Beitrag ‚Kulturaustausch - Transatlantic Trends

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Dr. Ulrike Guérot
Senior Transatlantic Fellow
The German Marshall Fund of the United States
Beitrag ‚Kulturaustausch’
Europa in der Denkpause?1
Ein paar Bemerkungen zur Vorgeschichte: Wie kam Europa zum französischen ‚non’?
Seit dem französischen und dem niederländischen ‚nein’ zur Europäischen Verfassung vor
nunmehr einem Jahr befindet sich Europa in einer Krise, die euphemistisch ‚Denkpause’
genannt wird. Die Frage, wie es nun weiter gehen soll mit Europa liegt auf dem Tisch, welche
Grenzen vor allem soll die EU haben, wie weit, wie tief soll die Integration gehen? Nicht
etwa, dass diese Fragen neu wären. Europa bzw. die EU denkt seit ca. 40 Jahren darüber nach,
und eigentlich hat Europa nie etwas anderes getan, als permanent über sich nachzudenken und
sich dabei stets in Frage zu stellen.
Die Fragen, die heute durch das plebiszitäre ‚nein’ zur Verfassung aufgeworfen sind, sind alte
Fragen. Es geht, neben vielen andern Fragen, war allem um die Machtverteilung innerhalb des
institutionellen Systems der EU. Der EU ist in vielen Bereichen die konsequente
Durchbrechung des Prinzips der nationalen Repräsentation noch nicht gelungen, obgleich es
sie effizienter machen würde. Es geht um die Ausdehnung von Mehrheitsentscheidungen, um
die Frage, ob in Zukunft noch jedes Land einen eigenen Kommissar haben sollte, welche
Kompetenzen die EU-Kommission haben soll, welche Rolle die nationalen Parlamente bei der
europäischen Rechtssetzung spielen sollen oder darum, ob man die Position eines
Europäischen Außenministers und die eines Europäischen Ratspräsidenten einrichtet, damit
Europa nach außen verstärkt und besser mit ‚einer Stimme’ sprechen kann. In der Essenz sind
dies die gleichen Fragen, die schon damals, 1992, bei der Verabschiedung des Maastrichter
Vertrages auf dem Tisch lagen – und ungelöst geblieben sind. Vorausgegangen ist damals
eine Regierungskonferenz über die Errichtung einer ‚Politischen Union’, die nicht zum Ziel
gekommen ist; während die zweite Regierungskonferenz, jene über die Errichtung einer
Wirtschafts- und Währungsunion, spätestens mit der Einführung des Euro 2002 zum
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Die Autorin äußert in diesem Beitrag ausschließlich ihre eigene Meinung und Vertritt keine offizielle Position
des German Marshall Funds of the United States.
Abschluss gekommen ist. Seitdem hinkt die politische Integration Europas der politischen
Integration hinterher. Die ungelösten Fragen von Maastricht wurden auf den Vertrag von
Amsterdam verschoben – und dort auch nicht gelöst. Dies soll nicht heißen, dass der Vertrag
von Amsterdam von 1997 schlecht wäre; im Gegenteil: er hat die Rechte des Europäischen
Parlamentes gestärkt, eine europäische Bürgerunion eingeführt, ein Beschäftigungskapitel
verabschiedet und vieles mehr. Aber er hat die zentralen Machtfragen eben auch nicht gelöst,
die dann auf den Vertrag von Nizza im Jahre 2000 verschoben wurden.
In Nizza freilich kam es, wenn nicht zu einem Eklat, dann zumindest zu einem kläglichen
Scheitern, da sich vor allem Deutschland und Frankreich, die beiden Zugpferde Europas, über
die Stimmengewichtung im Rat zerstritten hatten. Der deutsch-französische Motor stotterte zu
diesem Zeitpunkt nicht nur – das hatte er schon öfters getan – sondern der Motor war
vorübergehend abgewürgt.
In der Zwischenzeit jedoch hat sich die Welt dreimal gedreht, und verschiedene gewohnte,
außenpolitische Parameter, mit und in denen Europa und die Europäische Union jahrelang
gelebt hatten, haben sich recht drastisch verschoben. Zum einen rückte die EUOsterweiterung immer näher. Zum anderen hatten die Ereignisse des 11. September und die
Anschläge auf das World-Trade Center der sicherheitspolitischen Diskussion mit dem Begriff
des asymmetrischen Krieges gegen Terror eine neue Dimension gegeben; und schließlich hat
der transatlantische Bruch einiger europäischer Staaten mit den USA über den Irak-Krieg
auch hier die üblichen Muster europäischer und transatlantischer Politik aus den Zeiten des
Kalten Krieges endgültig überholt. Eigentlich Zeit zu handeln, und Europa fit für die
‚Moderne’, das 21. Jahrhundert zu machen. Doch das unterblieb.
Mit dem Vertrag von Nizza jedenfalls blieb die EU institutionell (und auch was ihren
Haushalt anbelangt) nur ungenügend auf die anstehende Osterweiterung vorbereitet, die
immer näher rückte, und schließlich 2004 vollzogen wurde. Aus der Not wurde eine Tugend
gemacht, das Instrumentarium der Regierungskonferenz wurde ad acta gelegt und ein
Europäischer Verfassungskonvent einberufen.
Der Verfassungskonvent, der 2202 begann, und 2003 sein Abschlussdokument vorgelegt hat,
war eine gute Idee. Zusammen mit Regierungsvertretern verhandelten Vertreter sowohl des
Europäischen Parlamentes wie auch der nationalen Parlamente über einen Vertragstext, der
viele Elemente enthielt, die die europäische Integration vorangetrieben hätten. Der Text, der
2003 von den Staats- und Regierungschef der EU einstimmig verabschiedet wurde, enthält
weit reichende Neuerungen wie etwa die Wahl eines Europäischen Ratspräsidenten, die
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Einführung des Postens eines Europäischen Außenministers, eine bessere Mitwirkung der
nationalen
Parlamente
an
den
europäischen
Entscheidungsprozessen,
vertragliche
Möglichkeiten, um die Integration im Bereich der Europäischen Sicherheits- und
Verteidigungspolitik weiter voran zu treiben sowie neue Möglichkeiten im Bereich der Innenund Justizpolitik. Außerdem enthält er die Europäische Grundrechtscharta, die bereits 2000
verabschiedet wurde, die aber gleichsam Verfassungsrang erhalten hätte.
‚Erweiterungsmüdigkeit’ – oder: die EU von innen und von außen
Aber die Bürger – zumindest die französischen und die niederländischen – wollten diese
Verfassung nicht (und mutmaßlich wäre ein Referendum auch in Deutschland zumindest
schwierig gewesen und knapp ausgegangen). Dabei war das Votum kein Votum gegen den
Text; noch war es ein Votum gegen die europäische Integration als solche. Es war eher ein
Votum gegen dieses Europa, dieses Europa von heute, in dem sich vor allem jene nicht mehr
wieder finden, die schon lange dabei sind: die Gründungsnationen. Abgesehen davon, dass ein
großer Teil der ‚nein’-Stimmen Proteststimmen gegen die eigene, nationale Regierung waren,
lag der tiefere Grund des ‚Nein’ eher im Wachsen der EU, in der Problematik der (Ost-)
Erweiterung.
‚Erweiterungsmüdigkeit’ ist das Modewort in dieser Diskussion. Die ‚Kosten der
Erweiterung’ werden diskutiert, und sie scheinen zu hoch. Europa gibt nur, und erhält nichts,
so ist der Unterton. Die Sehnsüchte nach dem alten, dem kleinen ‚Europe de Charlemagne’
oder ‚Kerneuropa’ sind groß, zumal ganz aktuell weitere Länder an die Tür der EU klopfen:
zunächst werden voraussichtlich 2007 Rumänien und Bulgarien dazu stoßen, mit der Türkei
und Kroatien hat die EU bereits offiziell Verhandlungen aufgenommen; die Balkan-Staaten
haben eine klare Perspektive für eine EU-Mitgliedschaft bekommen. Und dahinter gibt es
wiederum eine Reihe von Ländern, die sich eine Beitrittsperspektive sehnlichst erhoffen, wie
etwa Georgien, Moldawien oder auch die Ukraine. Die EU ist offensichtlich in dem Dilemma,
das sie unglaublich attraktiv für alle Länder ist, die (noch) draußen sind, dafür aber
unglaublich unpopulär in allen, die bereits in ihr sind. Zusätzlich befindet sich die EU in dem
Dilemma, dass sie als EU, als Akteur in der Welt, längst für alle anderen Staaten in der Welt
sichtbar ist (obgleich sich das gemeinsame Auftreten durchaus noch verbessern ließe) – und
einige Regionen dieser Erde, wie etwa die ASEAN-Staaten oder etwa die Mercosur-Staaten in
Lateinamerika bemüht sind, gleichartige regionale Kooperationsformen aufzubauen, während
den meisten Europäern gar nicht klar zu sein scheint, dass Europa, die EU, als solches in der
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Welt bereits sichtbar ist. Was europäisch ist, weiß und fühlt man außerhalb Europas am
besten!
Europa: was es sein könnte
Vielleicht führt Europa also die falsche Debatte? Zumindest scheint die europäische
Selbstwahrnehmung nicht mit der Außenwahrnehmung in Einklang zu sein. In der
amerikanischen Literatur wird die EU längst mit einem modernen ‚Empire’ verglichen. Es sei
dahingestellt, ob die EU das werden möchte und kann. Aber es zeigt zumindest, dass sich die
EU nicht ihrer Verantwortung für die Welt und ihre internationalen Belange, ganz speziell der
Verantwortung für ihre Nachbarstaaten, entziehen kann. Mehr noch: sie sollte in ihrem
eigenen Interesse eine auf Öffnung bedachte Diskussion führen.
In der Diskussion über Europa und seine Zukunft sollte daher mit einigen Dichtonomien
aufgehört werden. Die wichtigsten und zugleich schlimmsten Dichtonomien der derzeitigen
Diskussion sind, dass eine weitere Erweiterung nur um den Preis der Vertiefung zu haben ist,
dass ein ‚Kerneuropa’ oder eine ‚Politische Union’, wie einst abgestrebt, nur zu haben sind,
wenn jetzt keine weiteren Länder mehr dazu kommen.
Die zweite, ebenso gefährliche Dichtonomie ist, dass Europa zum wirtschaftlich abschotten
muss, um ökonomisch wieder zu erstarken. Diese Debatte wird in zwei Lagern geführt, von
denen die einen die EU gerne als Bollwerk gegen Globalisierung sehen würden; das andere
hingegen die EU als Treibkraft für weitere Liberalisierung und Reformen. Und die dritte,
vielleicht falsche Debatte ist jene über die so genannte ‚Finalität’ der Europäischen Union.
Wo hört sie auf? Wo will sie hin? Unterhalb dieser Ebene laufen Sub-Debatten, wie etwa jene
von ‚nationaler’ Kompetenz’ versus ‚europäischer Kompetenz, die ebenfalls in die Leere
laufen, und wenig zur Klärung der augenblicklichen Probleme beitragen.
Denn die EU als Ganzes hat ein Interesse, z.B. den Binnenmarkt zu erhalten, außenpolitisch mit
einer Stimme zu sprechen, eine gemeinsame Strategie für Migration und Flüchtlingsströme zu
entwickeln, ihre Energiesicherheit- und Versorgung sicher zu stellen, eine konstruktive Strategie
zu entwickeln, um den Folgen der Globalisierung offensiv zu begegnen, um die Prinzipien von
Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, ‚good governance’ sowie den Wertekanon der Europäischen
Grundrechtscharta in den internationalen Institutionen und auf der internationalen Bühne
auszudehnen, zu erweitern und zu verteidigen; um das europäische Sozialmodell international
ebenso anzupassen, wie zu modernisieren.
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Dies alles sind Aufgaben, von denen die meisten Menschen heute spontan sagen würden, dass sie
national nicht mehr zu lösen sind, und einer schlagfertigen europäischen Handlungsebene
bedürfen. Der Nationalstaat ist dafür als strategischer Handlungsrahmen und für effiziente
Lösungen zu eng geworden.
Und noch einen Schritt weiter gedacht, könnte man durchaus skizzieren, wie sich die EU
institutionell noch besser und noch geschlossener aufstellen könnte, um gerade international
besser als Akteur wahrgenommen zu werden, und um durch das Zusammenlegen von
‚Souveränität’, so wie man es letztendlich beim Euro gemacht hat, die internationale
Einflussnahme zu erhöhen. Dazu würden dann gewichtige Schritte gehören, wie etwa die
Vertretung der EU durch die ‚Eurogruppe’ im G-8, ein EU-Sitz im IWF, ein europäischer Sitz im
Sicherheitsrat der Vereinten Nationen oder auch die konsequente Verfolgung des Ziels einer
‚europäischen Armee’ (inklusive weit ausgebauter Zusammenarbeit im Bereich der militärischen
Fähigkeiten), sowie dies ansatzweise auch schon in den so genannten ‚Headline Goals’ der EU
bereits skizziert ist. Natürlich wäre dazu zumindest die Verabschiedung der Europäischen
Verfassung notwendig; im Grunde aber eine viel weitergehende institutionelle Reform der EU.
Diese sollte man auch nicht unbedingt nur als Gewinn von Handlungsmacht verstehen, sondern
vielleicht, noch viel banaler, als Sicherung des derzeitigen europäischen Platzes in der Welt.
Hochrechnungen zufolge wird im Jahre 2050 Europa zusammen mit den USA, also der ‚Westen’,
nur noch ca. 7% der Weltbevölkerung ausmachen, wovon 4,7% auf die EU entfallen. Es ist daher
vermessen anzunehmen, dass 7% der Weltbevölkerung allein über die Geschicke und die
Entwicklung der internationalen Beziehungen im 21. Jahrhundert weltweit bestimmen werden.
Multi-Polarität – obgleich ein unschönes Wort – ist längst eine Realität in den internationalen
Beziehungen, und auch vor diesem Hintergrund sollte sich die EU entsprechend als
internationaler Akteur aufstellen. Die Transzendenz des Nationalstaates als wirkungsmächtigem
Entscheidungsrahmen und Akteur für Politik ist im 21. Jahrhundert vorgezeichnet.
‚Die Kosten der Nicht-Erweiterung’
Wer die Zukunft Europas skizzieren möchte, muss sich also bemühen, die vermeintlichen
Dichtonomien aufzulösen. Nehmen wir die Erweiterungsdiskussion zuerst. Vielleicht muss
Europa die ‚Kosten der Nicht-Erweiterung’ diskutieren, anstatt die Kosten der Erweiterung? Die
Kosten der Nicht-Erweiterung wären politischer, ökonomischer, kultureller und geo-strategischer
Natur.
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Nun muss ‚Erweiterung’ nicht unbedingt Vollmitgliedschaft bedeuten, und schon gar keine
schnelle. Aber negiert werden kann nicht, dass sich Europa um seine Anrainerstaaten kümmern
muss - mehr als heute - und zwar im eigenen Interesse. Politisch hat die EU, dies wurde durch
die letzte Erweiterungsrunde bewiesen, ‚transformative Kraft’. Allein die Perspektive, sich der EU
anzunähern, motiviert viele der angrenzenden Ländern, weit reichende politische wie
ökonomische Reformen in Angriff zu nehmen, hin zu Demokratie und Marktwirtschaft, die
zentral in europäischem Interesse und nicht nur der Länder selbst sind. Ökonomisch sind die
Wachstumspotentiale ebenfalls dort. Die Türkei z.B. hat prognostizierte Wachstumsraten von 610% für die nächsten 10 Jahre. Dies sind Werte, von denen Deutschland nur träumen kann. Das
europäische Interesse wäre es, diese Wachstumsimpulse auszunutzen, anstatt sich vor ihnen
abzuschotten. Kulturell steht ebenfalls viel auf dem Spiel, gerade mit Blick auf die EUBeitrittsverhandlungen mit der Türkei. Derzeit gibt es eine sehr aktuelle Diskussion über
Zuwanderung, Migration und Integration. Jedem ist klar, dass sich vor allem Deutschland allein
aus demographischen Gründen einer erhöhten Öffnung für Zuwanderung nicht entziehen kann,
und seine Integrationspolitik verbessern muss.
Fakt ist aber auch, dass die Türkei nicht von der Landkarte verschwinden würde, wenn die Türkei
nicht in die EU kommt – oder dass die deutschen Integrationsprobleme dadurch geringer
würden. Wir können uns einen Umgang mit der Türkei nicht ‚wegdenken’, in dem wir einfach die
Beitrittsperspektive aufgeben. Inzwischen haben die Verhandlungen ja bereits begonnen, aber es
kursieren auch bereits Gerüchte über eine Suspendierung der Verhandlungen.
Hier geht es weder um irgendein überstürztes Verfahren noch darum, bei der Türkei
irgendwelche ‚Augen’ bzgl. der zu erfüllenden Kriterien zuzudrücken. Die Verhandlungen
werden lang und schwer und zäh. Es gibt unzählige Probleme, die noch einer politischen Lösung
bedürfen: die Kurdenfrage, Armenien, Zypern, um nur die schwierigsten zu nennen. Und die
Türkei wird hier die europäischen Standards in Sachen Menschenrechte 100%-ig erfüllen müssen.
Im Übrigen ist allein der Begriff ‚Verhandlungen’ irreführend. Die EU verhandelt nicht. Die EU
hat einen klaren Katalog von Kriterien und Bedingungen, die erfüllt sein müssen.
Auf der anderen Seite aber ist die Aufnahme der Türkei in die EU vielleicht die wichtigste und
entscheidendste außenpolitische Frage des 21. Jahrhunderts, denn es geht in letzter Konsequenz
darum, Samuel Huntington’s Buch vom ‚Clash of Civilisations’ zu widerlegen. Die EU hat –
heute vielleicht als einzigste politische Einheit – die Chance, eine kulturelle Brücke hinein in die
muslimische Welt zu schlagen, und, auf der Basis von Demokratie, Menschenrechten,
Rechtstaatlichkeit, ‚good governance’ und Marktwirtschaft zu demonstrieren, dass die EU eben
kein ‚christlicher Club’ ist. Die Signalwirkung für die ganze Welt – von Brasilien bis Australien –
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wäre enorm. Und jeder, der sich, insbesondere nach den Anschlägen des 11. September, nicht
darauf einlassen will, dass der Grundkonflikt des 21. Jahrhunderts jener zwischen dem ‚Westen’
und der ‚muslimischen’ Welt wird, sollte diese Entscheidung und die Verhandlungen der EU mit
der Türkei daher mit großem Augenmerk verfolgen.
Was den Balkan anbelangt, so ist das Problem vergleichbar: ein Blick auf die Landkarte zeigt, dass
die Balkanstaaten mitten in Europa liegen. Die Antwort auf die dortigen Probleme kann also
nicht lauten, diesen Staaten eine EU-Beitrittsperspektive zu verwehren. Aber es muss gleichzeitig
klar sein, dass wir starke institutionelle Lösungen brauchen, denn sieben weitere, kleinere EUStaaten kann das institutionelle System der EU derzeit nicht verkraften.
Die Politische Union ist groß – und nicht statisch!
Ebenso in die Leere laufen die Annahme, dass eine ‚Politische Union’ nur im Kreise einiger
weniger Staaten zu haben ist. Es ist schwer, sich eine schlagkräftige Kerngruppe der EU
vorzustellen, deren Mitgliederzahl unterhalb der Euro-Gruppe liegt. Denn es ist in der Tat der
Euro, mehr noch als der Binnenmarkt, der in letzter Konsequenz auch immer mehr politische
Integration notwendig macht. Daher darf man annehmen, dass die EU durch die Ausbreitung des
Euro auch immer mehr Gravität und Schwerkraft entfalten wird, wenn die neuen Mitgliedsländer
– vielleicht noch vor 2010 – zum Euro dazu stoßen.
Im Übrigen war es schon von je her das Prinzip der EU, das niemand ausgeschlossen werden
will. Wenn ein ‚Kern’ erst da ist, wird er groß. Dies ist zu unterscheiden von der Frage der
‚Führung’ in der Europäischen Union. Natürlich ist es vorteilhaft, wenn, wie derzeit in den
Verhandlungen mit Iran, die drei ‚Großen’ die Führung übernehmen. Ihre Stärke aber ziehen sie
letztlich daraus, dass die EU ihnen folgt. ‚Führung’ in der EU darf daher nicht mit der Frage
eines ‚Kerneuropa’ verwechselt werden. Wenn die EU als Politische Union heute stark sein will,
dann muss sie dafür auch groß sein. Die ‚Kerneuropa’-Debatte führt daher zurück in das Europa
der 90er Jahre des letzten Jahrhunderts. Was Europa aber heute braucht, ist eine
Zusammenführung der ‚Kerneuropa-Debatte’ mit den geo-strategischen Notwendigkeiten der
EU! Und die Formel dafür ist die alte: Erweiterung erzwingt mehr Vertiefung; Vertiefung erlaubt
mehr Erweiterung. Beide gehören zusammen!
Am wichtigsten aber wäre es, die ‚Finalitätsdebatte’ zu beenden. Die EU ist mehr denn je Projekt
und Prozess zugleich, jedenfalls nicht statisch. Die EU kann nicht vom Ende her gedacht
werden, weder was ihre Grenzen, noch was ihre Integrationsdichte anbelangt. Die EU muss mit
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der Zeit gehen, und vielleicht ist dies ihre größte Stärke, denn es hält sie flexibel, um auf die
Anforderungen des 21. Jahrhunderts zu reagieren.
Es ist dies keine Schwäche, sondern vielleicht ihre größte Stärke, in einem Zeitalter, in dem
flexibles Handeln wichtig sein wird. Der EU ist es damit gegeben, sich jeweils auf neue
historische Entwicklungen einzustellen und anzupassen. Damit ist z.B. gemeint, dass man die
Frage, ob die Ukraine jemals in die EU kommt oder nicht, heute nicht mit letzter Verbindlichkeit
beantworten kann, noch sollte. Man kann es vielleicht 2016 entscheiden, auf der Grundlage von
Fakten und Gegebenheiten, die dann real sein werden. Aber die EU sollte sich heute auch nicht
die Chance verbauen, dass es vielleicht 2016 von Vorteil für sie sein könnte, die Ukraine
aufzunehmen.
Um mit der griechischen Mythologie zu enden, könnte man die EU vielleicht mit dem Mythos
von Sisyphus vergleichen: Europa, die EU, ist der Stein, an dem wir alle rollen, und der vielleicht
nie auf dem Berg wird liegen bleiben. Aber wer Albert Camus’ Essay über den Mythos von
Sisyphus gelesen hat, der weiß, das Sisyphus ein glücklicher Mann war! Der Stein, in diesem Fall
die EU, ist gleichzeitig unser Interesse und unsere Identität!
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