von 1862 bis zur Reichsgründung 1871, inwieweit die von Steffahn (Z.1ff.) getroffene Behauptung, Bismarck habe eine maßvolle Außenpolitik geführt, zutrifft! (10 Punkte) Die Prüflinge weisen nach, dass auch in der Phase der Reichsgründung die preußische Außenpolitik, z.B. in der Behandlung Österreichs nach 1866 und auch in den Frankreich auferlegten Bestimmungen von 1871, im Vergleich zu Verlauf und Ergebnissen des 1. und 2. Weltkrieges letztlich die Grenzen traditioneller Machtpolitik nicht überschritten habe. 3. Nehmen Sie - unter besonderer Berücksichtigung der Entwicklung in Deutschland - Stellung zur Behauptung Thamers, dass „seit der Weltwirtschaftskrise (...) die Staaten nur noch um ihre nationalen Interessen und eine nationale Politik besorgt“ (Z. 13/14) gewesen seien. (15 Punkte) Die Stellungnahme sollte ergeben, dass die Weltwirtschaftskrise zu einer weiteren Verschärfung der durch den Versailler Vertrag verursachten Krise des deutschen Nationalstaates geführt und letztlich in eine innenpolitische Radikalisierung gemündet habe, die mit der Ernennung Hitlers zum Reichskanzler die Perspektive einer internationalen Konfliktlösung ausgeschlossen habe. 4. Skizzieren Sie knapp die NS-Außenpolitik von 1933 bis zum 1. September 1939! (10 Punkte) Die Prüflinge sollten erarbeiten, dass die Außenpolitik Hitlers einerseits mit dem Postulat der Revision des Versailler Vertrages sich in den Bahnen traditioneller Machtpolitik bewegt habe, anderseits aber mit der Verfolgung der „Lebensraum“-Konzeption eine völlig neue Richtung eingeschlagen habe. 5. Thamer bezeichnet die Großmachtpolitik Hitlers im 2. Weltkrieg als „letztlich einen revolutionären Bruch“ (Z.27). Weisen Sie diese Aussage unter Berücksichtigung der politischen und militärischen Entwicklung während des 2. Weltkrieges in Europa nach! (10 Punkte) Die Prüflinge weisen nach, dass die NS-Führung vor allem in Osteuropa durch die systematisch geplante Vernichtung feindlicher Staaten und durch Genozid bis dato herrschende Muster der Kriegführung radikal durchbrochen habe. Lehrplanbezug 2. Halbjahr, Unterrichtseinheit 2: Nationalstaatsbildung in Deutschland, und zwar Unterrichtsthema 3: „Reichsgründung von oben“ 2. Halbjahr, Unterrichtseinheit 3: „Industrialisierung und Soziale Frage“, und zwar Unterrichtsthema 6: „Exkurs: Imperialismus“ 3. Halbjahr, Unterrichtseinheit 1: „Die Weimarer Republik“, und zwar Unterrichtsthema 1: „Erster Weltkrieg und Entstehung der Weimarer Republik“ 3. Halbjahr, Unterrichtseinheit 2: „Die nationalsozialistische Diktatur“, und zwar Unterrichtsthema 7: „Außenpolitik zwischen Revision und Kriegsvorbereitung“, Unterrichtseinheit 8: „Zweiter Weltkrieg im Überblick“ und Unterrichtseinheit 9: „Judenverfolgung und Völkermord“ Punkteverteilung Aufgabe 1. 2. 3. 4. 5. Gesamt Punktzahl 15 P. 10 P. 15 P. 10 P. 10 P. 60 Punkte Anforderungsbereich III II III I II