Predigt zu Gen 18,1-15 u. Hebr. 11, 8; 13,2 zum Abschluss der Reutlinger-Vesperkirche am 09. Februar 2014 Prof. Dr. Karl-Josef Kuschel (Tübingen) ___________________________________________________________________ „Aufgrund des Glaubens gehorchte Abraham dem Ruf, wegzuziehen in ein Land, das er zum Erbe erhalten sollte; und er zog weg, ohne zu wissen, wohin der kommen würde. Auf Grund des Glaubens hielt er sich als Fremder im verheißenen Land auf und wohnte mit Isaak und Jakob, den Miterben der Verheißung, in Zelten.... Die Bruderliebe soll bleiben. Vergesst die Gastfreundschaft nicht; denn durch sie haben einige, ohne es zu ahnen, Engel beherbergt.“ (Hebr. 11,8; 13,2) Vesperkirche. Merkwürdiges Phänomen. Seit letzten Dienstag habe ich selber eine lebendige Anschauung davon. Zum 17. Mal gab es nun die Vesperkirche in Reutlingen, für mich das erste Mal. Und der erste Blick, ich gestehe: irritierend. Kartoffeln und Mischgemüse, Spießbraten, Leipziger Allerlei, Nudeln und Nachtisch passt das in eine Kirche, in einen Raum mit Altar, Kreuz und Orgel? Haare schneiden hier und Arztbesuch dort, beides im selben Raum, wo die Heilige Schrift gelesen und wo gebetet wird? Ein Haus Gottes - und jetzt ein Getränkeausschank? Eine Ort der Gottesverehrung - und gemütliches Beisammensein, Haustiere inklusive? Kirche in Küche und Kantine verwandelt und so rein äußerlich schon zum Verschwinden gebracht? Eine Institution, die sich selbst abgeschafft zu haben scheint, einer Gastwirtschaft zum Verwechseln ähnlich? Gut, vier Wochen wird dieses Phänomen dauern: diese seltsame Mischung aus Provisorium und Kuriosum. Dann wird es doch wieder „normal“ zugehen. Vesperkirche - irritierendes Phänomen. Es will so gar nicht in die konventionellen Bilder und Schemata von Kirche passen. Es zwingt auch mich, meine Wertungen und Urteile noch einmal zu überprüfen. Und mir fallen wichtige Szenen ein: Hat unser Lebens-Meister aus Nazaret nicht selber Menschen am Rande der Gesellschaft an seinen Tisch geladen und mit ihnen gegessen, darunter Zöllner und Sünder, die damals zu den Verachteten gehörten, sozial und religiös? Wurde nicht schon ER von den Vertretern des religiösen Establishments scharf angegriffen: „Wie kann er zusammen mit Zöllnern und Sündern essen?“ (Mk 2,16). Hat ER seine Anhänger nicht aufgefordert: „Seid barmherzig, wie Euer himmlischer Vater barmherzig ist“? Er hat doch in seiner Verkündigung größten Wert darauf gelegt, Gottesliebe und Nächstenliebe gerade nicht zu trennen, nicht auseinander zu reißen und gegeneinander auszuspielen, größten Nachdruck, dass es keine Gottesliebe geben kann, die nicht auch Nächstenliebe wäre, u. U. sogar Feindesliebe. Und da sollte der Raum, in dem Menschen zusammenkommen, tabu sein? Wie ist denn Kirche ursprünglich entstanden? Aus den Hausgemeinschaften der ersten Christen, die sich in der Küche und um den Herd herum versammelten und hier das Brot miteinander brachen. Insbesondere eine Szene im Evangelium des Matthäus will mir nicht aus dem Kopf. Wonach wird Christus fragen, wenn er am Ende der Zeiten wiederkommt? Womit wird er die Menschen aus „allen Völkern“ konfrontieren? Also nicht nur die Christen, sondern alle Menschen? Fragt er nach der richtigen Dogmatik, dem korrekten Glauben, der wahren Religion? Nein, er fragt alle, woher sie auch kommen, jeden Einzelnen, wo immer er/sie gelebt hat, nach den praktizierten Werken der Barmherzigkeit. Es gibt Hunger, Durst, Heimatverlust, Leben in der Fremde, Obdachlosigkeit, Krankheit und Gefängnis. Hat man den Hungernden zu essen gegeben, die Durstigen mit Getränken versorgt, die Fremden und Obdachlosen aufgenommen, die Kranken in ihren Kliniken und die Gefangenen in ihren Kerkern besucht? Ja? Nein? Aber bedenkt, wird der Weltenrichter sagen „Was ihr für einen meiner Geringsten Brüder getan habt, das habt ihr mir getan.“ (Mt 25, 35-40) All das fiel mir ein, als ich über das mich irritierende Phänomen Vesperkirche nachzudenken begann, unsicher geworden, ob meine Kategorien noch stimmen. Und ich vergewisserte mich: Kirchen sind Gotteshäuser und sie bleiben es, gewiss, aber sie sind und bleiben auch Häuser für die Menschen. Kirchen sind Ort der Gottesverehrung, ja sicher, und sie bleiben es, aber auch Orte der Einweisung in die Nachfolge Jesu und damit zu einer Gottesliebe, die in der Nächstenliebe konkret wird. Wenn es auf den Spuren unseres Meisters aus Nazaret nicht bloß um verinnerlichte Frömmigkeit geht, sondern um eine praxis pietatis, eine tätige Nächstenliebe, dann rücken die konkreten Bedürfnisse der Menschen ins Zentrum, gerade auch der Menschen, die in einer Gesellschaft wie der unsrigen zu den Geringsten gehören: Randexistenzen einer Wohlstandsgesellschaft, oft ohne Arbeit, ohne ein stabiles Zuhause, ohne Lebensperspektive, oft allein gelassen mit ihren körperlichen Behinderungen oder seelischen Depressionen. Dann ist die Gewährung eines Obdachs, die Bereitstellung einer warmen Mahlzeit, eines sauberen Haarschnitts oder einer therapeutischen Betreuung: nicht Allotria, sondern Ernstnehmen des Christus-Wortes: „Was ihr für einen der Geringsten nicht getan habt. Das habt ihr auch mir nicht getan.“ Und dazu gehört dann auch das Ausgeben von Spießbraten und Mischgemüse. Nicht zu reden von den Vesperpäckchen, die kostenlos abgegeben werden. 20 Stück Butter, höre ich, sieben Kilo Käse, acht Kilo Wurst und eine Menge Brote werden dafür tagtäglich von bis zu 20 Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen verarbeitet. Auf eine Zahl von insgesamt 250 Ehrenamtlichen konnten die Organisatoren sich auch dieses Mal wieder verlassen. Man staunt und wird nachdenklich. Und doch kommt es mir so vor, als hätte ich mit dieser Deutung des Phänomens Vesperkirche mit Kategorien wie Werke der Barmherzigkeit und praxis pietatis noch gar nicht wirklich erfasst, was sich hier ereignet hat. Als sei ich an der Oberfläche geblieben. Je mehr ich darüber nachdenke, desto mehr spüre ich, dass ich noch einmal tiefer ansetzen muss. Vesperkirche hier an diesem Ort, Nikolaikirche Reutlingen Wilhelmstraße, als Symbol für christliche Diakonie, für eine der vielen Aufgaben der Kirche, die sie temporär immer wieder zu erfüllen hat: Reicht das als Deutung dessen, was hier geschieht? Mir kommt vor, als sei die Vesperkirche viel mehr: ein tiefes Symbol dafür, was Kirche, was christlicher Glaube in unserer Zeit sein sollte, sein müsste, wenn sie unsprungsgetreu und zeitgemäß zugleich sein will. Seltsam zu denken: Als Institution mit Gottesdiensten, Sakramentenspendung, Lehre und Liturgie haben beide Konfessionskirchen in unserem Land dramatisch an Akzeptanz verloren. Wer das ignoriert, ist blind, wer das leugnet, lügt sich etwas in die Tasche. Man mag das beklagen, aber am Faktum ist nichts zu beschönigen. Ungezählte Menschen erleben Kirche eher als Apparat, der in erster Linie um Selbsterhalt bemüht ist. Viele Predigten - lebensfremd, viele Lehrsätze - abgehoben, viele Gottesdienste - steril. Imponierend die Jahrhunderte alte Geschichte, gewiss, aber zu oft kreist Kirche nur um sich selbst. Ob dieses Urteil gerecht ist, kann man fragen, aber viele Menschen erleben es so. Entsprechend machen viele, allzu viele Menschen einen Bogen um die Kirche. Sie treten aus oder sie überlassen sie stillschweigend desinteressiert sich selbst. Aber hier, in den vier Wochen Vesperkirche, ist Kirche offensichtlich anders. Ein Raum, gefüllt von Menschen unterschiedlichster Herkunft. Es ist, als hätte diese Kirche auf einmal ihre Türen weit geöffnet, ihre Mauern übersprungen, ihre Stein gewordenes Gehäuse durchlässig gemacht. Es ist, als sei Kirche aus sich heraus gegangen, hätte ihre starren Formen gelöst, hätte ihre Einkapslung gesprengt und die Menschen hereingeholt, die Müheseligen und Beladenen, von denen und zu denen der Meister aus Nazareth gesprochen hatte. Und die Menschen hier in Reutlingen haben sich zu Dutzenden ehrenamtlich engagiert, haben Zehntausende Euro gespendet und sind zu Hunderten in den vergangenen Wochen gekommen. Ein lebendiges Gewusel nahm ich wahr, als ich letzten Dienstag diesen Raum betrat. Warum ist das so? Weil Menschen offensichtlich gespürt haben, dass es hier um sie selber geht. .Sie kommen, weil die Kirche nichts von ihnen will und verlangt, keinen Taufschein und keine Kirchensteuer, keine Mitgliedschaft und kein Bekenntnis, keine frommen Leistungen und Vorleistungen, keine Katechese und keine Spende. Denn hier sollte es nicht um die Interessen der Institution gehen, sondern um die Bedürfnisse der Menschen, und zwar der Geringsten unter den Brüdern und Schwestern. Hier sollte erlebbar werden, dass Kirche nicht um ihrer selbst willen da ist, nicht um sich selbst kreist, sondern sich verschenken, sich offen machen, sich selbstlos in den Dienst am Menschen stellen kann, anspruchslos. Das unterscheidet Kirche in der Nachfolge Jesu nun einmal fundamental von jedem Verein. Es ist diese selbstlose Gastfreundschaft, welche die Menschen in diesen Raum kommen lässt: in eine Kantine, die einer Kirche zum Verwechseln ähnlich sieht und eine Kirche, die sich um der Menschen willen temporär in eine Kantine verwandeln kann. Alles hat seinen Preis und was nichts kostet, ist nichts wert: Das hören die Menschen in einer Gesellschaft wie der unsrigen tagtäglich, einer geldfixierten Gesellschaft,. die alles ökonomisch zu taxieren pflegt. Hier aber, in der Vesperkirche, hören sie es anders: Du bist respektiert auch ohne ökonomischen Nutzennachweis, Du bist akzeptiert, auch wenn Du das Bruttosozialprodukt nicht geseigert hast, Du bist willkommen, auch wenn Du in keiner Gemeinde engagiert bist. Mit einem Wort: Erlebbar wird Kirche als Ort selbstlosen Dienstes am Menschen, die in der Gastfreundschaft konkret wird. Wenn eine Gesellschaft wie unsrige das noch ermöglicht, ist ihre Menschlichkeit noch nicht durch Bilanzen erstickt. Ökumene ist noch nicht durch Ökonomie ersetzt. Diese Vesperkirche ist ein Provisorium, gewiss, aber kein Kuriosum, sondern, wenn man so will, ein Paradox: Eine Kirche, die sich an die Geringsten verschenken kann, wird zum Geschenk an die Menschen. Die selbstlose Kirche - sie ist die reichste Kirche von allen. Eine uralte Überlieferung trifft auf den Fall Vesperkirche zu: Abrahams Gastfreundschaft im Eichen-Hain zu Mamre. Drei Männer nähern sich seinem Zelt. Er weiß nicht, dass es göttliche Gestalten sind, dass Gott ihm erscheint in der Gestalt von drei Männern, die man später als Engel deutete. Abraham eilt ihnen entgegen und bietet ihnen ungefragt eine Gastfreundschaft der großzügigsten Art an. Eine Szene, die sich derart tief in das Gedächtnis der Menschen eingeprägt hat, dass sie auch später in Judentum, Christentum und Islam geradezu archetypische Bedeutung hat. Von Abrahams Gastfreundschaft werden Juden mit den Sätzen erinnert: ‚„Abrahams Haus stand allen Menschenkindern offen, den Vorbeiziehenden und Heimkehrenden, und Tag und Nacht kamen welche, um bei Abraham zu essen und zu trinken. Wer hungrig war, dem gab er Brot, und der Gast aß und trank und ward gesättigt. Wer nackt in sein Haus kam, den hüllte er in Kleider und ließ ihn von Gott erfahren, dem Schöpfer aller Dinge.“ Christen werden durch den Hebräerbrief gemahnt: „Vergesst die Gastfreundschaft nicht; denn durch sie haben einige, ohne es zu ahnen, Engel beherbergt.“ So greift der Verfasser des Hebräerbriefs auf die Abraham-Szene in Gen 18 zurück. Und Muslime werden gleich zwei Suren des Koran, in 51 und 11, an diese Abraham-Szene der Hebräischen Bibel erinnert. Seither steht auch bei ihnen die Gastfreundschaft Fremden gegenüber in hoher Achtung, verehren doch auch sie Ibrahim, wie auf Arabisch Abraham heißt, als „Vater ihres Glaubens“. Wer sich Abraham verpflichtet weiß, weiß sich also einer Praxis der Gastfreundschaft verpflichtet. Gastfreundschaft ist ja das Gegenteil von Fremdenfurcht und Abgrenzungsdenken. Der je Andere hat einen Ort bei mir: aus welcher Kultur oder Religion auch immer. Wer Gastlichkeit anbietet, will nicht herrschen und beherrschen, will nicht bekehren und missionieren. Einem Gast gegenüber hat man keine Profil- und Identitätsprobleme. Man schätzt den Anderen um seiner selber willen. Und der Gast ist der Mensch auf dem Weg. Er kommt und geht. Homo viator. Menschsein als Wanderschaft. Auch dafür steht die Figur des Abraham: „Zieh weg aus deinem Land, von deiner Verwandtschaft und aus deinem Vaterhaus in das Land, das ich Dir zeigen werde. Und Abraham zog ...“ (Gen 12,1-4a). Ein Programmwort, mit dem die Abraham-Geschichte im Buche Genesis beginnt. Gewiss: Abraham lebt diese seine Wanderexistenz schon als Besitzer großer Herden. Er lebt eine nomadische Existenz. Aber die Tora Israels macht diese seine Lebensform zum Grundsymbol für Gott-Vertrauen schlechthin. Gott holt ihn heraus aus seiner Heimat, seiner Familie, wörtlich aus „Verwandtschaft“ und „Vaterhaus“. Aus dem Vertrautesten und Sichersten also, was wir Menschen zu besitzen meinen. Gott schickt ihn auf einen riskanten Weg. Mit Abraham Geschichte heißt Gottvertrauen ein für allemal: Aufbruch aus Sicherem und Vertrautem, aber so, dass dies allem Riskanten zum Trotz zum Segen für den Menschen wird. Mit Abraham wählt Gott sich einen Wanderer, einen Heimatlosen, einen Fremdling und bindet sich durch einen Bund an ihn und damit an seine Lebensform. Ja, er sagt durch ihn allen Völkern der Erde „Segen“ zu. Und Segen heißt: Eine heilvolle Zukunft haben. Braucht es noch viel Phantasie, um das, was hier in der Vesperkirche geschehen ist, in diesem flüchtigen Provisorium, mit Menschen ohne Sicherheiten und Geborgenheiten, mit Mauern, die sich selbst durchlässig gemacht haben, um Fremde an den Tisch zu holen, allein mit dem Ziel, sie spüren zu lassen, dass sie um ihrer selbst willen geschätzt sind, braucht es noch viel Phantasie, sage ich, um hier in diesem merkwürdigen Phänomen „Vesperkirche“ weniger ein Kuriosum, vielmehr ein tiefes, paradoxes Symbol dafür zu erkennen, dass „Glauben“ des Christenmenschen ein Leben ohne Sicherheiten ist, ein Risiko, dass Leben vor Gott ein Auf-dem-WegSein bedeutet, ein Provisorium, dass Kirche ein Ort der Grenzüberscheitungen sein müsste über die gesellschaftlichen Klassen hinaus: Menschen sitzen an einem Tisch, mit denen man normalerweise nicht isst, in deren Gesellschaft man sich in der Regel unwohl fühlt. „Obdachlose und frisch entlassene Häftlinge sitzen gemeinsam mit der Bürgermeisterin und der Einzelhandelskauffrau an der Tafel“, so wird Pfarrer Kuntz zitiert und so kann man es hier in der Tat sehen und erleben. Begegnungen werden möglich, heilsam für alle, auch für die Ehrenamtlichen, auch für das Stammpersonal, auch für die Organisatoren, auch für Theologen wie mich. Denn die Tischgemeinschaften hier können Betreuer in Betroffene verwandeln. „Vesperkirche“. Sehe ich richtig, dann ist damit ein Ort unprätentiöser Gastfreundschaft gemeint, ein Ort mitten in der City von Reutlingen, mitten in den Einkaufsmeile Wilhelmstraße, der Kontrasterfahrungen möglich macht, Kontrasterfahrungen zu einer Gesellschaft, die vor allem auf ökonomischem ZweckNutzen-Kalkül. ausgerichtet ist. Ungewöhnliche Begegnungen werden hier möglich. Kontakte, Gespräche, und wenn es gut geht, Anteilnahme über die Vesperkirche hinaus. Eine Tischgemeinschaft sollte Folgen haben, vier Wochen plus x. Und dazu wird es kommen, wenn wir uns immer wieder inspirieren lassen kann von diesem wunderbaren Satz aus dem Brief an die Hebräer: „Vergesst die Gastfreundschaft nicht. Denn durch sie haben einige, ohne es zu ahnen, Engel beherbergt.“ Zur Vertiefung: Karl-Josef Kuschel, Juden-Christen-Muslime. Herkunft und Zukunft, Düsseldorf (Patmos Verlag) 2009.