SEHT 3

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Frank Lüdke / Norbert Schmidt (Hg.)
Die neue Welt und der neue Pietismus
Angloamerikanische Einflüsse auf die deutsche Gemeinschaftsbewegung
Schriften der Evangelischen Hochschule Tabor (SEHT) 3
LIT-Verlag, Berlin 2012
Inhaltsverzeichnis
Vorwort .......................................................................................................................................... 5
Von Bonifatius bis Willow Creek – eine kurze Geschichte der englisch-amerikanischen
Einflüsse auf das Christentum in Deutschland........................................................................... 7
Ein Engländer als „Apostel der Deutschen“ .............................................................................................. 7
Ein Engländer als Wegbereiter der Reformation ...................................................................................... 8
Englische Bücher fördern den deutschen Pietismus ................................................................................ 8
Die Herrnhuter und ein Engländer ............................................................................................................ 8
Christen aus England und Deutschland vernetzen sich ........................................................................... 9
Die englische Idee der Sonntagsschule ................................................................................................... 9
Ein neues Kirchenmodell aus der angelsächsischen Welt ..................................................................... 10
Warum gerade England? ........................................................................................................................ 10
Das erste internationale ökumenische Netzwerk .................................................................................... 10
Die amerikanische Heiligungsbewegung ................................................................................................ 11
Robert Pearsall Smith in England und Deutschland ............................................................................... 12
Die deutschsprachige Heiligungsbewegung ........................................................................................... 12
Amerikanische Evangelisationsmethoden .............................................................................................. 13
Die Gemeinschaftsbewegung ................................................................................................................. 14
Zielgruppenarbeit .................................................................................................................................... 15
Die Heilungsbewegung – Kulturtransfer nach Amerika .......................................................................... 16
Die Pfingstbewegung .............................................................................................................................. 16
Predigende Frauen ................................................................................................................................. 17
Diakonische Impulse ............................................................................................................................... 17
Die Weltmission ...................................................................................................................................... 18
Die Gruppenbewegung ........................................................................................................................... 18
Billy Graham............................................................................................................................................ 19
Die neusten Entwicklungen..................................................................................................................... 19
Ein Fazit .................................................................................................................................................. 19
Friedrich von Schlümbach: Evangelisation und Jugendarbeit zwischen den Kontinenten . 22
1. Friedrich von Schlümbach als Organisator deutsch-amerikanischer christlicher Jugendarbeit ......... 22
2. Friedrich von Schlümbach als deutschsprachiger Exponent der angloamerikanischen
Evangelisationsbewegung ...................................................................................................................... 23
3. Amerikanische Impulse für den deutschen Kontext ........................................................................... 23
4. Evangelisation und Gemeinschaftsbildung ......................................................................................... 25
5. Ambivalenzen zwischen freikirchlichen Ansätzen und landeskirchlichen Limitierungen .................... 26
6. Fazit .................................................................................................................................................... 28
August Rauschenbusch zwischen Deutschland und Amerika................................................. 29
1. Bekehrung zum wahren Leben ........................................................................................................... 29
2. Bau einer wahren Kirche ..................................................................................................................... 30
3. Taufverständnis .................................................................................................................................. 31
4. Deutsch in Amerika ............................................................................................................................. 33
Ernst Ferdinand Ströter – Endzeitspezialist zwischen den Kontinenten............................... 35
1. Der dispensationalistische Prämillenniarismus................................................................................... 35
2. Die Theologisierung der Theologie ..................................................................................................... 35
3. Die Israeltheologie .............................................................................................................................. 37
4. Das Heiligungsverständnis ................................................................................................................. 37
5. Zurück in Europa ................................................................................................................................. 38
6. Ströter verliert seinen Einfluss ............................................................................................................ 38
Die Mildmay-Konferenz und britische judenmissionarische Impulse für die deutsche
Heiligungsbewegung.................................................................................................................... 40
1. Die Mildmay-Konferenz....................................................................................................................... 41
1.1 William Pennefather als Schlüsselfigur ......................................................................................... 41
1.2 Eschatologie und Israeltheologie .................................................................................................. 43
1.3 The Christian ................................................................................................................................. 44
1.4 Keswick und die Judenmission ..................................................................................................... 44
1.5 Advent Testimony and Preparation Movement ............................................................................. 45
2. Judenmissionarische Impulse für die deutsche Heiligungsbewegung ............................................... 46
2.1 Bad Blankenburg ........................................................................................................................... 46
2.2 Bonn .............................................................................................................................................. 47
2.3 Berlin ............................................................................................................................................. 49
2.4 John Wilkinson und die Mildmay Mission to the Jews .................................................................. 50
2.5 Die Pfingst-Konferenz in Wandsbek ............................................................................................. 51
2.6 Die Jerusalemkirche in Hamburg .................................................................................................. 52
2
3. Der Entfremdungsprozess .................................................................................................................. 54
4. Zusammenfassung ............................................................................................................................. 58
Methodistische Einflüsse auf die Gemeinschaftsbewegung im letzten Drittel des 19.
Jahrhunderts................................................................................................................................ 60
1. Die methodistischen Kirchen in Deutschland und der Schweiz zwischen 1850 und 1875 ................ 61
2. Die „Triumphreise“ von Robert Pearsall Smith ................................................................................... 61
Exkurs 1: Methodismus, Methodisten und methodistische Kirche ......................................................... 62
3. Der Einfluss von Theodor Christlieb ................................................................................................... 63
3.1 Christliebs theologisches Profil und sein Lehrauftrag ................................................................... 63
3.2 „Zur methodistischen Frage in Deutschland“ ................................................................................ 63
3.3 Christlieb und der deutsch-amerikanische Methodistenprediger Friedrich von Schlümbach (18421901). .................................................................................................................................................. 64
3.4 Zeit der Abgrenzung ...................................................................................................................... 64
3.5 Die Gnadauer Pfingstkonferenz 1888 ........................................................................................... 66
3.6 Ein neues Selbstverständnis ......................................................................................................... 66
3.7 Ein kirchenpolitischer Schachzug und die Konsequenzen ........................................................... 66
3.8 Schlümbach und der Trend zum Nationalverband ........................................................................ 66
3.9 Eine veränderte Landschaft .......................................................................................................... 67
3.10 Rückkehr aus den methodistischen Gemeinschaften in die Landeskirchen............................... 67
Exkurs 2: Pietismus und Methodismus ................................................................................................... 68
4. Kirchliche und gesellschaftliche Bedingungen für eine Distanz zwischen Gemeinschaften und
Methodisten............................................................................................................................................. 69
5. Die organisatorische Ausdifferenzierung ............................................................................................ 71
6. Die verbliebene inhaltliche Ausrichtung: Singende „Unterwanderung“ .............................................. 71
7. Schlussbemerkung ............................................................................................................................. 72
Robert Pearsall Smith als Impulsgeber für die deutsche Gemeinschaftsbewegung ............. 73
1. Vom Kartenverleger zum Heiligungsprediger ..................................................................................... 74
2. Erfolge in Großbritannien und Europa ................................................................................................ 75
3. Der Skandal von Brighton ................................................................................................................... 77
4. Hintergründe zum Skandal von Brighton ............................................................................................ 79
5. Smiths Leben nach dem Karriereende ............................................................................................... 79
6. Bewertung von Smith in Deutschland ................................................................................................. 80
Die Erweckung in Wales 1904/05 und ihre Auswirkungen auf den deutschen Neupietismus
....................................................................................................................................................... 81
1. Der Forschungsstand .......................................................................................................................... 81
2. Die Berichte über die walisische Erweckung in deutschen Veröffentlichungen ................................. 82
2.1 Zeitschriften- und Augenzeugenberichte aus dem landeskirchlichen Bereich ............................. 82
2.2 Berichte und Wertungen in deutschen Freikirchen ....................................................................... 84
3. Auswirkungen der Waliser Erweckung auf Deutschland .................................................................... 85
3.1 Regionale deutsche Erweckungen infolge von „Wales“ ................................................................ 85
3.2 Die Waliser Erweckung und die Konferenzen von Bad Blankenburg und Gnadau ...................... 87
4. Das Verhältnis zur Pfingstbewegung .................................................................................................. 87
5. Konsequenzen .................................................................................................................................... 88
Der angloamerikanische Einfluss auf die deutsche Pfingstbewegung .................................... 90
1. Forschungsstand ................................................................................................................................ 90
2. Entstehung und Ursprung der Pfingstbewegung in Deutschland ....................................................... 91
3. Angloamerikanische Einflüsse bis 1945 ............................................................................................. 93
4. Angloamerikanische Einflüsse nach 1945 .......................................................................................... 97
5. Schlussfolgerungen ............................................................................................................................ 99
Der Einfluss der anglo-amerikanischen Heiligungstheologie auf die Theologie von Theodor
Jellinghaus.................................................................................................................................. 100
1. Einleitung .......................................................................................................................................... 100
2. Die Heiligungstheologie von Jellinghaus und ihre Quellen ............................................................... 101
2.1 Die Heilsordnung (das völlige Heil) ............................................................................................. 101
2.2 Der Akt der Übergabe (das gegenwärtige Heil) .......................................................................... 102
2.3 Popularisierung: Boardman und das Ehepaar Smith .................................................................. 104
2.4 Das reformatorische Erbe und die deutsche Universitätstheologie ............................................ 105
3. Konstitution und Stabilisation des neuen Heiligungsbewusstseins .................................................. 107
3.1 Das Heiligungsziel und die Schwierigkeit seiner positiven Bestimmung .................................... 107
3.2 Freiheit von der Macht der Sünde ............................................................................................... 108
4. Vom Gelingen und Scheitern religiöser Deutungssysteme .............................................................. 110
4.1 Entfremdung von der anglo-amerikanischen Einflusssphäre ..................................................... 110
4.2 Die Verwerfungen im Umgang mit der Pfingstbewegung ........................................................... 111
4.3 Der Zusammenbruch innerer Kohärenz ...................................................................................... 112
4.4 Radikale Bußfrömmigkeit als Umkehrung der bisherigen Systemlogik ...................................... 113
3
4.5 Gemeinschaftsbewegung und Theologie .................................................................................... 114
Die Autoren ................................................................................................................................ 115
4
Vorwort
„Die neue Welt und der neue Pietismus“, unter diesem Thema fand am 23.-24.9.2011 an der
Evangelischen Hochschule Tabor in Marburg an der Lahn das zweite Theologische Symposium
der Forschungsstelle Neupietismus statt, dessen wichtigste Vorträge hiermit veröffentlicht
werden.
Die deutsche Gemeinschaftsbewegung ist ebenso wie die meisten Freikirchen stark von
Impulsen aus England und den USA geprägt. Insbesondere gegen Ende des 19. Jahrhunderts gab
es einen starken Schub von angloamerikanischen Ideen sowohl struktureller als auch
theologischer Art, die den Neupietismus belebten und ihm eine ganz eigene Charakteristik
gaben. Immer wieder wechselten sich seitdem Phasen der offenen Anbiederung mit Zeiten der
kritischen Distanz ab. Das Marburger Symposium wollte in dieses bisher kaum beachtete
Forschungsfeld einige Schneisen schlagen und damit zu weiteren Untersuchungen anregen.
Zur Orientierung beginnt dieser Aufsatzband mit einer überblicksartigen Gesamtschau der
angloamerikanischen Einflüsse auf das Christentum in Deutschland, die von den Anfängen des
Mittelalters bis heute reichen. Anschließend konzentrieren sich die Beiträge auf die
Entwicklungen im ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhundert. Dabei werden zunächst
einige deutsche Protagonisten in den Blick genommen.
Thomas Hahn-Bruckart macht zu Beginn deutlich, welche Schlüsselrolle der deutschamerikanische Evangelist Friedrich von Schlümbach für die Entstehung, Organisation und
inhaltliche Prägung der aufkommenden Gemeinschaftsbewegung hatte. Er zeigt auf, dass schon
in der Person Schlümbachs die ekklesiologische Schwierigkeit des Neupietismus, sich zwischen
Volkskirchlichkeit und Freikirchlichkeit zu positionieren, vorgezeichnet wird. Dabei wird auch
klar, dass es unerlässlich ist, bei den betreffenden historischen Abläufen den Kontext der
deutschsprachigen Amerikaner in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu beachten.
Hans-Martin Thimme vertieft dies am Beispiel des nach Amerika ausgewanderten deutschen
Pfarrers August Rauschenbusch (des Vaters von Walter Rauschenbusch, dem später
bekanntesten Vertreter des Social Gospel). An ihm wird beispielhaft eine deutsch-amerikanische
Verknüpfung deutlich, die für das 19. Jahrhundert charakteristisch war: Landeskirchliche
Christen aus Deutschland gingen zu Tausenden in die USA, um dort unter Wahrung ihrer
deutschen Sprache und Kultur ihren Glauben zu praktizieren. Dabei kam es zu neuen
Organisationsformen freikirchlicher Art, die sich häufig mit theologischen Ansichten aus dem
Umfeld der Heiligungsbewegung verbanden. Diese neu verschmolzenen Prägungen gelangten
dann durch Rückwanderer wieder nach Deutschland.
Ekkehard Hirschfeld beleuchtet solch eine Biographie anhand von Ernst Ferdinand Ströter, der
sich ebenfalls zwischen Deutschland und den USA bewegt hat und zu einer prägenden Figur der
deutschen Heiligungsbewegung wurde. An ihm wird deutlich inwiefern das große Interesse der
Gemeinschaftsbewegung an der Stellung Israels und an eschatologischen Fragen mit der
Heiligungstheologie zusammenhing. Ströter selbst kann maßgeblich dafür verantwortlich
gemacht werden, dass die darbystische Spielart des dispensationalistischen Prämillenniarismus
von weiten Teilen des Neupietismus übernommen wurde.
Damit berührt sich dann auch der nächste Beitrag von Nicholas Railton, der mit der Londoner
Mildmay-Konferenz und den englischen judenmissionarischen Aktivitäten einen bisher im
deutschen Sprachraum kaum beachteten Strang der deutsch-englischen Verbindungen
untersucht. Er stellt heraus, inwiefern gerade die Themen Judenmission und Eschatologie
zunächst ein entscheidendes Band zwischen deutschen und englischen Christen bildeten, was
dann aber im Vorfeld des 1.Weltkriegs und der Weimarer Republik immer problematischer
wurde.
Karl Heinz Voigt lenkt den Blick danach darauf, dass die deutsche Heiligungsbewegung
konfessionsgeschichtlich gesehen stark vom angelsächsischen Methodismus geprägt worden ist.
Er stellt dar, wie die Gemeinschaftsbewegung als eine innerkirchliche Art von Methodismus
organisiert worden ist, um eine weitere Abwanderung von Kirchenmitgliedern zu
methodistischen Freikirchen zu verhindern. Obwohl viele leitende Persönlichkeiten der
Heiligungsbewegung gar keine Mitglieder einer Methodisten-Kirche waren, wurden sie dennoch
5
als „methodistisch“ im Sinne einer theologischen und frömmigkeitspraktischen Prägung
wahrgenommen.
Dies gilt ganz besonders auch in Bezug auf Robert Pearsall Smith, der danach von Markus
Krause speziell in den Blick genommen wird. Durch Smiths Konferenzen in Oxford und
Brighton sowie seine sogenannte „Triumphreise“ durch Deutschland im Frühjahr 1875 wurde die
deutsche Heiligungsbewegung entscheidend in Gang gesetzt. Krause macht deutlich, wie Smith
trotz des tragischen und schnellen Endes seiner öffentlichen Wirksamkeit zu einem Impulsgeber
für die entstehende Gemeinschaftsbewegung werden konnte.
Wolfgang Reinhardt stellt in seinem Beitrag dann die spezielle Prägung der Erweckung von
Wales in den Jahren 1904/05 dar, und zeigt, welche Aspekte davon sich in Deutschland
auswirkten und das geistliche Klima im Vorfeld der aufkommenden Pfingstbewegung prägten.
Bis in diese ersten Jahre des 20. Jahrhunderts lassen sich also vielfältige Verknüpfungen
zwischen der angloamerikanischen Christenheit und dem deutschen Neupietismus darstellen.
Umso interessanter ist es, dass Sven Brenner im nächsten Beitrag darauf hinweist, dass die
weitläufige Annahme, die deutsche Pfingstbewegung sei direkt und vor allem aus
amerikanischen Wurzeln herausgewachsen, nicht zu halten ist. Vielmehr scheint gerade sie sich
besonders auf die deutsche Identität besonnen zu haben, und es kam erst nach dem 2.Weltkrieg
zu einer verstärkten Einflussnahme aus den USA auf deutsche Pfingstkirchen.
Was sich bis hierhin schon vielfältig angedeutet hat, konzentriert sich schließlich im letzten
Beitrag von Thorsten Dietz. Er analysiert die bisher kaum aufgearbeitete Theologie von Theodor
Jellinghaus, des führenden Theologen der deutschen Heiligungsbewegung. Dabei wird zunächst
das spannende Zusammenspiel von deutsch-lutherischen und angloamerikanischen Einflüssen im
Zentrum der Theologie der Gemeinschaftsbewegung nachgezeichnet. Gerade bei Jellinghaus, der
sich am Ende seines Lebens dazu gedrängt fühlte, seine gesamte Theologie zu widerrufen, wird
schließlich deutlich, dass auch die damalige Zeitsituation der zunehmenden Distanzierung
Deutschlands von der angelsächsischen Welt im Vorfeld des 1. Weltkriegs und damit
zusammenhängend die Verwerfungen um die aufkommende Pfingstbewegung entscheidend für
einen tiefgreifenden Wandel im Verhältnis der deutschen Gemeinschaftsbewegung zum
angloamerikanischen Christentum geworden sind.1
Es hat sich durch die Forschungsergebnisse des Marburger Symposiums somit
herauskristallisiert, dass es im Laufe des ersten Jahrzehnts des 20. Jahrhunderts zu einer
bedeutsamen Wende gekommen ist. Während sich vorher vielfältige Verbindungen und massive
Einflüsse aus Großbritannien und den USA auf den deutschen Neupietismus nachweisen lassen,
nahm dies spätestens ab 1910 signifikant ab und wurde erst nach 1945 wieder neu belebt. Der
zeitgeschichtliche Hintergrund des bewussten Abrückens Deutschlands vom
angloamerikanischen Kulturraum in dieser Phase bildete sich also auch im pietistischen
Spektrum der evangelischen Christenheit in Deutschland ab, obwohl gerade hier vorher starke
Sympathien und vielfältige persönliche und organisatorische Verbindungen bestanden hatten.
Frank Lüdke
1
Man näherte sich damit der üblichen landeskirchlichen Sicht auf das angelsächsische Christentum an, die klassisch
zum Ausdruck kommt bei Otto Baumgarten, Engländerei im kirchlichen Leben, in: RGG1 2 (1910), 337-339.
6
Frank Lüdke
Von Bonifatius bis Willow Creek – eine kurze Geschichte der englischamerikanischen Einflüsse auf das Christentum in Deutschland
Billy Graham, Rick Warren, Bill Hybels, Rob Bell und viele andere – immer wieder sind Namen
aus der englischsprachigen Christenheit bei uns in aller Munde. Zumindest die meisten
Freikirchen und Landeskirchlichen Gemeinschaften in der Evangelischen Kirche schielen, so hat
man den Eindruck, immer mit einem Auge nach Amerika. Die einen folgen dabei einer gewissen
Sehnsucht nach neuen Ideen, inspirierenden Rednern und vielleicht sogar einer neuen
Erweckung, die anderen eher einer Skepsis gegen alles typisch „Amerikanische“.
Woher kommt diese Verbindung nach Amerika eigentlich? Warum haben gerade die
Gemeinschaftsbewegung und die Freikirchen viel aus der englischsprachigen Welt
übernommen? Und wie hat das alles angefangen?
Man könnte zunächst darauf hinweisen, dass es gar nichts Besonderes ist, dass Christen sich aus
Amerika beeinflussen lassen, da das ja schließlich heutzutage ein gesamtgesellschaftliches
Phänomen ist. Seit ungefähr 100 Jahren diagnostizieren Historiker in mehreren Wellen eine
starke Amerikanisierung unserer deutschen Kultur. Man muss sich dazu nur das Kinoprogramm
und die aktuellen Musikcharts ansehen, die deutlich von Beiträgen aus den USA und auch aus
England dominiert werden. Das Interessante ist allerdings, dass Christen schon sehr viel früher
Einflüsse aus dem angelsächsischen Bereich aufgenommen haben.
Ein Engländer als „Apostel der Deutschen“
Schon seit Ende des 6. Jahrhunderts hatte es auf dem Gebiet des heutigen Mittel- und
Süddeutschlands, im damaligen Frankenreich, eine vielfältige Missionsarbeit durch
iroschottische Wandermönche gegeben, wovon allerdings nur wenige Spuren erhalten geblieben
sind. Ein wirklich nachhaltiger Neuanfang der Missionsarbeit in Deutschland gelang erst im
8.Jahrhundert einem Engländer. Er hieß eigentlich Winfried, aber hatte vom Papst den Namen
„Bonifatius“ bekommen. Bonifatius (675-754) war Angelsachse und lebte bis er ungefähr 40
war, in einem Kloster in Südengland. Aber dann verspürte er den starken Drang, noch einmal
etwas ganz anderes zu tun, Abenteuer zu erleben, und vor allem für das Reich Gottes etwas
Großes zu bewirken. Als Angelsachse lagen ihm dabei seine Verwandten besonders am Herzen.
Die Angelsachsen gehörten zu den Germanen. Sie waren aus Angeln und Sachsen zu einer
Volksgruppe verschmolzen, und Bonifatius sehnte sich danach, zu seinen nächsten Verwandten
zu gehen, die noch keine Christen waren, zu den Sachsen, die grob gesagt das heutige
Niedersachsen bewohnten. Die Grenze zwischen dem heidnischen Sachsenreich und dem
damaligen christlichen Großreich der Franken verlief zu Beginn des 8. Jahrhunderts in
Nordhessen, ungefähr auf der Höhe von Fritzlar.
Dort wagte sich Bonifatius ein einziges Mal auf sächsisches Gebiet vor, um die so genannte
Donar-Eiche zu fällen, ein heidnisches Heiligtum. Das gelang zwar mit starkem militärischem
Begleitschutz, aber Bonifatius entschied sich dann doch, nicht noch weiter nach Norden zu den
heidnischen Sachsen vorzustoßen, sondern sich stattdessen lieber um die Chatten zu kümmern,
die schon unter christlicher Herrschaft im Frankenreich lebten. Die Chatten waren die Vorläufer
der heutigen Hessen und sie waren bisher nur sehr oberflächlich christianisiert worden. Sie
lebten im Grunde noch eine Art Heidentum, in das ein paar christliche Begriffe integriert worden
waren.
721 traf Bonifatius auf der Amöneburg in der Nähe des heutigen Marburg ein. Die dort lebenden
Herzöge Dettic und Deorulf und die Dorfbevölkerung lebten in tiefem Aberglauben, aber
Bonifatius gelang es, sie zu einem fest gegründeten christlichen Glauben weiterzuführen. Viele
Amöneburger wurden damals getauft. Nach diesem Erfolg hatte Bonifatius seine Lebensaufgabe
gefunden: Er, der Engländer, ging nun daran, die nur oberflächlich christianisierten Germanen,
vor allem die Hessen und Thüringer, zu evangelisieren und die Kirche zu organisieren. Er
gründete Klöster, setzte Priester ein und führte sogar ein erstes Germanisches Konzil durch.
Nach 30 Jahren hatte der Engländer Bonifatius die deutsche christliche Landschaft so geprägt,
dass sie nicht mehr dieselbe war, sodass man ihm, dem Angelsachsen, seit dem 12. Jahrhundert
den Beinamen Apostel der Deutschen gab.
Bonifatius war dabei kein Einzelkämpfer, sondern er holte viele Mönche und Nonnen aus
England, um die Kirche in Deutschland zu festigen und zu prägen. Durch englische Organisation
entstand also überhaupt erst so etwas wie eine durchstrukturierte Kirche in Deutschland. Dabei
war es Bonifatius sehr wichtig, dass die Christen Germaniens nicht nach England schauten,
sondern sich, wie schon die Angelsachsen selbst, nach Rom orientierten. Seine Gebeine liegen
bis heute im Herzen des römisch-katholischen Deutschlands, im Dom von Fulda.
Ein Engländer als Wegbereiter der Reformation
Der nächste bemerkenswerte Einfluss durch einen Engländer geschah im 14. Jahrhundert durch
John Wyclif. Dieser englische Theologieprofessor war zwar selbst nie in Deutschland, aber er
sorgte hier dennoch für nachhaltige Impulse. Schon über hundert Jahre vor Martin Luther
übersetzte er die Bibel in die englische Volkssprache und kritisierte den Ablasshandel. Seine
Ideen trugen Studenten nach Prag, wo sie Jahrzehnte nach Wyclifs Tod den Professor Jan Hus
begeisterten. Als dieser immer mehr Anhänger gewann, wurde er aus der Kirche ausgeschlossen
und 1415 auf einem Konzil in Konstanz verbrannt. Gleichzeitig wurde bei der Gelegenheit auch
der besagte John Wyclif, der 30 Jahre vorher gestorben war, ausdrücklich zum Tod auf dem
Scheiterhaufen verurteilt. Das bedeutete, dass seine Knochen ausgegraben und verbrannt
wurden, um die Asche dann in einen Fluss zu streuen. Doch Wyclifs Ideen wirkten weiter und
wurden hundert Jahre später zu einem Mutterboden der Reformation. Ohne die Vorarbeiten des
Engländers John Wiclif wäre Luther wohl kaum das geworden, was er war.
Englische Bücher fördern den deutschen Pietismus
Die Reformation in Deutschland wirkte sich schon nach kurzer Zeit auch auf England aus. Dort
wurde man allerdings nicht einfach lutherisch, sondern es entstand eine eigene Nationalkirche,
die Anglikanische Kirche, was allerdings auch zu mehreren Abspaltungen führte, den so
genannten Dissenters, deren bekannteste Gruppe die Puritaner waren.
Einflussreich für die Christen in Deutschland wurden in dieser Phase vor allem Erbauungsbücher
aus England wie z.B. das Buch des Puritaners John Bunyan mit dem Titel The Pilgrims Progress
(Die Pilgerreise zur seligen Ewigkeit), das bis heute verkauft wird. Solche Literatur aus England
beeinflusste eine neue Bewegung, die in Deutschland ab 1675 aufblühte, den so genannten
Pietismus. Der Pietismus war eine evangelische Erneuerungsbewegung, die neben der
lutherischen und reformierten Tradition auch sehr offen dafür war, geistliche Anstöße aus dem
Ausland aufzunehmen, aus den Niederlanden, aus Frankreich, Spanien und eben auch aus
England, und zwar über konfessionelle Grenzen hinweg.
Die Herrnhuter und ein Engländer
Eine der prägenden Persönlichkeiten des Pietismus war Nikolaus Ludwig Graf von Zinzendorf.
Er gründete die Siedlung Herrnhut in der Oberlausitz, wo sich Glaubensflüchtlinge ansiedelten
und woraus schließlich eine eigene Freikirche entstand, die Herrnhuter Brüdergemeine, die bis
heute weltweit eine Dreiviertelmillion Mitglieder hat. Zinzendorf hatte vielfältige Beziehungen
nach England, lebte einige Jahre in London und reiste sogar schon 1741 selbst nach Amerika, wo
er Herrnhuter Siedlungen gründete und die Mission unter den Irokesen unterstützte.
Für unser Thema interessant ist vor allem die Verbindung zu dem bekanntesten Christen
Englands im 18. Jahrhundert, John Wesley. Er war ein anglikanischer Pfarrer, der zeitweise auch
in der amerikanischen Kolonie Georgia als Geistlicher arbeitete und der dort Christen aus der
Herrnhuter Brüdergemeine kennen lernte. Wesley war sehr beeindruckt von der Herrnhuter Art
zu glauben und besuchte eines Tages im Jahr 1738 eine Herrnhuter Gemeinde in London. Dort
hörte er zu, wie Luthers Vorrede zum Römerbrief vorgelesen wurde, und war plötzlich sehr
bewegt und wurde von einer tiefen Liebe erfüllt. Dieses Erlebnis wurde für ihn zu einer
Initialzündung, sodass er begann, in England evangelistische Freiversammlungen zu halten. Fast
50 Jahre lang ritt er quer durch England und hielt ca. 40.000 Predigten, die zu einer
tiefgreifenden Erneuerung der englischen Christenheit führten, zum einen innerhalb der
anglikanischen Kirche selbst, aber langfristig auch durch die Entstehung der Methodistischen
Kirche.
8
Christen aus England und Deutschland vernetzen sich
Während England in geistlicher Hinsicht gegen Ende des 18. Jahrhunderts aufblühte, war das
christliche Leben in Deutschland zur gleichen Zeit eher bescheiden. Deutschland war zersplittert
in 300 kleine Fürstentümer, und genauso zersplittert waren einzelne fromme Konventikel überall
im Land, die kaum Verbindung miteinander und auch keine gesellschaftliche Relevanz hatten.
Man nannte sie die Stillen im Lande und es benötigte wieder einen Anstoß aus England, um der
Christenheit in Deutschland neues Leben einzuhauchen.
In Augsburg lebte Pfarrer Samuel Urlsperger. Er unterhielt Verbindungen nach England und
sogar nach Amerika. Dort in Georgia hatten sich nämlich aus Salzburg vertriebene Protestanten
angesiedelt. Samuel Urlsperger arbeitete eng mit einer englischen Organisation zusammen, die
sich Society for Promoting Christian Knowlegde (Gesellschaft zur Förderung christlicher
Erkenntnis) nannte. Sein Sohn Johann August Urlsperger war davon sehr beeindruckt. Er
kämpfte auf literarischem Gebiet gegen Glaubenszweifel und kritische Theologie und ihm kam
dabei irgendwann der Gedanke, dass die deutschsprachigen Christen sich dafür unbedingt
vernetzen müssten. Man bräuchte so etwas wie diese englische Society for Promoting Christian
Knowledge, eine Organisation, um Christen überall im Land zu informieren und
zusammenzubringen, gute Literatur zu verbreiten, erfahrene Redner zu vermitteln und Hilfe zu
organisieren, dort wo sie gerade gebraucht würde.
So gründete Johann August Urlsperger nach englischem Vorbild im Jahr 1780 die Deutsche
Christentumsgesellschaft. Sie wurde für einige Jahrzehnte das entscheidende Netzwerk von
Christen in Deutschland. Aus ihr entsprangen viele christliche Vereine, Missionsgesellschaften,
diakonische Initiativen und evangelistische Aktionen.
Mit der Zeit wurden Reisesekretäre angestellt, um die Vernetzung voranzutreiben und neue
Ideen zu verbreiten. Herausragend war dabei Karl Friedrich Adolf Steinkopf, der als Pfarrer
einer deutschen lutherischen Gemeinde in London arbeitete. Er war mit einer Engländerin
verheiratet, was mit dazu beitrug, dass seine Arbeiten für die Deutsche Christentumsgesellschaft
immer sehr stark vernetzt mit und inspiriert vom englischen Christentum waren. So entstanden
vielfältige Kooperationen von Bibel- und Missionsgesellschaften aus England und Deutschland.
Im Jahr 1800 wurde zum Beispiel in enger Zusammenarbeit mit der Londoner
Missionsgesellschaft das erste deutsche Missionsseminar gegründet, also eine Ausbildungsschule
für Missionare. Der Berliner Prediger Johannes Jänicke hatte sie bei sich im Pfarrhaus begonnen
und die Missionare wurden dann von der Londoner Missionsgesellschaft nach Südafrika
ausgesandt.
Die englische Idee der Sonntagsschule
Auch im Bereich der Diakonie kamen Anstöße aus England. Besonders wirkungsreich war dabei
die Idee der Sonntagsschule. Im englischen Gloucester hatte zunächst Robert Raikes im Jahr
1780 die erste Sonntagsschule der Welt gegründet, um verwahrlosten Kindern, die während der
Woche arbeiteten, Lesen und Schreiben beizubringen und sie vom christlichen Glauben her zu
prägen. Dies erlebte der deutsche Kaufmann Johann Gerhard Oncken, als er sich für einige Jahre
in England aufhielt. Im Auftrag einer englischen Bibelgesellschaft nahm er die Idee mit nach
Deutschland und regte den Hamburger Pfarrer Johann Wilhelm Rautenberg an, auch eine
Sonntagsschule zu gründen. Nach englischem Vorbild wurden ab 1825 sechzig Kinder aus einem
Hamburger Elendsviertel aufgenommen.
Als Oncken 1832 seine Mitarbeit beendete, wurde für ihn als Oberlehrer Johann Hinrich
Wichern (1808-1881) eingestellt. Wichern bekam durch diese Sonntagsschularbeit einen tiefen
Einblick in die sozialen Missstände in Hamburg und gründete daraufhin im Jahr 1833 das Rauhe
Haus, ein Kinderheim für schwer erziehbare Jungen, weil er der Überzeugung war, dass der
sonntägliche Unterricht allein nicht ausreichte, sondern nur eine vollzeitliche Prägung von
Jugendlichen wirklich nachhaltige Veränderungen bewirken könne. Wichern wurde damit zum
Begründer der Inneren Mission, also dem heutigen Diakonischen Werk. Die Sonntagsschul-Idee
aber breitete sich eigenständig aus und wurde letztlich zur Inspiration für die bis heute
bestehende Kindergottesdienstarbeit, die in Freikirchen vielfach immer noch als Sonntagsschule
bezeichnet wird.
9
Ein neues Kirchenmodell aus der angelsächsischen Welt
Und noch etwas kam am Anfang des 19. Jahrhunderts von England nach Deutschland, das
langfristig die deutsche christliche Landschaft verändern sollte: die Freikirchen! Nach den
napoleonischen Umwälzungen wurde es in vielen deutschen Gebieten langsam toleriert, eine
christliche Vereinigung außerhalb der Landeskirchen zu gründen. Bis dahin hatte es die Pflicht
für jeden Bürger gegeben, zur Landeskirche zu gehören. Ein Kirchenaustritt war nicht möglich
und wer sein neugeborenes Kind nicht vom Pfarrer taufen ließ, brach damit ein staatliches
Gesetz und wurde strafrechtlich verfolgt.
Das lockerte sich erst allmählich, als sich das Vereinsrecht in Deutschland langsam durchsetzte.
Nun konnten sich Menschen mit gleichartigen Interessen zusammenschließen. Dies wurde im
christlichen Bereich zuerst von denjenigen Christen genutzt, die es in England und Amerika
schon kennen gelernt hatten: Deutsche, die in die angelsächsische Welt ausgewandert und dort
Methodisten geworden waren, kamen um 1830 zurück nach Deutschland. Der erste war
Christoph Gottlob Müller aus Winnenden bei Stuttgart. Er war 1806 vor den napoleonischen
Truppen nach England geflüchtet, wurde dort Methodist und blieb in England. Im Jahr 1830
besuchte er seine alte schwäbische Heimat und brachte die methodistische Frömmigkeit mit.
Seitdem entstanden im schwäbischen Raum methodistische Versammlungen. In den folgenden
Jahrzehnten kam es zur Gründung von mehreren methodistischen Strömungen: den
wesleyanischen Methodisten, die aus England inspiriert waren, und zwei methodistischen
Vereinigungen, die aus den USA kamen, den bischöflichen Methodisten und der Evangelischen
Gemeinschaft, die man auch Albrechtsbrüder nannte. Diese Zweige schlossen sich dann bis 1968
zur Evangelisch-Methodistischen Kirche zusammen.
Ungefähr zeitgleich kam es auch zur Entstehung der deutschen Baptisten, und zwar durch den
schon erwähnten Johann Gerhard Oncken, der die Idee der Sonntagsschularbeit nach Hamburg
getragen hatte. Er ließ sich 1834 in Hamburg mit ein paar Freunden von einem durchreisenden
amerikanischen Baptisten taufen. Das brachte ihm zwar große Probleme mit der Hamburger
Polizei und den Gerichten, aber es sollte die Keimzelle der Evangelisch-Freikirchlichen
Gemeinden in Deutschland werden. In der Folgezeit kooperierten die deutschen Baptisten stark
mit einer amerikanischen baptistischen Missionsgesellschaft.
Die zwei bedeutendsten Freikirchen des 19. Jahrhunderts wären also beide ohne Anstöße aus
dem angloamerikanischen Bereich kaum entstanden. Die dritte große Freikirche, der Bund Freier
Evangelischer Gemeinden, hatte dagegen nur wenige Verbindungen zum englischsprachigen
Christentum. Der Gründer Hermann Heinrich Grafe war eher durch den Franzosen Adolphe
Monod beeinflusst.
Warum gerade England?
An dieser Stelle soll ein erstes Zwischenfazit gewagt werden: Wir haben gesehen, dass gerade im
19. Jahrhundert wesentliche Anstöße zur Erneuerung und Modernisierung des Christentums in
Deutschland aus dem angloamerikanischen Bereich kamen.
Das lag zum einen daran, dass England damals die führende Weltmacht war, die in Bezug auf
die Wirtschaftskraft, moderne demokratische Strukturen und Sendungsbewusstsein eine Art
Leitkultur darstellte. Gleichzeitig war das englische Christentum zu Beginn des 19. Jahrhunderts
durch die methodistischen Einflüsse weitaus lebendiger als die deutsche kirchliche Landschaft.
Und die Lebensphilosophie des Pragmatismus im angloamerikanischen Bereich förderte
besonders in den USA ganz schlicht das Ausprobieren von neuen Formen und Inhalten
christlichen Lebens, einfach weil es Freiräume gab, die in Deutschland undenkbar waren.
Reisende Deutsche und ehemalige Auswanderer kamen deshalb oft mit vielen neuen Ideen aus
England und Amerika zurück.
Das erste internationale ökumenische Netzwerk
Eine wichtige Schaltstelle zur Übertragung angloamerikanischer Einflüsse nach Deutschland war
dabei die Arbeit der Evangelischen Allianz. Im Jahr 1846 kam es in London zu einer
Gründungsversammlung mit über 900 Vertretern aus rund 50 verschiedenen evangelischen
Gruppierungen aus 11 Ländern, die sich zu einem evangelischen Bündnis zusammenschlossen.
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Es gilt als das erste überdenominationelle Treffen der protestantischen Welt mit dem Ziel, die
Einheit der Christen darzustellen und zu fördern. 95 % der Teilnehmer der
Gründungsversammlung kamen aus Großbritannien und den USA, es gab nur 11 Teilnehmer aus
Deutschland. Aber schon 1857 kam es zum Durchbruch der Allianzidee auch in Deutschland, als
man den dritten internationalen Kongress der Evangelischen Allianz mit 1300 Teilnehmern in
Berlin durchführte. Daraufhin setzten sich auch in Deutschland langsam die AllianzGebetswochen durch und immer mehr Pfarrer öffneten sich für die Begegnung mit
freikirchlichen Christen. Die von Engländern dominierte Arbeit der internationalen
Evangelischen Allianz war vor allem für die entstehenden Freikirchen in Deutschland ganz
wichtig, um Freiräume und Anerkennung zu bekommen.
Einen besonderen Akzent setzte dabei eine spezielle Allianzkonferenz im thüringischen Bad
Blankenburg. Dort lebte Anna Thekla von Weling. Ihre Mutter stammte aus Schottland und sie
selbst hatte in Großbritannien ihre Glaubensprägung erhalten. Nach englischem Vorbild
organisierte sie in Blankenburg Allianz-Konferenzen, die weitaus internationaler besucht waren
als alles, was es vorher in Deutschland gab. Viele englische Redner wurden eingeladen und
konfessionelle Zugehörigkeit spielte so gut wie keine Rolle. 1906 wurde eine große
Konferenzhalle eingeweiht und bis heute werden die Blankenburger Konferenzen von
Tausenden besucht. Außerdem wurde durch das Evangelische Allianzblatt das Gedankengut in
Deutschland verbreitet. Blankenburg wurde damit ein ganz wichtiger Ort für den Transfer von
angloamerikanischen Anregungen nach Deutschland.
Die amerikanische Heiligungsbewegung
Um die Prägung des Blankenburger Allianzhauses zu verstehen, müssen wir an dieser Stelle
noch einmal einige Jahrzehnte zurückgehen und uns mit der so genannten angloamerikanischen
Heiligungsbewegung beschäftigen.
Schon seit dem Jahr 1835 luden die amerikanischen Methodistinnen Sarah Lankford und Phoebe
Palmer zu Gebetstreffen für Frauen in ihr Haus in New York ein. Regelmäßig an jedem
Dienstagnachmittag fanden diese Tuesday Meetings for the Promotion of Holiness
(Dienstagstreffen zur Förderung von Heiligung) statt, und zwar 40 Jahre lang. Zu Anfang traf
man sich im Wohnzimmer, dann wurde eine Halle für ein paar Hundert Leute gebaut und nach
vier Jahren durften dann sogar Männer dazukommen. Und sie kamen: einfache Männer, aber
auch Pastoren, Bischöfe und Professoren. Viele wurden inspiriert von der Botschaft Phoebe
Palmers, die sich ungefähr so zusammenfassen lässt: Leg dein ganzes Leben auf den Altar
Gottes, gib dich ihm ganz hin und du wirst mit vollkommener Liebe erfüllt und frei von Sünde
werden. Das ist die wahre Heiligung, das eigentliche Ziel des Christseins.
Zusammen mit ihrem Mann verbreitete sie diese Theologie schon bald als Rednerin auf großen
Konferenzen und Freiversammlungen, so genannten Camp-Meetings. Dabei kamen die
Menschen aus einer weiteren Umgebung und zelteten eine Zeitlang zusammen, um jeden Tag
Evangelisations- und Heiligungsansprachen zu hören.
Phoebe Palmer wurde bald eine der bekanntesten Rednerinnen der USA. Nach einiger Zeit
wurde sie auch nach England eingeladen und verbreitete dort vier Jahre lang ihre Botschaft. So
kam es gleichzeitig in den USA und in England zu einer Heiligungsbewegung. Diese breitete
sich schließlich in den USA so aus, dass es um 1867 zur Gründung der National Association for
the Promotion of Holiness kam, die alle Aktivitäten koordinierte.
Theologisch wurde die Bewegung vor allem vom Oberlin-College in Ohio getragen. Es wurde
1833 gegründet und wurde schon ab 1835 schnell berühmt durch seine ersten beiden Präsidenten
Charles Finney und Asa Mahan. Sie prägten das College mit einer speziellen
Heiligungstheologie. Entscheidend war dabei, dass der Mensch sich mit freiem Willen für Gott
entscheiden kann. Er soll ihm sein Leben übergeben, woraufhin Gott mit dem Geschenk der
Wiedergeburt antworten wird. Aufgrund dieser Überzeugung, dass der Mensch sein ewiges
Schicksal selbst in der Hand hat, begann Finney als erster damit, Massenevangelisationen in
amerikanischen Großstädten durchzuführen, bei denen er die Menschen zu einer bewussten,
persönlichen Entscheidung aufrief. Sie sollten nach vorne kommen und sich als Zeichen auf
spezielle Bußbänke setzen – eine amerikanische Missionsmethode, die dann später in
abgewandelter Form auch in Europa Furore machte. Außerdem lehrte man in Oberlin nach der
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Wiedergeburt noch eine zweite Stufe des Christseins, das Higher Christian Life, also die völlige
Heiligung. Sie sollte die Freiheit von jeder bewussten Sünde beinhalten, die Ausrottung von
allen bösen Neigungen und die Erfüllung mit vollkommener Liebe. Dies hielt man für jeden
Christen für erreichbar, wenn die einzelne Person es nur will und sich Gott ganz ausliefert.
Robert Pearsall Smith in England und Deutschland
Diese Theologie prägte die amerikanische Heiligungsbewegung und inspirierte weitere
Multiplikatoren, die diesen Ansatz über den Atlantik nach Europa trugen. Entscheidend für uns
in Deutschland wurden dabei Robert Pearsall Smith und seine Frau Hannah Whitall Smith aus
Pennsylvania. In den 1860er-Jahren wurden sie für die Heiligungsbewegung gewonnen und
kamen zu der Überzeugung, dass echte Heiligung im Sinne einer dauerhaften Überwindung von
sündigen Verhaltensweisen möglich sei. Sie veröffentlichten ihre Erkenntnisse in dem
vielgelesenen Buch Holiness through Faith (Heiligung durch Glauben). Im Jahr 1873 kamen die
Smiths zu einem Kuraufenthalt nach England und begannen dort auch als Heiligungsredner
aufzutreten. Im September 1874 organisierte man eine große Heiligungskonferenz in Oxford mit
1500 Teilnehmern, darunter auch einige deutschsprachige wie Otto Stockmayer und Theodor
Jellinghaus. Die 10-tägige Konferenz machte einen gewaltigen Eindruck auf die Teilnehmer.
Carl Heinrich Rappard, der Direktor des Predigerseminars St. Chrischona in Basel, machte eine
tiefgreifende Heiligungserfahrung, hielt danach selbst Heiligungskonferenzen ab und lud Robert
Pearsall Smith zu einer fünfwöchigen Vortragsreise durch Deutschland und die Schweiz ein.
Smith predigte im April 1875 vor Tausenden von Zuhörern in großen deutschen Kirchen und
weckte eine starke Sehnsucht nach Erneuerung. Im Juni 1875 fand dann eine zweite große
Heiligungskonferenz im englischen Brighton statt. 8000 Teilnehmer waren neun Tage lang
zusammen, darunter 200 Deutsche. Sie waren beeindruckt von Pearsall Smiths authentischem,
zeugnishaftem Reden und dem Mitteilen von persönlichen Gotteserfahrungen, verbunden mit
biblischer Auslegung.
Die Konferenzen von Oxford und Brighton riefen in Europa etwas ins Leben, das fortan nach
dem Ort der ersten großen Versammlung als „Oxfordbewegung“ bezeichnet wurde. In England
institutionalisierte sich die Bewegung in einwöchigen Heiligungskonferenzen, die bis heute im
nordenglischen Keswick stattfinden. Und auch in Deutschland gingen nun einige der Teilnehmer
der Konferenzen von Oxford und Brighton daran, die Gedanken der Bewegung auszubreiten.
Die deutschsprachige Heiligungsbewegung
Chrischona-Direktor Carl Heinrich Rappard begann 1875 damit, die Heiligungszeitschrift Des
Christen Glaubensweg herauszugeben, und seine Frau Dora übersetzte viele Lieder der
englischen Heiligungsbewegung ins Deutsche. Rappard hatte in Schottland studiert und war
dann Missionar in Ägypten gewesen. Von daher sprach er Englisch und konnte problemlos viele
Kontakte in die englischsprachige Welt aufbauen. St. Chrischona wurde jetzt der institutionelle
Motor der deutschen Heiligungsbewegung. Vor allem durch die Chrischona-Prediger
verbreiteten sich die Gedanken der angloamerikanischen Heiligungsbewegung quer durch
Deutschland und die Schweiz und die Oxford-Konferenz wurde das Vorbild für viele
Heiligungstreffen und Konferenzen überall im Land.
Das eigentliche Gesicht der deutschen Heiligungsbewegung aber wurde Otto Stockmayer. Er
war Schwabe, studierte Theologie und ging dann in die französische Schweiz, wo er als
Evangelist einer Freikirche in Genf arbeitete. Stockmayer war 1874 in Oxford dabei gewesen
und propagierte von da an die Lehre der Heiligungsbewegung. Er war ein brillanter Redner und
da er fließend Englisch und Französisch sprach, war es kein Problem für ihn, auch in England
und Amerika aufzutreten und dort Kontakte zu knüpfen. Häufig war er auf den KeswickKonferenzen und er machte drei längere Reisen in die USA. Stockmayer war sozusagen in
Person die entscheidende Brücke für den Transfer der angloamerikanischen Heiligungsideen
nach Deutschland.
Neben Stockmayer als Redner und Rappard als Organisator versuchte Theodor Jellinghaus die
neuen Heiligungsideen theologisch zu systematisieren. Jellinghaus war Missionar in Indien
gewesen und war von daher auch mit dem englischsprachigen Christentum vertraut. Er schrieb
die einzige ausführliche Dogmatik der Heiligungsbewegung mit dem bezeichnenden Titel Das
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völlige, gegenwärtige Heil durch Christum. Es ging also nicht nur um das zukünftige Heil, die
Rettung im Jüngsten Gericht, sondern um ein gegenwärtiges Heil, um die Erfahrung, die man
jetzt schon machen kann, dass die Macht der Sünde heute, mitten im Leben gebrochen ist, und
man voll Friede, Freude, Liebe und Glück leben kann. Es wurde also versprochen, dass ein Stück
Himmel schon hier auf Erden erfahren werden kann, und zwar weitaus mehr als das, was man
normalerweise von kirchlichen Kanzeln hörte. Das alles wurde von Jellinghaus auf über 600
Seiten ausführlich theologisch entfaltet und begründet. Das Buch erlebte fünf Auflagen und
Jellinghaus gründete eine Bibelschule in der Nähe von Berlin, in der bis 1910 ca. 3000 junge
Männer in den Ideen der Heiligungsbewegung unterrichtet wurden. Am Ende seines Lebens
verfiel Jellinghaus allerdings in Depressionen, hielt sich mitverantwortlich für die tragischen
Konflikte um die Pfingstbewegung und widerrief 1911 sein gesamtes Lehrsystem.
Bis dahin aber sorgten Rappard, Stockmayer und Jellinghaus mit vielen anderen 30 Jahre lang
intensiv dafür, dass die Theologie der angloamerikanischen Heiligungsbewegung Eingang in die
deutsche Christenheit fand. Dies wurde umso wirkmächtiger, als neben dem Thema der
Heiligung auch noch das Thema der Massenevangelisation aus Amerika und England in
Deutschland Eingang fand.
Amerikanische Evangelisationsmethoden
Was mit Charles Finneys Großstadtevangelisationen begonnen hatte und durch die CampMeetings zur Bewegung geworden war, wurde um 1870 in den Schatten gestellt durch den
Evangelisten Dwight L. Moody. Dieser hatte in Chicago eine große Sonntagsschularbeit
aufgebaut und engagierte dann den christlichen Sänger Ira David Sankey, um mit ihm zusammen
evangelistische Großveranstaltungen zu gestalten. Von 1872-1892 gingen die beiden mehrmals
jahrelang nach England und füllten dort große Stadien mit Tausenden von Zuhörern (und das
alles ohne Mikrofon!). Auch in den USA kam es nun zu Groß-Evangelisationen mit bis zu
20.000 Besuchern. Sankey komponierte passende Lieder und gab das berühmteste Liederbuch
der Heiligungsbewegung mit 1200 Liedern heraus. Die Sacred Songs and Solos sollen allein bis
zum 2.Weltkrieg 90 Millionen Mal verkauft worden sein und werden sogar heute immer noch
aufgelegt.
Moody und Sankey, diese Kombination von einem begnadeten Redner und einem einfühlsamen
Musiker, wurde zum großen Vorbild auch für Deutschland. Als Robert Pearsall Smith 1874 seine
so genannte Triumphreise durch Deutschland machte, wurde auch er bei seinen Ansprachen
durch einen Solisten musikalisch begleitet. Es war der Methodist Ernst Gebhardt, der sich selbst
auf dem Harmonium begleitete und die Zuhörer oft in den Refrain der Lieder mit einstimmen
ließ. So etwas hatte man bis dahin in deutschen kirchlichen Veranstaltungen noch nicht erlebt.
Am bekanntesten wurde eine Vertonung des einzigen deutschen Satzes, den Pearsall Smith
ständig wiederholte: „Jesus errettet mich jetzt!“ Das war das Programm der
Heiligungsbewegung: Nicht erst im Himmel, sondern jetzt schon ist die Erfahrung möglich, dass
man gerettet ist! Gebhardt war insgesamt sehr innovativ, so versuchte er z.B. auch als einer der
ersten die Gospelmusik der Afroamerikaner in Deutschland zu etablieren.
Die Wirkung der Musik für den angloamerikanischen Kulturtransfer kann kaum überschätzt
werden. So wie wir heute durch englische Musik geprägt werden, so wurde damals die deutsche
Heiligungsbewegung durch die Lieder aus England und Amerika stark beeinflusst. In der ersten
Auflage des deutschen Reichsliederbuchs, das immerhin auch 3 Millionen Mal verkauft wurde,
waren 30 % der Lieder Übersetzungen aus dem Englischen. Diese so genannten Heilslieder, die
meist einen wiederkehrenden Refrain hatten, bildeten dabei einen in Deutschland bisher kaum
bekannten neuen Liedtyp, der zunächst in landeskirchlichen Kreisen heftig kritisiert und
verachtet wurde. Das entscheidende Musikinstrument war in dieser Bewegung nun auch nicht
mehr die große Kirchenorgel, sondern eher das Klavier, und vor allem das Harmonium.
Anfang der 1880er-Jahre waren sich führende Christen in Deutschland einig, dass auch bei uns
die Zeit für Großevangelisationen nach englischem Vorbild gekommen sei. Theodor Christlieb
war einige Jahre Pfarrer einer deutschen Gemeinde in London gewesen und hatte dort große
evangelistische Versammlungen miterlebt. 1868 nahm er den Ruf auf die Professur für
Praktische Theologie in Bonn an und führte dort viele englische Ideen in Deutschland ein.
Christlieb ist Pearsall Smith und Moody persönlich begegnet und er war beeindruckt von ihrer
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Botschaft und ihren Methoden. Seine große Sorge aber war, dass diese Ansätze in Deutschland
um 1880 fast nur von den Methodisten übernommen wurden, und zwar mit Erfolg. Immer mehr
Menschen traten in den 1880er-Jahren aus der Kirche aus, um sich den Methodisten
anzuschließen. Christliebs Ansatz als Theologieprofessor war nun der, dass er dazu anregte, im
Raum der Landeskirchen eben genau die typisch englischen Formen der Evangelisation, der
Seelsorge, des Gesangs und der Jugendarbeit aufzunehmen, um dem Methodismus das Wasser
abzugraben und die Menschen innerhalb der Landeskirche zu halten.
Seine erste Idee war die, einen Deutsch-Amerikaner zu holen, der es den Deutschen vormachen
sollte. Friedrich von Schlümbach war ein deutscher Auswanderer, der in Amerika Methodist und
Evangelist in Diensten des CVJM geworden war. Er wurde 1882 von Christlieb nach
Deutschland geholt, um zwei Monate lang in Berlin zu evangelisieren. Mit für deutsches
Empfinden sehr amerikanischen Methoden, nämlich mit Werbeflyern und Plakaten, versuchte
man an die entkirchlichten Menschen Berlins heranzukommen. Es gab viel Kritik, aber es sollte
unter anderem der Anstoß zur Gründung des ersten deutschen CVJM im Jahr 1883 werden. Die
Erfahrungen waren so ermutigend, dass sie tatsächlich dazu führten, einen ersten deutschen
Berufsevangelisten anzustellen. Man fand ihn in Elias Schrenk.
Elias Schrenk war Schwabe, arbeitete zunächst als Missionar in Ghana und danach als Prediger
in Bern. Während dieser Zeit hielt er sich einige Male in Großbritannien auf. Er hörte Pearsall
Smith und Charles Haddon Spurgeon und war so beeindruckt von den Großevangelisationen
Moodys, dass er seinem Baseler Inspektor schrieb, er möchte gerne Evangelist in Deutschland
werden. Im Jahr 1884, im Alter von 53 Jahren, fand er seine Lebensaufgabe, indem er mit
Evangelisationsversuchen in deutschen Großstädten begann. Die Ergebnisse waren so positiv,
dass man den Deutschen Evangelisationsverein gründete, der Elias Schrenk als
Berufsevangelisten anstellte. Innerhalb von dreißig Jahren führte Schrenk ca. 400 systematisch
geplante Evangelisationen in Turnhallen, Zirkuszelten und Tanzlokalen durch. Er ging dorthin,
wo die Menschen waren, und erfuhr teilweise heftigen Widerstand. Er wurde mit Jauche
übergossen, es wurde auf ihn geschossen und einmal wurde er von Männern in Frauenkleidern
und mit Knüppeln bewaffnet überfallen, doch er ließ sich davon nicht abbringen. Bei seinen
Evangelisationen übernahm Schrenk viele Ideen, die er bei Moody kennen gelernt hatte: Er rief
zur Bekehrung auf, indem er die Menschen um ein Handzeichen bat, sie nach vorne rief oder sie
sich auf spezielle Stühle setzen ließ. Er ließ Plakate und Handzettel drucken und gab auch
Zeitungsanzeigen auf. Auch wenn Schrenk bewusst versuchte, nicht so aufdringlich zu sein wie
seine amerikanischen Vorbilder, kam es gerade im Bereich der Evangelisationsmethodik zu einer
nie da gewesenen Annäherung zwischen der angloamerikanischen und der deutschen christlichen
Welt. 1886 wurde schließlich die Evangelistenschule Johanneum in Bonn gegründet, die dann
später nach Wuppertal umzog, um weitere Berufsevangelisten auszubilden.
Eine spezielle Idee, die man aus England übernahm, war darüber hinaus die Zeltmission. Der
Chrischona-Prediger Jakob Vetter hatte auf einer Reise nach England 1899 die
Zeltmissionsarbeit kennen gelernt. Er gründete daraufhin im Jahr 1902 die Deutsche Zeltmission
mit ihrem Zentrum im Erholungsheim Patmos bei Siegen. Seitdem wurden Zeltevangelisationen
nach angloamerikanischem Vorbild ein prägendes Merkmal der erweckten Christen in
Deutschland. An vielen Orten wurde es zu einer regelrechten Tradition, einmal im Jahr eine
Zeltevangelisation durchzuführen.
Die Gemeinschaftsbewegung
Evangelisation und Heiligung, diese beiden Themen, die ganz stark aus der angloamerikanischen
Welt nach Deutschland getragen wurden, führten zu einer starken Neubelebung der erwecklichen
Kreise in Deutschland. Zum einen betraf das natürlich die Freikirchen. Da sie sowieso meistens
eng mit ihren Mutterkirchen in England und den USA verbunden waren, war es geradezu
selbstverständlich, dass englischsprachige Erweckungsprediger nach Deutschland eingeladen
wurden und ihre Impulse hier weitergaben. Von daher ist es nicht verwunderlich, dass gerade der
Methodismus in Deutschland als eine ausländische Sekte verachtet wurde. Trotzdem hielt das
immer mehr Deutsche nicht davon ab, aus der Kirche auszutreten und zu den
Methodistengemeinden überzuwechseln.
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Angeregt durch den Bonner Theologieprofessor Theodor Christlieb verfolgte man deshalb
innerhalb der Landeskirchen die Strategie, einem Christentum angloamerikanischer Prägung
einen gewissen Freiraum innerhalb der Kirche zu gewähren. Pfarrer, die selbst von der
Heiligungs- und Evangelisationsbewegung begeistert waren, konnten nun diese Akzente in ihren
eigenen Kirchengemeinden verstärken und fördern. An manchen Orten wurden dadurch alte
Bibelstundenkreise neu belebt, aber vielfach entstanden auch ganz neue Gruppen und Kreise, die
sich meistens als freie Vereine von Kirchenmitgliedern konstituierten, als so genannte
Landeskirchliche Gemeinschaften. Im Jahr 1888 trafen sich zum ersten Mal 142 Vertreter
solcher Kreise zu einer Pfingstkonferenz in einer Herrnhuter Kirche in dem kleinen Ort Gnadau
bei Magdeburg. Dies gilt als die Geburtsstunde der Gemeinschaftsbewegung, die sich schließlich
1897 auch offiziell als Deutscher Verband für Gemeinschaftspflege und Evangelisation
verfasste, und meist als Gnadauer Verband bezeichnet wurde. Man profitierte dabei von der
1871 erfolgten Reichsgründung, die eine deutschlandweite Vernetzung ermöglichte. Im
Gnadauer Verband verschmolzen die alten pietistisch und erwecklich geprägten Strömungen
innerhalb der Landeskirchen mit den neuen angloamerikanischen Anstößen. Da dieser englischamerikanische Einfluss in den einzelnen Mitgliedsverbänden durchaus unterschiedlich stark
ausgeprägt war, kam es von Beginn an häufig zu Spannungen zwischen den
Gemeinschaftsverbänden, die eher das alte deutsche Erbe betonten, und den anderen
Gruppierungen, die sich stark für Einflüsse aus den USA und England öffneten. Innerhalb des
Gnadauer Verbandes sprach man bis 1945 manchmal von den weniger englisch beeinflussten
Altpietisten, die eher in Westdeutschland die Mehrheit waren, und den stärker englisch geprägten
Neupietisten, die vor allem in Ostdeutschland in der Mehrheit waren, aber durch Chrischona,
Liebenzell und die Zeltmission auch im Westen starke Stützpunkte hatten. Doch gerade dieses
Zusammenhalten der einen Werke, die eher die deutsche Tradition, und der anderen, die eher die
englischen Neuerungen im Blick hatten, machte die Stärke des Gnadauer Verbandes aus. Man
war auf der einen Seite deutsch, innerlandeskirchlich und traditionsverwurzelt, hatte gleichzeitig
aber auch einen internationalen und überkonfessionellen Horizont, der neue Ideen und viele
Modernisierungen mit sich brachte.
Zielgruppenarbeit
Ein wichtiges Feld war dabei das, was wir heute Zielgruppenarbeit nennen würden. Wieder meist
nach angloamerikanischen Vorbildern entstanden Initiativgruppen. Im Bereich der Jugendarbeit
gab es neben den CVJM-Gruppen für junge Männer ab 1894 auch EC-Jugendbünde, in denen
sich nach amerikanischem Vorbild junge Männer und Frauen miteinander trafen, sich in
Weihestunden ganz in der Tradition der Heiligungsbewegung immer wieder neu Gott hingaben
und gemeinsam evangelistisch aktiv wurden. Im Hinblick auf die Universitäten kam es 1897 zur
Gründung der Deutschen Christlichen Studentenvereinigung (DCSV), also dem Vorläufer der
heutigen SMD, die Christen an den Universitäten in Gruppen sammelte und evangelistische
Aktionen durchführte. Der Anstoß dazu kam aus den USA: der deutsche CVJM-Sekretär
Waldemar von Starck hatte in Northfield in den USA eine christliche Studentenkonferenz
miterlebt und übertrug das Modell auf Deutschland.
Daneben entstanden vielfältige Gruppen, die sich um bestimmte Berufsstände kümmerten, die so
genannten Berufsmissionen, wie z.B. die Christliche Postvereinigung, die Christliche Bäckerund Konditorenvereinigung oder die Eisenbahnermission. In vielen Fällen orientierte man sich
dabei an bereits bestehenden englischen Vorbildern.
Einen interessanten Unterschied zwischen der Entwicklung in den USA und in Deutschland gab
es allerdings in Bezug auf die Entstehung von neuen Heiligungskirchen. Während in Amerika
um 1900 ca. 30 neue Denominationen entstanden, die das Anliegen der persönlichen Heiligung
ins Zentrum ihrer Lehre stellten, scheiterten solche Gründungsversuche in Deutschland meistens.
Nur die Kirche des Nazareners und die Gemeinde Gottes haben sich letztlich als kleine
Freikirchen in Deutschland etabliert. Insgesamt institutionalisierten sich die Einflüsse der
angloamerikanischen Heiligungs- und Evangelisationsbewegung in Deutschland eher in den
klassischen Freikirchen und in der innerkirchlichen Gnadauer Gemeinschaftsbewegung. Hier
gelang es mit Erfolg, die amerikanischen Anstöße in deutsche Formen zu gießen und es
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verbreiteten sich auch die vielfältigen Übersetzungen der englischsprachigen Erbauungsliteratur
besonders gut.
Die Heilungsbewegung – Kulturtransfer nach Amerika
Es gab im Grunde nur einen einzigen Bereich, in dem die große Bewegung des
angloamerikanischen Kulturtransfers nach Deutschland umgedreht wurde. Nur in einer einzigen
christlichen Thematik übernahmen Amerikaner Anstöße aus Deutschland und trugen sie in die
USA, und zwar beim Thema Heilung. Pfarrer Johann Christoph Blumhardt wirkte nach der
Erfahrung der Heilung einer Frau in seiner Gemeinde in Möttlingen ab 1852 in einem Kurhaus in
Bad Boll, in dem Gebet und medizinische Versorgung miteinander verbunden waren. Zur
gleichen Zeit eröffnete Dorothea Trudel im schweizerischen Männedorf ein Haus, in dem durch
Gebet und Handauflegung viele Menschen wieder gesund wurden, unter anderem auch einige
der späteren Leiter der deutschen Gemeinschaftsbewegung wie Elias Schrenk und Otto
Stockmayer. Nach diesem Vorbild wurden in der Folgezeit viele so genannte Erholungsheime in
Deutschland und der Schweiz eröffnet, wo Menschen zur vollen Lebensübergabe an Jesus
ermutigt wurden, um dadurch auch körperlich zu gesunden. Am bekanntesten wurden die
Erholungsheime in Teichwolframsdorf von Johannes Seitz und im schweizerischen Hauptwyl,
das von 1879-1895 von Otto Stockmayer geleitet wurde. Diese Einrichtungen erregten besonders
die Aufmerksamkeit von amerikanischen Vertretern der Heiligungsbewegung. Im Jahr 1882
eröffnete der Amerikaner William Boardman davon inspiriert das Heilungshaus Bethshan in
London. Charles Cullis gründete ein Heilungshaus in Boston und wurde der führende Vertreter
des Faith Cure Movements in den USA. Albert Benjamin Simpson wurde durch Anstöße von
Cullis geheilt und begann in New York die Glaubensheilung zu predigen. Er gründete die
Christian and Missionary Alliance, die durch viele Missionare die Botschaft der
Glaubensheilung in die Welt trug. Die skurrilste Erscheinung dieser Bewegung aber wurde John
Alexander Dowie, der z.B. medizinische Hilfsgeräte ausstellte, die Menschen nach einer Heilung
zurückgelassen hatten. Er gründete 1901 sogar eine eigene Stadt, Zion in Illinois, in der 8000
Einwohner sündlos auf die Wiederkunft Jesu warten sollten.
Aus deutschen Anstößen entwickelte sich also eine vielschichtige Heilungsbewegung im
angloamerikanischen Raum, die dann ab 1909 fast vollständig von der Pfingstbewegung
absorbiert wurde. Das Thema Glaubensheilung, das seit Christoph Blumhardt ein wichtiger
Aspekt für die Gemeinschaftsbewegung war, sodass sogar viele führende Leiter ärztliche Hilfe
ganz ablehnten, wurde danach in der Gnadauer Bewegung und in den klassischen Freikirchen
nur noch sehr dezent und nüchtern thematisiert. Was war passiert?
Die Pfingstbewegung
Um die Jahrhundertwende stieg in den Kreisen der Heiligungsbewegung in Amerika und Europa
die Endzeiterwartung stark an. Man rechnete in diesem Zusammenhang unter anderem damit,
dass es zu besonderen Wirkungen des Heiligen Geistes und noch tieferen Erfahrungen kommen
würde. Tatsächlich gab es im Frühjahr 1905 einen geistlichen Aufbruch in Wales. Durch
evangelistische Predigten des Bergmanns Evan Roberts und der Autorin Jessie Penn-Lewis kam
es zu einer Bewegung, bei der sich ca. 100.000 Menschen bekehrt haben sollen. Im
deutschsprachigen Raum verfolgte man die Nachrichten aus Wales mit großer Spannung und
Begeisterung. Regelmäßig wurde in der Zeitschrift Auf der Warte über die neusten Ereignisse
aus Wales berichtet. Der britische Heiligungsprediger Charles Inwood reiste extra selbst nach
Deutschland, um über die Waliser Erweckung als Augenzeuge zu berichten und viele Deutsche
zog es im Gegenzug nach Wales. Angestoßen durch die Waliser Ereignisse kam es auch in
Mülheim an der Ruhr bei Ernst Modersohn zu einem erwecklichen Aufbruch und man war stark
sensibilisiert für jegliche neue Nachrichten – vor allem aus Amerika.
Dort gab es inzwischen Anzeichen für eine neuartige Bewegung. In Topeka in Kansas hatte der
Heilungs- und Heiligungsprediger Charles Parham eine kleine Bibelschule gegründet, bei der
seine Schülerin Agnes Ozman am 1.1.1901 nach Gebet und Handauflegung in einer nie gelernten
Sprache zu reden begann, die man als Chinesisch identifizierte. Parham lehrte seitdem, dass ein
solches Zungenreden das sichtbare Zeichen für eine Geistestaufe sei. Er gründete die Apostolic
Faith Assemblies, die diese neue Lehre propagierten. In einer dieser Versammlungen, der Azusa
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Street Mission in Los Angeles, kam es dann 1906 durch den afroamerikanischen Prediger
William Seymour zu einem Durchbruch der so genannten Zungenbewegung. Drei Jahre lang kam
es dort zu sehr emotionalen geistlichen Erfahrungen, die durch viele Besucher weitergetragen
wurden, sich über New York ausbreiteten und dann durch den norwegischen Prediger Thomas
Ball Barratt nach Christiania (dem heutigen Oslo) gelangten. Als man in Deutschland hörte, dass
es in Christiania zu Heilungen und Zungenreden gekommen war, reisten einige deutsche
Vertreter der Heiligungsbewegung dorthin. So kam es zur Einladung von zwei Norwegerinnen,
die in Zungen reden konnten, um bei einer Evangelisation im Juli 1907 in Kassel mitzuwirken.
Sie fand vier Wochen lang täglich statt, erregte durch manche ekstatische Phänomene viel
Aufsehen und polarisierte die deutsche Gemeinschaftsbewegung. Ein Teil der Gemeinschaften
hielt das Zungenreden nun für das sichtbare Zeichen der Geistestaufe, also für die höchste Stufe
der Heiligung. Andere lehnten diese Sichtweise vehement ab. Sie verfassten 1909 die Berliner
Erklärung, die schließlich zur Trennung zwischen Pfingst- und Gemeinschaftsbewegung führte.
Diese Krise und der wenige Jahre später einsetzende 1.Weltkrieg, der zunächst England und
später auch die USA zu Feinden Deutschlands machte, war die Wendezeit für den
angloamerikanischen Kulturtransfer auf die deutsche Christenheit. Das ständige sehnsüchtige
Schielen nach Amerika hatte letztlich zu einer schmerzlichen Spaltung der deutschen
Erweckungsbewegung geführt. Als Ursache dafür identifizierte man nun eine übersteigerte
Sehnsucht nach Erfahrungen und eine überzogene Heiligungstheologie und drängte deshalb die
bisherigen Kernthemen Heilung und Heiligung immer mehr in den Hintergrund. Stattdessen
besann man sich wieder stärker auf das deutsche reformatorische Erbe und versuchte, Einflüsse
aus dem angloamerikanischen Bereich in Zukunft nicht zu stark werden zu lassen.
Predigende Frauen
Einer dieser Aspekte war dabei z.B. das öffentliche Predigen von Frauen. Vor allem in Amerika
hatte die Betonung der Souveränität des Heiligen Geistes von Beginn an in der
Heiligungsbewegung dazu geführt, dass begabte Frauen als Rednerinnen auftauchten, und zwar
nicht nur in reinen Frauenversammlungen, sondern auch vor gemischtem Publikum. Von einigen
war schon die Rede: Phoebe Palmer, die schon seit 1835 als Rednerin auftrat, Hannah Whitall
Smith, die in Oxford und Brighton eigenständig Versammlungen abhielt, die viele Männer
geistlich weiterbrachten, und Jessie Penn-Lewis, die prägende Frau der walisischen Erweckung,
die auf weltweite Vortragsreisen ging. Dazu muss nun auch noch Antoinette Brown genannt
werden. Sie studierte ab 1846 am Oberlin-College in Ohio und wurde 1852 als erste Frau der
Welt als Pastorin ordiniert. Bis dahin war es in Deutschland noch ein weiter Weg, aber diese
amerikanischen Vorbilder ermutigten doch auch die deutschen Frauen in der
Heiligungsbewegung dazu, Verantwortung zu übernehmen. Dora Rappard in Chrischona war
durch das Vorbild von Hannah Whitall Smith sehr inspiriert worden, Anna von Weling in
Blankenburg wurde die Organisatorin der Evangelischen Allianz und die Diakonissen des
Deutschen Gemeinschafts-Diakonieverbandes bekamen immer wieder große Schwierigkeiten,
weil sie sich nicht scheuten, vor gemischten Versammlungen zu predigen. Insgesamt aber
blieben diese predigenden Frauen auch im deutschen Neupietismus eher ein Randphänomen, das
mit heftigem Widerstand zu kämpfen hatte, nicht nur von Seiten der Landeskirchen, sondern
auch von der breiten Masse der konservativen Erweckten. Im Gegensatz zu den USA blieben die
Frauen der deutschen Gemeinschaftsbewegung völlig unpolitisch und sahen keine Veranlassung
für die Kooperation mit Frauenrechtlerinnen. Sie fanden im Großen und Ganzen ihre
traditionelle Rolle als Ehefrau und Mutter oder, wenn ihnen das versagt bliebt, als Diakonisse.
Diakonische Impulse
Die diakonische Arbeit hatte im deutschen Pietismus seit den Halleschen Waisenhäusern von
August Hermann Francke schon eine lange Tradition. Diese war durch Johann Hinrich Wichern
in den 1830er-Jahren neu belebt worden. Auch Wichern hatte Anstöße aus England
übernommen, um in Deutschland die Innere Mission aufzubauen. Als die Heiligungsbewegung
dann um 1875 in Deutschland ankam, gab es dort bereits ein sehr gutes Netz von christlichen
diakonischen Vereinen, die teils konservativ-kirchlich und teils pietistisch-erwecklich geprägt
waren. Die angloamerikanische Heiligungsbewegung hatte im englischsprachigen Raum auch
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sehr weitreichende soziale Arbeiten in Gang gesetzt. In Deutschland sahen die
heiligungsbewegten Kreise dafür zunächst keine große Notwendigkeit, da die Innere Mission um
1880 bereits die meisten Nöte und sozialen Missstände im Deutschen Reich im Blick hatte. So
konzentrierte man sich zunächst auf das, was man als Defizit bei der Inneren Mission ausmachte,
und das war nicht die Sozialarbeit, sondern die evangelistische Arbeit und die Sammlung der
Bekehrten in Gemeinschaften. Erst um 1900 herum begann man auch in der
Gemeinschaftsbewegung, eigene diakonische Arbeiten aufzubauen. Es entstanden nach und nach
Gemeinschafts-Diakonissenhäuser mit zeitweilig bis zu 5000 Diakonissen. Das Berufsbild der
Diakonisse wurde nicht aus England übernommen, sondern von Theodor Fliedner in
Kaiserswerth ab 1836 institutionalisiert. Engländer und Amerikaner lernten es in Deutschland
kennen und übertrugen es in ihre Heimat. Im Bereich der diakonischen Vereine gab es aber auch
manche Anstöße, die aus der angelsächsischen Welt nach Deutschland flossen, wie z.B. die
Arbeit unter Prostituierten und ungewollt Schwangeren. Nach amerikanischem Vorbild entstand
so z.B. 1890 das Weiße Kreuz in Deutschland. Als Ziel der Heiligung wurde in der
Gemeinschaftsbewegung eben nicht der Rückzug in die eigene Gemeinschaft angesehen,
sondern gerade die Hinwendung zu den Nöten der Welt, vor allem natürlich zur geistlichen Not
der Verlorenheit, aber genauso auch zu den körperlichen und seelischen Nöten.
Die Weltmission
Dies galt auch für eine ganz neue Form von weltweiter Missionsarbeit, die so genannten
Glaubensmissionen. Auch hier kamen die Anstöße zur Gründung einer Vielzahl neuer
Missionsgesellschaften wieder aus dem angloamerikanischen Bereich. Der Engländer Hudson
Taylor hatte 1865 die China-Inland-Mission gegründet. Im Unterschied zu den klassischen
Missionsgesellschaften passten sich ihre Missionare in Kleidung und Lebensstil der chinesischen
Kultur an. Es gab keine festen Gehälter, sondern man wollte im Hinblick auf die finanzielle
Versorgung ganz auf Gott vertrauen. Man war von einer baldigen Wiederkunft Jesu überzeugt
und lehrte, dass Menschen, die in diesem Leben nicht von Jesus gehört hatten, in Ewigkeit
verloren waren. Deshalb kümmerte man sich speziell um die Gebiete, in denen bisher keine
christlichen Missionare gewirkt hatten. Die Prägung durch die Heiligungsbewegung wirkte sich
unter anderem auch dadurch aus, dass Frauen als selbständige Missionarinnen ausgesandt
wurden. Dies wurde von den meisten deutschen Missionskreisen zunächst als eine unerhörte
englische Neuerung abgelehnt. Ab 1882 kam es in Deutschland zur Gründung von ähnlichen
Missionsgesellschaften, die Prinzipien der China-Inland-Mission übernahmen oder mit ihr
kooperierten.
Die Gruppenbewegung
In Deutschland selbst nahmen die angloamerikanischen Einflüsse auf den deutschen
Neupietismus nach dem 1.Weltkrieg zusehends ab. Der Bruch mit der Pfingstbewegung war
zunächst verbunden mit einer steigenden Entfremdung vom englischen und amerikanischen
Christentum. Nur der Amerikaner Frank Buchman sorgte zwischen den Weltkriegen für
Diskussionen in den erwecklich geprägten Kreisen. Er war in den USA geboren, aber von seinen
Vorfahren her deutscher Abstammung. Als lutherischer Pfarrer besuchte er in einer Lebenskrise
1908 die Keswick-Heiligungs-Konferenz in England. Dort hörte er in einer halbleeren Kapelle
Jessie Penn-Lewis. Deren Predigt berührte ihn tief und führte dazu, dass er sich mit allen
versöhnte, mit denen er in der Heimat zerstritten war. Beeinflusst von der Heiligungsbewegung
entwickelte er nun für sich die Praxis der so genannten Stillen Zeit, d.h. einer Zeit des Gebets
und Bibellesens am Morgen, verbunden mit einer Zeit der auf Gott hörenden Stille. Außerdem
begann er ab 1928, zunächst im englischen Oxford Studenten zu so genannten house parties
einzuladen, in denen der christliche Glaube zeugnishaft weitergegeben und zu radikaler
Ehrlichkeit ermutigt wurde. Daraus entstand die Oxford-Gruppenbewegung, die besonders in
Deutschland, Skandinavien und der Schweiz durch ihre Kombination von einer
Heiligungstheologie mit sehr unkonventionellen Formen in erwecklichen Kreisen und auch an
den Universitäten, z.B. beim Schweizer Theologen Emil Brunner, für viele Diskussionen sorgte.
Das politische Interesse der Gruppenbewegung führte dazu, dass man sich in der Zeit des
2.Weltkriegs für Frieden und Versöhnung einsetzte und sich in Moralische Aufrüstung
18
umbenannte. In Deutschland wurde die Arbeit seit den 50er-Jahren als Marburger Kreis
weitergeführt.
Billy Graham
Nachdem zur Zeit des Dritten Reiches jegliche Verbindungen nach England und den USA als
verdächtig galten, kam es seit den 1950er-Jahren zu einer starken Amerikanisierung der
deutschen Gesellschaft. Auch im christlichen Bereich schaute man nun wieder verstärkt auf
Ideen und Redner aus den USA. Die wohl einflussreichste Persönlichkeit der
Nachkriegsjahrzehnte war diesbezüglich Billy Graham. Er knüpfte seit 1948 wieder an die
amerikanische Tradition der Massenevangelisation an und mietete dafür Stadien und große
Versammlungsplätze. 1954 kam er zum ersten Mal nach Deutschland und predigte vor 35.000
Zuhörern in Düsseldorf und vor 90.000 in Berlin. Immer wieder evangelisierte Billy Graham
danach in Deutschland und im April 1970 kam es zur Euro 70 in Dortmund: der ersten
Großevangelisation mit Fernsehübertragung in Deutschland, sozusagen der Urform der heutigen
ProChrist-Veranstaltungen.
Aber Billy Graham war nur das öffentliche Gesicht der christlichen Amerikanisierung. In seinem
Gefolge kam es zu einer Fülle von amerikanisch inspirierten Gründungen in Deutschland. Die
kanadischen Brüder Leo und Hildor Janz führten als Janz-Team ab 1957 Großevangelisationen
in Deutschland durch. Im Jahr 1961 ging der deutsche Ableger der amerikanischen
Radiomissionsgesellschaft Trans World Radio als Evangeliums-Rundfunk (ERF) auf Sendung.
Amerikaner gründeten neue Bibelschulen wie z.B. die Bibelschule Brake oder die heutige Freie
Theologische Hochschule in Gießen. Jugendmissionarische Werke wie Jugend für Christus oder
Jugend mit einer Mission pflanzten ihre Ableger in Deutschland und auch englischsprachige
Lieder fanden wieder neu den Eingang in die evangelikalen Gemeinden, teils in deutschen
Übersetzungen, nun aber auch immer öfter im englischen Original.
Die neusten Entwicklungen
In den 90er-Jahren machten vor allem zwei amerikanische Prediger besonders von sich reden.
Zum einen Bill Hybels: Der Pastor der Willow Creek Community Church aus Chicago begann
1995 damit, Kongresse in Deutschland anzubieten, die bis heute Tausende Besucher anziehen. In
besonderer Weise werden dabei Leiter christlicher Gemeinden angesprochen, es gibt aber auch
spezielle Willow-Creek-Kongresse für Jugendarbeit und Kinderarbeit. In vielen Freikrichen und
Gemeinschaften, aber z.B. auch in der Badischen Landeskirche hat man bewusst versucht, diese
Impulse umzusetzen. Der wohl bekannteste evangelikale Pastor Amerikas ist Rick Warren. Er
leitet die Saddleback Community Church in Kalifornien und ist in Deutschland vor allem durch
seine Bücher Kirche mit Vision und Leben mit Vision bekannt geworden.
Neben diesen amerikanischen Impulsen kam es insbesondere im landeskirchlichen Bereich in
den letzten Jahren auch wieder zu einem verstärkten Blick nach England. Dort hat die
Anglikanische Kirche begonnen, neue Formen kirchlichen Lebens zu entwickeln, um
entkirchlichte Bevölkerungsschichten wieder neu für den christlichen Glauben zu interessieren.
Diese so genannten fresh expressions of church werden vor allem durch das Institut zur
Erforschung von Evangelisation und Gemeindeentwicklung in Greifswald untersucht und in
Deutschland als Modelle bekannt gemacht.
Schließlich drang in den letzten Jahren auch ein neuer Begriff aus dem Englischen in den
deutschen christlichen Sprachgebrauch: das Wort „missional“. Manche Redner aus dem
englischsprachigen Ausland sind inzwischen durch Deutschland gereist, um uns zu erklären, dass
es letztlich darum geht, nicht nur mit Worten zu evangelisieren (also missionarisch zu sein),
sondern mit den Menschen zu leben und in Tat und Wort für sie dazusein. Junge Christen
versuchen in diesem Sinne teilweise unter dem Begriff Emerging Church zeit- und
milieugemäße Formen für gelebtes Christsein im 21. Jahrhundert zu entwickeln.
Ein Fazit
Wir sehen also: Schon immer und bis heute übt das amerikanische Christentum eine unverändert
große Anziehungskraft auf Christen in Deutschland aus, zumindest gilt das für den
19
innerkirchlichen Pietismus und die Freikirchen. Die heutige Gemeinschaftsbewegung gäbe es
wohl ohne Impulse aus den USA gar nicht. Man hat zwar nicht einfach etwas Amerikanisches
1:1 nach Deutschland übertragen, aber man empfing aus dem englischsprachigen Bereich solche
gewichtigen Impulse, dass das traditionelle erwecklich-konservative Christentum in Deutschland
einen deutlich anderen Geschmack und eine andere Ausrichtung bekam.
So stellt sich zum Schluss die Frage nach einer Bewertung dieser deutsch-englischen
Verbindung. Im Jahr 1925 formulierte der Schweizer Theologe Eduard Thurneysen an seinen
Freund Karl Barth folgende vernichtend-negative Einschätzung:
„Amerika scheint auch auf dem Religionsmarkt als der große Aufkäufer auftreten zu wollen;
seinem Kapitalismus entspricht ein unsäglich gottloses, antireformatorisches methodistisches
Massenbekehrungs- und Seelenfängerchristentum […]. Wenn nur dein ‚deutscher Einwand’ […]
stark genug ist, um da einigermaßen als Schutzimpfung zu dienen! [...] Nichts hilft da als eine
möglichst strenge, unpietistische Rechtfertigungslehre, gepaart mit einer reformiert nüchternen
Verkündigung der Gebote, damit auch das aktivistische Anliegen des Westens aufgenommen
sei.“1 Die Barth’sche „Schutzimpfung“ hat – zumindest in manchen Kreisen – nachhaltig
gewirkt. Bis heute gilt bei einigen Christen ein grundsätzlicher Vorbehalt gegen alles
Amerikanisch-Evangelikale.
Nach über 100 Jahren Amerikanisierung unserer Kultur hat sich aber inzwischen meistens eine
differenziertere Beurteilung durchgesetzt. Harm Schröter, Geschichtsprofessor aus Norwegen,
schreibt in seiner kurzen Geschichte der Amerikanisierung, die er vor allem in wirtschaftlicher
und kultureller Hinsicht untersucht: „Amerikanisierung ist also […] ebenso wenig etwas
grundsätzlich Schlechtes wie grundsätzlich Positives.“2 Theodor Christlieb, einer der
Hauptverantwortlichen für die Öffnung der Landeskirchen für angloamerikanische Einflüsse,
hatte das schon früh sehr genau erkannt. Ganz zu Beginn, genau an dem Punkt, an dem die ganze
Amerikanisierung des Neupietismus begann, als Robert Pearsall Smith im Frühjahr 1875 seine
Vortragsreise durch Deutschland machte, wurde er von Christlieb in Wuppertal begrüßt und
vorgestellt. Bei dieser Gelegenheit wollte Christlieb die Vorurteile der Deutschen zerstreuen und
sagte:
„Es liegt in der englischen und amerikanischen Art des Christenthums ohne Frage Vieles, was
uns Deutschen zunächst befremdlich ist, bei dem wir uns fragen müssen, ob wir das je
nachahmen können und sollen, ob wir es nach unserer Eigenthümlichkeit, nach unserer ganzen
nationalen Artung, und besonders nach unserer eigenthümlichen kirchlich-theologischen Bildung
auch annehmen dürfen. Es ist sehr natürlich, dass wir in diesem, wenn ich so sagen darf,
kirchlichen oder auch theologischen Particularismus gegenüber dem Neuen und Fremden, was
nicht recht in unsere Art passt, etwas misstrauisch sind. So ist es mir überall in England, auch
zum Theil in Amerika bei ähnlichen Versammlungen ergangen. Wir müssen die Sache lassen,
wie sie ist, und nach diesem Wort des Apostels handeln. Wir müssen nüchtern prüfen und das
Beste behalten. Wenn uns auch Vieles, wie man sagt, wider den Mann ist, lassen wir es
einstweilen! – vielleicht können wir doch mit der Zeit erkennen, dass daraus auch etwas Gutes
kommen mag.“3
Wer sich die Geschichte der angloamerikanischen Einflüsse auf das Christentum in Deutschland
vorbehaltlos anschaut, entdeckt dabei beides: Dinge, die uns großartig vorangebracht haben, und
für die wir nur dankbar sein können, und ebenso Dinge, die man tatsächlich kritisch beurteilen
und hinterfragen muss. Allerdings ist der rückwärtsgewandte, beurteilende Blick des Historikers
allein eine viel zu begrenzte Perspektive. Dietrich Bonhoeffer, der selbst in den USA gelehrt hat,
formulierte 1939 etwas Anderes für das Verhältnis der deutschen und amerikanischen Christen.
Er blickte nach vorne und formulierte die Vision einer geistlichen deutsch-amerikanischen
1
Eduard Thurneysen an Karl Barth am 21.7.1925, in: Martin Reppenhagen, Auf dem Weg zu einer missionalen
Kirche, Neukirchen-Vluyn 2011, 333.
2
Harm G. Schröter, Winners and Losers. Eine kurze Geschichte der Amerikanisierung, München 2008, 11.
3
Theodor Christlieb, Einleitende Ansprache. In: R.Pearsall Smith’s Reden, Barmen, o.J. [1875], 85f. Zitiert nach
Karl Heinz Voigt, Theodor Christlieb, Göttingen 2008, 88f.
20
Lerngemeinschaft, indem er fragte: „Was tut Gott an und mit seiner Kirche in Amerika, was tut
er durch sie an uns und durch uns an ihr?“4
Erst dieser geistliche Blick über die beurteilende Sicht des Geschichtsforschers hinaus wird uns
erschließen, worum es von Bonifatius bis Willow Creek wirklich gegangen ist.
4
Dietrich Bonhoeffer, Protestantismus ohne Reformation. Aufsatz über den Protestantismus in den Vereinigten
Staaten von Amerika. August 1939. In DBW 15 (Gütersloh 1998), 433.
21
Thomas Hahn-Bruckart
Friedrich von Schlümbach: Evangelisation und Jugendarbeit zwischen den
Kontinenten
Fragt man nach angloamerikanischen Einflüssen auf den deutschen Neupietismus, so kommt das
Wirken des Deutsch-Amerikaners Friedrich von Schlümbach (1842-1901) in zweifacher
Hinsicht in den Blick. Zum einen findet man bei ihm die erste regelrechte Kampagne
großstädtischer Evangelisation nach amerikanischem Vorbild in Deutschland, zum anderen übte
er einen nachhaltigen Einfluss auf die Gestalt christlicher Jugend- bzw. Jungmännerarbeit in
Deutschland und damit auch auf die Organisationsformen erwecklich-protestantischen
Christentums aus. Um seine Tätigkeit versammelten sich die späteren Protagonisten der
Deutschen Gemeinschaftsbewegung. Der Zeitraum, der dabei im Mittelpunkt steht, sind die
frühen 1880er-Jahre.
1. Friedrich von Schlümbach als Organisator deutsch-amerikanischer
christlicher Jugendarbeit
Friedrich von Schlümbach, 1842 in Württemberg geboren, war als 17-Jähriger in die USA
emigriert und hatte sich dort vor allem im freidenkerisch und sozialistisch geprägten
Bevölkerungssegment der Deutsch-Amerikaner beheimatet. Bereits in dieser Zeit trat er
öffentlich als Redner in sowohl politischen als auch weltanschaulichen Zusammenhängen in
Erscheinung. Als Bürgerkriegsoffizier machte er in englischsprachigen Kontexten religiöse
Erfahrungen, die schließlich zu seiner Bekehrung führten. Er wurde Reiseprediger der
Bischöflichen Methodistenkirche, dem deutschsprachigen Zweig der Methodist Episcopal
Church.5 Aufgrund der eigenen biographischen Erfahrung, als junger Einwanderer in die USA
vor allem Anschluss an säkulare Vereine gefunden zu haben, setzte er sich für deutschsprachige
christliche „Jünglingsvereine“ in den USA ein. Solche gab es im Land bereits, allerdings zumeist
im engen Anschluss an einzelne deutschsprachige Kirchengemeinden.6 Anders strukturiert waren
die englischsprachigen YMCAs, die auf überkonfessioneller Basis operierten, eigene Häuser und
hauptamtliche Sekretäre hatten und stärker missionarisch nach außen gerichtet waren.7 Zudem
waren die YMCAs seit den 1850er- Jahren in einem Nationalverband organisiert. Um junge
Menschen wirklich erreichen zu können, schwebte Schlümbach eine ähnliche Strukturierung der
deutschsprachigen Vereinsarbeit in Nordamerika vor. Daher organisierte er 1874 einen
Nationalbund Christlicher Jünglingsvereine von Nordamerika, als dessen Sekretär er jährlich
zahlreiche Vereine bereiste oder gründete. Die nicht linear verlaufende Entwicklung dieses
Nationalbundes und seiner Vereine kann hier nicht im Einzelnen nachgezeichnet werden, aber
man kann festhalten, dass Schlümbach durch angloamerikanische Vorbilder inspiriert wurde,
analoge Strukturen und Inhalte im deutsch-amerikanischen Bevölkerungsteil zu implementieren.
Gleichwohl nahm er differenziert die dort zu berücksichtigenden Bedingungen wahr und
bemühte sich um eine reflektiert deutsch-amerikanische Adaption.
Zum frühen Lebensweg Friedrich von Schlümbachs vgl. Thomas Hahn-Bruckart, Friedrich von Schlümbach –
Erweckungsprediger zwischen Deutschland und Amerika. Interkulturalität und Transkonfessionalität im 19.
Jahrhundert, Göttingen 2011, 20-118.
6
Die Geschichte der deutschsprachigen christlichen Jünglingsvereine in den USA hat bis jetzt noch keine
umfassende Darstellung gefunden. Das Manuskript von Frederick W. Godtfring, History of the German Branches of
the Young Men’s Christian Association in the United States, 1946 (Kautz Family YMCA Archives, Minneapolis) ist
wegen inhaltlicher Defizite nicht in den Druck gelangt. Vgl. daher für die bisher umfassendsten Informationen
Hahn-Bruckart, Friedrich von Schlümbach, passim.
7
Zum nordamerikanischen YMCA vgl. C. Howard Hopkins, History of the Y.M.C.A. in North America, New York
1951.
22
5
2. Friedrich von Schlümbach als deutschsprachiger Exponent der
angloamerikanischen Evangelisationsbewegung
Eine für die Profilbildung der englischsprachigen YMCAs wichtige Gestalt war Dwight Lyman
Moody.8 Er hatte in Chicago eine Sonntagsschule gegründet, wurde dann im Chicagoer YMCA
aktiv und 1866 dessen Präsident. Unter Moodys Einfluss bekam der religiöse Aspekt in den
Aktivitäten des YMCA den wesentlichen Akzent. Moody verstand die Vereine als eine Art
Aktionsgemeinschaft für die Evangelisation der Gesellschaft. Er entwickelte mit seinen
Chicagoer Gebetsversammlungen ein Veranstaltungskonzept, in das er in erzählendem und
persönlichem Ton kurze Predigten einflocht, die bildreich waren und oft anschauliche Berichte
über Bekehrungen enthielten. Moody fand rasch über Chicago hinausgehende Beachtung, sodass
er ab den frühen 1870er-Jahren als Evangelist durch die USA und Großbritannien reiste, wo er
zum Teil vor Menschenmassen von zehn- bis zwanzigtausend Zuhörern sprach. Entscheidenden
Anteil hatte der ihn musikalisch kongenial begleitende Ira Sankey.9 Moody bemühte sich stets,
vor Ort auf überkonfessioneller Basis zu arbeiten und seine Kampagnen logistisch und
publizistisch gründlich vorzubereiten.10
Auch Schlümbach setzte bei seinen Rundreisen zu den Jünglingsvereinen mehr und mehr auf
öffentliche Versammlungen, zu denen publikumswirksam eingeladen wurde. Auch er
entwickelte – wie Moody – eine sehr anschauliche, von Erzählungen durchzogene Predigtweise,
die im Plauderton daherkam und die Zuhörer zu fesseln wusste. In besonderer Weise gelang es
ihm, religiöse Erfahrungsgehalte englischsprachiger Kontexte für die Bedürfnisse und
Kapazitäten kulturell anders geprägter deutschsprachiger Zusammenhänge zu erschließen. 11
Auch bei Schlümbach entwickelte sich eine evangelistische Tätigkeit also in enger Verbindung
mit der Jugendarbeit. Durch seine denkwürdigen Auftritte auf den Konferenzen des YMCA und
innerhalb seiner Kirche erlangte Schlümbach bald einige Bekanntheit im erwecklichen Spektrum
des deutsch-amerikanischen Protestantismus. Nach vier Jahren als Pastor in Texas wurde er
daher hauptamtlich in das Internationale Komitee des YMCA mit Sitz in New York berufen, um
dort das Sekretariat für den Arbeitszweig unter den Deutsch-Amerikanern zu führen. Er war nun
fast ständig in den USA auf Reisen, besuchte Vereine, redete auf Konferenzen und evangelisierte
vor wachsenden Menschenmassen in den Städten. Anfang des Jahres 1880 wurde er von Dwight
Lyman Moody eingeladen, mit ihm gemeinsam in St. Louis zu evangelisieren – Moody unter
den Englischsprachigen der Stadt, Schlümbach unter den Deutschsprachigen. Das Aufsehen war
groß, täglich berichteten die Zeitungen von den Versammlungen und Schlümbach erhielt in
diesen Blättern den Beinamen „The German Moody“.12
3. Amerikanische Impulse für den deutschen Kontext
Nicht nur Amerika lag Schlümbach als Arbeitsfeld am Herzen, sondern er dachte nach einer
Deutschland-Reise im Jahr 1875 – der ersten seit seiner Emigration – auch vermehrt über sein
8
Zu Dwight L. Moody (1837–1899) vgl. William R. Moody, The Life of Dwight L. Moody. By His Son, New York
u. a. 1900; James F. Findlay, Dwight L. Moody. American Evangelist. 1837-1899, Chicago 1969; Lyle W. Dorsett,
A Passion for Souls. The Life of D. L. Moody, Chicago 1997; Stanley Gundry, Love Them In. The Life and
Thought of D. L. Moody, Chicago 1999.
9
Zu Ira D. Sankey (1840–1908) vgl. die entsprechenden Angaben in den vorgenannten Werken.
10
Ulrich Gäbler überschreibt das Moody gewidmete Kapitel in seinem Buch: Auferstehungszeit.
Erweckungsprediger des 19. Jahrhunderts. Sechs Porträts, München 1991, entsprechend mit „Die organisierte
Botschaft“. Zur Evangelisationsbewegung in den USA vgl. Stephan Holthaus, Heil – Heilung –Heiligung. Die
Geschichte der deutschen Heiligungs- und Evangelisationsbewegung (1874-1909), Gießen/Basel 2005, 26–30; 192–
195.
11
Dass Schlümbach dabei in gewissem Sinne eine Brückenfunktion erfüllte, wurde von verschiedenen Seiten – und
ihm selbst – wahrgenommen. So bezeichnete ihn der deutsch-amerikanische Methodist Wilhelm Nast im Rahmen
einer YMCA-Konferenz pointiert als „a real incarnation of American religion in a German constitution“; vgl. Proceedings of the Twentieth Annual Convention of the Young Men’s Christian Associations of the United States and
British Provinces, held at Richmond, Va., May 26-30, 1875, New York 1875, 63.
12
Vgl. die Berichterstattung des St. Louis Globe-Democrat, in dem am 16.1.1880 auf Seite 5 unter der Überschrift
„The German Moody“ von der Ankunft Schlümbachs in der Stadt berichtet wird; diese Überschrift wurde auch für
weitere Berichte von der Arbeit Schlümbachs beibehalten. Vgl. auch Editorielle Notizen, in: Der Christliche
Apologete 1880, 44.
23
Heimatland und die dortige kirchliche Situation nach. Religiöse Gleichgültigkeit, leere Kirchen
und Sonntagsarbeit waren zentrale Eindrücke seines Deutschlandaufenthalts gewesen.
Deutschland bedürfe einer freien Kirche, die nicht an den Staat gebunden sei. Auch dort liege die
Zukunft des Landes bei der Jugend. Der Methodismus könne wichtige Impulse bringen und habe
geradezu eine Verpflichtung gegenüber Deutschland.13
Eine erneute Reise nach Deutschland ergab sich für Schlümbach im Jahr 1881, da seine Ärzte
ihn zur Kur nach Europa schickten. Statt zu kuren besuchte er allerdings Ende Juli die
Weltkonferenz des YMCA in London. Dort ergaben sich für ihn endlich die Kontakte nach
Deutschland, die er lange gesucht hatte. Er wurde zum Bundesfest des Rheinisch-westfälischen
Jünglingsbundes eingeladen.14 Dabei begriff Schlümbach die Jugendarbeit als Türöffner für eine
umfassendere Tätigkeit in Deutschland, wie sie ihm im Sinne allgemeiner Erweckung und
Neubelebung seit 1875 vorschwebte.15
Beim Bundesfest in Wuppertal 1881, wo er die Jünglingsvereine zu größerer Einigkeit aufrief
und die jungen Männer begeisterte, lernte Schlümbach neben Karl Krummacher16 und Jasper von
Oertzen17 auch Theodor Christlieb18 kennen, der die Entwicklungen in der angelsächsischen
Welt immer sehr genau im Blick hatte und in Schlümbach den richtigen Mann für seinen ersten
Schritt zu Beheimatung „methodistischer“, das heißt erwecklicher, auf Bekehrung zielender
Arbeitsformen in den deutschen Landeskirchen sah.19 Damit traf er bei Schlümbach auf offene
Ohren.
Da Berlin die Stadt in Deutschland war, die am ehesten mit dem Phänomen der
„Entkirchlichung“ identifiziert wurde, suchte Christlieb den Kontakt zu Hofprediger Adolf
Stoecker20 und empfahl ihm Schlümbach für eine Evangelisationstätigkeit in den Berliner
Vorstädten.21 Christlieb und Schlümbach nutzten ihre Kontakte nach England, um Gelder für
eine Evangelisationskampagne in Deutschland zu beschaffen, was wesentlich durch
Unterstützung George Williams’ und eines beim Londoner YMCA angesiedelten Fonds
gelang.22 Hier sollte für die gesamte Evangelisationskampagne die finanzielle Basis liegen.
Damit ergab sich die ungewöhnliche Konstellation, dass ein amerikanischer Methodist im
13
Vgl. Friedrich von Schlümbach, Reiseskizzen. In: Der Christliche Apologete 1875, 305. Von seiner Europareise
berichtete Schlümbach in einer insgesamt 23-teiligen Reihe im Christlichen Apologeten.
14
Vgl. Ein deutsches Jubiläum. Geschichte der Nationalvereinigung der Evangelischen Jünglingsbündnisse
Deutschlands. Dargereicht zum 25-jährigen Jubiläum vom 13.–16. September 1907 von Pastor Alfred Klug, Präses
der Nationalvereinigung, Barmen 1907, 47-48.
15
Bereits im Laufe der Artikelserie über seine Deutschlandreise im Christlichen Apologeten 1875 war Schlümbach
zu dem Schluss gekommen, dass eine Belebung des deutschen Protestantismus v. a. über eine Neustrukturierung der
Jünglingsvereine zu erreichen sei. „Methodistische“ Anliegen könnten so ohne Bindung an die methodistischen
Kirchen eingebracht werden.
16
Zu Karl Krummacher (1830-1899) vgl. Uwe Eckardt, Art. Krummacher, Karl Emil, in: BBKL IV (1992), 720722.
17
Zu Jasper von Oertzen (1833–1893) vgl. Jörg Ohlemacher, Das Reich Gottes in Deutschland bauen. Ein Beitrag
zur Vorgeschichte und Theologie der deutschen Gemeinschaftsbewegung, Göttingen 1986, 48–55 (Lit.).
18
Zu Theodor Christlieb (1833–1889) vgl. Karl Heinz Voigt, Art. Christlieb, Theodor. In: BBKL XXV (2005), 140–
170 (Lit.); Thomas Schirrmacher, Theodor Christlieb und seine Missionstheologie, Wuppertal o. J. [1985].
19
Vgl. zu diesem Aspekt bes. Karl Heinz Voigt, Theodor Christlieb (1833-1889). Die Methodisten, die
Gemeinschaftsbewegung und die Evangelische Allianz, Göttingen 2008.
20
Zu Adolf Stoecker (1835–1909) vgl. Dietrich von Oertzen, Adolf Stoecker. Lebensbild und Zeitgeschichte. 2
Bde., Berlin 1910; Günter Brakelmann/Martin Greschat/Werner Jochmann, Protestantismus und Politik. Werk und
Wirkung Adolf Stoeckers, Hamburg 1982; Martin Greschat, Adolf Stoecker. In: Ders. (Hg.), Gestalten der
Kirchengeschichte Bd. 9/2: Die neueste Zeit II, Stuttgart u. a. 1985, 261–277.
21
Infolgedessen traten sowohl Christlieb als auch Stoecker und Oertzen mit dem International Committee des
YMCA in Verbindung, um Schlümbach für eine mehrmonatige Tätigkeit in Deutschland gewinnen zu können. Das
International Committee konnte allerdings keine direkten Geldmittel zusagen, verwies aber auf Möglichkeiten der
Mitteleinwerbung. Vgl. die entsprechende Korrespondenz in den Kautz Family YMCA Archives, Box „Germany
1882–1947“, Folder „Germany 1882–1884“.
22
Vgl. Brief Ernst F. Stroeters an Richard C. Morse vom 10.5.1882 (Kautz Family YMCA Archives, Box
“Germany 1882–1947”, Folder „Germany 1882–1884“); Schlümbach hatte dies von London aus Ernst Stroeter
brieflich mitgeteilt. Dass es sich hier um eine langfristige Zusammenarbeit handelte, zeigt sich auch daran, dass
George Williams im Oktober 1883 einen Brief an den deutschen Jünglingsverein in London richtete, in dem es um
Spenden für die Evangelisationsarbeit in Deutschland ging. Vgl. Bernd W. Hildebrandt, It Can Be! 150 Years German YMCA in London. 1860-2010, London 2010, 23.
24
Rahmen der Preußischen Landeskirche aus England finanziert Evangelisationsveranstaltungen
abhielt.
Der Zweiklang aus Arbeit für die Jünglingsvereine und großen Evangelisationsveranstaltungen
sollte das Charakteristikum der Tätigkeit Schlümbachs in Deutschland werden. Denn zunächst
reiste er durch den Rheinisch-westfälischen Jünglingsbund und traf Vorbereitungen für ein
Treffen, das nach seiner Vorstellung zu einer Vereinigung der bisher getrennten fünf
Jünglingsbündnisse in Deutschland und damit zu einer durchschlagenden Organisation führen
sollte. Das erste Nationalfest der deutschen Jünglingsvereine fand auf seine Initiative hin am
Hermannsdenkmal als einem wie kaum ein anderer Platz zu dieser Zeit für die Einheit
Deutschlands stehenden Ort statt. Es brachte Delegierte aus allen deutschen Jünglingsbündnissen
zusammen, vor denen Schlümbach – als ein Teil des Programms – seine Vorstellungen
moderner, nach außen gerichteter Vereinsarbeit vorstellte.23 Wenngleich die von ihm angestrebte
Vereinigung der deutschen Jünglingsbündnisse noch nicht zustande kam, war doch ein Schritt
auf größere Einheit hin getan und er nun mit Kontakten in alle Teile Deutschlands ausgestattet.
Mit Christlieb begab er sich im Anschluss zu einer Tagung der Freunde der Positiven Union in
Berlin. Dort stellten sie gemeinsam mit Stoecker ihr Konzept der großstädtischen Evangelisation
vor und zeichneten es damit auch in die kirchenpolitische Konstellation ein. Es wurde Wert
darauf gelegt, im angelsächsischen Bereich erprobte Methodik nur nach sorgfältiger Adaption an
den neuen Kontext zum Einsatz zu bringen. Schlümbachs Zugehörigkeit zur Methodistenkirche
wurde aber nicht weiter problematisiert.24
4. Evangelisation und Gemeinschaftsbildung
Im August war die bevorstehende Evangelisationskampagne Schlümbachs publik gemacht
worden, um unter den „unbekehrten Massen“ zu wirken.25 Anfang Oktober 1882 konstituierte
sich schließlich in Berlin ein Evangelisationskomitee aus Christlieb, Stoecker, Bernstorff26 und
Oertzen, eventuell auch Krummacher, um Schlümbachs Arbeit in Deutschland zu koordinieren
und zu leiten.27
Im Berliner Norden begann Schlümbach seine Evangelisationen in der Parochie der
Nazarethgemeinde auf Einladung des dortigen Pfarrers. Anders als in den USA, wo Schlümbach
häufig in Kirchengebäuden evangelisiert hatte, wirkte er nun in wechselnden nichtkirchlichen
Lokalen. Für die Veranstaltungen, zu denen die Menschen bald zu Hunderten – auch aus den
ärmsten Bevölkerungsschichten – kamen, wurde bewusst nicht in den Zeitungen, sondern durch
persönliche Einladung geworben. Schlümbachs die christliche Botschaft elementarisierende und
mit konkreten Erfahrungen verknüpfende lebensnahe Predigtweise, verbunden mit den von ihm
vorgetragenen eingängigen Lieder der angelsächsischen Heiligungs- und
Evangelisationsbewegung, die für viele ein Novum darstellten, sprachen sich schnell herum und
sorgten für Aufsehen.28 Um die durch seine Evangelisationen Erweckten zu sammeln und weiter
Zum Jünglingsfest am Hermannsdenkmal vgl. Walter Stursberg, Glauben – Wagen – Handeln. Eine Geschichte
der CVJM-Bewegung in Deutschland, Wuppertal 1977, 82-87; Thomas Hahn-Bruckart, Friedrich von Schlümbach,
261-269.
24
Vgl. die ausführlichen Berichte von der Tagung in: Neue Evangelische Kirchenzeitung 1882, 625–628, 644–646,
660–662. Zu den kirchenpolitischen Hintergründen vgl. Rudolf Mau, Die Formation der kirchlichen Parteien. Die
Dominanz der „Positiven Union“, in: Joachim Rogge/Gerhard Ruhbach (Hgg.), Die Geschichte der Evangelischen
Kirche der Union. Bd. 2. Die Verselbständigung der Kirche unter dem königlichen Summepiskopat (1850–1918),
Leipzig 1994, 233–246.
25
Vgl. Allgemeine Evangelisch-Lutherische Kirchenzeitung 1882, 764.
26
Zu Andreas Graf Bernstorff (1844–1907) vgl. Karl Heinz Voigt, Art. Bernstorff, Andreas Graf von, in: BBKL
XXVII (2007), 79-99.
27
Vgl. Brief Jasper von Oertzens an Karl Krummacher vom 5.10.1882 (Archiv des CVJM-Westbundes,
Akte 02.2–4, Bd. 1), durch den dieser umgehend über die konstituierende Sitzung des Komitees informiert wurde.
Bei der Aufzählung derer, die ihn zur Evangelisation nach Deutschland berufen hatten, wird Krummacher von
Schlümbach in: Der Christliche Apologete 1883, 284 zusammen mit den anderen Komiteemitgliedern genannt.
28
In den Berichten ist fast immer nur von den Wirkungen des Auftretens Schlümbachs die Rede, Näheres über die
Inhalte seiner Ansprachen ist kaum zu erfahren. Nach Amerika kommunizierte Schlümbach, dass in der kirchlichen
Situation erst noch Bahn gebrochen werden müsse für eine durchgreifende Erweckung. Einen knappen Überblick
über die Berliner Evangelisationen und die daraus erwachsene Gemeinschaftsarbeit gibt Paulus Scharpff, Geschichte
25
23
zu betreuen, sprach er Eduard Graf Pückler29 auf eine solche Tätigkeit hin an und ermutigte ihn,
als Laie eine derartige Aufgabe übernehmen zu können. Daraus entstand die
Gemeinschaftsarbeit im neu gegründeten Christlichen Vereinshaus am Weddingplatz.30 Anfang
1883 wechselte Schlümbach mit seinen Evangelisationen in die Parochie der Zionskirche, wo er
ebenfalls vor großen Versammlungen sprach. Auch hier wurden die Erweckten in einer
Gemeinschaftsarbeit gesammelt, diesmal unter Federführung der Stadtmission.31
In Schlümbachs Wahrnehmung waren die Jünglingsvereine der Stadt in ihrer Ausrichtung nicht
dazu angetan, dem Zustrom an jungen Männern nach Berlin gerecht zu werden. Daher empfand
er die Notwendigkeit einer neuen, stärker nach außen gerichteten Vereinsform, konnte sich beim
Zentralausschuss der Berliner Jünglingsvereine damit aber nicht durchsetzen.32 Daraufhin
gründete er mit einem kleinen Unterstützerkreis einen am großstädtischen YMCA-Modell
orientierten Verein und nannte ihn in möglichst enger Anlehnung an dieses Vorbild „Christlicher
Verein Junger Männer“. In den Statuten versuchte man den ersten Artikel der Pariser Basis in
überkonfessioneller Weite nachzubilden und die Prinzipien einer doppelten Mitgliedschaft und
einer Leitung durch Laien zu verankern. Eberhard von Rothkirch33 und Andreas Graf Bernstoff
wurden zu führenden Gestalten. Mit tatkräftiger Unterstützung aus adeligen Kreisen konnten
Anfang April 1883 eigene Räume eingeweiht werden, von denen aus sich in den nächsten Jahren
ein rasantes Vereinswachstum vollziehen sollte.34
5. Ambivalenzen zwischen freikirchlichen Ansätzen und landeskirchlichen
Limitierungen
Von Beginn der Tätigkeit Schlümbachs in Berlin an war diese von Kritik und Polemik begleitet
gewesen, die vor allem aus den Reihen der Inneren Mission kam. Man warf Schlümbach
Unverständnis für die Eigenart des deutschen Kirchen- und Vereinswesens, verbunden mit dem
Einführen „undeutscher“ Methoden vor, eine Störung der kirchlichen Ordnung durch seine
Wirksamkeit als der eines Methodisten, generell eine Beförderung des Methodismus und damit
Zersetzung der Gemeinden. Diese Kritik wurde in Periodika verbreitet und auch in einem
anonymen Pamphlet konzentriert veröffentlicht.35 Auch auf kirchenamtlicher Seite beschäftigte
man sich zu der Zeit mit Fragen des Kanzelrechts und der Abwehr sektiererischer Einflüsse.36
Jasper von Oertzen hatte Schlümbach nach Hamburg holen wollen, scheiterte aber daran, dass
sich die dortigen Pastoren gegen eine Wirksamkeit Schlümbachs sperrten und in Eigeninitiative
Evangelisationsveranstaltungen abhielten.37 Stattdessen wirkte Schlümbach in SchleswigHolstein, stieß dort aber auf entschiedenen Widerstand von konfessioneller Seite. Dabei hatte er
den Ablauf seiner Veranstaltungen schon insofern modifiziert, dass er primär aus Volkenings
der Evangelisation. Dreihundert Jahre Evangelisation in Deutschland, England und USA, Gießen 21980, 251-254;
vgl. ausführlicher Thomas Hahn-Bruckart, Friedrich von Schlümbach, 275-291.
29
Zu Eduard Graf Pückler (1853–1924) vgl. Jörg Ohlemacher, Art. Pückler, Graf Eduard von, in: Evangelisches
Lexikon für Theologie und Gemeinde 3 (1994), 1634; Hedwig von Redern: Berufen mit heiligem Ruf. Leben und
Dienst des Grafen Eduard von Pückler, Berlin 1925.
30
Diese wurde später als Gemeinschaft St. Michael bekannt. Vgl. Thomas Hahn-Bruckart, Friedrich von
Schlümbach, 285-289. Zur Berufung Pücklers durch Schlümbach vgl. Hedwig von Redern, Berufen mit heiligem
Ruf, 50-51.
31
Vgl. Ulrich Mayer, Die Anfänge der Zionsgemeinde in Berlin. Ein Beispiel für die Entstehung von
Kirchengemeinden im 19. Jahrhundert, Bielefeld 1988, 156-157.
32
Vgl. Geschichte des Kreisverbandes der Berliner Ev. Jünglingsvereine. 1880–1905, Berlin 1905, 19. Vgl. zum
Folgenden Karl Kupisch, Der deutsche CVJM. Aus der Geschichte der Christlichen Vereine Junger Männer
Deutschlands, Kassel 1958, 22-31; Thomas Hahn-Bruckart, Friedrich von Schlümbach, 291-303.
33
Zu Eberhard von Rothkirch (1852–1911) vgl. Jörg Ohlemacher, Art. Rothkirch, Eberhard von, in: Evangelisches
Lexikon für Theologie und Gemeinde 3 (1994), 1726; Ulrich von Hassell: Eberhard von Rothkirch und Panthen. Ein
Lebensbild nach Briefen und Aufzeichnungen, Berlin 31923.
34
Vgl. zur Vereinsgeschichte: Festschrift zum 25jährigen Bestehen des Christlichen Vereins junger Männer zu
Berlin, Berlin 1908; 50 Jahre Christlicher Verein Junger Männer zu Berlin. 1883-1933, Berlin 1933.
35
Pastor von Schlümbach, Berlin 1883. Hauptsächliches Organ der Kritik gegen Schlümbach war der vom
Vereinsgeistlichen Ernst Hülle redigierte Evangelisch-kirchliche Anzeiger von Berlin.
36
Vgl. Karl Heinz Voigt, Theodor Christlieb, 95-96.
37
Vgl. Kirchliche Nachrichten, in: Der Evangelist 1883, 101 u. 149; Johannes Ninck, Frei von jedermann und aller
Knecht. Lebenswerk und Persönlichkeit des Menschenfreundes Carl Ninck, Leipzig/Hamburg 1932, 189-192.
26
Missionharfe singen ließ und in seine Ansprachen keine Sologesänge eingliederte. Die Polemik
baute einen grundsätzlichen und unüberbrückbaren Gegensatz zwischen Luthertum und
Methodismus auf und kreiste nun auch um die Bewahrung der reinen Lehre. Man sah die Gefahr
eines „verschwommenen“ Christentums und stichelte gegen die Union, indem man eine
Kooperation mit Methodisten letztlich als die logische Konsequenz unierter Gesinnung
herausstellte.38 Schlümbach versuchte zwar, sich durch seine Herkunft aus der
württembergischen Landeskirche und explizite Bezüge auf Luther in seinen Ansprachen in Nähe
des Luthertums zu rücken, und Oertzen wehrte sich dagegen, Schlümbach als Sektierer zu
bezeichnen, jedoch ohne Erfolg. Im Hintergrund standen wieder kirchenpolitische Animositäten,
zum einen zwischen Vertretern der Inneren Mission selbst, zum anderen innerhalb der
Landeskirche bezüglich des Kurses des Landesvereins für Innere Mission, was die Wellen bis in
die Landessynode hinein hochschlagen ließ.39
Schlümbach rückte sich mittlerweile selbst in die Nähe der Evangelischen Synode von NordAmerika, die eng mit der Preußischen Landeskirche verbunden war. Noch vor seiner Rückreise
in die USA erklärte er förmlich seinen Austritt aus der Methodistenkirche und bezog sich dabei
darauf, dass er sich als freier Evangelist nicht mehr voll deren Ordnungen unterwerfen könne.40
Wenngleich sich zunächst weiter Gegenstimmen regten, die Angriffe hätten sich keinesfalls nur
gegen seine Kirchenzugehörigkeit gerichtet, sondern auch gegen die „methodistische Manier“
seiner Arbeit,41 brachte dieser Schritt doch eine deutliche Beruhigung im Hinblick auf sein
weiteres Wirken. Schlümbach gab später als weiteren Grund für den Austritt an, dass er innerlich
einen neuen Zugang zur Volkskirche in Deutschland gefunden habe.42
Im Hintergrund stand aber auch, dass Christliebs Modell einer vom Grundansatz her
undenominationellen Evangelisationsarbeit sich aufgrund des intensiven Widerstands nicht hatte
verwirklichen lassen und von nun an eine Zugehörigkeit der Evangelisten zur Landeskirche
unumgänglich geworden war.43 Aus diesen weiteren Bemühungen entwickelte sich der Deutsche
Evangelisationsverein, der wiederum die Keimzelle für den späteren Gnadauer
Gemeinschaftsverband darstellte. Schlümbach selbst nahm auch in der Folgezeit Anteil an den
Aktivitäten des Evangelisationsvereins, war aber an der ersten Gnadauer Pfingstkonferenz nicht
beteiligt. Jasper von Oertzen berichtete auf der zweiten Gnadauer Konferenz, dass es Friedrich
von Schlümbach gewesen sei, der ihm den Wert der Volkskirche vor Augen geführt habe, als er
in der Frage der Ausrichtung der Gemeinschaftsbewegung schwankend geworden sei. 44 Eduard
Pückler setzte sich immer wieder für das Thema ein, das Schlümbach ihm vor Beginn der
Gemeinschaftspflege im Wedding aufgeschlossen und ans Herz gelegt hatte: die aktive Mitarbeit
von Laien.45
38
Vgl. Kirchliches, in: Kropper Kirchlicher Anzeiger 1883, 77; 84-85; 88-89; vgl. auch J. E. Busse: Offenes
Sendschreiben der Pastoralkonferenz des Fürstentums Lübeck an den Herrn P. Jensen. In: Schleswig-HolsteinLauenburgisches Kirchen- und Schulblatt 1883, 78.
39
Vgl. Thomas Hahn-Bruckart, Friedrich von Schlümbach, 330-333.
40
Ein offenes Wort zum Abschied von Pastor von Schlümbach, in: Der Evangelist 1883, 268-269 (auch abgedruckt
im Reichsboten und im Christlichen Apologeten).
41
So erneut Ernst Hülle im Evangelisch-kirchlichen Anzeiger; vgl. auch Aus den deutschen Jünglingsvereinen, in:
Der Jünglingsbote 1883, 149-150.
42
So berichtet Jasper von Oertzen später von Unterredungen mit Schlümbach, in denen gerade dieser ihm den Wert
der Volkskirche eindringlich vor Augen gemalt habe. Vgl. Verhandlungen der Gnadauer Pfingstkonferenz Bd. 2,
o.O. 1890, 57–58; Dietrich von Oertzen, Jasper von Oertzen, ein Arbeiter im Reiche Gottes, Hagen 2o.J., 136.
43
So heißt es auch kurz darauf in einer Vorstellung des neu entstehenden Evangelisationsvereins durch Christlieb,
dass die Evangelisten in die Landeskirche „eingetreten sein“ müssen; vgl. die Wiedergabe des Artikels unter: Bruder
von Schlümbachs Austritt aus der Methodisten-Kirche, in: Der Christliche Apologete 1883, 284, wo dieser
Zusammenhang bereits hergestellt wird. Zu diesem Zusammenhang insgesamt vgl. Karl Heinz Voigt, Friedrich von
Schlümbach, Theodor Christlieb und die Evangelisation in Deutschland. Vom ökumenischen Verein mit
‚undenominationellem Charakter‘ zum ‚Deutschen Evangelisationsverein‘, in: Monatshefte für Evangelische
Kirchengeschichte des Rheinlandes 53 (2004), 337-358, dort 348.
44
Vgl. Verhandlungen der Gnadauer Pfingstkonferenz Bd. 2, o.O. 1890, 57–58.
45
Dies betraf sowohl seine Konzeption der Gemeinschaftsarbeit in Berlin als auch die thematische
Schwerpunktsetzung für die sich um Gnadau formierende Deutsche Gemeinschaftsbewegung; vgl. z. B. seinen
ersten Entwurf für das Einladungsschreiben nach Gnadau von 1886, abgedruckt bei Jörg Ohlemacher, Reich Gottes,
229-231. Zum Einfluss Schlümbachs vgl. Hedwig von Redern, Berufen mit heiligem Ruf, 50-51.
27
6. Fazit
1. Mit Schlümbach trat erstmals ein deutschsprachiger Exponent der angloamerikanischen
Evangelisationsbewegung über längere Zeit in Deutschland in Erscheinung.
2. Evangelisation und Gemeinschaftsbildung gingen Hand in Hand. Für die Gemeinschaftspflege
wurden Laien engagiert.
3. Das Wirken Schlümbachs führte die späteren Protagonisten der Deutschen
Gemeinschaftsbewegung organisatorisch zusammen. Einzelne Mitglieder wurden entscheidend
von Schlümbach geprägt.
4. Schlümbach brachte im Rahmen der Jugendarbeit die Elemente der Einigkeit und eines
erhöhten Organisationsgrades ein.
5. Die Wirksamkeit Schlümbachs lässt fragen, ob die mit ihm einhergehenden Einflüsse aus dem
amerikanischen Raum mit „angloamerikanisch“ präzise bezeichnet sind. Es erscheint
angemessener, von einer doppelten Brechung bzw. Transformation zu sprechen: erstens beim
Transfer zwischen angloamerikanischem und deutsch-amerikanischem Raum, dann zweitens
beim Transfer zwischen deutsch-amerikanischem und deutschem Raum.
6. Die Erfahrungen mit Schlümbach präfigurierten die Ambivalenzen der sich formierenden
Gemeinschaftsbewegung zwischen freikirchlichen und volkskirchlichen Ansätzen und in den
kulturell konnotierten frömmigkeitlichen Zuordnungen – Ambivalenzen, die bereits Schlümbach
persönlich in seinem Leben empfunden hatte.
28
Hans-Martin Thimme
August Rauschenbusch zwischen Deutschland und Amerika
August Rauschenbusch wurde am 13. Februar 1816 in Altena im Sauerland geboren und starb
am 5. Dezember 1899 in Hamburg-Wandsbek.46 Zum 1. Juli 1845 gab er als wohlbestallter
lutherischer Pfarrer von Altena seinen Dienst auf der Stelle seines Vaters auf und ließ sich von
der Langenberger Gesellschaft in die Vereinigten Staaten von Amerika entsenden, um dort seine
Arbeitskraft den deutschen Einwanderern zur Verfügung zu stellen. Dieser Schritt war in der
damaligen Zeit höchst ungewöhnlich, denn Kirche, Politik und Intelligenz in Deutschland sahen
die gewaltigen Auswandererströme von Heuerlingen und kleinen Handwerkern um die Mitte des
19. Jahrhunderts äußerst kritisch. Amerika galt als wüstes Land ohne Ordnung und Zivilisation,
dem man sich als gebildeter Preuße und Europäer nicht aussetzen sollte. Untergründig wurde
diese Haltung sicher auch von der Sorge befördert, das nach dem Scheitern der französischen
Revolution einzige demokratische Staatswesen der Welt, in dem es weder Adel noch Klerus gab,
könnte im von der Restauration geprägten Deutschland zu neuen Versuchen revolutionärer
Erneuerung anregen. Rauschenbusch war im Bereich der deutschen Kirchen einer der ganz
wenigen ausgebildeten Theologen, die die Auswanderung wagten.
1. Bekehrung zum wahren Leben
August Rauschenbusch wuchs in Altena in großer Ungebundenheit und Freiheit auf. Sein von
den romantischen Idealen Rousseaus geprägter Vater ließ ihm viel Raum in seiner kindlichen
Entwicklung. Die Burg Altena regte die Jugendlichen zu vielfachen Ritterspielen an. Augusts
Begeisterung für das Mittelalter verstärkte sich, nachdem er im Oktober 1830 nach Wuppertal
ins Haus seines Schwagers, des Pfarrers August Döring, umgezogen war, um das dortige
Gymnasium besuchen zu können. Dort steigerte sich sein Eifer um die persönliche
Vergegenwärtigung deutschen ritterlichen Wesens, das er durch strenge Regeln geistiger und
körperlicher Ertüchtigung in seinen Alltag umzusetzen versuchte. In seiner schwärmerischen
Phantasie fühlte er sich durch seinen Lehrer Wilhelm Landfermann angeregt, der als
Burschenschaftler zu mehrjähriger Festungshaft verurteilt worden war und nach seiner
Haftentlassung eine Probezeit als Lehrer am Gymnasium in Wuppertal ableistete. In Wuppertal
konnte August Rauschenbusch auch noch die Ehefrau seines Großvaters, Hilmar Ernst
Rauschenbusch, erleben, der in Bünde im Ravensberger Land als erfolgreicher
Erweckungsprediger gearbeitet hatte und im Frühjahr 1790 einem Ruf der lutherischen
Gemeinde Elberfeld gefolgt war. Dort rückte die alltägliche Lebensgestaltung seiner
Gemeindeglieder in den Mittelpunkt seiner Arbeit, die er mit einer zum Rigorismus neigenden
Strenge betrieb. Das bewunderte sein Enkel August, dem sein Großvater lebenslang ein
leuchtendes Vorbild seiner Arbeit blieb.
Sein nach dem Abitur in Berlin beginnendes Theologiestudium stellte Rauschenbusch niemals in
Frage, konzentrierte sich aber auch dort zunächst weniger auf das Studium, sondern pflegte
intensive Kontakte zur Bewegung des Turnvaters Jahn. Später unternahm er nach Art reisender
Scholaren des Mittelalters mit äußerst geringem finanziellem Aufwand große Fahrten, die ihn
über die Tschechei und Süddeutschland bis nach Österreich führten. Eine Inschrift an einem
hohen Felsen am Königsee, die die Erhabenheit des ewigen Schöpfers anbetete, bewirkte den
Anfang seines inneren Umschwungs. Nach seiner Rückkehr nach Berlin widmete er sich nun mit
großem Ernst seinem Studium.
Mit noch größerer Energie betrieb er aber eine aufwühlende Suche nach wahrem Glauben und
wahrem christlichem Leben. Als Anleitung diente ihm schließlich die Imitatio Christi von
Thomas a Kempis, die er in einer von Johannes Goßner kommentierten Ausgabe benutzte. Wie
damals üblich, las er dieses Werk nicht als Hilfe zur Einübung in die mystische Nachfolge des
Vgl. zum Thema dieses Aufsatzes Hans-Martin Thimme, August Rauschenbusch (1816-1899) – Lutherischer
Pfarrer in Westfalen und baptistischer Dozent in Amerika, Beiträge zur Westfälischen Kirchengeschichte Nr. 33,
Bielefeld 2008.
46
29
Erlösungswerkes Christi, sondern als Anleitung zur Nachahmung Christi im eigenen frommen
Leben. Nach monatelangen schweren Kämpfen gewann er endlich Gewissheit nach dem Besuch
eines Oratoriums mit dem letzten Vers: „Zum Abgrund dringt der Gnade Blick, und was
verloren, bringt zurück der große Hirt der Herde.“ Als erste Folge seiner Bekehrung nannte
Rauschenbusch die Abkehr von Theater und losen Reden. Die in der Bekehrung gewonnene
Lebenssicherheit war ihm der größte Gewinn der endlich geschenkten Glaubenssicherheit.
Fortan wurde er nie mehr von Zweifeln darüber geplagt, wie das Leben eines Christenmenschen
aussehen sollte. Er hatte zu einer ethischen Gradlinigkeit gefunden, wie er sie an seinem
Großvater in Elberfeld bewunderte. Von nun an ging es nur noch darum, solche Erkenntnisse in
Gemeinde und Kirche umzusetzen.47 Zunächst allerdings musste er sein Studium unterbrechen.
Eine übertriebene asketische Lebensweise und schwere geistige Kämpfe führten zu einem
körperlichen und seelischen Zusammenbruch, der erst nach vielmonatiger intensiver Pflege im
Altenaer Elternhaus geheilt werden konnte.
2. Bau einer wahren Kirche
Nach Beendigung seines Studiums in Bonn konnte Rauschenbusch ohne große Verzögerungen
im Jahr 1841 die Nachfolge seines Vaters im Pfarramt von Altena antreten. Dort erregte er schon
mit seiner Predigt zu Ordination und Einführung Aufsehen, weil er an diesem Festtag die
Gemeinde eindringlich zur Buße rief. Es ging ihm von Anfang an um den Aufbau einer
Gemeinde wahrer, gläubiger Christen. Mit dem in einer bürgerlich-volkskirchlichen Gemeinde
üblichen und erwarteten Dienst wollte er sich nicht zufrieden geben.
So benutzte er Verbindungen zur Erweckungsbewegung in Lippe und Ravensberg, um zwei
junge Leute aus dem Fürstentum Lippe nach Altena einzuladen, die Gruppenstunden leiten und
eine Erweckung fördern sollten. Das führte zu lautstarken Protesten vieler Bürger vor dem
jeweiligen Versammlungsort, so dass der Bürgermeister Rauschenbusch um Zurückhaltung und
Mäßigung bat. Noch deutlicher wurde Rauschenbuschs Kompromisslosigkeit beim Versuch der
Durchsetzung seines Beschlusses, einem Konfirmanden, der der Lüge und der Unterschlagung
eines Pakets beschuldigt wurde, die Konfirmation zu verweigern. Nicht einmal dem
vermittelnden Vorschlag seines Superintendenten, den Jungen in einer anderen Gemeinde
konfirmieren zu lassen, konnte er zustimmen. Dabei ging es Rauschenbusch weniger um die
Konfirmation als um die Zulassung zur Feier des Abendmahls. Er wollte sich nicht damit
abfinden, das Abendmahl mit Menschen zu feiern, die er wegen ihres Lebenswandels nicht als
wahre Christen anerkennen konnte.48
Es waren derartige Beschwernisse, die Rauschenbusch den Entschluss, nach Amerika zu gehen,
erleichterten. Von der großen Freiheit in der Neuen Welt erhoffte er sich vielfältige
Gelegenheiten, am Bau der wahren Kirche mitzuwirken.49 Am 16. Juni 1846 fand in Elberfeld
der Aussendungsgottesdienst statt. In St. Louis (Missouri) angekommen sollte er eigentlich eine
Pfarrstelle in einer wachsenden deutschen Gemeinde antreten. Als sich das aus verschiedenen
Gründen zerschlug, kam er bald in Kontakt mit der American Tract Society und wurde nach
einigen Monaten des Dienstes als Kolporteur im Jahr 1847 deren Sekretär für deutschsprachiges
Schrifttum. Sein Einsatz dort war äußerst erfolgreich. Bald verantwortete er die Arbeit von 70
deutschsprachigen Kolporteuren und war Herausgeber der Zeitschrift Amerikanischer
47
Es ist sinnvoll, Rauschenbuschs Bekehrung mit allen ihren Konsequenzen unter dem Thema
„Heiligungsbewegung“ einzuordnen, obwohl er selbst diesen Begriff wohl nicht kannte. Zum biblischen Begriff der
Heiligung gehört neben der geistlichen Erfahrung auch die ethische Bewährung, wie sie August Rauschenbusch mit
manchmal in Gesetzlichkeit abgleitender Strenge forderte. Hier wird dann auch die Brücke zu der von Augusts Sohn
Walter beeinflussten Bewegung des Social Gospel deutlich, die die individuelle Heiligung auf den sozialen und
politischen Bereich übertrug.
48
Mit dieser Haltung bewegte sich Rauschenbusch nicht außerhalb der Grenzen der rheinisch-westfälischen
Kirchenordnung von 1835. In deren Vorbereitung hatte man die Frage der Kirchenzucht behandelt, aber keine
eindeutige Formulierung finden können. Die Provinzialsynode von 1844 beschloss schließlich, der Pfarrer könne in
eigener seelsorgerlicher Verantwortung und ohne Beteiligung des Presbyteriums einen Ausschluss vom Abendmahl
aussprechen. Dem Presbyterium solle nur auf Verlangen des Betroffenen Mitteilung gemacht werden.
49
Bekannter sind ähnliche Bemühungen von Wilhelm Löhe (1808-1872), der Sendlinge nach Ohio schickte, um
dort eine wahre lutherische Kirche aufzubauen.
30
Botschafter, die mit einer Auflage von 10.000 Exemplaren zu einer der größten
deutschsprachigen Zeitschriften des Landes wurde.
Aber Rauschenbusch musste bald einsehen, mit diesem Dienst der Erfüllung seines selbst
gestellten Auftrags nicht näher kommen zu können. Zwar hatte er einen unvergleichlich großen
Einflussbereich, konnte ihn aber nicht so für den Bau der wahren Kirche nutzen, wie er es
wünschte. Die American Tract Society wurde wie alle amerikanischen Gesellschaften dieser Art
von einer Gruppe überzeugter Christen getragen, die sich der Ausbreitung und Vertiefung des
Christentums über erbauliches Schrifttum verschrieben hatten. Es ging ihnen um ein alles
gesellschaftliche Leben begründendes allgemeines Christentum, das sich nicht in feste kirchliche
Grenzen fassen ließ. Ein reines Christentum sollte gefördert werden, nicht der Aufbau von
Denominationen. Deren Sonderlehren durften darum von den Mitarbeitern nicht vertreten
werden. Rauschenbusch konnte sich also wohl für Christlichkeit einsetzen, aber nicht für den
praktischen Aufbau einer wahren Gemeinde. Darüber hinaus war er zu der Überzeugung
gekommen, zur Abgrenzung der wahren Gemeinde gehöre zwingend die Erwachsenentaufe als
öffentliches Siegel wahren Glaubens. Das konnte er im Rahmen der Traktatgesellschaft nicht
vertreten.
Rauschenbusch ließ sich im Jahr 1850 taufen und verließ drei Jahre später den Dienst der
Traktatgesellschaft. Er brach zunächst zu einem einjährigen Aufenthalt nach Deutschland auf
und begann nach dort erfolgter Heirat anschließend wieder in Missouri unter den zahlreichen
Deutschen, insbesondere unter den ihm besonders vertrauten Westfalen, eine eigene Gemeinde
aufbauen. Er gründete die Pin Oak Creek Baptist Church und taufte dort im Laufe von drei
Jahren 21 Personen. Richtschnur war ihm dabei eine selbst verfasste Gemeindeordnung, die dazu
beitragen sollte, aus der Gemeinde sichtbar und erfahrbar eine Gemeinde der Heiligen zu
machen. So werden dort in der Hauptsache die Binnenverhältnisse der Gemeinde behandelt.
Entscheidende Voraussetzung zur Aufnahme ist die Bekehrung. Die Taufe wird als
selbstverständliche Folge der Bekehrung eher nebenbei erwähnt. Erst nach der Aufnahme
empfängt das neue Gemeindeglied die Taufe und wird dann auch in die
Abendmahlsgemeinschaft aufgenommen.50
Schon 1858 verließ Rauschenbusch seine Gemeinde, um in Rochester (New York) die
Verantwortung für die Ausbildung der Prediger der jungen deutschen baptistischen
Denomination zu übernehmen. Diese Entscheidung ist ihm schwer gefallen. Er hatte sie
jahrelang mit sich herum getragen, da er eigentlich nie in aller Öffentlichkeit als Mitglied einer
einzelnen Denomination genannt werden wollte. Dies widersprach zutiefst seinen Zielen, so dass
er auch in Rochester weiter seine Überzeugungen von der einen wahren Kirche Jesu Christi
lehrte.
3. Taufverständnis
August Rauschenbusch hat sich am 19. Mai 1850 (Pfingsten) im Mississippi bei St. Louis taufen
lassen. Zwei Wochen vorher schrieb er einen ausführlichen Brief über seine Arbeit an die
Langenberger Gesellschaft, in dem er im letzten Drittel seine Taufabsicht erwähnte und
begründete. Er gab darin zu, die von ihm angeführten theologischen Argumente seien nicht neu.
Ihm sei jetzt nur klar geworden, er sei noch nicht getauft. Eine Taufe vor der Bekehrung könne
nicht eine biblisch gültige Taufe sein. Warum er nach seiner Bekehrung in Berlin 15 Jahre
wartete, bis er sich zu diesem Schritt entschloss, bleibt offen. Rauschenbusch schrieb, eigentlich
sei er schon seit zwei Jahren Baptist und vollziehe nun auch äußerlich, was er schon lange
vertrete. Damit bezog er sich auf sein Zusammenleben mit der Familie Wagner, in deren Haus in
Williamsburg er während seiner Arbeit in New York zeitweise wohnte, Gustav Wagner war als
Baptist aus religiösen Gründen aus Deutschland ausgewandert und arbeitete als Setzer in der
Druckerei der Tract Society. Seine amerikanische Frau hatte eine ältere Tochter in die Ehe
gebracht und sie hatten dazu drei eigene Kinder bekommen. Mit der Familie Wagner hatte
Rauschenbusch erlebt, wie die zunächst unbekehrte Tochter zur Vergebung der Sünden gelangte
und daraufhin getauft wurde. Die selbstverständliche Folgerichtigkeit des Weges vom sündigen
50
Die Gemeindeordnung ist vollständig abgedruckt in Thimme, August Rauschenbusch. 285-293.
31
zum bekehrten Leben, was dann mit der Taufe besiegelt wurde, hat Rauschenbusch beeindruckt.
Hier erlebte er in menschlicher Nähe, wie der Weg der Heiligung in aller Selbstverständlichkeit
gegangen werden konnte. Das hat ihm den Anstoß gegeben, selber diesen Weg zu gehen. Dies
erweckt den Eindruck, als sei August Rauschenbusch eher zufällig auf einen baptistischen
Lebensweg geraten. den. Hätte Rauschenbusch etwa in einer methodistischen Familie den Weg
zur Bekehrung miterlebt, wäre die Taufe vermutlich kein besonderes Thema für ihn geworden.
Bis zu seinen Erlebnissen bei Familie Wagner hatte Rauschenbusch zwar oft über das
Abendmahlsgemeinschaft nachgedacht aber nur wenig über die Taufe. Immer aber war sein
Hauptthema die Suche nach einem klaren Weg in das Leben eines wahren Christen.
Die Selbstbezeichnung als Baptist gegenüber der Langenberger Gesellschaft ist darum genauer
zu bestimmen. In einem Brief, in dem Rauschenbusch seiner Mutter und Schwester über seine
Taufe schreibt, stellt er klar: „Ich will feierlich bezeugen, ich gehöre keiner anderen Kirche an,
als der ich seit 15 Jahren angehört habe. Daran hat sich durch die Taufe nichts geändert. Das
habe ich auch vor meiner Taufe feierlich erklärt, dass ich durch diesen Schritt nicht zu einer
anderen Kirche übertrete, als in der ich bisher war, nämlich der Kirche Jesu Christi. Ich bitte
auch, in Briefen nicht zu sagen, ich sei der Baptistenkirche beigetreten. Wir wissen von keiner
Baptistenkirche, die Schrift auch nicht, sondern nur von der Kirche Jesu Christi, die eins ist und
alle Gläubigen umfasst.“51
Der Zwiespalt zwischen seiner Überzeugung, die Gläubigentaufe sei Bedingung der
Mitgliedschaft in der wahren Kirche und der Notwendigkeit, sie in der baptistischen
Denomination zu empfangen, zeigt sich auch an den äußeren Umständen der Taufe. Er schildert
in dem erwähnten Brief, wie er einer größeren Gruppe lippischer Einwanderer das Wesen der
Taufe erläutert habe und daraufhin ein Großteil der Gruppe zur Überzeugung gekommen sei,
noch nicht getauft zu sein. Die Mehrzahl von ihnen wurde daraufhin im Baptisterium der
baptistischen Gemeinde in St. Louis getauft. Er selbst lud einen Bruder aus New York ein, der
ihn im Mississippi taufen sollte, und einige andere aus der Gruppe schlossen sich ihm an.
Rauschenbusch redete nie von einer formellen Mitgliedschaft in der Gemeinde von St. Louis,
obwohl es sie in irgendeiner Form gegeben haben muss, damit die Taufe auch in anderen
Gemeinden anerkannt wurde. Als er später als ehrenamtlicher Prediger in einer Gemeinde in
New York wirkte, setzte er einen Synodenbeschluss durch, der seine Ordination in Deutschland
für gültig erklärte, obwohl er sie als „Ungetaufter“ empfangen hatte. Denn damals sei seine in
der Bekehrung empfangene Geistesgabe zum Predigtamt bestätigt worden, die Taufe habe dem
nichts hinzugefügt.
Zusammenfassend lässt sich konstatieren, dass Rauschenbusch seine in Deutschland erworbenen
Überzeugungen in Amerika nicht geändert und nicht einmal weiter entwickelt hat. Er nahm
einfach dankbar die sich bietende Möglichkeit wahr, sie unter den Bedingungen des
amerikanischen Kirchenwesens zu verwirklichen. Auch als Prediger und später als theologischer
Lehrer blieb sein eigentliches Arbeitsziel immer die Darstellung der wahren Gemeinde Jesu
Christi auf Erden.
Weil es ihm um das in seinen Augen unverkürzte Christuszeugnis ging, war nach seiner
Überzeugung mit seiner Taufe kein Konfessionswechsel verbunden. Darum sah er auch keinen
Grund für eine Trennung von der Langenberger Gesellschaft. Wie die American Tract Society
um der Umsetzung einer Aufgabe willen Mitglieder verschiedener Konfessionen
zusammenführte, so sah er auch die Langenberger Gesellschaft als von der Kirche unabhängige
Organisation von Christen und hatte damit auch Recht. Aber unter den Bedingungen der
Staatskirche gab es in Deutschland noch nicht die Möglichkeit, dass diese Christen aus
verschiedenen Kirchen kommen konnten. Das versuchte er in einem ausführlichen Brief zu
erklären und erläuterte gleichzeitig, wie er von Amerika aus der Gesellschaft nützlich sein
konnte. Die Langenberger Gesellschaft jedoch sah sich als Institution innerhalb der Staatskirche
und meinte sich darum von Rauschenbusch trennen zu müssen.
51
Brief von August Rauschenbusch an seine Mutter und Schwester vom 23.5.1850, Oncken-Archiv Elstal, ohne
Standortangabe.
32
4. Deutsch in Amerika
Als einziger akademischer Theologe seiner Baptisten-Gemeinschaft versuchte August
Rauschenbusch von Rochester aus in aller Offenheit das durchzusetzen, was er schon in
Deutschland angestrebt hatte. Als wahrhaft bekehrter und getaufter Christ erklärte er nicht nur
seinen Studenten, sondern unermüdlich landauf landab in den Gemeinden, wie Glieder der
wahren Kirche Christi leben sollten. So vertrat er mit aller Konsequenz energisch die Forderung
nach einem „geschlossenen“ Abendmahl. Da nur bekehrte Christen getauft werden könnten und
die Taufe Voraussetzung der Teilnahme zum Abendmahl sei, könnten Baptisten nur in
baptistischen Gemeinden an der Feier des Abendmahls teilnehmen. Eine Zulassung von als
Kinder getauften oder gar nicht getauften Christen sei nicht möglich. Derartig strenge Richtlinien
waren vermutlich ein Grund dafür, warum sich die Zahl der deutschen Baptisten nicht so schnell
vergrößerte, wie es etwa ihre amerikanischen Brüder und Schwestern erwartet und gehofft
hatten.
Ein anderer wichtiger Grund war der fehlende Wille der deutschen Baptisten zur Integration in
den englischen Sprachraum. Rauschenbusch trat bis zum Ende seines Dienstes in Rochester
kompromisslos für den ausschließlichen Gebrauch der deutschen Sprache in Gemeinde und
Familie ein. Seine Kinder sollten auch untereinander nur Deutsch sprechen. Durch ausführliche
Besuche in Deutschland wollte er die Verbundenheit seiner Familie mit Deutschland stärken.
Seinen Sohn Walter schickte er von 1879-1883 auf das Gymnasium nach Gütersloh, um dort das
Abitur zu machen.52
In seinem Eintreten für deutsche Sprache und Kultur wusste er sich einig mit allen
bestimmenden Vertretern der Gemeinschaft der deutschen Baptisten. Man erwartete von den
Gemeinden, Deutschkurse einzurichten und beklagte, die Deutschen legten zu wenig Wert auf
ihr kulturelles Erbe. Das Verhältnis von Deutschen zu Amerikanern sei mit dem der Griechen zu
den Römern zu vergleichen. Deutsches stand dabei für Geistiges und Amerikanisches für
Praktisches und Nützliches. Deutsche würden den besten Beitrag zur Entwicklung Amerikas
leisten, wenn sie konsequent an ihrer Sprache und Kultur festhielten.
Den amerikanischen Baptisten fiel es oft schwer, dieses Bestehen auf der deutschen Sprache
auszuhalten. Zu einem ernsthaften Problem wurde die Auseinandersetzung zwischen deutschen
und englischen Gemeinden aber solange nicht, wie die deutschen Gemeinden konsequent von
der Baptist Home Mission Society unterstützt wurden. Sie hielt starke deutsche Gemeinden für
eine wesentliche Voraussetzung für den Erfolg der Mission unter deutschen Einwanderern.
Trotzdem fühlten sich die deutschen Gemeinden immer wieder ungenügend unterstützt. Die
meisten von ihnen waren aus deutschen Landeskirchen gekommen und hatten erst in Amerika
zum Baptismus gefunden. Sie konnten sich nicht von der Erfahrung der Gemeinden in
Deutschland lösen, die sich um Geld, Grundstücke, Gehälter und andere praktische Fragen der
Institution nicht zu kümmern brauchten, weil dafür staatliche Stellen verantwortlich waren. Die
überwiegende Mehrzahl deutscher Christen in Amerika tat sich schwer, selber Verantwortung
für Organisation und Finanzwesen ihrer Gemeinde zu übernehmen.
Die theologische Schule der Deutschen war auf Veranlassung der Amerikaner als Abteilung des
englischen Seminars in Rochester gegründet worden. Zwar hatte man wenig Verständnis für das
starre Festhalten der Deutschen an ihrer Sprache, aber man ging pragmatisch damit um. Die
Bekehrung der wachsenden Zahl der deutschen Einwanderer war das bestimmende Ziel. Wenn
es nicht auf Englisch ging, dann sollte es eben mit deutschsprachigen Kräften erreicht werden.
Man beschloss darum bereits 1852, Gehalt und Ausstattung für einen deutschen Dozenten zu
finanzieren. Rauschenbusch zögerte unter anderem auch deswegen so lange, dieses Angebot
anzunehmen und kam erst sechs Jahre später nach Rochester, weil er bezweifelte, die Deutschen
seien selber bereit, die volle Verantwortung für die Ausbildung ihrer Prediger zu übernehmen.
Tatsächlich zahlten die Amerikaner noch bei Rauschenbuschs Ausscheiden die Hälfte aller
Kosten für das deutsche Seminar.
Keiner der Gründerväter der deutschen Baptisten in Amerika hatte bereits in Europa Kontakt
zum organisierten Baptismus gehabt, obwohl einige vor ihnen schon vor ihrer Auswanderung
52
Vgl. Christopher H. Evans, The Kingdom is Always but Coming: A Life of Walter Rauschenbusch, Grand Rapids
2004, 23.
33
aus Deutschland oder der Schweiz die Erwachsenentaufe vertreten hatten. Johann Gerhard
Oncken wurde 1834 von dem Amerikaner Barnas Sears in Hamburg getauft, der am College der
Baptisten in Hamilton (New York) unterrichtete, der Vorgängerinstitution des englischen
Seminars in Rochester. Vielleicht war das auch ein Grund, warum es bei seiner Predigtreise
durch die USA im Jahr 1853 nicht zu einem Kontakt mit den deutschen Baptisten kam. Das
Reiseprogramm wurde allerdings auch durch Onckens Verwicklung in einen Eisenbahnunfall
durcheinander gebracht.
Andererseits unterstützten die deutschen Baptisten Amerikas in vielfacher Weise ihre
Glaubensgeschwister in Deutschland. Philipp Bickel etwa, der zunächst ein erfolgreicher Pfarrer
in Cincinnati (Ohio) wurde, war einer der Studenten Rauschenbuschs. Später ging er im Auftrag
der American Baptist Publication Society nach Deutschland, um Oncken in seiner Verlagsarbeit
zu unterstützen und abzulösen. Er verlegte den Verlag nach Kassel und machte ihn dort zu einem
erfolgreichen Unternehmen. Auch Georg Fetzer war Rauschenbuschs Student und wurde zudem
noch sein Schwiegersohn. Er ging zum weiteren Studium nach Deutschland und wurde in den
1870er-Jahren Prediger der baptistischen Gemeinde in Volmarstein (bei Hagen). Schließlich
wurde er als erster Leiter des neuen deutschen Seminars der Baptisten nach Hamburg gerufen. In
seiner Familie verbrachte Rauschenbusch seinen Lebensabend und starb dort am 3. Dezember
1890.
34
Ekkehard Hirschfeld
Ernst Ferdinand Ströter – Endzeitspezialist zwischen den Kontinenten
Ernst Ferdinand Ströter, geboren 1846 in Barmen, wuchs in einem reformierten Elternhaus auf.53
Nach Abschluss seiner Schulzeit in Bonn studierte er evangelische Theologie in Bonn, Tübingen
und Berlin. Nachhaltig beeinflusst wurde Ströter dabei durch den Tübinger Systematiker Johann
Tobias Beck. Es waren Becks Formalprinzip einer allein der Schrift verpflichteten Theologie,
seine offenbarungs- und entwicklungstheologische Hermeneutik, die heilsgeschichtliche
Grundausrichtung seiner Theologie sowie eine ausdifferenzierte, zukünftig-real verstandene
Eschatologie, die Ströters Denken unübersehbar geprägt haben.
Als Hauslehrer bei einer amerikanischen Familie in Paris konvertierte Ströter 1869 zum
Methodismus und wanderte noch im selben Jahr in die USA aus. Hier wirkte er als junger
Prediger des deutschsprachigen bischöflichen Methodismus zunächst an der Ostküste. 18721879 ging er, mittlerweile verheiratet, zunächst als Pionierprediger nach Texas und anschließend
in zwei größere Gemeinden nach Minnesota. Von 1884-1890 lehrte er als Professor für
Historische und Praktische Theologie am methodistischen Central Wesleyan College in Missouri
und von 1890-1894 als Professor für Latein an der Universität Denver. 1894 siedelte er nach
New York über, von wo aus er als Judenmissionar, Herausgeber der judenmissionarischen
Zeitschrift Our Hope und freier Redner seinen Wirkungsradius wieder nach Europa
einschließlich Russlands und bis ins damalige Palästina ausdehnte, bis er 1897 schließlich nach
Deutschland zurückkehrte.
1. Der dispensationalistische Prämillenniarismus
Bereits durch Johann Tobias Beck einer heilsgeschichtlichen Theologie verpflichtet, übernahm
Ströter 1880 den dispensationalistischen Prämillenniarismus John Nelson Darbys. Mit seinem
Dispensationenmodell (Einteilung der Heilsgeschichte in unterschiedliche Haushaltungen) und
seinem Prämillenniarismus vertrat Darby ein ausgesprochen kirchen- und auch
gesellschaftskritisches Geschichtsmodell, das von einer krisenhaften Zukunft der Welt, gefolgt
von Christi Wiederkunft und anschließendem Tausendjahrreich ausging. Dieses System
pessimistischer Deutung der Welt samt ihrer Gesellschaften, staatlichen und kirchlichen
Institutionen hatte in den USA besonders in der Ära nach dem Sezessionskrieg an Boden
gewonnen und stand in Konkurrenz zum damals in den USA dominierenden System des
Postmillenniarismus. Dieser erwartete die Verbesserung und Christianisierung der Welt bis zum
Eintritt des Tausendjahrreiches und erst anschließend Christi Wiederkunft auf Erden.
Untrennbar mit Darbys System des dispensationalistischen Prämillenniarismus verbunden waren
auch die theologischen Grundlagen und eschatologischen Verfeinerungen. Dazu gehörten etwa
die Hermeneutik einer Verbalinspiration der Schrift sowie eine theologische und real-politische
Aufwertung Israels – namhafte christliche Unterstützer des damaligen Zionismus standen auf
dem Boden des Prämillenniarismus.
Ströter entwickelte sich zum einflussreichsten deutschsprachigen Vertreter des
dispensationalistischen Prämillenniarismus in den USA, wo er besonders über Konferenzen und
durch Zeitschriftenartikel wirkte. Er fand für dieses theologische Modell jedoch keine
Unterstützung in seiner methodistischen Mutterkirche, was zu einer inneren Entfremdung
Ströters von ihr führte, auch wenn er zeitlebens Methodist blieb.
2. Die Theologisierung der Theologie
Als Ströter kurz vor der Jahrhundertwende nach Europa zurückkehrte, stand er im Wesentlichen
für ein von Beck und Darby herkommendes, aber eigenständig verfeinertes theologisches
Programm. Als Leitgedanke seiner Programmatik lässt sich die Formel einer „Theologisierung
der Theologie“ fassen.
53
Zu Ströter vgl. bisher Karl Heinz Voigt, Ströter, Ernst Ferdinand, in: BBKL 11 (1996), Sp. 89-93. Außerdem
bisher noch unveröffentlicht: Ekkehard Hirschfeld, Ernst Ferdinand Ströter: Eine Einführung in sein Leben und
Denken, Diss. masch., Greifswald 2010.
35
Dreh- und Angelpunkt von Ströters Theologie – hier ist deutlich auch sein reformiertes Erbe
sichtbar – bleiben die Göttlichkeit, die Souveränität, die Macht und die Treue Gottes. Gott ist
und bleibt der Souverän seiner Schöpfung, seiner Geschöpfe und der Heilsgeschichte, die er zu
einem letzten Ziel führt. Gott geht dabei planvoll vor, um seine ganze Schöpfung zu erlösen und
zu vollenden: „Die gesamte Darstellung des göttlichen Schöpfungswerkes in Himmel und Erde
erscheint dem prüfenden Blick als ein großartiges Modell, als gewaltiges, zielbewusstes Schema
für seine unermesslichen, aber unfehlbar sicheren Wiederherstellungsgedanken und -pläne mit
einer Schöpfung, die unter die Gewalt des Bösen und des Todes geraten. Die ganze Welt- und
Reichsgeschichte hat kein anderes Motiv als die endliche Lösung all der verwickelten, für das
rein menschliche Denken unergründlichen und für menschliches Können unerreichbaren
Probleme, die aus der Herrschaft des Bösen in der Welt der Geschöpfe erwachsen sind. Gott
kommt schließlich mit seiner Schöpfung zur Ruhe.“54 Dabei zielte Ströters Kronargument auf die
Integrität des göttlichen Wesens und auf die Göttlichkeit Gottes: „Die große Frage ist nicht, was
wird aus all den verlorenen Geschöpfen, Menschen oder Engeln, sondern was wird aus dem
Charakter, dem Wesen, den Eigenschaften unsres großen Schöpfer- und Rettergottes?“55
Mit dieser „Theologisierung der Theologie“, die zwar erst der späte Ströter in dieser Schärfe
formuliert, die er aber bereits früh durch theologische Entscheidungen eingeleitet hat, korrelieren
einige weitere theologische Paradigmen.
Hinsichtlich des Schriftverständnisses gilt nicht das als entscheidend, was der Mensch über Gott
denkt, sondern was Gott von sich sagt, wie er sich offenbart. Damit versteht Ströter die Schrift
als Gottes untrügliche, verbindliche, autoritative Offenbarungsurkunde, die historisch und
prophetisch-zukünftig wahr ist. Möglich wird die Behauptung der Widerspruchslosigkeit und
heilsgeschichtlicher Relevanz der Schrift durch die konsequente Unterscheidung der Adressaten,
besonders Israels und der Gemeinde, dem sog. „Schriftteilen“. Das Schriftteilen impliziert ein
chronologisches Verstehen der Offenbarung. Obwohl Ströter Darbys Dispensationenmodell nicht
im Detail übernimmt, liegt in dieser heilsgeschichtlich-chronologischen Ausdifferenzierung der
Schlüssel zu seinem Verständnis, dass die Schrift in sich harmonisch und widerspruchsfrei ist.
Dabei geht die „Theologisierung der Theologie“ nicht auf Kosten der Christologie: Christus ist
und bleibt die zentrale Offenbarung Gottes und ist darin Inbegriff der Schöpfung, der Erlösung
und der Vollendung. Das Christusereignis – Fleischwerdung, Kreuzigung, Auferstehung und
Verherrlichung – ist das Zentrum der göttlichen Heilsgeschichte, denn im Christusereignis
werden hinsichtlich der universalen Erlösung der gesamten Kreatur die Fragen nach dem
Rechtsanspruch, nach dem Willen und nach der Macht Gottes beantwortet.
In Bezug auf sein Gemeindeverständnis hegte Ströter eine ausgeprägte Skepsis gegenüber Kirche
und Kirchentümern, gegenüber der kirchlichen Christenheit überhaupt, die er als abgefallene,
verdorbene Christenheit begriff. Dagegen stellte Ströter die Gemeinde aus Juden und Nichtjuden,
eine neue Heilskörperschaft, die sich Gott in diesem Zeitalter (Äon) zubereite, um mit ihr als
Werkzeug in Zukunft weiteres Heil zu schaffen. Dazu formulierte Ströter ein neues Verständnis
von Erwählung. In einem längeren Prozess hatte sich Ströter – in Auseinandersetzung mit seiner
eigenen reformierten Tradition – von der calvinistischen Lehre einer doppelten Prädestination
gelöst. Er verstand Erwählung nun nicht mehr soteriologisch exklusiv – nur die zur Gemeinde
Gehörenden würden gerettet, alle anderen seien verdammt –, sondern inklusiv: Die Erwählten
bzw. die Gemeinde sind nur Werkzeug, mit dessen Hilfe im Lauf der Heilsgeschichte weitere
Menschengruppen errettet werden.
Diese wahre Gemeinde ist nicht konfessionell, kulturell, geschichtlich oder territorial gebunden,
sondern eine geistliche Größe, die sich jedoch im Glaubenden bzw. der Gemeinschaft der
Glaubenden realisiere. Allerdings sei die Aufgabe dieser Gemeinde für die Gegenwart nicht die
Evangelisierung oder Christianisierung der Welt, die Verchristlichung ganzer Völker oder
Kontinente, gar noch durch Massentaufen, sondern die Herausrufung Einzelner aus allen
Völkern. Diese Sammlung und Zubereitung der Gemeinde geschehe durch Leid und Verfolgung,
durch ihre Christusnachfolge, in der sie dem leidenden Christus gleichgestaltet werde.
54
55
Ernst Ferdinand Ströter, Das Evangelium Gottes von der Allversöhnung in Christus, Chemnitz o. J. [1916], 80-81.
A.a.O., 252.
36
3. Die Israeltheologie
Besondere Beachtung verdient Ströters Israeltheologie. Ströter verstand Israel als bleibend
auserwähltes Volk Gottes und Träger des Heils. Die nationenchristliche Kirche habe Israel nicht
beerbt oder enterbt, sondern im Gegenteil: Die theologische und physische Missachtung Israels
werde als Gericht über die Christenheit zurückfallen. Israel erlebe in dieser Zeit eine Krise, eine
Zurückstellung, solange die Gemeinde gesammelt wird, werde aber am Ende der Trübsalszeit
den dann wiederkommenden Christus als seinen Messias erkennen. Somit seien Israel und die
Gemeinde zwei zu unterscheidende, sich aber – heilsgeschichtlich betrachtet – ergänzende
Heilskörperschaften.
Im Unterschied zu fast allen damaligen Judenmissionsgesellschaften lehnte Ströter es ab, an
Christus glaubende Juden aus ihrer nationaljüdischen Existenz zu reißen. Vielmehr sollten sich
diese in judenchristlichen Gemeinden sammeln und weiterhin in Observanz der Thora, d. h. der
Beschneidung, des Schabbath, der Speisegebote, der Reinheitsvorschriften usw. leben. Für dieses
Anliegen hat Ströter nicht nur literarisch und auf Vorträgen, oftmals in Russland, in Südafrika
und im damaligen Palästina geworben, sondern er versuchte auch durch die Gründung einer
Gesellschaft, judenchristliche Projekte wirtschaftlich zu unterstützen.
Daneben bekämpfte Ströter jede Form des Antijudaismus, auch noch kurz vor seinem
Lebensende: „Wenn noch etwas fehlte, um jedem wahren Christen die Augen zu öffnen über den
Abgrundscharakter des organisierten Antisemitismus, der sich in das Engelsgewand eines
Verteidigers ‚echt-deutscher Frömmigkeit’ kleidet, dann ist es das von ihm selbst erwählte
Zeichen des – Hakenkreuzes! Das Symbol der erlösenden Liebe Gottes in Christo mit –
Teufelskrallen! Das allein sollte genügen, jedem ernsten Christen zu offenbaren, was das für ein
Geist sei, der den heutigen Antisemitismus beseelt und treibt.“56
Hinsichtlich seiner Eschatologie erwartete Ströter nicht – postmillenniaristisch – das Reich
Gottes auf Erden, sondern eine Zeit der Krise, des Abfalls besonders der Christenheit, den, wie
er es gerne nannte, „Bankrott“ des Menschen in all seinen Selbsterlösungs- und
Selbstheilungsversuchen. Am Ende dieses Zeitalters stehe nicht die Weltmission, sondern die
Entrückung der Gemeinde zu Christus. Es folge die siebenjährige Trübsalszeit als Zeit des
globalen Gerichtshandelns Gottes, aus der das Millennium unter der Königsherrschaft Christi
hervorgehe. Im Tausendjahrreich dann finde auch Israel endlich zur Erfüllung bzw. die Erfüllung
aller ihm zugesagter Verheißungen, nämlich Zeuge Gottes, das Missionsvolk der Erde zu sein.
4. Das Heiligungsverständnis
Da Ströter als Methodist zu einer Kirche gehörte, aus der zahlreiche Heiligungsimpulse
hervorgegangen sind, interessiert auch sein Verständnis von Heiligung. Besonders in seinen
jungen Jahren in den USA war Ströter offen für das Heiligungsanliegen. Allerdings fand bei ihm
im Lauf der Jahre eine bemerkenswerte Akzentverschiebung statt, denn er sprach nun weniger
von „Heiligung“ als mehr von „Heiligkeit“: Heiligkeit als Eigenschaft Gottes, die dieser dem
Menschen zueigne, und zwar in Christus, der alles Unheilige, alles Sündige am Kreuz tilge.
Damit hat Heiligkeit nichts mehr mit primär menschlichem Handeln zu tun, denn Heiligkeit „ist
nicht länger ein menschliches Streben und Sichstrecken hinauf zur göttlichen Höhe, – es ist das
Eingehen Gottes in seiner Liebesfülle zu bleibender Lebensgemeinschaft mit dem Menschen“.57
So verstand Ströter Heiligkeit als etwas in und durch Christus dem Menschen durch Gottes
Handeln Zugeeignetes. „Das Werk unsrer Durchheiligung ist Gottes, und nicht unser. [...] Nein,
es bleibt dabei, es gilt jagen nach der Heiligung. Aber das ist nicht eigenes Mühen und Schaffen,
sondern nur das tiefgläubige, gehorsame Eingehen des Herzens auf die köstliche geoffenbarte
Wahrheit, daß Christus, wie unsre Gerechtigkeit, so auch unsre Heiligung ist, vom Vater.“58
Ströters Programm einer „Theologisierung der Theologie“ führt schließlich zu einem Punkt, der
besonders in Ströters Auseinandersetzung mit Pfingst-, Allianz- und Gemeinschaftsbewegung
deutlich wurde: der Bekämpfung eines christlichen Heilssubjektivismus.
Ströter, „Gottes Gedanken mit Israel“, in: Das Prophetische Wort 17 (1923), 190-191.
Ströter, „Heiligkeit“, in: Wegweiser zur Heiligung, Heft 9 (1893), 27.
58
Ströter, „Die Thessalonicherbriefe“, in: Das Prophetische Wort 5 (1911), 306.
56
57
37
Nicht das persönliche Heil – um nicht zu sagen: egoistisches Heilsstreben – soll nach Ströter im
Vordergrund christlichen Lebenswandels stehen (und auch nicht die Unmündigkeit vieler
Christen, die sich dann wieder an bestimmte Verkündiger als Autorität hängten), sondern der an
der Schrift geschulte Blick für Gottes heilsgeschichtliches, universales Handeln, das die
Erlösung der ganzen Schöpfung zum Ziel hat: Die „wahre, nüchterne Erkenntnis vom Leibe
Christi hebt aus der ganzen subjektivistischen Gebundenheit und Befangenheit heraus. Man hört
dann auf, sich und die ganze Gottesoffenbarung nur um das eigene gerettete Ich drehen zu
lassen. Man bekommt zentralen Blick dafür, daß es sich bei dem ‚Gott war in Christo’ um mehr
handelt, als darum, daß wir gerettet werden. Sünde, Gnade und Rechtfertigung kommen
durchaus zu ihrem Recht, können aber nicht mehr das ganze Gesichtsfeld beanspruchen. Israel
bekommt seinen Platz, die Gemeine den ihrigen. Die Heiligung wird gesund erfaßt und hört auf
fromme Spezialität zu sein. Wert und Bedeutung der Geistesgaben bekommen ihre
entsprechende Beleuchtung vom Zentrum aus: Gott in Christo; Christus in uns, die Hoffnung der
Herrlichkeit; wir ein Leib mit ihm.“59
5. Zurück in Europa
Mit diesem theologischen Programm – das Ströter in seinen letzten Lebensjahren noch weiter
verfeinerte – kehrte er zuerst 1897 und endgültig 1899 nach Europa zurück. In Deutschland lebte
er an verschiedenen Wohnorten – im Rheinland, in Berlin, im Harz – und unternahm zahlreiche
Reisen besonders nach Russland. 1912 zog Ströter mit seiner Frau aus familiären Gründen in die
Schweiz, nahm 1919 die Schweizer Staatsbürgerschaft an und verstarb 1922 in Zürich.
Ströter arbeitete als freier Reiseprediger und Judenmissionar überdenominationell. Er war an
keine Ortsgemeinde gebunden, sondern erreichte sein Publikum auf Konferenzen, bei
Versammlungen und über seine Veröffentlichungen – durch seine eigene Zeitschrift Das
Prophetische Wort, Artikel in anderen Zeitschriften, Monografien, Kleinschriften, einen eigenen
Verlag und nicht zuletzt durch seine judenchristliche Ammiel-Gesellschaft. Eine hohe Präsenz
zeigte Ströter besonders auf Konferenzen auf dem Boden der Allianzbewegung – der
Blankenburger Allianzkonferenz, der Tersteegensruhkonferenz, der Harz-Konferenz und
weiteren –, auf lokalen und (über)regionalen Gemeinschaftskonferenzen wie der Gnadauer
Pfingstkonferenz, in methodistischen Gemeinden, aber auch in CVJMs, Freien evangelischen
Gemeinden und vielen mehr. Oft sprach er, besonders in Blankenburg und auf der
Tersteegensruhkonferenz, als Hauptreferent. Damit darf Ströter im Zeitraum 1898-1908 als der
profilierteste und vehementeste Vertreter des dispensationalistischen Prämillenniarismus in
Deutschland und der Schweiz gelten. Hier versuchte Ströter mit Nachdruck, seiner Zuhörer- und
Leserschaft für seine Theologie zu gewinnen. Seine Verkündigung widmete sich speziell der
besonderen heilsgeschichtlichen Rolle Israels mit ihrer real-politischen Relevanz, der Sammlung
und Zubereitung der Gemeinde als heilsgeschichtlichem Proprium des gegenwärtigen Zeitlaufs,
der Erwartung der Wiederkunft Christi zur Entrückung seiner Gemeinde und nicht zuletzt immer
wieder der zeitgeschichtlichen Analyse unter prämilleniaristischem Blickwinkel. Besonders beim
letztgenannten Punkt nahm Ströter Kirchen, aber auch besonders die Gemeinschafts- und die
Pfingstbewegung wegen ihrer letztlich subjektivistischen Theologie – wie er es empfand – in die
Kritik.
6. Ströter verliert seinen Einfluss
Nach anfänglich größerem Interesse wurde Ströters Theologie unter die der damaligen
Pfingstbewegung subsumiert, obwohl Ströter selbst ein deutlicher Kritiker der Pfingstbewegung
war. Diese Vermischung war nicht sachlich, doch ergab sie sich aus gewissen thematischen
Überschneidungen zwischen Ströter und der damaligen Pfingstbewegung, besonders hinsichtlich
einer ausgeprägten Naherwartung, Hoffnung auf die baldige Entrückung, Kritik an der
etablierten Kirche und dem Gemeindeverständnis allgemein.
1908 wurde auf der Gnadauer Pfingstkonferenz Ströters Gemeindeverständnis verworfen.
Kernpunkt war das Missverständnis, Ströter vertrete ein soteriologisch exklusives
Gemeindeverständnis. Damit verlor auch der von Ströter vertretene Prämillenniarismus an
59
Ströter, Auf hoher Warte, in: Das Prophetische Wort 4 (1910), 380.
38
Schlagkraft. Innerhalb der neueren deutschen Erweckungsbewegung wurde zwar allgemein an
einer Wiederkunftserwartung festgehalten, doch nicht in der von Darby und Ströter bekannten
differenzierten Form mit ihren gemeindetheologischen Ableitungen.
Damit fand seit 1908 die kirchenkritische, heilsgeschichtliche Theologie Ströters besonders bei
der Gemeinschaftsbewegung kein Gehör mehr. Auch die Allianzbewegung trennte sich von
Ströter. Dieser Sachverhalt wurde noch einmal gestützt durch eine spezifische theologische
Weiterentwicklung Ströters, die allerdings nicht Ursache, sondern lediglich Zementierung des
Bruches von 1908 war: Denn ab 1909 vertrat Ströter die Lehre von der Allversöhnung, die er
eigenständig aus seinen bisherigen theologischen Positionen gewonnen hatte und als die Summe
des Evangeliums verstand. Das war – gemessen an seinem theologischen Programm einer
„Theologisierung der Theologie“ – konsequent, denn nur mit Hilfe der Allversöhnungslehre
konnte Ströter am Grundparadigma seiner Theologie festhalten: Gott als der siegreiche
Vollender der Heilsgeschichte.
Ströter ist als exponierter Vertreter eines bestimmten Aspektes angloamerikanischer Theologie –
des dispensationalistischen Prämillenniarismus – im Raum der damaligen neueren deutschen
Erweckungsbewegung zu würdigen, dessen Theologie aber weit weniger rezipiert worden ist, als
seine Rolle in den ersten beiden Jahrzehnten des vergangenen Jahrhunderts vermuten lässt.
39
Nicholas Michael Railton
Die Mildmay-Konferenz und britische judenmissionarische Impulse für die
deutsche Heiligungsbewegung
Die Heiligungsbewegung war im Grunde, so Karl Kupisch, „ein echt deutscher Vorgang“. Er
konstatierte „ein echt pietistisches Motiv“ und „eine charakteristische Abwandlung
angelsächsischer Methoden“.60 Damit meinte er das Bemühen, nicht die evangelistische
Großveranstaltung dominieren zu lassen, sondern das Schwergewicht auf die Gewinnung des
Einzelnen zu legen und sein geistliches Wachstum nicht zuletzt durch die Pflege brüderlicher
Gemeinschaft zu fördern. Anders urteilte Otto Baumgarten: „Wie tief diese angelsächsischen
Einflüsse auf die Entwicklung des Gemeinschaftschristentums eingewirkt haben, kann keinem
ruhigen Beobachter verborgen sein.“61 Gegen die so genannte „Engländerei“ schlugen nicht
wenige Lutheraner Alarm. Paul Fleisch, der erste Historiker der Gemeinschaftsbewegung, sprach
allgemein von der „Ausländerei“, die dem deutschen Gemeinschaftsmann im Blute steckte.62 Für
ihn waren der Stil, die Methoden, die Lieder und die theologischen Schwerpunkte der
Heiligungsbewegung importierte Pflanzen, die in den fruchtbaren deutschen Boden nicht
hineingehörten. Das eingeführte Gedankengut würde leider das deutsch-evangelische
Christentum „verengländern“.63 Aus dem englischsprachigen Ausland kamen aus lutherischer
Sicht anstößige Neuheiten, die, wie man meinte, die eigenen kirchlichen Traditionen in Frage
stellten. In einem Zeitalter des ausgeprägten Nationalbewusstseins und des imperialen Gehabes
musste es zwangsläufig zu Irritationen kommen. Einem befürchteten Einströmen fremder
Praktiken sah man mit höchster Skepsis entgegen: „Wir stehen also geradezu einer englischamerikanischen Invasion gegenüber“, notierte die Neue Evangelische Kirchenzeitung voller
Zukunftsangst, „gegen welche unsere Gemeinden nicht hinlänglich gerüstet sind“.64 Gemeint
war der Besuch von Lord Radstock in den Jahren 1874/1875, dem man darbystische Neigungen
ankreidete.65 Man betrachtete solche Neuerungen fast wie Krankheitserreger, die es zu
bekämpfen galt.
Eine dieser neuen theologischen Ideen, die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts von
England aus Eingang in die deutsche Heiligungsbewegung fand, war das Thema der
Judenmission, das in diesem Aufsatz im Mittelpunkt stehen soll. Dabei muss man beachten, dass
die Frage der Judenmission zwar schon seit dem Anfängen des Pietismus bei Philipp Jakob
60
Karl Kupisch, Der deutsche CVJM. Aus der Geschichte der Christlichen Vereine Junger Männer Deutschlands,
Kassel 1958, 39f. Ich danke Werner Beyer für die Unterstützung bei der formalen Gestaltung dieses Aufsatzes
61
Otto Baumgarten, Engländerei im kirchlichen Leben, in: RGG 1 2, Sp. 337.
62
Paul Fleisch, Die moderne Gemeinschaftsbewegung in Deutschland. Erster Band: Die Geschichte der deutschen
Gemeinschaftsbewegung bis zum Auftreten des Zungenredens (1875-1907), Leipzig 1912, 30, 81, 285. Fleisch
behauptet, dass allein Eduard von Pückler (Vorsitzender des Gnadauer Verbandes zwischen 1895 und 1906)
wünschte, dass die Gemeinschaftsbewegung „deutsch“ bleiben sollte. Vgl. a.a.O., 125, 366, 428, 469, 483. Aus
Sicht von Arno Pagel war von Pückler „ein sehr deutsch empfindender Mann. Er war es fast zu sehr in seiner oft
stark negativen Beurteilung des angelsächsischen Christentums, wovon allerdings die sogenannten ‚englischen
Lieder‘ ausgenommen waren. Die zu singen wurde er nicht müde. […] Auch die große Erweckung in Wales hat er
erst mit Zurückhaltung betrachtet.“ Arno Pagel, Eduard von Pückler, Offenbach o.J., 26.
63
Eine Wortschöpfung der Zeitschrift Reformation, zit. nach Paul Fleisch, Die moderne Gemeinschaftsbewegung in
Deutschland, 486 (Anmerkung).
64
Zitiert nach Karl Heinz Voigt, Die Heiligungsbewegung zwischen Methodistischer Kirche und Landeskirchlicher
Gemeinschaft. Die „Triumphreise“ von Robert Pearsall Smith im Jahre 1875 und ihre Auswirkungen auf die
zwischenkirchlichen Beziehungen, Wuppertal 1996, 45-46, 76.
65
Radstock (1833-1913) war ein reicher Anglikaner, nichtordinierter Laienprediger und Evangelist. Vgl. Karl Heinz
Voigt, Radstock, Lord, in: BBKL 7 (1994), Sp. 1229-1231. Lord Radstock unterstützte die Versammlungen von
Robert Pearsall Smith. Er war Berater des Vorstands, dem die Organisation der Heiligungskonferenz in Brighton
oblag. Vgl. Record of the Convention for the Promotion of Scriptural Holiness held at Brighton, May 29 th to June
7th, 1875, Brighton & London 1875 [Reprint New York/London], 7. Radstock war Mitglied der anglikanischen
Kirche, fühlte sich aber unter den Brüdergemeinden am wohlsten. Ihre Katholizität und der bibeltreue Charakter
ihrer Prinzipien überzeugten ihn. Später trennte er sich von der Brüdergemeinde, nachdem er mit Geschwistern in
vielen Weltteilen und Konfessionen zusammengearbeitet hatte. Vgl. Mrs. Edward Trotter, Lord Radstock. An Interpretation and a Record, London/New York/Toronto o.J., 22.
40
Spener thematisiert wurde, im 19. Jahrhundert aber bei der großen Mehrheit der deutschen
Protestanten nur Verwunderung oder sogar Ärger auslöste. Dass die Frage der Judenmission
gerade in der Heiligungsbewegung neu aufgenommen wurde, lag ausnahmsweise nicht an den
Versammlungen des Amerikaners Pearsall Smith. In dieser Thematik kamen die Anstöße eher
aus britischen und irischen Vorläuferkonferenzen. Im Folgenden soll daher speziell die in der
kirchengeschichtlichen Forschung fast unbekannte Mildmay-Konferenz untersucht werden, und
zwar vor allem unter dem Gesichtspunkt der dort unterstützten Judenmission und der damit
zusammenhängenden Endzeitlehre.
1. Die Mildmay-Konferenz
Lange bevor Robert Pearsall Smith englischen Boden betrat, entstand eine Konferenz zur
Vertiefung des Glaubenslebens in der britischen Hauptstadt. In Mildmay, im Norden Londons,
kam es 1856 zu einer Zusammenkunft von Christen aller konfessionellen Richtungen, die an
einen Zusammenhang zwischen geistlicher Einheit und einer wahren Erweckung glaubten.
„Mildmay“ wurde geradezu als Schwesterorganisation der Evangelischen Allianz betrachtet.
Beispielsweise fanden 1896 Versammlungen der Jubiläumskonferenz der Allianz in der Mildmay
Conference Hall statt.66 Die Mildmay-Konferenzen waren überkonfessionell, sogar Quäker und
Mitglieder von Brüdergemeinden waren oft in Mildmay zu sehen.67 So wurde die MildmayKonferenz ein wichtiges Element für die Erweckung von 1859/60.68 Interessant ist, dass in
Mildmay im Gegensatz zu den Versammlungen in Oxford und Brighton, wo das Thema der
Juden- und Heidenmission gar nicht zur Sprache kam, nie das missionarische Element fehlte.69
Die Mildmay-Konferenzen waren eine Sammelstelle für erweckte Christen aus allen
Konfessionen, die ihr Interesse an Heiligung, Mission, der Betonung von grundlegenden
Wahrheiten des Christentums und an der Wiederkunft Jesu bekunden wollten.70
1.1 William Pennefather als Schlüsselfigur
Am Anfang der Heiligungsbewegung in England stand der irischstämmige anglikanische Pfarrer
William Pennefather (1816-1873) Er rief die Mildmay-Konferenz ins Leben und war zeitweilig
auch Mitglied des Exekutiv-Rats der Evangelischen Allianz.71 Im Jahr 1859 wirkte er als
Wanderprediger im Süden Englands und unterstützte die Arbeit der Church of England Home
Mission Society, die mit Unterstützung der Ortsgeistlichen gläubige Männer zur Evangelisation
in die Pfarrbezirke aussandte. Die Evangelisation war ihm eine Herzensangelegenheit, sie sollte
bei den Konferenzen in Mildmay und Keswick eine wichtige Rolle spielen. Missiologisch und
theologisch wurden die späteren Keswick-Konferenzen also entscheidend von Mildmay geprägt,
66
A. J. Arnold, Jubilee of the Evangelical Alliance. Proceedings of the Tenth International Conference held in London, June-July 1896, London 1897, 65. Es sprachen auf dieser Konferenz namhafte Vertreter der
Heiligungsbewegung wie z.B. F.B. Meyer (99ff.), Lord Radstock (105ff.), J. Hudson Taylor (118ff.), Hanmer
Webb-Peploe (115ff.), Friedrich Baedecker (307ff.), James Elder Cumming (379ff.) und Herbert Brooke (468ff.).
Die Christen aus Deutschland, die an dieser Londoner Konferenz teilnahmen, bildeten bei weitem die größte
ausländische Gruppierung. Unter anderem waren Graf von Bernstorff, Curt von Knobelsdorff, Toni von Blücher,
Theodor Jellinghaus und Anna von Weling anwesend.
67
George Müller (1806-1898), der zu den Offenen Brüdern gehörte, sprach regelmäßig auf Konferenzen in
Mildmay. Vgl. William Henry Harding, The Life of George Müller. A Record of Faith Triumphant, London/Edinburgh o.J., 239, 248, 253, 263, 265, 297f., 300, 303-313. Die Quäker- und Brüderversammlungen im
Norden Londons haben wahrscheinlich den Boden für die Mildmay-Versammlungen vorbereitet. Vgl. Dr. Theodore
and Mrs. Howard Taylor, Hudson Taylor in Early Years. The Growth of a Soul, New York & Philadelphia 1912,
171 (Anm.).
68
Vgl. Barnet and Mildmay Conferences, in: The Christian vom 3.11.1870, 11-13, sowie: A Pennefather Memorial,
in: The Christian vom 12.7.1906, 15.
69
Vgl. Charles F. Harford (Hg.), The Keswick Convention. Its Message, Its Method and Its Men, London 1907,
133.
70
Vgl. William Henry Harding, The Life of George Müller, 298.
71
Vgl. Robert Braithwaite, The Life and Letters of Rev. William Pennefather, London 1878, 284; J. W. Ewing,
Goodly Fellowship. A Centenary Tribute to the Life and Work of the World’s Evangelical Alliance 1846-1946,
London 1946, 35; Charles Price and Ian Randall, Transforming Keswick. The Keswick Convention: Past, Present
and Future, Carlisle 2000, 39-40, 45, 88.
41
wo die Lehre des innewohnenden Heiligen Geistes selbstverständlich eine bestimmende Rolle
spielte.
Pennefathers Frömmigkeit wirkte tief auf Evangelisten wie Reginald Radcliffe72 und Dwight L.
Moody73, die er unterstützte, obwohl manche Amtskollegen sie wegen ihrer fehlenden
Ordination als unwillkommene Eindringlinge ablehnten. Mit beiden Evangelisten verband ihn
ein Interesse am jüdischen Volk.74 Pennefather schätzte ihre Gaben, ihre konfessionelle Bindung
war ihm von zweitrangiger Bedeutung. Seit 1853 war es ihm ein Bedürfnis, Mitglieder der
verschiedenen Kirchen und Gemeinden – alle, die den Namen des Herrn nennen und von
Ungerechtigkeit ablassen, wie er sagte – zusammenzubringen.75 Ab 1856 kamen zunächst in der
Christ Church von Barnet76 und ab 1864 dann in St. Jude’s im Londoner Stadtteil Mildmay viele
Vertreter der späteren Heiligungsbewegung zusammen. Für die Versammlungen wurde 1860 auf
einem Feld eine bewegliche, aus Eisen gemachte Halle (der so genannte iron room) mit 1800
Sitzplätzen gebaut, die er später nach Mildmay mitnahm.77 Diese Erfindung kann man als
Vorläufer der Zeltmission betrachten. In seinem Einladungsschreiben vom Juni 1856 wurden
schon alle zentralen Themenbereiche und Ziele der späteren Heiligungskonferenzen in
Großbritannien dargelegt: Austausch und Besprechungen über bzw. das Streben nach einem
geheiligten Leben, die Pflege liebevoller Gemeinschaft unter Geschwistern, die Weckung von
Interesse an Reichsgottesarbeiten, Lobpreis- und Fürbitteversammlungen, Ansprachen über die
Missionsarbeit und schließlich Betrachtungen über die Hoffnung der Kirche, nämlich die
Wiederkunft Jesu und die Rettung ganz Israels.78
Pennefathers Mildmay-Konferenzen inspirierten nach 1870 viele andere Treffen in England. W.
Bradbury führte Heiligungsversammlungen in Skerrton Village/Lancaster, und in Morecambe
durch. Er rief im September 1870 dazu auf, so etwas überall im Land zu organisieren, um das
Ziel einer geheiligten Brautgemeinde hervorzubringen.79 Bradbury berief sich auf 1Thess 4,3
(„Denn dies ist Gottes Wille: eure Heiligung.“) und behauptete, es sei „wunderbar und möglich“,
dass „unser ganzer Geist samt Seele und Leib untadelig (sündlos) bewahrt werde bei der Ankunft
unseres Herrn Jesus Christus“ (1Thess 5,23). Ein anderer, den die Mildmay-Konferenz prägte,
war Canon Alfred M. W. Christopher (1820-1913), Geistlicher an der St. Aldate’s Church in
Oxford.80 1868 predigte Pennefather dort und einige Jahre später war Christopher Redner in
Mildmay. In St. Aldate’s fand dann die erste Versammlung der Oxforder Konferenz (29. August
– 7. September 1874) statt.81 Christopher, der anglikanische Staatskirchler, plädierte am Ende
der Konferenz dafür, dass die konfessionellen, ja alle Barrieren zwischen wahren Christen in
Gemeinschaftsversammlungen aufgelöst werden sollten, auch wenn er akzeptierte, dass die
72
Vgl. Jane Radcliffe, Recollections of Reginald Radcliffe, London o.J., 11, 22, 160f. Radcliffes Frau berichtete,
dass sie Pennefathers Gesicht oft mit einer Art himmlischem Licht umstrahlt sah.
73
Auf der Mildmay-Konferenz 1872 wurde Moody von Pennefathers Wesen stark beeindruckt. Er sagte: „Alles an
dem Mann [Pennefather] zeugte von einem geheiligten Menschen. Ich habe von ihm einen neuen Schwung (lift and
impetus) für mein christliches Leben bekommen, den ich nie verloren habe. Niemand konnte ihn anblicken, ohne zu
merken, dass er in der Gegenwart Gottes lebte“. Es war Pennefather, der Moody schriftlich bat, nach England
zurückzukommen, um dort zu evangelisieren. Vgl, Robert Braithwaite, The Life and Letters of Rev. William Pennefather, 489f.; Will R. Moody, The Life of Dwight L. Moody. The Official Authorised Edition, London o.J., 140.
74
D. L. Moody traf in den 1870er Jahren mehrmals John Nelson Darby und übernahm dessen prämillenniaristische
Eschatologie mit der besonderen Betonung eines eigenen Heilswegs für das Judentum.
75
Vgl. Robert Braithwaite, The Life and Letters of Rev. William Pennefather, 304f.
76
Pennefather überraschte es sehr, dass genau 120 Menschen aus 12 verschiedenen Konfessionen am allerersten
Abendmahl in seiner Kirche in Barnet teilnahmen. Er interpretierte das als himmlisches Zeichen für den Beginn
eines neuen Werkes Gottes. Vgl. The Christian vom 3.11.1870, 11. Ein zeitgenössischer Beobachter der zweiten
Gnadauer Konferenz bemerkte schon 1890, dass sie „einen an die Barnet, heute die Mildmay-Konferenz in den
Anfangsjahren erinnert“. Er fügte hinzu: „Der Herr bereitet ein großes Werk in Deutschland vor“, in: Evangelical
Christendom vom 1.7.1890, 206.
77
In der allerersten Gebetsversammlung in dem noch nicht fertigen Gebäude wurde für die Heilung eines Mädchens
gebetet, die tatsächlich erfolgte. Vgl. Robert Braithwaite, The Life and Letters of Rev. William Pennefather, B.A.,
340 (Fußnote).
78
Vgl. Robert Braithwaite, The Life and Letters of Rev. William Pennefather, 297-98, 305.
79
Vgl. Meetings for Sanctification, in: The Christian vom 22.9.1870, 14.
80
Vgl. J. S. Reynolds, Canon Christopher of St. Aldate’s, Oxford, Abingdon 1967, 131f.
81
Vgl. a.a.O., 181.
42
Organisationen – genannt Kirchen – erst dann verschwinden würden, wenn der Herr
zurückkommt.82
Eine weitere Verknüpfung zwischen Mildmay und der Heiligungsbewegung in Großbritannien
bildeten die Gebetsfrühstücke und Konferenzen mit William E. Boardman, die 1873 in der
Mildmay Park Conference Hall stattfanden.83 Boardman und Pearsall Smith hielten hier
Ansprachen vor einer Versammlung von methodistischen Predigern. Admiral E. G. Fishbourne,
im Jahre 1875 Mitarbeiter von Pearsall Smith, war Freund und Berater von Pennefather und hatte
mit ihm seit 1855 bei einem Projekt zur Behausung und Versorgung von Waisenkindern
zusammengearbeitet.84 Auch mit dem Gründer der Keswick-Konferenz, Thomas Dundas
Harford-Battersby, war Pennefather befreundet.85
1.2 Eschatologie und Israeltheologie
Das eschatologische Motiv wirkte bei Pennefather als Katalysator und gab auch der
Heiligungsbewegung seine Richtung.86 Zeitlebens beschäftigte sich Pennefather mit den
prophetischen Aussagen über die Zukunft Israels. Er war mit John Nelson Darby verwandt und
musste sich deshalb allein schon aus familiären Gründen mit den Lehren von Darby
beschäftigen.87 Die beiden nahmen zusammen an den berühmten interkonfessionellen Prophecy
Conferences (1831-1836) in Powerscourt Castle (County Wicklow) und später in Dublin teil.88
Darbys Eschatologie beeinflusste ihn maßgeblich. Viele Jahre lang war Pennefather Mitglied der
Prophecy Investigation Society, die zweimal im Jahr Konferenzen in St. George’s Anglican
Church (Bloomsbury, London) organisierte.89 Redner waren durchgängig Geistliche der
Staatskirche.90 Während seiner Zeit in Barnet organisierte er zusammen mit Gleichgesinnten eine
so genannte Prophetical Alliance, die Jahr für Jahr dreitägige Konferenzen veranstaltete, die aber
nicht öffentlich waren.91 Die Mildmay Mission to the Jews war seit 1876 Teil der vielfältigen
Arbeiten im Mildmay Park. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts wirkte außerdem ein Schüler des
Hamburger Judenmissionars Arnold Frank, der Schlesier F. J. Carlton, als Hilfsgeistlicher an der
St. Jude’s Church in Mildmay.92 Carlton hat den judenmissionarischen Impuls der Konferenz
verstärkt.
82
Vgl. E. J. Poole-Connor, Evangelical Unity, London 1941, 117.
Vgl. Mrs. Boardman, Life and Labours of the Rev. W. E. Boardman, London 1886, 158f.
84
Der reiche Anglikaner Edmund Gardiner Fishbourne (1811-1887) evangelisierte – wie Radstock, Captain Trotter
und andere – unter den adligen und reichen Kreisen Englands. 1873 unterstützte er tatkräftig die Versammlungen
von Robert Pearsall Smith. Auch zur Oxforder Konferenz trug er bei. Vgl. Account of the Union Meeting for the
Promotion of Scriptural Holiness held at Oxford August 29 to September 7, 1874, London o.J. [Nachdruck New
York/London 1985], 241. Er war auch Mitglied des Vorstands, der die Heiligungskonferenz in Brighton
organisierte. Vgl. Record of the Convention for the Promotion of Scriptural Holiness held at Brighton, 7.
85
Vgl. Robert Braithwaite, The Life and Letters of Rev. William Pennefather, 431. Vgl. Memoir of T. D. HarfordBattersby, late Vicar of St. John’s, Keswick, and Honorary Canon of Carlisle, together with some account of the
Keswick Convention, London 1890, 75f. Thomas Dundas Harford-Battersby lehnte Bezeichnungen wie „Sektierer“
für Methodisten, Darbysten und andere Freikirchler ab, da er sie für echte Kinder Gottes hielt.
86
Braithwaite schreibt: „ ‚The blessed hope’ became an integral part of his spiritual life, and permeated his whole
ministry”, Robert Braithwaite, The Life and Letters of Rev. William Pennefather, 253, 379. Zu Keswicks Eschatologie vgl. David D. Bundy, Keswick: A Bibliographical Introduction to the Higher Life Movement, Wilmore, KY
1975, 174-179.
87
Pennefathers Onkel, Edward Pennefather, war mit Darbys Schwester Susannah verheiratet.
88
Zu den Konferenzen bei Lady Powerscourt vgl. Robert Braithwaite, The Life and Letters of Rev. William Pennefather, 23-25, 253-256; Peter L. Embley, The Origins and Early Development of the Plymouth Brethren, Dissertation St. Paul’s College Cheltenham 1966, 86-94. George Müller besuchte die dritte Konferenz. Embley spricht von
einem „extrem emotionalen Pietismus“ der Lady Powerscourt.
89
Vgl. Colin Le Noury, In the Steps of F.B. Meyer. 90 Years of Prophetic Witness, Belfast 2007, 18f. Die erste
Konferenz fand am 24.5.1842 statt.
90
1846 beschäftigte sich die Gesellschaft speziell mit Israel: Israel’s Sins and Israel’s Hopes. Being Lectures delivered during Lent, 1846, at St. George’s, Bloomsbury by Twelve Clergymen of the Church of England, London
1846.
91
Vgl. Robert Braithwaite, The Life and Letters of Rev. William Pennefather, 321f.
92
Vgl. Arnold Frank, Die Hamburger Judenmission in Wort und Bild, Hamburg.1913, 16; A. Bernstein, Jewish
Witnesses for Christ, Jerusalem. 1999, 152. Carlton war Hilfsgeistlicher in Mildmay zwischen 1901 und 1904.
43
83
In Mildmay kamen also drei Hauptströme der britischen Frömmigkeit zusammen: die Betonung
eines geheiligten Lebenswandels, der missionarische Impuls und die erwartete baldige
Wiederkunft Jesu in Zusammenhang mit der Erlösung der jüdischen Nation.93 Neben den
Allianzversammlungen auf nationaler wie auf internationaler Ebene wurde die jährlich
stattfindende Mildmay-Konferenz schon von Zeitgenossen als „der Vater von vielen
Konferenzen und Kongressen“ gewürdigt, die im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts überall in
Europa organisiert wurden.94 Indirekt hatte William Pennefather demnach auch einen
nachhaltigen Einfluss auf die Heiligungsbewegung in Deutschland.95
1.3 The Christian
Nicht zu unterschätzen ist die Bedeutung der publizistischen Arbeit für die entstehende englische
Heiligungsbewegung. Die Zeitschrift The Revival wurde während der Erweckungszeit im Jahr
1859 ins Leben gerufen und 1870 unter dem neuen Titel The Christian fortgeführt. Sie berichtete
regelmäßig und ausführlich über die Arbeit in Mildmay und wurde als wichtiger Faktor für die
Erneuerungsbewegung angesehen.96 Der erste Aufsatz in dem umbenannten Blatt stammte von
dem Judenchristen Adolph Saphir, der in der Hamburger Judenmission gearbeitet hatte.
Regelmäßig beschäftigte sich ein Artikel mit der Endzeit. Im ersten Jahrgang erschienen
Aufsätze von Robert Pearsall Smith, u.a. über die wöchentlichen Heiligungsversammlungen im
Hause von Dr. Cullis in Boston.97 Nach der Gründung der Keswick-Konferenzen im Nordosten
Englands haben die Herausgeber die dortigen Reden abgedruckt, die nicht nur in England ein
breites Echo fanden. So wurde die Keswick-Lehre weiter verbreitet.
1.4 Keswick und die Judenmission
Es war Reginald Radcliffe, der 1887 den Keswick-Vorsitzenden Henry F. Bowker schließlich
überredete, das Konferenz-Zelt auch für missionarische Veranstaltungen zu nutzen.98 Bowker
war zu der Überzeugung gekommmen, dass christliche Heiligung in der Evangelisierung der
Welt konkreten Ausdruck finden muss. Seitdem waren die Themen Juden- und Heidenmission in
Keswick nicht mehr wegzudenken. 1889 begann Rev. John Wilkinson von der Mildmay Mission
to the Jews diese Tradition.99
Keswick vertrat keine spezifische Endzeitlehre. Prämillenniaristische Anschauungen waren zwar
vorherrschend, aber weniger im Sinne eines darbystischem Dispensationalismus, sondern eher
beeinflusst von reformiert-puritanischen Wurzeln.100 Hudson Taylor (1832-1905) bezeugte z.B.
auf der Konferenz 1893, dass es für ihn nichts gab, was ihn mehr angespornt habe, Mission zu
treiben, als die prämillenniaristische Hoffnung. Jeder müsse dem Herrn mit ganzem Herzen die
Treue halten, wenn man entrückt werden wolle, um allezeit bei dem Herrn zu sein.101
Wesensmäßig eng verbunden mit seinem Glauben an die persönliche Wiederkunft war seine
93
Vgl. David W. Bebbington, Evangelicalism in Modern Britain, 159.
Vgl. Evangelical Christendom 1 (August 1891), 244; Henry Martyn Gooch, William Fuller Gooch. A Tribute and
a Testimony, London 1929, 117.
95
Pennefather hat Deutschland mindestens dreimal besucht: 1846 und 1872 verbrachte er Zeit in Langen
Schwalbach und Rippoldsau, 1871 besuchte er Bad Homburg und Kaiserswerth. Vgl. Robert Braithwaite, The Life
and Letters of Rev. William Pennefather, 193, 292, 477-479, 491f. Pennefather kannte auch Professor Pfleiderer und
empfahl die Deutschkurse, die letzterer in Korntal abhielt. Vgl. The Christian vom 10.2.1870, 14.
96
Der volle Titel der ersten umbenannten Ausgabe vom 3.2.1870 lautete: The Christian: A Weekly Record of Christian Life, Christian Testimony, and Christian Work, with which is incorporated “The Revival”.
97
Vgl. R. Pearsall Smith, Dwelling in Love, in: The Christian vom 19.5.1870, 3-4; “R.P.S.”, The Voice of the Beloved, in: The Christian vom 3.11.1870, 3-4.
98
Vgl. Eugene Stock, Keswick and Foreign Missions, in: The Christian vom 23.7.1925, 6.
99
Vgl. Walter B. Sloan, These Sixty Years, 37; Samuel Hinds Wilkinson, The Life of John Wilkinson, the Jewish
Missionary, 248-250. Wilkinson legte Römer 11 aus und sprach über die Wiederkunft Christi. Reginald Radcliffe
nahm an dieser ersten judenmissionarischen Versammlung in Keswick teil.
100
Vgl. Charles Price and Ian Randall, Transforming Keswick, 132ff.
101
Vgl. Walter B. Sloan, These Sixty Years, 41.
44
94
praktische Unterstützung der Judenmission. Jahr für Jahr gab Hudson Taylor seinen allerersten
Zehnten an die Mildmay Mission to the Jews.102
Die Konferenzen in Keswick nannten sich Union Meetings for the Promotion of Practical
Holiness und setzten dieselben Schwerpunkte wie in Oxford und Mildmay. Das siebte und achte
Kapitel des Römerbriefes, die z. B. bei Evan H. Hopkins (1837-1918), einem der wichtigsten
Lehrer in der Heiligungsbewegung in Großbritannien, eine zentrale Rolle spielten103, konnten
und sollten nicht von den Kapiteln 9 bis 11 getrennt werden, in denen die Bedeutung der
Judenmission für die Heidenmission, ja für das Heil der Welt ausführlich dargelegt wird. „Dem
Juden zuerst“ war das Motto der missionarischen Veranstaltungen in Keswick, die
traditionsgemäß am Schabbat stattfanden. Mindestens ein Vertreter einer
Judenmissionsgesellschaft – es gab in London allein zwanzig Gesellschaften und einige
unabhängige Missionare, die Mission auf Glaubensbasis betrieben104 – sprach alljährlich in
Keswick.105 Ein weiteres Indiz für die Bedeutung der Frage der Judenmission für die englische
Heiligungsbewegung war die Tatsache, dass die erste „Keswick-Missionarin“ – Louisa
Townsend –nach Palästina ausgesandt wurde.106
Immer durften Vertreter der Judenmission als erste in den missionarischen Versammlungen
sprechen. So hat 1928 Hugh Orr-Ewing, der in Jerusalem als Arzt tätig war, über Entwicklungen
im Judentum gesprochen. Es sei nicht so, meinte er, dass viele Juden eine Liebe zur christlichen
Religion entwickelten. Wahr sei aber, dass nicht wenige nun bereit seien, Gespräche über die
Messiasfrage zu führen.107 Bis in die späten dreißiger Jahre hinein sprachen Judenmissionare
über ihre Erfahrungen und die Situation der Juden in den verschiedenen Ländern, 1933 kam der
Judenchrist Mirza Jollynoos Hakim aus Teheran, um für die Unterstützung seiner Arbeit zu
werben.108 Zentrale und bekannte Keswick-Redner wie z.B. W. Graham Scroggie, Duncan Main
und John MacBeath hatten enge Kontakte zu judenchristlichen Kreisen in Großbritannien.109
1.5 Advent Testimony and Preparation Movement
In Keswick war die Naherwartung des Herrn als Ansporn für die Heiligung der Gläubigen
allgegenwärtig.110 Auf die Wiederkunft Christi sollte die Gemeinde durch praktische Heiligung
des ganzen Menschen zubereitet werden. F.B. Meyer, H.W. Webb-Peploe111, George Campbell
Morgan, W. Fuller Gooch, John Stuart Holden, Francis S. Webster und E.L. Langston 112 waren
alle bekannte Keswick-Redner, die sich für die Eschatologie sehr interessierten und die
Judenmission tatkräftig unterstützten.113 Diese Männer waren der Überzeugung, dass die Zeiten
der Heiden, d.h. der Nicht-Juden, bald zu Ende gehen würden. Am 15. Oktober 1917
formulierten zehn führende christliche Persönlichkeiten eine Resolution, in der sie die Kirchen
und Gemeinden aufforderten, die Schriften der jüdischen Propheten gründlich zu studieren.114
102
Vgl. Samuel Hinds Wilkinson, The Life of John Wilkinson, the Jewish Missionary, London 1908, 309.
Vgl. Evan H. Hopkins, The Law of Liberty in the Spiritual Life, London 1974.
104
Vgl. A. E. Thompson, A Century of Jewish Missions, Chicago-New York-Toronto 1902, 279-280.
105
Vgl. The Christian vom 3.8.1893, 24.
106
Vgl. Charles Price and Ian Randall, Transforming Keswick, 107, 110; Walter B. Sloan, These Sixty Years, 40.
107
Vgl. Walter B. Sloan, These Sixty Years, 96.
108
Vgl. Walter B. Sloan, These Sixty Years, 104; Vgl. The Keswick Convention, in: The Christian vom 27.7.1933,
27.
109
Vgl. Frederick Levison, Christian and Jew. The Life of Leon Levison 1881-1936, Edinburgh 1989, 230, 287.
110
Vgl. Walter B. Sloan, These Sixty Years, 25, 26, 41, 104.
111
Während seines langjährigen Aufenthaltes in London besuchte Graf Andreas von Bernstorff besonders gern den
Gottesdienst in der anglikanischen Kirche am Onslow Square, wo Webb-Peploe, einer der einflussreichsten Redner
an der Keswick-Konferenz, als Pfarrer wirkte. Webb-Peploe war 25 Jahre lang Präsident der Barbican Mission to
the Jews und Sekretär der Evangelischen Allianz. Vgl. Hedwig von Redern, Andreas Graf von Bernstorff. Ein
Lebensbild nach seinen Briefen und persönlichen Aufzeichnungen, Schwerin 1909, 104.
112
Langston war Sekretär der Londoner Gesellschaft zur Verbreitung des Christentums unter den Juden.
113
Vgl. Charles Price and Ian Randall, Transforming Keswick, 133.
114
Vgl. Keith L. Roberts, The Jews and the Passion for Palestine in the Light of Prophecy, Los Angeles, 1937, 25f.
45
103
Unter den Unterzeichnern waren sieben namhafte Keswick-Redner, fünf davon waren Mitglieder
der Prophecy Investigation Society.115
Diese Organisation erhielt einen großen Auftrieb, als der britische Außenminister Arthur James
Balfour am 2.11.1917 seinen berühmten Brief an Lord Rothschild schrieb und Jerusalem am
9.12.1917 von der Macht des islamischen Osmanenreiches befreit wurde.116 Das, worüber viele
britische Christen seit dem 17. Jahrhundert geschrieben hatten, schien langsam Wirklichkeit zu
werden: die Rückkehr des jüdischen Volkes in das verheißene Land. Am 13.12.1917 fand eine
große Konferenz in der Queen’s Hall statt, um die prophetische Bedeutung dieser Ereignisse zu
besprechen. Daraus entstand die prämillenniaristisch geprägte Advent Testimony and
Preparation Movement (ATPM), die nicht nur in England, sondern in ganz Europa und den USA
einflussreich wurde.117
2. Judenmissionarische Impulse für die deutsche Heiligungsbewegung
Auch in Deutschland war das Interesse an den prophetischen Schriften und an Endzeitfragen
zwischen 1875 und 1935 sehr groß. Dabei spielten gerade britische Judenmissionare an
verschiedenen Orten eine einflussreiche Rolle.
2.1 Bad Blankenburg
Schon das 1890 zum ersten Mal in Bad Blankenburg erscheinende Evangelische Allianzblatt
hatte starke eschatologische Akzente. Das Blatt erstrebte die wahre innere Vereinigung aller
Gläubigen im In- und Ausland, die von ganzem Herzen nach Heiligung strebten und auf die
Wiederkunft Jesu warteten.118 Gleichzeitig erinnerten die Herausgeber und der Verleger des
Blattes, das außerdem viele Leser in England, Schottland und Irland fand119, ihre Leser daran,
dass, je mehr die Zeit „ihren fortgeschrittenen Charakter enthüllt, je deutlicher die ‚Zeichen‘ auf
das ‚anbrechende Ende‘ dieses Äons hinweisen, und je mehr die großen zur ‚Welt‘ gewordenen
Nationalkirchen die ‚Aus Gott Geborenen‘ verdächtigen, drängen und verfolgen; um so ernster
dringt an alle Gläubigen die Pflicht heran, ungeachtet der sie jetzt noch äußerlich trennenden
Kirchenmauern, sich im Geiste ‚Eins‘ zu wissen und dies auch thatkräftig und bekenntnisfreudig
vor der Welt zu bezeugen“.120 Wie in Mildmay sah man auch in Blankenburg einen direkten
Zusammenhang zwischen der Weltlichkeit der Namenschristen und der Kirchen und der
anbrechenden Endzeit, auf die sich die echten Gläubigen durch ihre gemeinsame Heiligung
einstellen sollten. So haben auf der Blankenburger Konferenz 1898 Baedecker121, Ströter und
Stockmayer über die Wiederkunft Christi geredet, Ströter sogar im Zusammenhang mit der
Bekehrung Israels. Stockmayer betonte, dass diejenigen die diese Hoffnung hätten, sich heiligen
würden, sie würden „sich reinigen, indem sie die Heiligkeit vollenden in der Furcht Gottes“
(2Kor 7,1). In Blankenburg durchdrang also das eschatologische Motiv der Evangelisation und
der Heiligung die Ansprachen und Gebete. 1912 war „die glückselige Hoffnung der Kinder
Gottes“ (2Petr 3) der Fokus aller Versammlungen. Durch heiligen Wandel und gottseliges
115
Die Resolution verband ausdrücklich eine prämillenniaristische Eschatologie mit der Theologie der
Heiligungsbewegung. In Punkt 4 der Resultion hieß es: „That Israel will be restored to its land in unbelief, and be
afterwards converted by the Appearance of Christ on its behalf“. Punkt 7 unterstrich, dass die eschatologischen
Wahrheiten, die in der Resolution ausgedrückt wurden, „von größtmöglicher praktischer Bedeutung für die Bildung
eines christlichen Charakters und die Vollbringung christlicher Werke“ seien.
116
Zur Balfour-Deklaration vgl. Ronald Sanders, The High Walls of Jerusalem. A History of the Balfour Declaration and the Birth of the British Mandate for Palestine, New York 1983.
117
Vgl. H. M. Brown, Preparing the Way of the Lord. Twenty-one years of Advent Testimony, in: The Christian
vom 2.2.1939, 7-8.
118
Vgl. Werner Beyer, Ein Leib sind wir in Christus – 100 Jahre Blankenburger Allianzarbeit, in: Ein Leib sind wir
in Christus. 100 Jahre Evangelisches Allianzwerk Bad Blankenburg 1886–1986, 22.
119
Vgl. The Christian vom 8.10.1891, 28.
120
Evangelisches Allianzblatt vom 15.9.1891, 187.
121
Baedeckers Haus in Weston-super-Mare hieß „Wart-Eck“. Wie bei anderen Offenen Brüdern bedeutete für
Baedecker das Warten auf die Wiederkunft des Herrn keine passive quietistische Zurückgezogenheit.
46
Verhalten wollte man auf den Blankenburger Allianz-Konferenzen, ähnlich wie in Mildmay und
Keswick, die Ankunft Christi erwarten und beschleunigen.
Von Anfang an waren die Männer und Frauen, die sich in Blankenburg zusammenfanden, dabei
auch sehr empfänglich für Nachrichten aus der Judenmission. Anna von Weling betonte, die
Judenmission dürfte „gewiß bei keinem Reichsgotteswerk fehlen“.122 Die apostolische Strategie,
den Juden zuerst das Evangelium zu predigen, nahm sie ernst. Hunderte hebräische Neue
Testamente (eine Gabe aus England) wurden von ihr und Gustav Kaiser unter den Juden
Thüringens verteilt. 1899 war die Mission, auch unter Juden, im Zentrum des Interesses der
Blankenburger Konferenz, die unter dem Thema „Die Evangelisation der Welt“ stand.123
Blankenburg folgte dem Vorbild Keswicks, indem Judenmissionare begehrte Redner waren.
Mindestens acht Judenmissionare hielten Ansprachen im untersuchten Zeitraum. Am häufigsten
dabei waren Ernst Ströter, der von 1898-1908 achtmal in Blankenburg sprach, Dirk Hermanis
Dolman sprach von 1899-1911 neunmal, Arnold Frank von 1903-1926 zehnmal und Samuel
Hinds Wilkinson von der Mildmay Mission von 1905-1935 auch zehnmal. Dabei fällt auf, dass
Judenmissionare generell die einzigen Vertreter der britischen Heiligungsbewegung waren, die
im Zeitraum 1911 bis 1935 eingeladen wurden bzw. sich die Mühe machten, nach Bad
Blankenburg zu fahren.
2.2 Bonn
1879 berichtete der irische Judenmissionar William Graham über eine „bemerkenswerte“
Erweckung in der Region um Bonn.124 Nie hatte Graham so viele suchende Menschen in seinem
Haus gehabt. Sie fand zu einer Zeit statt, als die Zahl der Briten und Amerikaner in seiner
Gemeinde gering war. Er hatte viele Briefe von Augenzeugen dieser Erweckung erhalten. Ein
Kaufmann aus Düsseldorf namens Wilms125, der eine prominente Rolle in den erwecklichen
Veranstaltungen gespielt hatte, berichtete darüber persönlich vor den Versammelten an einem
Freitagabend in Grahams Missionskapelle. In einem Gebetstreffen in Düsseldorf nahm die
Erweckung ihren Anfang. Laien aus Düsseldorf, Elberfeld und Barmen legten das Wort Gottes
aus und leiteten die Versammlungen. Trotz der Zurückhaltung der Pastoren breitete sich die
Bewegung langsam von Köln bis Düsseldorf aus. Überall mussten Gruppen gebildet werden, die
in verschiedenen Räumen zusammenkamen: die eine bestand aus Menschen, die Buße tun
wollten, eine zweite aus denjenigen, die diesen Schritt schon getan hatten und nun eine
Begleitung suchten. Pfarrer waren zumindest am Anfang selten dabei. Für sie glichen diese
Gebetstreffen den ihnen äußerst suspekten methodistischen Versammlungen, wo Tränen der
Freude und der Buße flossen. Die ganze Aufregung und die offen zur Schau getragenen
Emotionen waren in klerikalen Augen nur eine oberflächliche, gefühlsbetonte Reaktion auf eine
Bibelauslegung, die eher von krankhaften Gefühlen in labilen Menschen zeugten als vom
Wirken des heiligen Geistes. Manche warnten vor der Teilnahme, andere verurteilten die
Treffen. Die Anwesenheit von immer mehr „Separatisten“ (d.h. Anhänger Darbys, Irvingianer,
Methodisten, Kongregationalisten usw.) führte aber dazu, dass lutherische und reformierte
Pastoren oft unwillig waren, diese von Laien getragenen Versammlungen mit ihrer eigenen
Gegenwart zu unterstützen.126
Dennoch breitete sich die Bewegung weiter aus. Graham berichtete, Trinker hätten mit ihren
Trinkgewohnheiten gebrochen. Insgesamt hätten sich über zweihundert Menschen, darunter
neunzehn Katholiken, bekehrt. Bei einem einzigen „Liebesmahl“ kamen über vierzig Menschen
zum Glauben. Graham suchte Gleichgesinnte in Gebetsversammlungen auf. Die jedes Jahr im
Januar stattfindende Gebetswoche, die die 1846 in London gegründete Evangelische Allianz
122
Chronik des Vereins- und Allianzhauses, in: Evangelisches Allianzblatt vom 15.11.1890, 34.
Vgl. Werner Beyer, Ein Leib sind wir in Christus – 100 Jahre Blankenburger Allianzarbeit, 26.
124
Vgl. The Missionary Herald of the Presbyterian Church in Ireland [MH] 1. April 1879, 1044-1047; Juli &
August 1879, 1124-1126; 1. Januar 1880, 3-4.
125
Wohl der „selige Theophil Wilms“, bei dem Privatversammlungen stattfanden. Wilms wurde Vorstandsmitglied
des am 6. Oktober 1880 in Barmen gegründeten Westdeutschen Komitees der Evangelischen Allianz, als dessen
Vorsitzender bis 1887 Theodor Christlieb fungierte. Vgl. Erich Beyreuther, Der Weg der Evangelischen Allianz in
Deutschland, Wuppertal 1969, 54.
126
Vgl. MH, 1. Januar 1880, 4.
47
123
eingeführt hatte, bot eine gute Möglichkeit, mit anderen Christen in Bonn
zusammenzukommen.127 Im Januar 1869 wurden die Gebetsversammlungen in Bonn zum
Beispiel ebenso von Deutschen wie Theodor Christlieb und August Rauschenbusch128 als auch
von Briten wie Captain Cubitt, Captain Johnson, den schottischen Brüdern Mitchel und einem
Mr. Owen (Sohn eines amerikanischen Indien-Missionars) geleitet.
1873 durfte Graham an der Weltkonferenz der Evangelischen Allianz in New York
teilnehmen.129 Er wurde begleitet vom Bonner Theologieprofessor Theodor Christlieb, der einen
Vortrag über den modernen Skeptizismus hielt.130 In den Vereinigten Staaten und Kanada hielt
Graham über fünfzig Vorträge und Ansprachen in den verschiedensten Kirchen und Sälen über
Palästina, Jerusalem, Damaskus und natürlich über die Judenmission in Deutschland. Mit
Christlieb, der in seiner Londoner Zeit evangelistische Veranstaltungen ein- und durchgeführt
hatte131, pflegte Graham auch danach intensive Kontakte und unterstützte ihn z.B. bei einer
Evangelisation in Bonn im Januar 1876.132
Der berühmte Gründer des Waisenhauses in Bristol, der Darbyst Georg Müller (1806-1898),
belieferte schon 1859 Graham mit einigen Tausenden englischer und deutscher Traktate und
Bücher.133 Müller machte wahrscheinlich Werbung für die irische Mission in Bonn und
ermutigte andere in Bristol, Hilfe zu leisten. 1876/77 leitete Georg Müller selbst vier
Veranstaltungen in der Bonner Missionskapelle134.
Viele Gebetskreise wurden durch Graham bzw. seine irischen Stellvertreter gegründet. Es wurde
berichtet, dass Graham im Dezember 1880 für eine kranke Frau nach Jak 5,13-15 gebetet hat, die
dann von ihrem Bett in perfekter Gesundheit aufgestanden sein soll.135 Nicht nur das Seelenheil
der Menschen, sondern auch deren körperliche Heilung war Graham also ein Herzensanliegen.
Am 27.9.1881 berichtete Graham nach Belfast, dass eine gottesfürchtige Frau mit großem Erfolg
vierzehn Ansprachen vor deutschen Frauen gehalten hatte. Obwohl im Bericht der Name dieser
Frau nicht genannt wird, handelt es sich mit Sicherheit um Elizabeth Baxter.136 Sie wirkte drei
Jahre lang im Rheinland, in Baden und in Württemberg. Baxter war von 1877-1883 eine
wichtige Rednerin in Keswick.137
1880 kamen endlich Einladungen von anderen Bonner Pastoren, dass Graham seine AllianzGebetstreffen in ihren Kirchen veranstalten möge.138 Die Allianz-Gebetstreffen in Bonn hatten in
jenen Jahren einen ausgeprägt internationalen, interkonfessionellen Charakter gehabt. Im
September 1881 konnte Graham seinen Auftraggebern in Belfast mitteilen, dass die irische
Mission in Bonn eine Inkarnation der Grundsätze der Evangelischen Allianz sei.139
Von Sympathisanten wie dem Baron Julius von Gemmingen140 und der Gräfin von Volmerstein
hat Graham finanzielle und andere Unterstützung bekommen.141
127
Vgl. MH 1. Februar 1869, 262.
Zu August Rauschenbusch (1816-1899), dem Vater des berühmten Theologen Walter Rauschenbusch, vgl. den
Tagungsbeitrag von Hans-Martin Thimme in diesem Band, sowie Christoph Bresina, August Rauschenbusch, ein
Wanderer zwischen zwei Kontinenten, in: Freikirchen Forschung 5 (1995), 66-75.
129
Vgl. MH 2. Februar 1874, 285-286; Thirty-Second Annual Report of the General Assembly’s Jewish Mission,
in: MH Juli & August 1874, 376.
130
Vgl. Theodore Christlieb, Modern Infidelity and the Best Methods of Counteracting it. A Paper read at the New
York Conference of the Evangelical Alliance (London 1877).
131
Vgl. Neue evangelische Kirchenzeitung, 19. Dezember 1863, 814ff.; 6. Juni 1863, 366f.
132
Vgl. MH März 1876, 48.
133
Vgl. MH 1. Mai 1859, 301
134
Vgl. MH Juli & August 1877, 464.
135
Vgl. MH 1. Februar 1881, 391.
136
Vgl. MH 1. November 1881, 684.
137
Vgl. Charles F. Harford (Hg.), The Keswick Convention. Its Message, Its Method and Its Men, London: Marshall Brothers 1907, 197-199; Nathaniel Wiseman, Elizabeth Baxter. Saint, Evangelist, Preacher, Teacher, and Expositor, London 1928, 62f., 72, 74.
138
Vgl. MH 1. Januar 1880, 4.
139
Vgl. MH 1.November 1881, 684.
140
Seit dem Deutschland-Besuch des Amerikaners Pearsall Smith organisierte Baron Julius von Gemmingen (18381912) Heiligungsveranstaltungen in Gernsbach (1875) und anderswo. Vgl. Karl Heinz Voigt, Die
Heiligungsbewegung zwischen Methodistischer Kirche und Landeskirchlicher Gemeinschaft. Die „Triumphreise“
48
128
1883 bot die irische Judenmissionsgesellschaft Theodor Christlieb, Grahams langjährigem
Freund, das ganze Anwesen zum Kauf an. Auf der Gnadauer Pfingstkonferenz 1888 erzählte
Christlieb den Hergang:
„Es sind jetzt fünf Jahre her, dass ich mit einigen gleichgesinnten Brüdern, darunter Pastor
v. Schlümbach, ernste und betende Beratungen über die Notwendigkeit einer
Evangelistenschule zum Zweck energischer Evangelisationsarbeit in West- und
Norddeutschland führte. Da kam eine Abordnung der irisch-presbyterianischen
Missionsgesellschaft in Belfast, welche eine Station in Bonn für Judenmission hatte, mit
der Bitte, das ihr angebotene Missionshaus zu übernehmen. Die günstige Lage des Hauses
mit einer 200 Personen fassenden Kapelle, das anstoßende Schulzimmer, das schon seit 25
Jahren Versammlungslokal der wöchentlichen Erbauungsstunden war, fern abliegend vom
Geräusch der Straße, die für eine kleine Familie genügende Inspektorenwohnung, die zehn
Einzelzimmer für ebenso viele Zöglinge, der sehr große, zu einer etwas später notwendig
werdenden Erweiterung der Anstalt den Baugrund gewährende Garten hinter dem Haus,
die Nähe der Universität für zum Besuch der Kollegien berechtigte Jünglinge, endlich der
billige Preis (während allerdings auf gründliche Reparatur und zur Anschaffung des
Mobiliars ca. 20 000 Mark aufgewendet werden mußten) – alle diese Umstände zusammen
ließen in dem Anerbieten einen göttlichen Wink erkennen.“142
Im Juli 1883 wurde es zum Preis von 80.000 Mark verkauft und am 26.10.1883 seiner neuen
Bestimmung feierlich übergeben. Unter dem Namen Johanneum sollte es ganz im Sinne
Grahams nun Zwecken der Evangelischen Allianz, erbaulicher Versammlungen aller Art und der
weiteren Ausbildung von Evangelisten dienen.143 Lange hat Graham den Verkauf des Hauses
nicht überlebt. Im Jahresbericht 1884 wird der Tod von William Graham bekannt gegeben. Er
starb am 13. Dezember 1883 in Belfast.144
William Graham hat vielfältige Brücken von Deutschland nach Nordamerika, Irland, England,
Schottland und den Niederlanden gebildet. Er verband die Allianzbewegung mit der langsam
entstehenden Gemeinschaftsbewegung. Er war ein Bindeglied zwischen Vertretern der
Heiligungsbewegung und Gemeinschaftskreisen. Mit Traktatgesellschaften in aller Welt, die fast
immer überkonfessionellen Charakter hatten, unterhielt er enge Kontakte. Er machte seine
Missionskapelle zu einer evangelistischen Plattform für Laien und Pastoren – und bereitete damit
den Boden für die dort einziehende Evangelistenschule Johanneum. William Graham war ein
hervorragender Vertreter eines überkonfessionellen, internationalen Allianz-Christentums in der
zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts.
2.3 Berlin
Sieben Jahre lang diente Karl Mascher der Baptistengemeinde in Dresden. Dann ging er nach
Berlin, wo er sich bis zu seinem Tod im Jahr 1922 in der Allianz- und der Heiligungsbewegung
engagierte. In Blankenburg erschien Mascher jedes Jahr zwischen 1893 und 1920.145 Karl
Mascher vertrat auf der Blankenburger Konferenz die baptistische Kamerun-Mission, deren
Direktor er war. Gemeinschaftspflege und Evangelisation, Juden- und Heidenmission – das
waren die zentralen Anliegen des Kreises um Karl Mascher in Berlin. Seine Frau, Rachel Fuller
Gooch, die er in den Räumen der Mildmay Mission to the Jews kennen gelernt hatte, war die
von Robert Pearsall Smith im Jahre 1875 und ihre Auswirkungen auf die zwischenkirchlichen Beziehungen,
Wuppertal 1996, 101, 125, 152.
141
Vgl. MH 1. Februar 1881, 392; Juli & August 1882, 905; Juli & August 1883, 168.
142
J. G. Pfleiderer, Gnadauer Pfingstkonferenz 1888. Verhandlungen der Gnadauer Pfingstkonferenz (22.-24. Mai
1888) über das Recht gemeinschaftlicher Privaterbauung, Gemeinschaftspflege, Evangelisation und Laientätigkeit
im Verhältnis zum pastoralen Amt, über Heiligung, Bibel- und Gebetsstunden u.a. Neubearbeitung von Johannes
Dreßler, Berlin 1987, 100.
143
Vgl. Th. Haarbeck, Evangelistenschule Johanneum 1886-1911, Barmen 1911, 16; Wolfgang Eichner,
Evangelische Sozialarbeit im Aufbruch – Aus der Geschichte der Kirchengemeinde in Bonn [Schriftenreihe des
Vereins für Rheinische Kirchengeschichte, 88], Köln 1986, 290.
144
Vgl. MH Juli & August 1884, 145-146.
145
Vgl. 50 Jahre Blankenburger Konferenz. Festschrift herausgegeben im Auftrag und unter Mitarbeit des
Vorstandes der Blankenburger Konferenz von Dr. F. H. Otto Melle, Bad Blankenburg o.J., 145.
49
Tochter des independenten Predigers William Fuller Gooch, für den die Unterstützung der
Judenmission selbstverständlich war.146 Er war Mitglied des Vorstandes der British Society for
the Propagation of Christianity amongst the Jews. Mascher selbst engagierte sich im Vorstand
des Vereins der Freunde Israels in Berlin.147 Ebenfalls in Berlin wirkte Max Isaac Reich (18671945), ein deutscher Jude, der sich ca. 1885 in England bekehrt hatte.148 Er evangelisierte in
Deutschland im Auftrag der britischen Brüdergemeinden eine Woche lang im Sommer 1896 in
Moabit und Charlottenburg.
2.4 John Wilkinson und die Mildmay Mission to the Jews
Seit 1846 war John Wilkinson, der von zu Hause aus vom Methodismus geprägt war, „mit
ganzem Herzen und ganzer Seele den Prinzipien und Zielen“ der Evangelischen Allianz treu. 149
Wilkinson arbeitete 25 Jahre lang für die freikirchlich-überkonfessionelle British Society for the
Propagation of the Gospel amongst the Jews, bevor er am 1. Juni 1876 die Mildmay Mission to
the Jews gründete, die mit den Verantwortlichen der Mildmay Conference Hall
zusammenarbeitete.150 Seit 1868 war er mit Pennefather befreundet. Pennefather unterstützte ihn
finanziell und trug einen Anteil der Kosten des Cottage Home for Aged Christian Israelites. Sie
waren auch Nachbarn. Am 30. September 1890 begannen die in Mildmay stattfindenden
ganztägigen Gebetsversammlungen für Israel, an denen u.a. Reginald Radcliffe und Willliam
Fuller Gooch teilnahmen. Es war der freie Evangelist Radcliffe, der Wilkinson den Vorschlag
machte, diese Versammlungen einzuberufen. Man müsste mehr beten, meinte er, nicht nur für
die Juden, sondern auch für die Kirchen, die noch zu wenig Interesse an Israel hätten.151 Bis
1895 fanden diese Versammlungen in der Mildmay Conference Hall statt. Auch in Keswick war
Wilkinson ein regelmäßiger Gast.152 Er war nicht nur als Redner, sondern auch schriftstellerisch
tätig. Wilkinsons Hauptwerk – Israel meine Herrlichkeit! Oder: Israels Mission und Missionen
für Israel – hat die Deutsche Evangelische Buch- und Tractat-Gesellschaft 1892 veröffentlicht.
In Deutschland waren außer I. P. Werner vom CVJM die Gräfinnen Elisabeth und Lydia von
Groeben und die Gräfin von Hagen mit ihm bekannt und unterstützten seine Arbeit.153
In Mildmay arbeitete Wilhelm Faber aus Melsungen mit Wilkinson zusammen. Als Student in
Leipzig lernte er Professor Franz Delitzsch kennen, dessen „brennende Liebe zu den Juden“ er
bewunderte. Delitzsch’ Standpunkt, es gebe keine höhere Berufung in diesem Leben, als den
Juden das Evangelium zu predigen, prägte zeitlebens seinen Schüler.154
Ab September 1892 war das Missionszentrum Central Hall in Philpot Street der
Veranstaltungsort von judenmissionarischen Versammlungen. Unter anderem predigten dort F.
B. Meyer, W. R. Lane, Dr. Harry Guinness, William Fuller Gooch und Albert Day, die alle auch
Blankenburger Versammlungen besuchten.155 Deutsche Teilnehmer wie z.B. die Pastoren
146
Vgl. Henry Martyn Gooch, William Fuller Gooch, 123, 126-30.
Vgl. Ronald Hentschel, Naphtali Rudnitzky (1869-1940). Leben und Wirken eines Judenmissionars,
Unveröffentliche Abschlussarbeit am Theologischen Seminar des Bundes Evangelisch-Freikirchlicher Gemeinden
in Deutschland, Hamburg 1994, 15.
148
Reich wurde 1905 Direktor des Heilungszentrums Bethshan im Norden Londons. 1906 sprach er auf der
Mildmay-Konferenz. 1915 ging er nach Amerika, um fünfzehn Jahre lang unter Cowboys und Indianern zu
evangelisieren. In den USA wirkte er 1921-1926 und 1935-1945 als Präsident der Hebrew Christian Alliance of
America. Diese Allianz arbeitete mit dem Moody Bible Institute zusammen und finanzierte dort einen Lehrstuhl für
Judaistik. Der Nachlass von Max Isaac Tugendreich liegt heute im Archiv des Wheaton College, Illinois.
149
Vgl. Evangelical Christendom, März-April 1907, 41.
150
Vgl. den Nachruf Wilkinsons auf Pennefather: Robert Braithwaite, The Life and Letters of Rev. William Pennefather, 517f.
151
Vgl. Trusting and Toiling on Israel’s Behalf 10 vom 15.10.1898, 148-50.
152
Vgl. Trusting and Toiling on Israel’s Behalf vom 15. Juli 1898, 99.
153
Samuel Hinds Wilkinson, The Life of John Wilkinson, the Jewish Missionary, 326, 334.
154
Vgl. W. Faber, How I became a Missionary to the Jews, in: Trusting and Toiling on Israel’s Behalf. Organ of the
Mildmay Mission to the Jews 12 vom 15.12.1896, 185; Vgl. auch Siegfried Wagner, Franz Delitzsch. Leben und
Werk, München 1978, 155, 158.
155
Albert Day wurde zeitweilig Missionar in Südafrika, W. R. Lane war freier Evangelist.
Vgl. Samuel Hinds Wilkinson, The Life of John Wilkinson, the Jewish Missionary, 266, 267.
50
147
Gurland156 und R. Bieling (Berlin) fehlten selten. Viele Judenchristen legten dort Zeugnis ab und
predigten wie z.B. die ehemaligen Rabbiner Joseph Rabinowitz (1837-1899) und Ignatz
Lichtenstein (1824-1909), David Baron (1857-1926) und Carl Schönberger, Louis Meyer und
Hermann Warszawiak, John Goldstein und Max Reich. Das Vorbild ihres missionarischen
Einsatzes sowie der Einfluss ihrer schriftstellerischen Tätigkeit haben in der
Heiligungsbewegung einen wichtigen Platz.
Ermutigt durch Charles Haddon Spurgeon brachte John Wilkinson viele Judenchristen – darunter
John Goldstein, Henry Goodmann, Solomon Ginsburg157, David Baron und Henry Barnett – in
der Missionary Training School (Harley House) in Bow unter. Wilkinson hielt in dem von
Grattan Guinness gegründeten Missionsinstitut viele Vorlesungen und Seminare über Gottes
Heilsplan für Israel. Andere potenzielle Missionare wurden an das Bible Training Institute in
Glasgow158 und die Allianz-Bibelschule in Berlin weitergeleitet.159 In den Fußstapfen des Vaters
folgte der Sohn, Samuel Hinds Wilkinson, der seit 1882 im Dienst der Mission stand.160 S.H.
Wilkinson war zehnmal in Blankenburg, 1935 sprach er dort zum letzten Mal. Auf seine
damalige Rede werden wir später zurückkommen.
Um die Person des russischen Judenchristen Joseph Rabinowitz (1837-1899) kam es zu einer
engen Zusammenarbeit zwischen Kreisen in Deutschland und Großbritannien.161 Überall in
Europa gab es ein sehr großes Interesse an der messianischen Bewegung in Kishinev.
Rabinowitz wurde am 24. März 1885 in einem interkonfessionellen Gottesdienst in der
Bethlehemkirche in Berlin von dem Amerikaner C. A. Mead (Andover) in Anwesenheit des
Ortspfarrers Johannes Knak (1842-1899) getauft.
2.5 Die Pfingst-Konferenz in Wandsbek
Von Keswick aus wurden viele Missionare ausgesandt. Auch der naturalisierte Brite Dirk
Hermanis Dolman wurde vom Keswicker Mission Council finanziell unterstützt.162 Nach seinem
Studium in England wurde Dolman Hilfsgeistlicher an der Christ Church in Dover, Kent, bevor
die Londoner Gesellschaft zur Beförderung des Christentums unter den Juden ihn 1896 zum
Missionar in Norddeutschland ernannte.163 In der Bärenallee in Wandsbek hatte die Gesellschaft
1884 ein Missionshaus gebaut, in dem regelmäßig Gemeinschaftsstunden,
Jugendbundversammlungen, Konferenzen und Evangelisationsversammlungen stattfanden.164 In
Hamburg-Wandsbek eröffnete Dolman auf Initiative der Judenmissionsgesellschaft der Church
of Ireland ein Wohnheim für Juden aus aller Welt wieder, die sich für das Christentum
interessierten.165 Ab 1902 erschien Israels Hoffnung, eine eigene Zeitschrift , die in
landeskirchlichen Kreisen viel Interesse für die Judenmission weckte.166 1906 wurde sie an
156
Vgl. In zwei Welten. Rudolf Hermann Gurland. Ein Lebensbild, Dresden 1911. Gurland arbeitete zeitweilig
zusammen mit der freikirchlichen British Jews Society sowie für die Mildmay Mission to the Jews. Gurland ließ
viele Tausende hebräische Neue Testamente unter Juden in Wilna und Minsk verteilen. Vgl. Samuel Hinds Wilkinson, The Life of John Wilkinson, the Jewish Missionary, 236f.
157
Geboren in Suwalki, Polen, hat Ginsburg Schulen in Königsberg besucht. Ab 1882 war er in London, wo er
durch die Arbeit der Mildmay Mission to the Jews Christ wurde. Vgl. Solomon L. Ginsburg, A Wandering Jew in
Brazil. An Autobiography of Solomon L. Ginsburg, Nashville, Tenn. 1921.
158
Diese Bibelschule war ein Arbeitszweig der Glasgow United Evangelistic Association und war ein Produkt der
Keswicker Heiligungsbewegung. Vgl. Edward Royle, Evangelicals and Education, in: John Wolffe (Hg.), Evangelical Faith and Public Zeal. Evangelicals and Society in Britain 1780-1980, London 1995, 132.
159
Vgl. Samuel Hinds Wilkinson, The Life of John Wilkinson, the Jewish Missionary, 190.
160
Zwei Blankenburger Konferenzredner, William Fuller Gooch und Dr John Gritton, haben bei Wilkinsons
Ordinationsfeier mitgewirkt.
161
Vgl. Kai Kjær-Hansen, Joseph Rabinowitz and the Messianic Movement, Edinburg/Michigan 1995.
162
Vgl. A. E. Thompson, A Century of Jewish Missions, 137, sowie Walter B. Sloan, These Sixty Years, 64.
163
Vgl. Jewish Missionary Intelligence, March 1896, 37; Vgl. W. T. Gidney, The History of the London Society for
Promoting Christianity amongst the Jews from 1809 to 1908, London 1908, 599.
164
Vgl. Christian Dietrich und Ferdinand Brockes, Die Privat-Erbauungsgemeinschaften innerhalb der
evangelischen Kirchen Deutschlands, Stuttgart 1903, 67.
165
Bis 1907 wurden 699 Juden in das Heim aufgenommen. Es fanden 72 Taufen statt.
166
Vgl. Christian Dietrich und Ferdinand Brockes, Die Privat-Erbauungsgemeinschaften innerhalb der
evangelischen Kirchen Deutschlands, Stuttgart 1903, 67f.
51
31.000 Leser kostenlos verschickt.167 Auf einer Versammlung 1908 in Keswick sagte Dolman, es
gebe „eine offene Tür“ zu jüdischen Herzen in Europa, das sei ein klares Zeichen, dass der Herr
seine Wiederkunft vorbereite.168 Er hob immer wieder den Zusammenhang zwischen Israel, dem
Heil der Welt und dem Kommen des Gottesreiches hervor. „Schaut auf die Juden! Hört ihr das
Herannahen des Meisters?“, sagte er 1925 in Keswick. „Der Herr Jesus kommt bald.“169 Durch
den Mildmay-Judenmissionar John Wilkinson (1824- 1907) war Dolman die heilsgeschichtliche
Bedeutung der Judenmission klar geworden, Wilkinsons kindlicher Glaube blieb Dolman
lebenslang eine Inspiration für seine eigene Arbeit in Wandsbek.170
Dolman war bei der Entwicklung der norddeutschen Gemeinschaftsbewegung um die
Jahrhundertwende von großer Bedeutung. In Wandsbek warb er für die Keswick-Lehre, in
Keswick machte er auf die Situation in Deutschland aufmerksam. Er hielt Ansprachen auf
Heiligungskonferenzen in Blankenburg, Wiesbaden, Mülheim an der Ruhr und Tersteegensruh
sowie auf der 1900 von ihm selbst initiierten Wandsbeker Konferenz.171 Nach der Konferenz gab
es gewöhnlich eine Woche mit Bibellesungen und evangelistischen Versammlungen. In der
Missionskapelle wurden jeden Sonntag anglikanische Gottesdienste auf Deutsch gefeiert.
Zentrale Themen seiner schriftstellerischen Tätigkeit und Verkündigung waren die Stiftshütte
und der Heilige Geist.
Der Anglikaner Francis Scott Webster, Pfarrer an derLondoner All Souls Church in Langham
Place zwischen 1898 und 1920, vertrat zusammen mit William B. Sloan die Keswick-Konferenz
im Ausland, so z.B. auch in China und Deutschland.172 1901 sprach er an drei Abenden in
Wandsbek und konnte dort auch 1905 Impulse aus der walisischen Erweckung weitergeben. Die
Versammlungen seien „reich gesegnet“ worden. Der Heilige Geist habe Menschen ergriffen, es
sei zu einer Erweckung (revival outbreak) gekommen, sodass der Heilige Geist frei wirken
konnte.173 Die Morgenversammlungen in Wandsbek dauerten drei bis vier Stunden. Die Fenster
des Gebäudes blieben die ganze Zeit offen, da viele Menschen keinen Platz mehr fanden. 1910
gab Webster in Keswick einen höchst ermutigenden Bericht über die zu Ende gegangene
Konferenz in Wandsbek, die als wichtiges Bindeglied für die Verbreitung der Keswick-Lehre
betrachtet wurde.174
2.6 Die Jerusalemkirche in Hamburg
Die vom irischen Judenmissionar James Craig gegründete Jerusalemkirche in Hamburg spielte
eine außerordentlich wichtige Rolle in der Gemeinschaftsbewegung in Hamburg und SchleswigHolstein.175 Dort predigten Männer wie Hudson Taylor176, Rabbi Lichtenstein, Professor Selig
Paulus Cassel177, F. B. Meyer, der Gründer der EC-Jugendbünde Francis Edward Clark,
Inspektor Carl Heinrich Rappard aus St. Chrischona und Professor Ströter. Ernst Modersohn
evangelisiert dort dreimal.178 Die Einladung an Hudson Taylor und Meyer kam vom Präsidenten
167
Vgl. Nora C. Usher, Among the Jews of Hamburg, in: The Christian vom 4.10.1906, 16.
Walter B. Sloan, These Sixty Years, 64.
169
The Christian vom 6.8.1925, 6.
170
Vgl. Samuel Hinds Wilkinson, The Life of John Wilkinson, the Jewish Missionary, 335.
171
Vgl. Jörg Ohlemacher, Das Reich Gottes in Deutschland bauen, 275, 279.
172
Francis Scott Webster (1859-1920) war Mitglied des Exekutiv-Rats der britischen Evangelischen Allianz. Mit
der Hebrew Christian Prayer Union arbeitete er anlässlich des Vierten Zionistenkongresses zusammen. Vgl. The
Christian vom 9.8.1900, 24f.
173
„For half an hour the morning meeting was out of the hands of the platform, but not out of the control of God.
People were sobbing, praying, and confessing”, The Christian vom 2.8.1906, 21.
174
Vgl. The Christian vom 28. Juli 1910, 21. Zu Ainley: Walter B. Sloan, These Sixty Years, 50, 57, 69, 76, 82, 92.
175
Vgl. Nicholas M. Railton, Der irische Judenmissionar James Craig und die Erweckungsbewegung in
Norddeutschland, in: PuN 30 (2004), 140-154; Helmut Weber, Fünfzig Jahre Diakonissenanstalt Jerusalem 19131963, Hamburg 1963, 52; Christian Dietrich und Ferdinand Brockes, Die Privat-Erbauungsgemeinschaften, 172.
176
Vgl. Arnold Frank, What about the Jews?, 26-27, 75, 88.
177
Selig Paulus Cassel arbeitete ab 1864 für die Londoner Judenmissionsgesellschaft in Berlin. Vgl. Arnold Frank,
What about the Jews?, 31. Zu Cassel vgl. A. Bernstein, Jewish Witnesses for Christ, 157-166.
178
Vgl. Arnold Frank, What about the Jews?, 75, 88; Helmut Weber, Fünfzig Jahre Diakonissenanstalt Jerusalem
1913-1963, 19.
52
168
des CVJM in Hamburg, Emil Köhn, der Mitglied in der Hamburger Abteilung der Evangelischen
Allianz war und dessen Frau in England erzogen worden war.179 Im Saal des CVJM am
Pferdemarkt fand all zwei Jahre eine große Gemeinschaftskonferenz – die Hamburger
Osterkonferenz – statt. Auch diese wurde maßgeblich von Köhn organisiert. Gewöhnlich leitete
der Präses des Schleswig-Holsteinischen Gemeinschaftsvereins, Andreas Graf Bernstorff, diese
Konferenz. Die Jerusalemkirche – genauso wie die Missionskapelle in Wandsbek, wo Dolman
predigte – war zwar ein Fremdkörper im lutherischen Hamburg, sie wirkte aber „in durchaus
landeskirchlichem Sinne“, so Dietrich und Brockes.180
Die neue Jerusalemkirche wurde am 7. April 1912 eingeweiht. Das Gebäude erlebte die Blütezeit
der Judenmission. Im Juni 1914 fand die 9. Internationale Judenmissionskonferenz unter dem
Vorsitz von Professor Hermann L. Strack (Berlin) statt. 26 Missionen waren vertreten. Dolman
hielt eine Andacht, drei Missionssekretäre aus London (F. L. Denman, Samuel Hinds Wilkinson
und Isaac Levison) hielten Referate.181 1928 fand die zweite Internationale Tagung der
Judenchristlichen Allianz in der Kirche statt.182 Aus aller Welt kamen 130 Judenchristen
zusammen.
Die in Zusammenhang mit der Jerusalemkirche arbeitenden Schwestern brachten Impulse aus
der Gemeinschaftsbewegung nach Hamburg. 1902 kam Schwester Ebbina Everts aus dem
Gemeinschaftsschwesternhaus Vandsburg in Westpreußen in die Jerusalemkirche, wo sie sich in
der Gemeindepflege und der Judenmission engagierte.183 Im April 1920 wurde als Oberin des
Diakonissenhauses Schwester Albertine von Cölln berufen. Seit 1905 stand sie mit Arnold Frank
in Verbindung, seit 1907 abonnierte sie Zions Freund, ein Blatt, das in deutschen
Gemeinschaftskreisen gern gelesen wurde.184 Sie hatte schon mehrere Monate in England in
einem Pfarrhaus verbracht, um die englische Sprache zu erlernen. Dort, in der britischen
Hauptstadt, „entzündete der Herr ihre Liebe zu Israel“, so Pastor Frank.185 Die Beziehungen
zwischen Hamburg und London rissen nie ab. Es entstanden aber auch rege Kontakte mit dem
Heiligen Land. Zwischen 1923 und 1926 waren drei Schwestern in einer Klinik in Jerusalem
tätig, 1929 gingen zwei Schwestern nach Haifa in die Missionsarbeit des Judenchristen Pastor
Rohold, der im Jahr zuvor auf der Tagung in Hamburg anwesend war.186 Die Zahl der
Schwestern wuchs von 22 (1917) auf 64 (1933). Ihr Einsatz wurde getragen und inspiriert durch
die Judenmission. Aus dem Missionshaus Jerusalem in Hamburg gingen nicht nur Diakonissen,
sondern auch Dutzende Judenchristen als Missionare, Evangelisten und Pastoren in alle Welt
hinaus.187 Zwei Beispiele seien hier genannt. Leon Rosenberg arbeitete für die Mildmay Mission
in Odessa. Seine Schwägerin, Helene Weinmann, auch eine Schülerin von Arnold Frank,
arbeitete für Mildmay unter Frauen in derselben Stadt und später für die Barbican Jewish
Mission (London) in Jugoslawien.
179
Zu Köhn: Christian Dietrich und Ferdinand Brockes, Die Privat-Erbauungsgemeinschaften, 65; Ulrich von
Hasell, Eberhard von Rothkirch und Panthen. Ein Lebensbild nach Briefen und Aufzeichnungen, Berlin 1912, 109;
Wilhelm Nitsch, 75 Jahre Westdeutsche Evangelische Allianz, Witten 1955, 19. Er gründete die Christliche
Gemeinschaft am Pferdemarkt nach einer Evangelisation von Jonathan Paul im Jahr 1896.
180
Christian Dietrich und Ferdinand Brockes, Die Privat-Erbauungsgemeinschaften, 67.
181
Vgl. Harald Jenner, 150 Jahre Jerusalem-Arbeit in Hamburg, Hamburg 2003, 60f.
182
Vgl. Helmut Weber, Fünfzig Jahre Diakonissenanstalt Jerusalem 1913-1963, 35.
183
Vgl. a.a.O., 15 und Harald Jenner, 150 Jahre Jerusalem-Arbeit in Hamburg, 62f.
184
Vgl. Christian Dietrich und Ferdinand Brockes, Die Privat-Erbauungsgemeinschaften, 67.
185
Helmut Weber, Fünfzig Jahre Diakonissenanstalt Jerusalem 1913-1963, 18, 31.
186
Vgl. a.a.O., 35.
187
Vgl. Arnold Frank, Die Hamburger Judenmission in Wort und Bild, Hamburg 1913, 32. Einer seiner
interessantesten Schüler war Ignatius Timothy Tribich Lincoln (1879-1943), der mit der Hamburgerin Margarethe
Kahlor verheiratet war. Nach seiner Ordination als Vikar in der anglikanischen Kirche wurde er 1910 Mitglied des
britischen Parlaments. Ihm wurde aber 1919 seine britische Staatsbürgerschaft entzogen. Er musste nach
Deutschland zurückgehen, wo er im März 1920 am Kapp-Putsch teilnahm. Den Rest seines Lebens verbrachte er in
China und Japan. Dem chinesischen General Yang Sen diente er als politischer Berater, den Japanern half er bei der
Besetzung von Shanghai im Zweiten Weltkrieg. Vgl. Who’s Who of British Members of Parliament. Volume II:
1886-1918, Hassocks 1978, 219.
53
3. Der Entfremdungsprozess
Lange vor dem Ersten Weltkrieg drückten britische Judenmissionare Unverständnis für die
Ablehnung der Judenmission durch deutsche Christen aus. In einem Bericht über den Widerstand
gegen die Arbeit des Pfarrers C. Wagner für den Rheinisch-Westphälischen Verein für Israel in
Hessen bemängelte 1893 ein Vertreter der Barbican Mission to the Jews „den vorherrschenden
antisemitischen Geist“ in Kirchenkreisen.188 Direktor dieser Missionsgesellschaft war Christlieb
Lipshytz. Er arbeitete in der Calwer Heidenmission und als Evangelist für die Rettungsanstalt
Großefehn in Ostfriesland, anschließend (1884) als Evangelist für den Kölner Verein für Israel,
bevor er nach England ging.189
Im amtlichen Organ der Heilsarmee kam 1891 George Scott Railtons Verehrung des jüdischen
Volks zum Ausdruck. Im selben Atemzug kritisierte der Kommandeur der Armee die deutsche
Christenheit: „Ich sehe mehr und mehr, daß die Blindheit, Härte und Weltlichkeit mancher
Christen an dem heutigen Zustand vieler Glieder dieses lieben Volkes schuld sind.“190 Diese
Sicht wurde durchaus von einzelnen erweckten Christen in Deutschland geteilt, so z.B. dem
Agenten des Westdeutschen Vereins für Israel, Pfarrer J. Bonnet. „Mit Verwunderung“, schrieb
er 1877, „nehmen wir wahr, daß auch die kirchlichen Kreise sich gegen die Judenmission fremd,
oftmals fast feindlich verhalten, obgleich sie doch auf der Heilsmittlerschaft Jesu Christi ruht,
auf die sich auch die Kirche gründet. Nur ein kleiner Bruchtheil wirklich lebendiger und gläubig
thätiger Christen bleibt übrig, der der Judenmission in der Reihe der christlichen Reichsarbeiten
eine vollberechtigte Stelle einräumt.“191 Wer aber zwischen der Heiden- und der Judenmission
einen Unterschied mache, der habe die Heilige Schrift nicht für sich. Die schottische Freikirche
sei der Beweis, dass die Judenmission eine Sache der Kirche und nicht bloß von Privatkreisen
sein könne.192 So freute sich England – er meinte wohl Großbritannien – wirklich des
Wohlergehens und des göttlichen Segens, der denen zufließe, die Israel segneten und Jerusalem
liebten. Er fragte seine Pfarrerkollegen: „Will nicht auch die deutsche Kirche dem deutschen
Volk einen großen Segensstrom öffnen?“193
In Großbritannien wurde unter anderem auch Kritik an den Entwicklungen in der deutschen
akademischen Theologie geäußert, der man einen Teil der Schuld an diesem mangelnden
Interesse an der Judenmission und am Antisemitismus gab. Wichtige Vertreter Keswicks und der
Evangelischen Allianz veröffentlichten Schriften gegen die so genannte „neue Theologie“ und
die Angriffe auf die jüdische Bibel.194 In einer Zeit, in der Theologen ihrer Meinung nach „die
Brunnen der Wahrheit“ mit ihren Spekulationen vergifteten, versuchten Judenchristen wie
Adolph Saphir, ehemaliger Judenmissionar in Hamburg, publizistisch dagegen vorzugehen.195
Wie alle Judenchristen in der Heiligungsbewegung vertrat Saphir die Ansicht, dass sich die
Kirchen, indem sie die Mission an Juden aufgäben, immer weiter vom biblischen Standpunkt
entfernten, um schließlich jeglichen Glauben an die Bibel und an deren Botschaft des sich selbst
offenbarenden Gottes Israels aufzugeben.196 Diesen Verfall der Kirche meinte er vor allem in
Deutschland, aber auch in England zu erkennen. Sir Andrew Wingate deutete die theologische
188
The Christian vom 7.12.1893, 16.
Die Barbican Mission to the Jews wurde 1879 in London gegründet. Diese Gesellschaft hat wie die Hebrew
Christian Testimony to Israel (gegr. 1886) nur Judenchristen beschäftigt.
190
G. S. Railton, Gedenktag des Todes des Königs der Juden. Warum ich die Juden liebe, in: Kriegsruf Nr. 12 vom
21.3.1891, 1-2; Vgl. auch G. S. Railton, Das gute, alte Worms, in: Der Kriegsruf Nr. 14 vom 4.4.1891, 3.
191
J. Bonnet, Die Stellung der Judenmission in der Reihe der christlichen Reichsarbeiten, Norden 1877, 5.
192
Vgl. a.a.O., 20.
193
A.a.O., 28.
194
Vgl. The “New Theology”. The Alliance Campaign against it, in: Evangelical Christendom, März-April 1908,
49; Theology in Germany, in: Evangelical Chistendom, Juli-August 1911, 144; The Untruth of German New Testament Criticism, in: Evangelical Christendom, Mai-Juni 1913, 106; W. H. Griffith Thomas, Germany and the Bible,
in: Bibliotheca Sacra 72 (1915) No. 285 (Januar), 49-66.
195
So James E. Mathieson in einem Vorwort zu einem Sammelband von Saphirs Vorträgen. Adolph Saphir, Christ
and Israel. Lectures on the Jews, London 1911, vi. Mathieson war eine zentrale Figur im judenmissionarischen
Netzwerk in London. Er war im Vorstand der Hebrew Christian Testimony to Israel.
196
So z.B. David Baron, Direktor der Glaubensmission Hebrew Christian Testimony to Israel, in seiner Einführung
zu Adolph Saphir, Christ and Israel. Lectures on the Jews, London 1911, xi-xii, 88.
54
189
Kritik an der jüdischen Bibel eschatologisch. Er sah die Abkehr der organisierten
Heidenchristenheit von der Bibel im Zusammenhang mit der Bekehrung der Juden zu ihrem
Messias. Allein die Juden könnten einer sterbenden Christenheit neues Leben einhauchen und sie
an ihre jüdischen Wurzeln erinnern. Den Weltkrieg würde Gott der Herr der Geschichte
benutzen, um den Juden den Weg zurück ins Heilige Land zu ebnen, und diese geschichtliche
Entwicklung würde die Wahrheit der alttestamentlichen Schriften unter Beweis stellen.197
Von England lernen, so dachte man in England, hieße siegreiches Missionieren lernen. In
Deutschland begann sich allerdings Widerstand zu regen. In der vom Evangelisch-lutherischen
Zentralverein für Mission unter Israel herausgegebenen Zeitschrift Friede über Israel zitiert Otto
von Harling einen Bericht, der zuerst am 31. Januar 1915 in Auf der Warte erschien:198
„Wundern muß es uns, daß sich unter diesen Umständen – nämlich bei der Verunglimpfung
Deutschlands von seiten christlicher Kreise in England – die Keswick-Konferenz nicht aus
Deutschland zurückzieht und noch hier mit deutschen [sic!] Gelde Judenmission treibt. Pastor
Dolman (Wandsbek) ist der Angestellte der Keswick-Konferenz. Die Kontrolle über alle
Liebesgaben für das Missionshaus Bethel (in Wandsbek) übt allein die englische Gesellschaft
aus. Den deutschen Freunden des Werkes ist unsers Wissens noch nie eine Abrechnung über den
finanziellen Stand des Werkes wie über die Verwendung der jedes Jahr in hoher Summe
einlaufenden Gelder vorgelegt worden, wie es sich von jeder Arbeit ziemt, die von der
öffentlichen Mildtätigkeit lebt.“ Glücklicherweise würden endlich Proteste in
Gemeinschaftskreisen gegen solche Missstände laut. Man dürfe hoffen, dass Gottes Kinder
„nicht mehr wie bisher mit blindem Vertrauen einer Mission folgen werden, der – wie ihr Blatt
Israels Hoffnung zeigt – weniger die Bekehrung der Juden als die Beeinflußung unserer
Gemeinschaften durch englischen Geist am Herzen liegt.“
Friede über Israel wurde 1903 als Massenblatt konzipiert, das eine innerkirchliche
Breitenwirkung haben sollte. 1906 wurden 100.000 Exemplare verschickt.199 Ab 1914 begann
man sich immer mehr vom englischen Mutterboden der modernen Judenmission abzuschotten.
Gleichzeitig wurde das lutherische Angebot für missionarisch gesinnte Christen erweitert. Seit
Februar 1914 bestand in Hamburg ein Konkurrenzunternehmen, nämlich der Verein für
evangelisch-lutherische Judenmission.200
Sehr zwiespältig wirkt dieser Bericht, wenn man bedenkt, dass Dolman während des Krieges in
Mecklenburg interniert war und für seine eigene Versorgung im Lager aufkommen musste.201
Sein eigener Sohn Willi fiel später für Deutschland.202 Ähnlich berichteten christliche Blätter
über das Missionshaus Jerusalem in Hamburg. Arnold Frank erlebte die „außerordentlich
feindselige Haltung auch unter Christen“ hautnah. Für nicht wenige sei der deutsche Kampf
gegen England eine gerechte, heilige Sache.203 Im Februar 1917 schrieb er nach Belfast:
„[E]inige ‚christliche‘ [Anführungszeichen im Original] Publizisten haben ihre Leser informiert,
dass ich Engländer, dass unsere Mission englisch sei und deswegen nicht von deutschen Christen
unterstützt werden sollten.“ Er war aber dafür dankbar, dass es immer noch Einzelne gebe, die in
der Lage seien, zwischen dem Reich Gottes und den Reichen dieser Welt zu unterscheiden.204
Es gibt weitere Belege für die kriegsbedingte Entfremdung zwischen judenmissionarischen
Kreisen in England und Deutschland. Otto von Harling kritisierte zwei Jahre später einen Bericht
197
Vgl. Andrew Wingate, Modern Unrest and the Bible, in: Evangelical Christendom, Juli-August 1912, 132; Andrew Wingate, Palestine and the Future, in: Evangelical Christendom, Oktober-November 1918, 112-113; Andrew
Wingate, The Significance of Jewish National Aspirations, in: Evangelical Christendom, März-April 1921, 51-52.
198
Friede über Israel, Nr. 2, Mai 1916, 16.
199
Thomas Küttler, Umstrittene Judenmission. Der Leipziger Zentralverein für Mission unter Israel von Franz
Delitzsch bis Otto von Harling, Leipzig 2009, 61.
200
Friede über Israel, Nr. 2, Mai 1914, 6-7; Nr. 1, April 1915, 15; Nr. 1, Februar 1916, 7f.
201
Brief vom 29. April 1919, in: Archive of the Church’s Mission to the Jews (Bodleian Library, Oxford), Dep.
CMJ d.69/1-9 Staff Files 1885-1895. Der Krieg hat so die finanzielle Grundlage der Wandsbeker Judenmission
zerstört und Dolmans Familie in große Not gebracht.
202
Todesanzeige, Israels Hoffnung, Mai 1917, 60.
203
Arnold Frank, Jewish Mission. Hamburg, in: The Missionary Herald of the Prebyterian Church in Ireland, 1.
Dezember 1914, 301.
204
In: Jewish Mission, The Missionary Herald of the Prebyterian Church in Ireland, 1. Februar 1917, 40.
55
in Trusting and Toiling, der Zeitschrift der Mildmay Mission to the Jews. Es handelte sich um
den neuerlichen Besuch von Samuel Hinds Wilkinson bei russischen Juden, auf deren Schicksal
dieser immer wieder und seit vielen Jahren hingewiesen hatte. Seit der Mitte des 19.
Jahrhunderts zeigten britische Evangelikale nicht nur großes Interesse an der sozialwirtschaftlichen Situation von Juden in Europa, sie engagierten sich auch für ein Ende deren
rechtlicher Diskriminierung.205 Das wurde von Vertretern der jüdischen Gemeinde in
Großbritannien dankbar zur Kenntnis genommen.206 1882 drückte der Exekutivrat der Allianz
„sein Entsetzen und seine Entrüstung“ über die Pogrome in Russland aus und merkte gleichzeitig
an, dass die Unterdrückung und Verfolgung von Juden unweigerlich den Zorn Gottes erregen
würde. Gerade Christen sollten sich ihres besonderen Verhältnisses zum jüdischen Volk bewusst
sein.207 Die publizistische Arbeit von Wilkinson in diesem Sinne war alles andere als
opportunistisch. Von Harling kannte den Charakter der Pogrome, seine Zeitschrift berichtete
selbst schon 1905 über die furchtbare Verfolgung und Tötung von Juden im Zarenreich. Damals
nutzte er sein Presseorgan, um den geistlichen Zustand seiner eigenen Landsleute zu kritisieren:
„Der Herausgeber hat Zeugnisse dafür in Händen, dass Diener und Bekenner des Evangeliums
der Judenmission ihre Freundschaft gekündigt haben, weil sie für die Opfer der Judenmetzelei
bat. Unterstützen wir denn die Revolution, wenn wir uns der Hungernden und Obdachlosen
erbarmen? Oder hört etwa vor Juden die christliche Nächstenliebe und Barmherzigkeit auf?“208
Die Bereitschaft, konkret und praktisch zu helfen, war anscheinend sogar in deutschen
Gemeinschaftskreisen nicht gerade stark ausgeprägt. Wilkinson wollte helfen, aber er habe, so
von Harling, sicherlich aus Rücksicht auf das verbündete Russland die Verhältnisse in möglichst
wenig grellen Farben geschildert. Belege liefert er nicht für seinen Vorwurf, die
judenmissionarische Berichterstattung richtete sich nach den politischen Begebenheiten. Der
Lutheraner konnte aber mitten im Ersten Weltkrieg durchaus ausmalen, was im tiefsten Osten
mit Juden passieren könnte: „[W]as mag diesen unglücklichen Juden, die ins Innere Rußlands
verschleppt sind, noch an Gräueln bevorstehen [...].“209 Aus politischen Gründen verschwiegen
britische Christen das Ausmaß des Judenmords, das wollte von Harling zumindest suggerieren.
Ironischerweise war es derselbe Samuel Wilkinson, der die Teilnehmer der Blankenburger
Konferenz daran erinnern musste, dass sie unter den Bedingungen des Dritten Reichs ihre
besondere Verantwortung für das jüdische Volk wahrnehmen sollten. Im Jahr der
Machtergreifung Hitlers schärfte er ihnen ihre Pflicht ein, den Juden gegenüber eine liebevolle
christusähnliche Einstellung zu bewahren.210 1934 betonte er, dass die Judenmission ein
Glaubenswerk sei und dass der Befehl Jesu allen Kindern Gottes gelte.211 Das Allianzblatt
druckte Teile seiner Rede ab: „Die Aufgabe ist, das Evangelium zu verkündigen, wie Paulus
sagt, als Gotteskraft – vornehmlich für die Juden [gesperrt im Original]. Wir müssen nach
Gottes Ordnung handeln. Israel liegt noch schwer auf Gottes Herz. Aber Gott vergißt sein Volk
nicht. ‘Kann auch ein Weib ihres Kindlein vergessen?’ – – [sic!] Wir haben Israel vergessen.
Man hört in unseren Gebeten nichts von Israel. Laßt uns das Volk Israel um Gottes [gesperrt im
Original] willen lieben. Es ist der Probierstein der Treue und Liebe zu unserem Gott und
Heiland.“212
Die Konferenzteilnehmer mussten diese Botschaft verstanden haben. Tatsächlich war die
Judenmission als besonderer Gegenstand des Gebets aus dem Gebetsprogramm für die zweite
Woche im Januar 1934 weggefallen. Für Heiden, Muslime und Juden wurde – anders als bisher –
an einem einzigen Abend gebetet. Das hatte der Vorstand des Deutschen Zweigs der
205
Todd Thompson, The Evangelical Alliance, Religious Liberty, and the Evangelical Conscience in NineteenthCentury Britain, in: Journal of Religious History 33 (2009), no. 1 (März), 49-65.
206
A. J. Arnold, Jubilee of the Evangelical Alliance, 56.
207
Ian Randall and David Hilborn, One Body in Christ. The History and Significance of the Evangelical Alliance,
Carlisle 2001, 99f.
208
Zitiert nach: Thomas Küttler, Umstrittene Judenmission, 103.
209
Friede über Israel, Nr. 3-4, Oktober 1916, 11-13.
210
Trusting and Toiling on Israel’s Behalf, 15.8.1933, 100; 15.11.1933, 133.
211
Trusting and Toiling on Israel’s Behalf, 15.8.1934, 98; 15.12.1934, 138; Erich Beyreuther, Der Weg der
Evangelischen Allianz in Deutschland, Wuppertal 1969, 109.
212
Evangelisches Allianzblatt 15./30.9.1934, 283f.
56
Evangelischen Allianz beschlossen. Der besonderen Lage des deutschen Volkes und Vaterlandes
wurde so, wie der Vorstand mitteilte, gebührend Rechnung getragen.213 In einer Fußnote wies
man darauf hin, dass es der Hauptvorstand der britischen Allianz war, der diese Änderung
vorgeschlagen hatte. Der Vorstand wollte Rückfragen von besorgten Christen vermeiden. Der
Gnadauer Präses Walter Michaelis antwortete am 1. August 1933 auf einen Brief von Prediger
Gustav Nagel214: „Das ist für uns Verantwortliche natürlich angenehm, die Verantwortung dafür
[d.h. für die Verlegung der Fürbitte für die Juden] auf die Engländer schieben [zu] können, damit
wir [Unterstreichung im Original] nicht als solche erscheinen, die da weichen.“ Am 21.
September 1933 lautete dieses Manöver so: „[F]ür uns ist wichtig, darauf hinzuweisen, dass der
eher philosemitische Weltvorstand [Unterstreichung im Original] diese Neuerung beschlossen
hat.“215
Als Samuel Wilkinson 1935 aus Bad Blankenburg nach London zurückfuhr, berichtete er, dass
er in Thüringen „vom göttlichen Standpunkt her“ die Sache Israels verfochten habe. „Meine
Aufgabe, obwohl ich am Anfang manch Widriges zu überwinden hatte, wurde anscheinend
gesegnet und erhielt Resonanz“.216 Das war sicherlich zum Teil Wunschdenken.
Die Arbeit des Anglikaners Dolman sowie der Mildmay-Missionare in Berlin ging nicht ein, sie
blühte im Gegenteil auf – bis in das Dritte Reich hinein, als andere evangelische Christen
versuchten, sein Werk zu torpedieren. Die Wandsbeker Konferenz wurde während der Weimarer
Republik von einer großen Anzahl von Menschen besucht, obwohl der Zusammenhang mit der
Londoner Judenmission bekannt war. 1931 beschwerte sich Dolman, dass „sogar in christlichen
Kreisen“ der Antisemitismus stark anwachse. Im folgenden Jahr (1932) kritisierte er die
Feindschaft, die ein von ihm getaufter Judenchrist unter christlichen Studenten erlebt hatte. „Es
ist leider die Wahrheit, dass es diejenigen gibt, die den Namen Jesu bekennen und behaupten, sie
würden ihm – der Zierde der jüdischen Rasse – dienen, die aber doch seinen jüdischen
Geschwistern feindlich gesinnt sind, auch wenn diese Christen sind.“217 Er verzweifelte an dem
geistlichen Zustand seiner deutschen Mitchristen. Friedrich Heitmüllers Veröffentlichung seiner
Sieben Reden eines Christen und Nationalsozialisten haben da seine Zweifel sicherlich nicht
zerstreut.218
In der Tat war die antisemitische Grundstimmung in Preußen schon längst maßgebend.
Gleichzeitig verschloss man sich fremden Missionseinflüssen. Kirchliche Bürokraten hatten die
Zeichen der Zeit erkannt, am 12. März 1930 strich die preußische Generalsynode die Kollekte
für die Judenmission. Daraufhin erging am 5. Dezember 1932 ein Unterstützungsgesuch an den
Oberkirchenrat in Berlin. Mit dem Aufhören der landeskirchlichen Missionsarbeit würde, so
argumentierte der Direktor der Berliner Judenmissionsgesellschaft, kein erfreulicher Zustand
eintreten. Allerdings würde die Mission an den Juden auch nach dem eigenen Ausscheiden in
Deutschland weitergetan werden; sie würde nur in andere Hände übergehen:
„Ausländische Missionsgesellschaften, obenan englische, stehen schon jetzt wartend vor der Tür,
um im gegebenen Augenblick das freigewordene Arbeitsfeld zu besetzen. Unsere Landeskirche
213
Evangelisches Allianzblatt, 17.12.1933, 807, 810; Friedrich Heitmüller, Aus vierzig Jahren Dienst am
Evangelium, Witten o.J., 129. Zwischen 1935 und 1938 wurde wieder an einem besonderen Abend Fürbitte für
Israel getan, sie fiel aber 1939 endgültig weg. Auch diesmal verwiesen die Blankenburger auf den Hauptvorstand
der Allianz in London und fügten hinzu: „Nur einige Anmerkungen, besonders in der Mi s sio n [sic!], wollen in
etwa die deutsche Lage berücksichtigen“, in: Evangelisches Allianzblatt, 30.12.1937, 347.
214
Zu Nagel: Wilhelm Wöhrle (Witten), Gustav Nagel (1868-1944), ein Vorkämpfer der Evangelischen Allianz, in:
Evangelisches Allianzblatt, Nr. 3, März 1968, 48-50.
215
In Kopien von Briefen von Walter Michaelis vom 1. August 1933 an Gustav Nagel und vom 31. Juli 1937 an
Otto Dreibholz (im Besitz des Autors). Michael Diener zitiert aus dem zweiten Brief, Kurshalten in stürmischer
Zeit. Walter Michaelis (1866-1953) – Ein Leben für Kirche und Gemeinschaftsbewegung, Gießen-Basel 1998, 513f.
216
Trusting and Toiling on Israel’s Behalf, 15.8.1935, 97; 16.12.1935, 138f.
217
Bread Cast Upon the Waters. Being the 125th Missionary Report of the London Society for Promoting Christianity among the Jews 1932-1933, 32-34. Denselben Eindruck gewann 1913 Dolmans Reiseprediger D. A. Löwy:
„Leider kann ich aus Erfahrung bezeugen, daß es viele wahre Kinder Gottes gibt, die nicht nur das Volk Israel nicht
lieb haben, sondern es hassen“, D. A. Löwy, Er liebt unser Volk. Nach einem Konferenzvortrag, in: Israels
Hoffnung, Januar 1913, 4-5.
218
In seinen Lebenserinnerungen wird der Titel dieses Werkes entweder nicht genannt oder verkürzt als Sieben
Reden wiedergegeben, Friedrich Heitmüller, Aus vierzig Jahren Dienst am Evangelium, Witten 1950, 138, 237.
57
würde alsdann in ihrer Mitte Hauptquartiere des Methodismus, Baptismus und des englischen
Episkopalismus erstehen sehen, deren auflösendes Wirken auf den inneren Zusammenhalt
unserer landeskirchlichen Gemeinden recht bald schmerzlich fühlbar werden müßte“.219
Die ausländische Judenmission wurde also, wie die inländischen Juden selbst, als eine Gefahr
gesehen und behandelt.
Anti-britische Töne waren auch auf der Konferenz der deutschen und Schweizer
Judenmissionsgesellschaften zu hören, die am 21. Oktober 1932 in Wittenberg stattfand. Die
Missionsgesellschaften in Köln, Berlin, Leipzig und Basel baten die Kirchenregierungen, die
Judenmission allen Angriffen zum Trotz durch ihre Billigung und Unterstützung als eine
kirchliche Aufgabe zu legitimieren. Denn in demselben Maße, wie die Kirche diese ihre Aufgabe
vernachlässige, entstünden Missionsunternehmungen privater und sektiererischer Art, die
vielfach in Proselytenmacherei und in einen „Betrieb“ ausarteten, der für Christen wie für Juden
gleich abstoßend sei. Außerdem wartete die Judenmission englischer Zunge [unterstrichen im
Original] (England und Nordamerika) nur darauf, Mitteleuropa mit ihren Sendboten ausgiebig zu
besetzen, welche ihrerseits in Deutschland unvermeidlich Stützpunkte des Methodismus,
Baptismus, usw. werden würden. Derartiges könne und müsse aus deutscher Sicht vermieden
werden.220 Die größte britische judenmissionarische Gesellschaft, die so genannte Londoner, die
mit der reformierten Staatskirche in England assoziiert und nicht zuletzt die Muttergesellschaft
der Berliner war, wurde dabei von Professor Alfred Jeremias nicht erwähnt. Solch allzu
menschliches Taktieren zu Ungunsten britischer Missionen ist ein beredtes Zeugnis für einen
Entfremdungsprozess, der schon vor dem Ersten Weltkrieg begann und dann in der NS-Diktatur
beschleunigt wurde.
4. Zusammenfassung
Die christlichen britisch-deutschen Beziehungen wurden seit dem Ende des 19. Jahrhunderts vor
allem durch große interkonfessionelle Konferenzen und Organisationen wie z.B. den CVJM
geknüpft. Hier konnten vielfältige Impulse aus Irland und Großbritannien weitergegeben werden.
Das judenmissionarische Netzwerk verband Gemeinschaftskreise im Vereinigten Königreich mit
ähnlich orientierten Gruppen in Deutschland. In Bonn und Hamburg entstanden sogar neue
Gemeinden, die direkt mit der irischen Judenmission in Verbindung standen und zu Zentren der
Gemeinschaftsbewegung im Norden und Westen Deutschlands wurden. Als wichtiger Bereich
der gesamten Gemeinschaftsbewegung trug die Judenmission vielfältige Früchte. Je mehr aber
deutsche kirchliche Vertreter mit der Zeit versuchten, fremde religiöse Einflüsse auf das eigene
Volk abzuwehren und die eigene Kirche rein zu halten, wertete man andersartige Kirchengebilde
ab. Die Kräfte, die seit Jahrzehnten gegen die „Engländerei“ polemisiert hatten, beherrschten am
Ende der Weimarer Republik das Feld. Die Sprache des Krieges charakterisierte deren
Einstellung zu freikirchlichen Bestrebungen im eigenen Machtbereich.
Die Lehren über die Wiederkunft Christi und die endgültige Erlösung Israels waren Bestandteile
des Mutterbodens der Heiligungsbewegung. Das war nicht zufällig, wie Johannes Wallmann
hervorgehoben hat. „Es gibt keinen Pietismus“, schreibt Wallmann, „für den die Hoffnung auf
die Rettung Israels keine Rolle spielt […].“221 Das gilt auch für den Neupietismus. Auf den
Konferenzen in Mildmay, Keswick und Bad Blankenburg wurde ganz auf der Linie dieser
eschatologischen Erkenntnisse gelehrt und gepredigt. Sehr viele Vertreter der britischen
Heiligungsbewegung waren Prämillenniaristen. Sie glaubten, dass die Zeit der Heiden und der
219
Evangelisches Zentralarchiv Berlin. Best. 7, Nr. 3648: Akten betreffend: die Gesellschaft zur Beförderung des
Christentums unter den Juden vom Januar 1930 bis August 1963. Unterstützungsgesuch an den Oberkirchenrat,
Berlin, vom 5. Dezember 1932.
220
Evangelisches Zentralarchiv Berlin, Best. 7, Nr. 3648: Akten betreffend: die Gesellschaft zur Beförderung des
Christentums unter den Juden vom Januar 1930 bis August 1963. Brief an den Evangelischen Oberkirchenrat,
Berlin-Charlottenburg, 9. Februar 1933. Der Brief ist von Professor Dr. Alfred Jeremias, dem Vorsitzenden des
Evangelisch-lutherischen Zentralvereins für Mission unter Israel unterzeichnet. Siehe auch Bestand C3 / 170 / 2
(Februar 1933 bis Dezember 1933), Bl. 3.
221
Johannes Wallmann, Der alte und der neue Bund. Zur Haltung des Pietismus gegenüber den Juden, in: Ders.,
Pietismus-Studien. Gesammelte Aufsätze II, Tübingen 2008, 259.
58
heidenchristlich geprägten Kirchen bald zu Ende gehen würden, so dass Israel dann wieder im
Mittelpunkt der Weltpolitik stünde. Für diese Männer und Frauen war das Engagement für die
Judenmission Glaubenssache. Gleichzeitig begaben sich nicht wenige britische Evangelikale –
im Gegensatz zu ihren deutschen Geschwistern – auf das politische Feld, um sich für die
rechtliche Gleichstellung und -behandlung von Juden im In- und Ausland zu engagieren.
Die Zusammenarbeit in der internationalen Heiligungsbewegung wurde Anfang des 20.
Jahrhunderts durch die Einwirkung der Politik und vor allem des Ersten Weltkrieges erheblich
gestört. Auch wenn von britischer Seite versucht wurde, auf deutsche Allianzkreise einzuwirken,
wurde der Sog des deutschen Nationalismus am Ende zu stark. Die britisch-deutsche
judenmissionarische Zusammenarbeit fiel letztlich dem Zeitalter des Imperialismus zum Opfer.
59
Karl Heinz Voigt
Methodistische Einflüsse auf die Gemeinschaftsbewegung im letzten Drittel
des 19. Jahrhunderts
Die erste Geschichte der modernen Gemeinschaftsbewegung veröffentlichte der
konfessionsbewusste Lutheraner Paul Fleisch (1878-1962) im Jahr 1903. Er skizzierte in einer
kurzen Einleitung einen historischen „Überblick“ über die Geschichte der Gemeinschaften in den
vier Epochen (1) Reformation, (2) Pietismus, (3) Erweckungsbewegung und schließlich (4) „kam
ein neuer Anstoß […] von England her durch die sogenannte Oxford Bewegung“222. Diese
Linienführung wurde von fast allen Historikern der Gemeinschaftsbewegung verinnerlicht. Noch
1984 übernahm Joachim Cochlovius sie in der Theologischen Realenzyklopädie.223 Hatte Paul
Fleisch die Gründungsphase der organisierten Gemeinschaftsbewegung noch mit dem Hinweis
auf die „Oxford Bewegung“ zusammengefügt, so schrieb Cochlovius diesen Einfluss der
„angelsächsische[n] Evangelisations- und Heiligungsbewegung in der zweiten Hälfte des 19.
Jahrhunderts“ zu. Das bleibt so verschwommen, wie es schon bei Fleisch unpräzise war. Zuletzt
verzichtete Jörg Ohlemacher in seinem im Jahr 2000 erschienenen Beitrag in der Geschichte des
Pietismus auf den Hinweis einer selbstverständlichen Verwurzelung in der Reformation und auf
die Vorgeschichte von Pietismus und Erweckungsbewegung und machte schwerpunktmäßig
darauf aufmerksam, „wie sehr sich diese Bewegung Anstößen besonders aus dem
angelsächsischen Raum verdankt und wie eng sie in internationale Zusammenhänge sowohl
hinsichtlich ihrer Lehranschauungen wie Organisationsformen verwoben blieb“.224
Alle drei genannten Autoren haben weder die Rolle der Herrnhuter Brüdergemeine gesehen225 –
warum eigentlich nicht? –, noch haben sie „angelsächsische Beziehungen“ genauer lokalisiert.
Die Blickrichtung der Leser wurde auf die angelsächsischen Länder, vorwiegend England, aber
auch Amerika gerichtet. Bisher ist noch nicht die Frage gestellt und daher auch nicht untersucht
worden, ob es auch Einflüsse der in jener Zeit in Deutschland wirkenden Kirchen
angelsächsischen Ursprungs gab, zu denen damals vier methodistische Kirchen gehörten.226
Dieser Frage nach dem „angelsächsischen Einfluss“ durch die in Deutschland wirkenden
222
Paul Fleisch, Die moderne Gemeinschaftsbewegung in Deutschland. Ein Versuch, dieselbe nach ihren
Ursprüngen darzustellen und zu würdigen, Leipzig 1903, 7.
223
Joachim Cochlovius, Gemeinschaftsbewegung, in: TRE 12 (1984), 356.
224
Jörg Ohlemacher, Gemeinschaftschristentum in Deutschland im 19. und 20. Jahrhundert, in: GdP 3, Göttingen
2000, 394. Etwa zur gleichen Zeit benannte Christoph Morgner nach Reformation, Pietismus und
Erweckungsbewegungen auch die Erweckungs- und Heiligungsbewegungen „aus dem angelsächsischen Raum“ und
die „Evangelisationsbewegung aus Amerika“. Vgl. Christoph Morgner, Geistliche Leitung als theologische
Aufgabe. Kirche – Pietismus – Gemeinschaftsbewegung, Stuttgart 2000, 5.
225
Im 19. Jahrhundert gestaltete die Herrnhuter Brüdergemeine durch ihre Reiseprediger eine äußerst wirksame und
einflussreiche „Diasporaarbeit“. Die bescheidenen Prediger repräsentierten eine autonome, weiträumige und
internationale Kirche, wie es für in Deutschland beheimatete Konfessionen einmalig war. Sie finanzierte als kleine
kirchliche Gemeinschaft ihre enorme globale Missionsarbeit auch aus den Gaben, die ihre Reiseprediger sammelten,
wenn sie von Ort zu Ort zogen, über die Mission berichteten und große Zuhörerkreise fanden. Die sich formierenden
Gemeinschaftskreise boten diesen vorhandenen erwecklichen Brüdergemeinkreisen eine neue Möglichkeit der
ortsnahen Organisation und einer damit verbundenen geregelten Betreuung mit planmäßigen Zusammenkünften.
Das wurde für die Herrnhuter zu einer Existenzbedrohung, auch weil der finanzielle Zustrom für die weltweite
Mission ausblieb. Horst Weigelt schreibt: Es geschah, „dass sich die Gemeinschaftsbewegung mehr oder weniger an
die Stelle der Diasporaarbeit der Brüdergemeine schob.“ 1901 befasste sich die Unitäts-Ältesten-Konferenz, also
deren Synode, mit dieser Entwicklung. Sie formulierte: Die Gnadauer Pfingstkonferenz „zielte auf Evangelisation
sowie Erbauung und stellte damit die Diasporaarbeit der Herrnhuter Brüdergemeine in gewissem Sinn vor die
Existenzfrage. Nahm sie sich doch mancherorts auch der frommen Kreise an, die bislang von der Diasporaarbeit der
Brüdergemeine erfasst wurden.“ Die Unitäts-Ältesten-Konferenz von 1901 diskutierte dieses Problem und sah:
„Unsere Diasporagemeinschaften werden mehr und mehr aufgesaugt durch die Gemeinschaftsbewegung unserer
Tage. Die Bewegung klopft an unsere Thore und begehrt Einlaß. Sie klopft oft ungestüm und dies wohl darum, weil
sie fühlt, daß sie etwas hat, was wir nicht mehr haben. Und man thut ihr vielfach die Thore auf, weil man fühlt, daß
das, was bei uns da sein sollte, nicht so da ist, wie wir es begehren.“ (Zitate nach Horst Weigelt, Die Diasporaarbeit
der Herrnhuter Brüdergemeine, in: GdP 3, Göttingen 2000, 112-149, hier: 124f.)
226
Es waren dies die heute in der Evangelisch-methodistischen Kirche vereinigte Wesleyanische
Methodistengemeinschaft, die Bischöfliche Methodistenkirche, die Evangelische Gemeinschaft und die Kirche der
Vereinigten Brüder.
60
methodistischen Kirchen, der freilich nicht von den internationalen Linien zu lösen ist, soll
dieser Beitrag gewidmet sein. Dabei ist es nicht möglich, deren Einfluss umfassend auf alle
unterschiedlichen Frömmigkeitsbewegungen am Ende des 19. Jahrhunderts darzustellen. Die
Überlegungen konzentrieren sich deshalb auf die Entstehung und Frühgeschichte der Deutschen
Gemeinschaftsbewegung.
1. Die methodistischen Kirchen in Deutschland und der Schweiz zwischen 1850
und 1875
Eine kurze Übersicht soll helfen, theologische Akzente und Strukturen der methodistischen
Kirchen in der Zeit vor dem Kommen von Robert Pearsall Smith (1827-1898) zu skizzieren. Die
methodistischen Kirchen und der Heiligungsprediger Smith kamen aus demselben
Frömmigkeitsfeld in Amerika, das zu dieser Zeit unter starkem methodistischen Einfluss stand.
Die methodistischen Kirchen kamen ab 1849 als Missionsbewegungen nach Deutschland mit
dem Ziel, bereits Getaufte durch Wiedergeburt und Bekehrung in eine aktive Nachfolge Christi
zu rufen. Die Bekehrten wurden unterwiesen, ihren Glauben in einem Leben der Heiligung, das
zentral von der Liebe bestimmt war, zu gestalten. Die Gläubiggewordenen wurden dahin geführt,
zuletzt selbst missionarisch aktiv zu werden. Dafür gab es entsprechende Strukturen:
 Das freie Gebet – in von Laien (Männern und teilweise Frauen) geleiteten
Gebetsversammlungen.
 Das Bekennen von Glaubenserfahrungen – in wöchentlichen Kleingruppen („Klassen“).
 Die biblische Unterweisung von Kindern – in Sonntagsschulen durch Männer und
Frauen.
 Das zeugnishafte Berichten von Glaubenserlebnissen nach der Predigt – durch
beauftragte „Ermahner“.
 Die zeugnishafte, volkstümliche Predigt auch durch Laien – in den Gottesdiensten.
 Die Integration in eine verbindliche Gemeinschaft.
 Das Verteilen von Traktaten, Zeitschriften und Bibeln – auch durch angestellte
Kolporteure, gedruckt im eigenen Verlag.
 Das System der Reiseprediger – das für eine einheitliche, überregionale Prägung sorgte
Fromme Kirchenchristen sollten durch diese Strukturen zu aktiven Teilnehmern an der Mission
erweckt werden. Erreicht wurden besonders Menschen, die in Bezug auf Sakramente und
Amtshandlungen kirchlich versorgt waren, aber wegen rationalistischer oder liberaler Prediger
einen geistlichen Mangel empfanden. Die christozentrische Evangelisationspredigt und die
geistliche Gemeinschaft mit Gebet und Seelsorge zogen sie an. Ihr Glück über das empfangene
Heil war ansteckend und ließ ihre neue Gemeinschaft zu einem Ort der Umkehr für Suchende
werden. Da sie keine eigenen Räume hatten, luden sie in Gasthaussäle, Bauerndielen,
Theaterräume, Werkstätten, Lagerräume und andere säkulare Stätten ein, oft auch in Stuben und
private Räume. Sie wandten sich immer an die Öffentlichkeit und versuchten „Massen“ zu
bewegen. Sie wussten um die Bedeutung von Versammlungszyklen über längere Zeiträume, die
sie zunächst „verlängerte Versammlungen“ und später „Evangelisationen“ nannten. Ein Denken
in territorialen Einschränkungen, parochialen Grenzen und konfessionellen Abgrenzungen war
durch ihre Amerika-Erfahrungen überwunden. Die Ekklesiologie war ihnen sowieso zunächst
zweitrangig, die methodistische Theologie war im Kern soteriologisch bestimmt.
Schlüsselfiguren für die Ausbreitung des Methodismus waren die Reiseprediger und die
wandernden Kolporteure. Der Stellenwert der Organisation wurde sehr bewusst wahrgenommen.
2. Die „Triumphreise“ von Robert Pearsall Smith
Der Deutschland-Reise von Robert Pearsall Smith im Frühjahr 1875 wird als ein wichtiger
Ausgangspunkt für die Entstehung der Gemeinschaftsbewegung angesehen.227 Durch Smith
227
Vgl. Karl Heinz Voigt, Die Heiligungsbewegung zwischen Methodistischer Kirche und Landeskirchlicher
Gemeinschaft. Die „Triumphreise“ von Robert Pearsall Smith im Jahre 1875 und ihre Auswirkungen auf die
61
gewann die im Kleinen praktizierte methodistische Praxis der Mission eine breite Öffentlichkeit.
Er machte die in den angelsächsischen Ländern praktizierten Methoden in Deutschland bekannt.
Sie gingen zurück auf Charles G. Finney (1792-1875) und wurden weiter entwickelt von Dwight
L. Moody (1837-1899). In Amerika fanden sie auch Aufnahme im deutschsprachigen Zweig der
Methodistenkirche.228 Es ist daher nicht zufällig, dass Smith in der deutschen kirchlichen Presse
vielfach als „Methodist“ bezeichnet wurde, obwohl er von Haus aus Quäker war und seine
kirchliche Zugehörigkeit ihm selbst ziemlich belanglos zu sein schien. In Amerika hatte er
lebhafte Kontakte zu den methodistischen Kirchen.229
Die auffälligsten Merkmale des Wirkens von Smith in Deutschland waren:
 Smith wandte sich als evangelistischer Heiligungsprediger an „die Massen“.
 Er führte ganz im Sinne der amerikanischen Convention-Kultur einen ganzen
Veranstaltungszyklus, fast eine Art Klausur durch (Heiligungkonferenzen), woraus die
„Kampagnen“ erwuchsen.
 Smith überschritt Konfessionsgrenzen, Parochialgrenzen und Landeskirchengrenzen.
 Er legte Wert darauf, dass die Arbeit „undenominationell“ war. Ekklesiologischen
Fragen wich er aus.
 Er benutzte neben den Kirchen auch öffentliche Säle.
 Er war ein volkstümlicher Laienprediger.
 Er führte das neue angelsächsische Liedgut ein, wie es Ira D.Sankey (1840-1908) aus
seinen „Sacred Songs and Solos“ sang. Nicht zufällig wurde das Lied des
Methodistenpredigers Ernst Gebhardts „Jesus errettet dich jetzt…“, das ganz in dieser
Tradition stand und sie sogar noch etwas weiter führte, zum internationalen Lied der
weltweiten Heiligungsbewegung.
Alle diese Aspekte finden sich später in Struktur, Frömmigkeit und Theologie der
Gemeinschaftsbewegung wieder. Sie leiteten einen Wandel im Selbstverständnis der regionalen
Gemeinschaften ein.
Exkurs 1: Methodismus, Methodisten und methodistische Kirche
Leider wird in fast allen historischen Studien übersehen, dass der Methodismus-Begriff im 19.
Jahrhundert anders gefüllt war als heute. Ich will versuchen, in aller Kürze das Ergebnis meiner
umfangreicheren Studien zu dieser Frage zu benennen:
Mit dem Terminus „Methodismus“ wurde in Deutschland, allerdings nur hier, eine
überdenominationelle, konfessionsfreie Frömmigkeitsbewegung beschrieben, die als solche
deutliche Parallelen zum ebenfalls kirchenlosen, überkonfessionellen „Pietismus“ aufweist. Sehr
schön hat in seiner großen Schlümbach-Studie Thomas Hahn-Bruckart in äußerster Knappheit
diesen Begriff „Methodismus“ definiert als „Chiffre für erwecklichen Protestantismus
angelsächsischer Prägung“ und ihn in diesem Sinne vielfach differenziert verwendet und selbst
im Register besonders ausgewiesen.230 Entsprechend wurden Personen dieses Frömmigkeitstyps,
den ich zusätzlich als evangelistisch, verbunden mit dem Dienst von charismatisch begabten
Predigern und Laienpredigern charakterisieren würde, als „Methodisten“ bezeichnet, selbst wenn
sie ausgewiesenermaßen keiner Kirche methodistischer Tradition angehörten. Ich nenne zuerst:
Robert Pearsall Smith, der aus der Tradition des Quäkertums kam und kein Glied einer
methodistischen Kirche war; weiter Johannes Evangelista Goßner (1773-1858), auch Theodor
Christlieb (1833-1889), Elias Schrenk (1831-1913) und andere durch Evangelisation zur
Bekehrung rufende Verkündiger, die – in der Regel mit polemischer Absicht – als Methodisten
bezeichnet wurden.
zwischenkirchlichen Beziehungen, Wuppertal 1996. Auch: ders., Robert Pearsall Smith, in: BBKL 10 (1995), 696704.
228
Vgl. Christoph Raedel, Methodistische Theologie im 19. Jahrhundert. Der deutschsprachige Zweig der
Bischöflichen Methodistenkirche, KKR 47, Göttingen 2004.
229
Vgl. Voigt, Heiligungsbewegung, 160f.
230
Vgl. Thomas Hahn-Bruckart, Friedrich von Schlümbach (Göttingen 2011), 518 mit 24 teils umfangreichen
Verweisen.
62
Ich persönlich habe mich seit Jahrzehnten bemüht, in meinen Formulierungen bewusst zwischen
der nichtkirchlichen Frömmigkeitsbewegung des „Methodismus“ und dem bedeutend geringeren
Teil desselben, der zur „methodistischen Kirche“ geworden ist, zu unterscheiden.
3. Der Einfluss von Theodor Christlieb
Die Einberufung und Durchführung der Gnadauer Pfingstkonferenz 1888 markiert einen
zentralen Punkt im Zuge der Organisation der Gemeinschaftsbewegung. Die Hauptakteure, der
Hamburger Laie Jasper von Oertzen (1833-1893) und vor allem der Bonner Theologieprofessor
Theodor Christlieb (1833-1889) hatten Erfahrungen mit der angelsächsischen
Erweckungsbewegung gemacht. Von Oertzen hatte in Hamburg und Schleswig-Holstein einige
Mühe aufzuwenden, um die Aktivitäten des irischen Judenmissionars James Craig231 (18181899) wieder in die heimatliche Innere Mission zu integrieren. Für von Oertzen muss die
autonome Gemeinschaftsbildung des Iren und die breite missionarische Aktivität in Hamburgs
Stadtteilen und Vororten eine aufrüttelnde Erfahrung gewesen sein.232
3.1 Christliebs theologisches Profil und sein Lehrauftrag
Der schwäbische Pietist Theodor Christlieb (1833-1889) hatte in seinen Londoner Jahren von
1858 bis 1865 die missionarische Kraft der methodistischen Kirche erlebt. Er war beeindruckt
von der Heiligung des Herzens und des Lebens, die zu sozialem Handeln führt, von der
Verkündigung durch Laien, dem Wirken in ökumenischer Gemeinschaft, dem
Missionsverständnis als bewusster Evangelisation an Getauften und dem Gemeindeaufbau ohne
staatliche Beeinflussung
Der Aufbau seiner eigenen Gemeinde im Londoner Stadtteil Islington war diesen Grundsätzen
gefolgt.
Als Bonner Professor hatte er internationale Erfahrungen in die Praktische Theologie
einzubringen. Kein anderer Hochschullehrer in Deutschland hatte zu jener Zeit einen solchen
ökumenischen Weitblick wie er, ausgenommen Friedrich August Gottreu Tholuck (1799-1877)
in Halle. Die London-Erfahrungen prägten Christliebs Lehrtätigkeit, die verbunden war mit
persönlichem evangelistischem Engagement. Er suchte nach einem Weg, die Erfahrungen aus
London auf die kirchliche Arbeit in Deutschland zu übertragen.
3.2 „Zur methodistischen Frage in Deutschland“
Man kann Theodor Christliebs 1882 veröffentlichten Aufsatz „Zur methodistischen Frage in
Deutschland“, der danach als selbständige Broschüre erschien, als eine Grundschrift
interpretieren, in der er einen Weg der Auseinandersetzung mit den in Deutschland zu jener Zeit
in starker Ausbreitung befindlichen methodistischen Kirchen vorschlug und zugleich Ansätze für
die kommende Gemeinschaftsbewegung skizzierte.
Christlieb gehörte nicht zu denen, die gegen den Methodismus polemisierten und seine Wirkung
dadurch einzuschränken versuchten, dass sie ihn diskreditierten, wie es viele andere Theologen –
übrigens oft ohne eine wirkliche Kenntnis – taten. Er respektierte die evangelistische
Wirksamkeit der Methodisten und war gleichzeitig daran interessiert, sie einzuschränken.233 Die
231
Vgl. Karl Heinz Voigt, James Craig, BBKL 15 (1999), 435-443.
Vgl. Karl Heinz Voigt, Theodor Christlieb (1833-1899). Die Methodisten, die Gemeinschaftsbewegung und die
Evangelische Allianz, Göttingen 2008 (Aufsatzsammlung). Auch: ders., Theodor Christlieb, BBKL 25 (2005), 144170.
233
Stephan Holthaus, Heil – Heilung – Heiligung. Die Geschichte der deutschen Heiligungs- und
Evangelisationsbewegung (1874-1909), Gießen 2005, 271 kommt zu einer Fehlinterpretation der Haltung
Christliebs und formuliert, er sei „ein vehementer Gegner des Methodismus [gewesen, der] vor den Erfolgen ihrer
Missionsarbeit warnte.“ Zwar verfolgte er kirchenpolitisch das völlig legitime Ziel, die Kirchenbildung der
Methodisten einzuschränken. Aber er gestand ihnen – vermutlich als einziger Hochschullehrer – zugleich da ein
Recht zur Evangelisation zu, wo landeskirchliche Pastoren und ihre Gemeinden selbstzufrieden lebten. Diese sonst
nicht anzutreffende offene Haltung veranlasste seinen Bonner Universitätskollegen Professor Johann Peter Lange
(1802-1884), mit dem er viele Jahre freundschaftlich zusammengearbeitet hatte, zu einer polemischen Gegenschrift,
die er 1883 in Bonn unter dem Titel „Gegen die Erklärung des Organs für positive Union zu Gunsten einer
bedingten Anerkennung des Missionirens der Methodisten in der Evangelischen Kirche Deutschlands“
63
232
Methode, die er zur Überwindung der methodistischen Kirchenbildung vorschlug, war denkbar
einfach und äußerst erfolgreich. Er regte an, die Methodisten dadurch „überflüssig“ zu machen,
dass ihre Praxis übernommen und innerhalb der Landeskirchen selbst praktiziert wurde.
Nacheinander nannte er
 die methodistische Predigt, die volkstümlich und erwecklich statt nur erbaulich sei
 die organisierte Seelsorge durch Kleingruppen, die sog. „Klassen“
 die Sonntagsschule als Feld der Laientätigkeit
 die Jünglingsvereine, die durch die Prediger zu unterstützen seien
 die überschaubaren Gemeinden und ihre Opferwilligkeit
 den Gehilfendienst von Laienkräften in der Verkündigung – für ihre Heranbildung sei ein
innerkirchliches „Evangelisteninstitut“ ein dringendes Bedürfnis.234
3.3 Christlieb und der deutsch-amerikanische Methodistenprediger Friedrich von
Schlümbach (1842-1901).
Mit Friedrich von Schlümbach begann Christlieb, seinen Ansatz überregional in die Praxis
umzusetzen.235 Er hatte ihn für eine Reihe aufsehenerregender Evangelisationen mit den
Schwerpunkten in Berlin und Schleswig-Holstein gewonnen.236 Besonders die Berliner
Kampagne in Verbindung mit den Freunden der Positiven Union erhielt viel Zustimmung und
ebenso massive Kritik, die besonders aus dem Bereich der lutherischen Konfessionalisten kam.
Sie standen sowohl jeglicher Form der Union wie auch der Evangelisation als Mission an
Getauften ablehnend gegenüber. Die Kritik am Einsatz eines amerikanischen Methodisten auf
landeskirchlichen Kanzeln, durch den Christlieb methodistische Praxis in die Landeskirche zu
integrieren versuchte, war so scharf, dass Christliebs Kernanliegen, „die Neuevangelisierung der
längst Entchristlichten“237 gefährdet war. Als Schlümbach aufgrund der Einladung Jasper von
Oertzens (1833-1893) nach Hamburg kam, wurde er dort dadurch ausgebootet, dass lutherische
Pastoren selbst Versammlungen durchführten, wie es Schlümbach in Berlin in Verbindung mit
landeskirchlichen Pfarrern getan hatte. Praktisch war das bereits ein Erfolg für Christlieb, denn
es war genau das geschehen, was er eigentlich wollte. Schlümbach reiste nach SchleswigHolstein weiter.238
3.4 Zeit der Abgrenzung
Durch Christliebs Initiative war inzwischen ein Haus für die Einrichtung des von ihm
geforderten „Evangelisteninstituts“ erworben worden.239 In diesem Bonner Haus der früheren
irischen Judenmission tagte im März 1884 das für die Schlümbach´schen Evangelisationen
verantwortliche Komitee. Christlieb hielt einen Vortrag, in dem er Konsequenzen aus den jüngst
gemachten Erfahrungen zog und die Weichen für die Zukunft stellte. Daraufhin wurde der
veröffentlichte. Das Organ der „positiven Union“ war die Kirchliche Monatsschrift, in der Christlieb seinen Aufsatz
„Zur methodistischen Frage …“ (vgl. folgende Fußnote) veröffentlicht hatte. Christlieb war also kein „vehementer
Gegner des Methodismus“, sondern eher ein Sympathisant.
234
Vgl. Theodor Christlieb, Zur methodistischen Frage in Deutschland. In: Kirchliche Monatsschrift 1. Jg. (1882),
583-628. Auch: Separatdruck, Bonn/Gernsbach 21882, 52ff.
235
Vgl. Thomas Hahn-Bruckart, Friedrich von Schlümbach. Erweckungsprediger zwischen Deutschland und
Amerika. AGP 56, Göttingen 2011. Auch: Karl Heinz Voigt, Friedrich von Schlümbach, BBKL 9 (1995), 306-314.
236
Vgl. Hahn-Bruckart, Schlümbach, 275-337.
237
Vgl. Karl Heinz Voigt, „Die Neuevangelisierung der längst Entchristlichten“ – ein Ziel Christliebs von 1888. In.
Ders., Theodor Christlieb (1833-1889), Die Methodisten, die Gemeinschaftsbewegung und die Evangelische
Allianz, Göttingen 2008, 57-82.
238
Martin H. Jung, Der Protestantismus in Deutschland von 1870 bis 1945, Leipzig 2002, widmet der
Gemeinschaftsbewegung einen längeren Abschnitt. Er charakterisiert sie in einer Weise, die zeigt, wie dringend
nötig eine neue Darstellung der Bewegung ist. Jung schreibt (S. 78): „Während die Erweckungen integrale, die
geistliche und diakonische Erneuerung umfassende und nach außen gerichtete Bewegungen gewesen waren und
religiös gleichgültig gewordene Menschen zu gewinnen suchten, zielte die Gemeinschaftsbewegung – wie der frühe
Pietismus – wieder primär auf die Sammlung Gleichgesinnter und die Pflege der intimen erbaulichen Gemeinschaft
unter Konzentration auf das innere Leben.“
239
Man kann in dem Evangelisteninstitut eine Parallele zu den methodistischen Seminaren in Frankfurt/Main
(gegründet 1858 in Bremen, 1869 nach Frankfurt/M. verlegt), in Waiblingen (gegründet 1873) und in Reutlingen
(gegründet 1877) sehen.
64
Deutsche Evangelisationsverein gegründet. Als er sich 1886 eine Satzung gab, wurden die neuen
Grundsätze festgeschrieben. Die Verantwortlichen rückten von ihrer früheren internationalen
Offenheit ab, wie sie nicht nur in Schlümbachs Evangelisationen praktiziert wurde. Christlieb
argumentierte: „Der unbillige Aufschrei der Lutheraner gegen Schlümbach, […] der Widerstand
der Geistlichkeit Hamburgs gegen ihn u.s.w. haben uns klar gezeigt, daß der von uns
beabsichtigte undenominationelle Charakter des Werks ein Ding der Unmöglichkeit ist, wenn
das Werk sich ausbreiten und selbst erhaltend werden soll.“240
Mit seiner Satzung grenzte sich der Deutsche (!) Evangelisationsverein konfessionell und
national ab und stellte ausdrücklich den „Evangelisch-kirchlichen Charakter“ fest. Der Verein
arbeitete nur noch mit Evangelisten zusammen, die einer Landeskirche angehörten. Diese sollten
zukünftig ihre Evangelisationen ausschließlich in Verbindung mit einem Pfarramt halten.
Evangelisten wie Schlümbach und der damals in Verbindung mit dem Verein tätige Londoner
Arzt Dr. Peter Ziemann241 sollten um des Vereins willen keine „außerkirchlichen“
Evangelisationen durchführen.242 Das führte bei beiden zu unterschiedlichen Reaktionen: Der
Deutsch-Amerikaner Schlümbach trat aus der Methodistenkirche aus und kam zu weiteren
Evangelisationen nach Deutschland. Dr. Ziemann, der selbst längere Zeit im
Evangelisationskomitee aktiv mitgearbeitet hatte, kündigte die Zusammenarbeit auf, weil er
weiter auch „außerkirchlich“243 evangelisieren wollte.
Mit dieser Abgrenzung war eine völlig neue Tendenz eingeleitet. Als Beispiel greife ich auf die
Vorgeschichte von Gnadau 1888 zurück. Die Vorarbeit für die erste Gnadauer Konferenz leistete
der Deutsche Evangelisationsverein. Ursprünglich war bereits 1886 eine Konferenz in Berlin
geplant. Dazu war eine „Einladung zu einer freien Conferenz christlicher Männer aus ganz
Deutschland“ ergangen.244 Diese Konferenz fand nicht statt. Als man ein Jahr später ein neues,
durch den Evangelisationsverein beratenes Einladungsschreiben aussandte, hatte sich die
Adresse verändert. Nun wurde zu einer „Versammlung christlicher Männer aus den
Landeskirchen Deutschlands“ eingeladen.245 Die Abgrenzung der Landeskirchlicher gegenüber
den methodistischen Kirchen, die im Verein notwendig geworden war, kann man sogar einer
Passage des Einladungsschreibens entnehmen. Es heißt dort:
„Die Bedürfnisse drängen [… über die Frage nach der Heiligung und der Mitarbeit von Laien
hinaus], noch einen Schritt weiter, und zwar vornehmlich in zwei Richtungen. Mehr und mehr
erwacht das Verlangen nach einer Pflege der Gemeinschaft in den Kreisen der Gläubigen. In
dieser Beziehung ist vor allem die lokale Organisation von Privaterbauungs-Versammlungen in
möglichst weiten Kreisen vonnöten. Wäre eine solche in genügender Weise vorhanden, so
würden viele Geistliche nicht über das Eindringen ausländischer Sendboten, die neben der
Erbauung und Evangelisation separatistische Zwecke verfolgen, zu klagen haben.“246
Also: Es waren Gemeinschaften zu organisieren, die das evangelisierende „Eindringen
ausländischer Sendboten“ unnötig machten. Dies war, im Einklang mit Christliebs Schrift Zur
methodistischen Frage auch ein Aspekt, die Gnadauer Konferenz einzuberufen und die
240
Theodor Christlieb, zitiert von Karneades K. Münkel, Verein für Massenevangelisation, in: Neues Zeitblatt für
die Angelegenheiten der lutherischen Kirche, Hannover 1883, 353.
241
Karl Heinz Voigt, Heinrich-Peter Ziemann, BBKL 14 (1998), 1585-1588.
242
„Außerkirchliche Evangelisationen“ waren solche, die unabhängig von einer landeskirchlichen Gemeinde
stattfanden. Die nun kirchenpolitisch notwendig gewordene Einbindung in die landeskirchlichen Strukturen wollte
der in London lebende deutsche Arzt mit seinen sozial-ethischen Evangelisationsthemen nicht auf sich nehmen.
243
Die Formulierung „außerkirchlich“ meinte tatsächlich „außer-landeskirchlich“. Weil die „Sekten“ nicht als
„Kirchen“ akzeptiert waren – der Begriff „Kirche“ war den Staatskirchen vorbehalten –, wurde die theologisch nicht
haltbare Formulierung „außerkirchlich“ zu jener Zeit permanent verwendet.
244
Erster Entwurf eines Einladungsschreibens von Graf Eduard von Pückler in: Jörg Ohlemacher, Die
Gemeinschaftsbewegung in Deutschland. Quellen zu ihrer Geschichte 1887-1914, Gütersloh 1977, 24.
245
Protokoll des Deutschen Evangelisationsvereins vom 14.4.1887. Leider fehlt diese „Adresse“ in dem Quellenteil
von Jörg Ohlemachers Studie Das Reich Gottes in Deutschland bauen. Ein Beitrag zur Vorgeschichte und Theologie
der Deutschen Gemeinschaftsbewegung, Göttingen 1986, 232, über dem dort veröffentlichten Text. Sie ist aber mit
einer vom Autor vorgenommenen Ergänzung im Blick auf die deutschsprachige Schweiz im Vorwort auf Seite 10
dokumentiert.
246
Jörg Ohlemacher, Das Reich Gottes in Deutschland bauen. Ein Beitrag zur Vorgeschichte und Theologie der
Deutschen Gemeinschaftsbewegung, AGP 23, Göttingen 1986, 233.
65
Gemeinschaftsbewegung in dieser Hinsicht – erfolgreich, wie später zu zeigen sein wird – zu
formieren.
3.5 Die Gnadauer Pfingstkonferenz 1888
Nach den Evangelisationen des Methodisten Friedrich von Schlümbach war zum Leidwesen
Christliebs organisatorisch eine Abgrenzung vollzogen, die sich mit der überregionalen
Formierung der Gemeinschaftsbewegung weiter verfestigte. Das Programm der Gnadauer
Pfingstkonferenz zeigt allerdings, dass inhaltlich keine Abgrenzung möglich war, wenn das von
Christlieb und seinem Evangelisationsverein formulierte Ziel der Evangelisierung von
Ungläubigen nicht aufgegeben werden sollte.
An der 1. Gnadauer Pfingstkonferenz 1888 wurden behandelt: (1) die Laientätigkeit, (2) die
Evangelisation, (3) die Frage der Heiligung, (4) die Organisation der christlichen
Gemeinschaften. Abschließend sprachen Elias Schrenk aus Marburg über Gebetsversammlungen
und Gebetsgemeinschaften sowie Pastor Heinrich Coerper (1863-1936) aus Barmen über
Bibelstunden und Bibelbesprechungen.247 Diese 1888 in Gnadau behandelten Themen hätten in
jeder methodistischen Predigerkonferenz jener Zeit das Programm bilden können, allerdings
nicht in Abgrenzung gegenüber anderen missionswilligen Kirchen oder Gemeinschaften.
3.6 Ein neues Selbstverständnis
1890 wurde zunächst das Deutsche Komitee für evangelische Gemeinschaftspflege gebildet,
dessen Namen nur wenige Jahre später (1897) verändert wurde in Deutscher Verband für
Gemeinschaftspflege und Evangelisation. Das war mehr als eine Namensänderung. Man hatte
längst die Konventikelpraxis der erbaulichen Gemeinschaftspflege verlassen und sich auf das
Feld der weltzugewandten Massen-Evangelisation mit angelsächsischer Kampagnen-Methodik
begeben.248 Die Ergänzung des Namens mit „und Evangelisation“ war nicht nur der Herstellung
einer Rechtsform geschuldet, sondern Ausdruck des gewandelten Selbstverständnisses.
3.7 Ein kirchenpolitischer Schachzug und die Konsequenzen
Die Organisation der Gemeinschaftsbewegung war ein kluger kirchenpolitischer Schachzug
Christliebs gewesen. Die organisierte Gemeinschaftsbewegung bot die geeignete Struktur für das
Christliebsche Programm von 1882, die kirchenbildende Tätigkeit der Methodisten durch die
Übernahme ihrer Arbeitsweise und der verstärkten Bildung von evangelisierenden
Gemeinschaften innerhalb der Landeskirchen „überflüssig“ zu machen. Damit wurden
methodistische Theologie, methodistische Frömmigkeitsformen und methodistische strukturelle
Elemente auf dem Weg über die organisierte Gemeinschaftsbewegung in die Landeskirchen
integriert oder wenigstens an deren Rand angesiedelt. Das Gnadauer Tagungsprogramm mit
seinen Themen liegt genau auf dieser Linie.
3.8 Schlümbach und der Trend zum Nationalverband
Es stellt sich hier die Frage, ob die Organisation der Gemeinschaftsbewegung in Schlümbachs
Aktivitäten ein Vorbild hatte. Schlümbach hatte die territorial in den verschiedenen Landesteilen
unabhängig voneinander entstandenen Jünglingsbünde im September 1882 am
Hermannsdenkmal im Teutoburger Wald zusammenrufen lassen, um sie – wie den deutschen
YMCA in Amerika – organisatorisch zu einen. Sie sollten ihr Wachstumspotenzial entfalten,
247
Vgl. hierzu: Johann Gottlob Pfleiderer (Hg.), Verhandlungen der Gnadauer Pfingstkonferenz (22.-24. Mai 1888),
Neubearbeitung von Johannes Dreßler, Berlin 1987, 14f. Die Hauptreferate lauteten vollständig: „Die Berechtigung,
die Notwendigkeit und die Grenzen der Laientätigkeit“, gehalten von Friedrich Fabri (1824-1891); „Die
Notwendigkeit der organisierten Evangelisation neben dem pastoralen Amt und ihre Bedeutung für das kirchliche
Leben“, gehalten von Jasper von Oertzen; „Was lehrt die Heilige Schrift über Heiligung?“, Generalsuperintendent
Wolfgang Geß (1819-1891) aus Wernigerode. „Die Gemeinschaft der Heiligen und die notwendige Organisation der
christlichen Gemeinschaften in Stadt und Land“, Superintendent Schmalenbach aus Mennighüffen.
248
Vgl. dazu Hermann Klemm, Elias Schrenk. Der Weg eines Evangelisten, Wuppertal 21986. Schrenk war vom
Deutschen Evangelisationsverein angestellt und hatte Evangelisations-Methoden von D. L. Moody (1837-1899)
übernommen. Die von Klemm zusammengestellte Liste der Evangelisationen Schrenks in Deutschland beginnt im
Oktober 1884 und weist in der Anfangszeit Lokale, Gasthöfe und andere Säle auf. Später sind es mehr Kirchen und
Gemeindehäuser (Klemm, 262f.).
66
indem Betreuungsvereine einen Impuls bekamen, Missionsvereine zu werden. An den
Versammlungen am Hermannsdenkmal nahm Christlieb aktiv teil. Er hielt im großen
Festgottesdienst bezeichnenderweise seine Predigt über „den herrlichen Beruf der Kinder Gottes,
Salz der Erde und Licht der Welt“ zu sein. Die Zusammenführung der regionalen
Jünglingsverbände zu einem deutschen Nationalverband liegt parallel zu der Bemühung, die
ebenfalls regionalen Gemeinschaftsvereinigungen zu einem nationalen Organ
zusammenzuführen.
3.9 Eine veränderte Landschaft
Als es landauf landab zur Bildung neuer oder bereits bestehender, aber zur missionarischen
Umgestaltung angeregter Gemeinschaften kam, eröffnete sich ein Weg, methodistische
Frömmigkeit im Rahmen der Landeskirchen zu leben, ohne diskriminiert zu werden. Aus den
jungen methodistischen Gemeinden kehrten zahlreiche Erweckte und Glaubende über die
Gemeinschaften in die Landeskirchen zurück. Das war umso leichter, als besonders außerhalb
Württembergs und Sachsens die Mehrzahl nicht formal aus ihrer Landeskirche ausgetreten war.
Sie waren mittragende Freunde der methodistischen Gemeinden oder hatten vielfach eine
Doppelmitgliedschaft angenommen, indem sie Mitglieder der Landeskirchen blieben und sich
gleichzeitig den Methodisten anschlossen. Mit der Gründung von Gemeinschaften hatte der
methodistische Frömmigkeitstyp den von Christlieb erhofften neuen Ort. Männer und Frauen
konnten ohne Unterschied beten; die Predigten durch mit der Gemeinschaftsbewegung
sympathisierende Pfarrer oder durch Laienprediger motivierten zu missionarischem Leben, die
Laien fanden entsprechend ihren Begabungen auch Bereiche für die Mitarbeit in geistlichen
Aufgaben und das Bedürfnis nach christlicher Gemeinschaft erfüllte sich.
Das Christliebsche Konzept der Integration methodistischer Frömmigkeit und Arbeitsweise in
die Landeskirchen zur Abwehr einer eigenständig methodistischen Kirche hatte sich im Ansatz
als erfolgreich erwiesen. Das zeigt sich auch daran, dass die stürmische Ausbreitung der
methodistischen Gemeinden und deren Wachstum seit dieser Zeit stagnierte.
3.10 Rückkehr aus den methodistischen Gemeinschaften in die Landeskirchen
Dem Transfer aus den methodistischen Kirchen zurück in die Gemeinschaften wurde bisher noch
keine Aufmerksamkeit geschenkt, aber er ist nachweisbar. In seiner Darstellung der „PrivatErbauungsgemeinschaften“ hat Ferdinand Brockes (1867-1927) über die Entwicklung der
„außerkirchlichen Gemeinschaften“ in den verschiedenen Regionen Deutschlands berichtet.
Darin kommt zum Ausdruck, wie um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert in Baden „die
Gemeinschaften den stärksten Damm gegen die Einflüsse der Sekten bilden“.249 In Bayern heißt
es zur Abgrenzung gegen Baptisten, Darbysten, Mennoniten und Methodisten: „Wenn in Bayern
ein gesundes innerkirchliches Gemeinschaftsleben sich ausbreiten wird, werden suchende Seelen
sich in der Regel mehr von diesem als von außerkirchlichen Gemeinschaften angezogen
fühlen.“250 Zu Braunschweig wird kommentiert: „Wenn nicht bald das Land sich der neueren
landeskirchlichen Gemeinschaftsbewegung mehr öffnet, werden die außerkirchlichen
Gemeinschaften immer mehr Boden gewinnen.“251 Über Schlesien heißt es nach einem
Überblick, man kann „auch hier sehen: wo lebendige landeskirchliche Gemeinschaften sind,
haben die außerkirchlichen wenig Zuwachs, vielmehr kann man oft die Bemerkung
[sic!]machen, daß die Aussaat des göttlichen Wortes durch außerlandeskirchliche Brüder in
früherer Zeit in der Gegenwart an vielen Orten der landeskirchlichen Gemeinschaftsbewegung
zu gute kommt, da der Boden dadurch zubereitet worden ist.“252 Es ist bezeichnend, dass Jasper
von Oertzen schon in seinem Gnadauer Vortrag zum Thema Evangelisation bemerkte: „Es war
mir in hohem Grad interessant, aus dem Bericht des königlich-sächsischen Landeskonsistoriums
249
Christian Dietrich und Ferdinand Brockes, Die Privat-Erbauungsgemeinschaften innerhalb der evangelischen
Kirchen Deutschlands, Stuttgart 1903, 38.
250
A.a.O., 44.
251
A.a.O., 58. In der Tendenz ähnliche Kommentare finden sich auf den Seiten 79 (Hessen), 84 (Hessen-Nassau,
den Baptismus betreffend), 86 (Hessen-Nassau, methodistische Ev. Gemeinschaft), 97 (Hessen-Nassau/Wiesbaden),
115 (Pommern), 122 (Posen), 151 (Sachsen), 169 (Schlesien), 175 (Schleswig-Holstein), 199 u. 203 (Westfalen).
252
A.a.O., 159.
67
zu ersehen, welche Fortschritte z.B. die Methodisten im vorigen Jahr in Sachsen gemacht haben,
wo die Arbeit kirchlicher Evangelisten perhorresziert [also verabscheut] wird. In SchleswigHolstein dagegen beklagen es die freikirchlichen Brüder laut, daß sie dort keine erheblichen
Fortschritte machen, seitdem die Sendboten des Vereins für Innere Mission werbend und
Gemeinschaften sammelnd arbeiten.“ Allerdings weckt der bewertende Nachsatz „Gerade hierin
liegt der Schwerpunkt und Haupterfolg aller Arbeit der Evangelisten“ die Frage, ob
Evangelisation wirklich eine kirchenpolitische Angelegenheit ist.253
Es sei noch auf ein anderes Beispiel hingewiesen, das Frank Lüdke über die methodistische
Mission im westpreußischen Vandsburg publiziert hat. 254 1890 kam die methodistische
Evangelische Gemeinschaft nach Vandsburg. Hunderte geistlich „ungenügend“ Versorgte
besuchten deren Versammlungen. 1895 wurde die methodistische Friedenskirche eingeweiht.
Dann kam der in der Gemeinschaftsbewegung nicht unbekannte Theophil Krawielitzki (18661942) nach Vandsburg, der feststellte, dass 200 bis 250 Erwachsene sich der freikirchlichen
Gemeinde „fest angeschlossen“ hatten. Nach fünf Jahren konnte Krawielitzki dem
Oberkirchenrat berichten: „Seitdem ich ihnen christliche Geselligkeit und Gebetsgemeinschaft
hier anziehender bot, hat die Zahl der Methodisten so abgenommen, dass ihre Kirche meist leer
steht und sie bedauern, ihre Kirche nicht an einem andern Ort, wo sich die Gläubigen in der
Landeskirche weniger wohlfühlen, gebaut zu haben.“ Es ist bezeichnend, dass das Konsistorium
in Danzig feststellte, Krawielitzki sei „selbst einer gewissen einseitigen, methodistisch gefärbten
Richtung nicht ganz fremd geblieben.“ Die Kollegen sahen in den von ihm ins Leben gerufenen
Veranstaltungen ähnliche Züge wie in dem Treiben der methodistischen Gemeinschaft. Selbst
wenn der einflussreiche Krawielitzki den Impuls zu solchem Handeln nicht auf Christlieb
zurückführte, bestätigt die praktische Erfahrung mit ihren verschiedenen Aspekten doch die
Richtigkeit von dessen Ansatz zur Überwindung methodistischer Kirchenbildung.
In seiner Studie über den sächsischen Methodismus schrieb Rüdiger Minor: Zur
Gemeinschaftsbewegung „steht die Methodistenkirche in vielfältigen Beziehungen. Viele, die in
methodistischen Evangelisationen erweckt wurden, aber den Schritt aus der Landeskirche nicht
taten, schlossen sich der Gemeinschaft an. Deshalb betrachten sich die Methodisten häufig als
Urheber der Gemeinschaftsbewegung.“255
Exkurs 2: Pietismus und Methodismus
Der rheinische Pfarrer Johannes Jüngst256 (1846-1932) hat in der Diskussion mit Christlieb die
These aufgestellt, „die Mission des Methodismus sei bei uns im wesentlichen schon erfüllt von
dem Pietismus.“ Darauf antwortete Christlieb – bezeichnenderweise in seiner programmatischen
Schrift Zur Frage des Methodismus: „Welch ein Unterschied zwischen beiden! – Dort ein
energisches Hinaustreten in die Welt, ein Predigen und Anhalten mit Predigen, ‚zu rechter Zeit
oder zur Unzeit’, ein furchtloses, aggressives Seelenwerben mit eiliger Ausnützung jeder Stunde;
hier ein weltflüchtiges Stilleben, das, an vielen Orten schon zu lang auf der Hefe gelegen, sich
abgesehen von der traditionellen Beteiligung an der äußeren und einigen Zweigen der inneren
Mission selten zu rettenden Thaten inmitten der weltlichten Christenheit aufschwingt und mit
253
Jasper von Oertzen, Über die Notwendigkeit der organisierten Evangelisation, in: Johann Gottlob Pfleiderer
(Hg.), Verhandlungen der Gnadauer Pfingstkonferenz (22.-24. Mai 1888), Neubearbeitung von Johannes Dreßler,
Berlin 1987, 73.
254
Vgl. Frank Lüdke, Diakonische Evangelisation. Die Anfänge des Deutschen Gemeinschafts-Diakonieverbandes
1899-1933, Stuttgart 2003, 66-68.
255
Rüdiger Minor, Die Bischöfliche Methodistenkirche in Sachsen. Ihre Geschichte und Gestalt im 19. Jahrhundert
in den Beziehungen zur Umwelt, Leipzig o. J. [1968], 222f. u. 393 mit Verweisen auf Gemeindegeschichten.
256
Vgl. dazu Karl Heinz Voigt, Johannes Jüngst, in: BBKL 17 (2000), 718-724. Jüngst beobachtete als Pfarrer der
Rheinischen Kirche die Integration methodistischer Frömmigkeit in die Landeskirche. In seinem 1906 erschienen
Werk Der Methodismus in Deutschland. Ein Beitrag zur neuesten Kirchengeschichte, Gießen 1906, hat er in einem
Kapitel über „Einwirkungen des Methodismus auf religiöse Erscheinungen in Deutschland, die nicht methodistischkirchlich sind“, folgende Phänomene erfasst: (1) Die deutsche Gemeinschaftsbewegung, (S. 87-99), (2) die
„deutsche Allianz“ (S. 99), (3) die Heilsarmee (S. 102-105) und (4) die deutsche Zeltmission (S. 105f.). Keine zwei
Jahrzehnte nach ihrer Organisation wird die Gemeinschaftsbewegung von dem Landeskirchler Jüngst – der selbst
mit ihr sympathisierte – dem Methodismus zugeordnet.
68
dem bescheidenen Fortbestande der ‚Gemeinschaft’ sich zufrieden gibt; dort – vor raschem
Ausnützen der Gegenwart fast keine Zeit für längeres Nachsinnen über prophetische
Zukunftsgemälde, hier – wenigstens im Süden – die stete Betrachtung der Zeitereignisse im
Lichte der Weissagungen Daniels und der Offenbarung; dort – vielgegliedertes, organisiertes
Arbeiten auf baldige Erfolge, zum Theil in treiberischer Hast, hier – beschauliche Ruhe, dabei
man nur sporadisch da und dort nach einzelnen angefaßten Seelen die Hand ausstreckt und dem
Worte Gottes in ihnen gelassen Zeit läßt, damit die Glaubensknospe sich gesund entfalte.“257
Bei aller mitschwingenden Kritik des Methodismus ist Christliebs Urteil über den Pietismus in
seinen unterschiedlichen Ausformungen im Vergleich doch deutlich kritischer. Er möchte den
alten Pietismus überwinden und findet sein Vorbild dazu in einem damals missionarischen, nach
außen gewandten, ungeduldigen Methodismus. Seine Londoner Jahre haben ihn missionstheologisch tief geprägt. Er hatte nicht nur Bücher über die methodistische Spiritualität und
deren theologischen Ansatz gelesen, sondern bis in seine Gemeinde hinein die Kraft und
Dynamik britischer Methodisten erlebt und deren Wirkungen bei seinem Aufenthalt auf der Insel
gesehen.
4. Kirchliche und gesellschaftliche Bedingungen für eine Distanz zwischen
Gemeinschaften und Methodisten
Es gab für die Gemeinschaften Gründe genug, den methodistischen Einfluss im eigenen
Selbstverständnis so wenig wie möglich in Erscheinung treten zu lassen. Dabei war nach dem
frühen Tod Christliebs 1889 nicht mehr der Rückblick auf Schlümbach entscheidend. Gründe für
eine Distanzierung der Gemeinschaften von den methodistischen Wurzeln bot das kirchliche und
gesellschaftliche Umfeld reichlich. Dieser Aspekt verdient Beachtung, weil er das
Selbstverständnis der frühen Bewegung mit prägte und sich längerfristig in den
Selbstdarstellungen niederschlug, allerdings ohne in der Forschung bisher gebührend beachtet zu
sein.
(1) Von Landeskirche zu Landeskirche bestand eine andere Situation. Das konfessionelle
Luthertum lehnte evangelistische Aktivitäten und die Predigt durch Laien zum Beispiel rundweg
ab. In Württemberg sahen die verschiedenen pietistischen Kreise dagegen in den Methodisten
unliebsame Konkurrenten, die auch literarisch bekämpft wurden.258
(2) In der wissenschaftlichen Theologie erschienen ausgerechnet in Bonn, dem Zentrum der sich
organisierenden Gemeinschaften, zwischen 1880 und 1886 Albrechts Ritschls äußerst kritische
Bände über die Geschichte des Pietismus, in denen er eine Schwächung der protestantischen
Kirche durch die Erneuerung des Pietismus befürchtete und diesen Frömmigkeitstyp einer
scharfen Kritik unterzog.
(3) Auch auf der Ebene der Kirchenleitungen regte sich Unmut. Im Koblenzer Konsistorium
wurden Theodor Christliebs Aktivitäten, u.a. die Einrichtung des unabhängigen
Ausbildungsinstituts Johanneum, kritisch beobachtet. Als 1882 das „aggressive Verhalten der
Sectirer“ auf der konsistorialen Tagesordnung stand, wurde Christlieb wegen seiner Mitarbeit als
„Vorsitzender der westdeutschen Alliance [als] gemeinschädlich für die Kirche“ angesehen. Die
„Stellung Christliebs [sei] höchst bedenklich, wenn man zu voraussetzen habe, daß er als
Professor der praktischen Theologie und Universitätsprediger die Studierenden darauf hinleite,
nur auf inneres evangelisches Leben Werth zu legen und die kirchliche Denomination für relativ
gleichgültig zu achten.“259
(4) Einige Jahre nach der Organisation der Gemeinschaftsbewegung befasste sich 1903 die
Deutsche Evangelische Kirchenkonferenz mit der Frage: „Welche Stellung hat die Kirche und
das geistliche Amt zur Gemeinschaftsbewegung unserer Tage einzunehmen?“260 Es wurden u. a.
257
Theodor Christlieb, Zur methodistischen Frage in Deutschland, Bonn/Gernsbach 1882, 51f.
Sowohl Christian Burks (1800-1880) „Christenbote“ als auch Johann Valentin Strebel (1801-1885) und Dekan
Gottlob Nast (1802-1870) kann man hier beispielsweise nennen.
259
Protokoll-Auszug, Konsistorium Koblenz vom 18.10.1882. EZA Best. 7/8040.
260
Vorstand der Deutschen Evangelischen Kirchenkonferenz, Schreiben aus Dresden v. 6. Juli 1903, EZA Best.
1/A2/262. Die Verhandlungen und Quellen zeigen ohne direkte Bezugnahme zwischen den Zeilen, dass die Arbeit
von Paul Fleisch über die moderne Gemeinschaftsbewegung von 1903 Beunruhigungen ausgelöst hatte.
69
258
die Einflüsse des Methodismus erhoben.261 Generalsuperintendent Moldenhauer aus
Wolfenbüttel sprach in seinen Ausführungen von einem „Traditionsabbruch“262 und stellte u. a.
fest: „Durch methodistische Einflüsse angeregt, sucht die Gemeinschaftsbewegung der
Gegenwart, mannigfaltige Bestrebungen und verschiedene zum Teil noch unklare und
unentwickelte Strömungen in sich fassend, die, welche mit Ernst Christen sein wollen, in
organisierte Gemeinschaften zu sammeln und die einzelnen Kreise zu größeren Verbänden
zusammenzuschließen, um nach innen zur Gemeinschaftspflege, nach außen zur Evangelisation
der unbekehrten Volkskreise kraftvoll zu wirken.“ 263 Damit verbunden seien separatistische
Neigungen. Als Ergebnis der Kirchenkonferenz wurde eine Thesenreihe formuliert, welche die
Vielgestaltigkeit der neueren Gemeinschaftsbewegung betont, „je nachdem sie unter dem
Einfluss des deutschen Pietismus an dem Charakter der deutsch-evangelischen Glaubens- und
Frömmigkeitsweise festhält oder fremde, aus englischem und amerikanischem (Methodismus,
Darbysmus) herstammende Motive in sich aufnimmt und zur Geltung bringt.“ Die neue
Entwicklung sei „wesentlich durch den stärkeren Ausbreitungstrieb und durch die lebhaftere
Organisationskraft“ bestimmt. Es werde die Frage sein, ob sich die „selbständigen
Organisationen in oder neben den Landeskirchen oder auch gegen sie ausgestalten.“264
(5) Weitere Belastungen für die Gemeinschaftsbewegung ergaben sich aus den ersten
geschichtlichen Übersichten über ihre Entstehungs- und Frühgeschichte. Paul Fleisch fasste 1903
zusammen: „Das Resultat ist […], daß gerade diese dreifache Eigentümlichkeit [als organisierte
Gemeinschaftsbewegung, als Evangelisationsbewegung und als Heiligungsbewegung] aus dem
Methodismus kommt, und von dort aus in die alten pietistischen Gemeinschaften eingetragen
ist.“265 Johannes Jüngst, der die Entwicklung des Methodismus in Deutschland permanent
beobachtete, wie es Paul Fleisch mit der Gemeinschaftsbewegung tat, knüpfte 1906 an den alten
Pietismus an und führte weiter: „Allein im großen Unterschied von dessen aristokratischer Art ist
sie [die moderne Evangelisations- und Gemeinschaftsbewegung] durchaus demokratisch. Dies
hängt damit zusammen, daß sie dem amerikanischen Methodismus die Art ihrer Organisation
und Werbetätigkeit entlehnt, die hauptsächlich auf die niederen sozialen Schichten gerichtet ist
und sich manchmal zu einer lebhaften Wühlarbeit gestaltet. So sind die ehemaligen ‚Stillen im
Lande’ allmählich zu den religiös Lautesten im Lande geworden.“266 Neben der Rückführung auf
den amerikanischen Methodismus wirkte diese „demokratische“ Praxis in den Gemeinschaften
im Kaiserreich zusätzlich für ihr Image bedenklich.
(6) Zu den innerkirchlichen Problemen kamen für die Gemeinschaftsbewegung Belastungen
durch gesellschaftliche Entwicklungen. Der Nationalismus entwickelte sich im Kaiserreich zu
einer bedrohlichen Kraft. Dessen Einfluss auf das Selbstbewusstsein der Staatskirche war
durchschlagend. Dazu hatte nach Siegen über Dänemark 1864 und erst recht über Frankreich
1870/71 vollends das Lutherjubiläum 1883 beigetragen. Das Nationalgefühl ergriff alle
Schichten von den Professoren über die Pastoren mit ihren patriotischen Predigten und den
Predigthörern in den Gemeinden. Diese Stimmung hatte für Kirchen angelsächsischen Ursprungs
bittere Folgen. Sie wurden als „undeutsch“ bezeichnet und als „angelsächsisches Gewächs“, als
Das Koblenzer Konsistorium antwortete darauf am 10.8.1903: „In Bonn, Essen, Lennep, Braunfels führen sich
die Gemeinschaften auf Evangelisationsbestrebungen zurück, anderwärts auf eigentlich methodistische oder
methodistisch gerichtete Bemühungen.“ Landeskirchen-Archiv Düsseldorf Best. (Gemeinschaftsbewegung) B XI 1
b (1905-1926).
262
Ein Traditionsabbruch wurde mehrfach erkannt. Das ist für die Diskussion um den Begriff „Neupietismus“, der
eher ein neues Aufflammen assoziieren lässt, zu beachten.
263
Generalsuperintendent Moldenhauer, Leitsätze zur Frage: „Welche Stellung hat die Kirche und das geistliche
Amt zur Gemeinschaftsbewegung unserer Tage einzunehmen?“, EZA Best. 1/A2/262.
264
Leitsätze für die 27. Deutsche Evangelische Kirchenkonferenz 1905, aufgestellt von Prälat Viktor von
Sandberger (1835-1912) und Generalsuperintendent Moldenhauer, EZA Best. 1/A2/262. Die Unsicherheit in der
Beurteilung zeigt sich auch bei Johannes Jüngst. Er schrieb 1906: Die Evangelisations- und
Gemeinschaftsbewegung „ist übrigens in mehrere Richtungen zerspalten. Sie sind der Hauptsache nach in drei
Gruppen, den sog. Eisenacher, Gnadauer und Blankenburger Gemeinschaftskonferenzen organisiert und
unterscheiden sich […], hauptsächlich durch den Grad ihrer Abneigung, die sie aufgrund der ‚Bekehrung’ gegen das
Landeskirchentum hegen.“ Johannes Jüngst, Pietisten, Tübingen 1906, 78.
265
Paul Fleisch, Die moderne Gemeinschaftsbewegung in Deutschland. Ein Versuch, dieselbe nach ihren
Ursprüngen darzustellen und zu würdigen, Leipzig 1903, 153.
266
Johannes Jüngst, Pietismus, Tübingen 1906, 78.
70
261
„ausländische Sekte“, als „Gemeinschaft nichtdeutschen Ursprungs“, sogar als
„Vaterlandsverräter“ diskriminiert. In den methodistischen Gemeinden selbst erfolgte unter
diesem gesellschaftlichen Druck eine folgenschwere nationale Anpassung. Die
Gemeinschaftsbewegung musste alles tun, um nicht wegen ihrer methodistischen Beziehungen
mit in den Strudel der Diskriminierung zu geraten. Sie wollte doch die von nationalem
Bewusstsein erfassten Bürger evangelisieren. Wie konnte sie das, wenn sie selbst ihren Hörern
die nationale Solidarität verweigerte? Diese nationale Integration bedeutete zugleich die
Verwerfung der „ausländischen“ Einflüsse, die sich im Selbstverständnis prägend auswirken
musste.
5. Die organisatorische Ausdifferenzierung
Die kirchliche und die gesellschaftliche Lage beeinflusste nicht nur das Selbstverständnis der
Gemeinschaften nach innen. Es kam nach außen zu weiteren Abgrenzungen. Zuerst traten die
Chöre der Gemeinschaftsbewegung aus dem anfangs gemeinsamen Christlichen Sängerbund
aus, um einen eigenen Evangelischen Sängerbund zu bilden.267 Danach kam es in der Arbeit mit
Alkoholkranken zur Trennung in ein Blaues Kreuzes und ein Freies Blaues Kreuz. Schließlich
konnte in mehreren Städten sogar die Allianz-Gebetswoche wegen der freikirchlichen
angelsächsischen Wurzeln nicht mehr in gemeinsamen Gebetsstunden begangen werden.
Weil die Gemeinschaftsbewegung sich unter den aufgezeigten kirchlichen und gesellschaftlichen
Entwicklungen von den methodistischen Kirchen absetzen musste, bildete sie eigenständige
Organisationen, die sich also indirekt dem Einfluss der methodistischen Kirche verdanken. Die
Tendenz der Abgrenzung wurde durch die Gebetserweckung im angelsächsischen Wales
1904/05 vertieft und durch die „Zungenbewegung“, wie man damals die aus Nordamerika
herüberwirkende Pfingstbewegung bezeichnete, dramatisch auf die Spitze getrieben.
Auf der Suche nach einem Selbstverständnis im Kontext von Kirche und Gesellschaft an der
Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert wurden Grundlagen für eine Mentalität der Abgrenzung
gelegt.268
6. Die verbliebene inhaltliche Ausrichtung: Singende „Unterwanderung“
Trotz der organisatorischen Brüche ist eine weitgehende inhaltliche Einheit singend bewahrt
worden.269 Der Methodistenprediger Ernst Gebhardt (1832-1899) war ungewollt ein Vermittler
methodistischer Theologie und Spiritualität für die Gemeinschaftsbewegung. Im wichtigsten
Liederbuch der Gemeinschaftsbewegung, den Reichs-Liedern, wird Ernst Gebhardt sogar im
Vorwort Dank für die Überlassung seiner Lieder ausgesprochen. Eine größere Zahl von seinen
129 eigenen Liedschöpfungen mit 108 Kompositionen und von den 368 Übersetzungen waren
darin aufgenommen.270 Sie wurden in den Gemeinschaftsstunden und von den Chören gerne
gesungen.271 Selbst die theologische Struktur des Reichs-Liederbuches lehnte sich mehr an
methodistische Vorbilder als an die landeskirchliche Tradition an. Deren Gesangbücher beginnen
267
Die Entwicklung des Christlichen Sängerbundes deutscher Zunge in den ersten 25 Jahren seines Bestehens 18791904, Bonn 1904, 79f.; Martin Leuchtmann, Dem Volk ins Herz, 75 Jahre Evangelischer Sängerbund, Wuppertal,
o.J., 9f.
268
Es ist noch zu untersuchen, ob spätere Abgrenzungen in Theologie und Ökumene hier ihre frühesten Wurzeln
haben.
269
Gegensätzlich blieb die Entscheidung in der Frage der Kirchenbildung, der Ausgestaltung der sozialen
Verantwortung und der ökumenischen Orientierung.
270
J.Steven O´Malley/Thomas Lessmann, Gesungenes Heil. Untersuchungen zum Einfluss der Heiligungsbewegung
auf das methodistische Liedgut des 19. Jahrhunderts am Beispiel von Gottlieb Füßle und Ernst Gebhardt, Stuttgart
1994.
271
Ob dort auch die erstmals in Deutschland von ihm herausgegebenen „Spirituals“ gesungen wurden, wäre eine
interessante Frage im Blick auf kulturelle Empfindungen. Dazu: Karl Heinz Voigt, So kamen die Spirituals nach
Deutschland, in: Hartmut Handt (Hg.), „… im Liede geboren“. Beiträge zur Hymnologie im deutschsprachigen
Methodismus, EmK-Geschichte Bd. 54, Frankfurt/M. 2010, 216-241. Vgl. dort auch: Karl Heinz Voigt, Ernst
Gebhardt (1832-1899) – Sein Liedschaffen als Brückenbauen zwischen Kirchen, Kontinenten und Kulturen, 190215.
71
mit dem Kirchenjahr, methodistische immer mit „Lob und Dank“, ebenso die Reichs-Lieder, in
denen nach „Eingang“sliedern die Abteilung „Lob und Dank“ folgt.
Dem Singen kommt in Bewegungen unterer sozialer Schichten, wie Johannes Jüngst für die
Frühzeit richtig bemerkt hat, eine zentrale Rolle bei der Aneignung und Verinnerlichung
theologischer Grundkenntnisse zu. Liedverse wurden nicht nur gesungen, sondern in
Gebetsgemeinschaften auch als Ausdruck eigener Empfindungen zum persönlichen Gebet.
Diese Art „Theologie in Liedern“ hatte einen prägenden Charakter. Wie sehr diese Lieder vom
„Methodismus“ geprägt waren, hat Walter Schulz, ein der Gemeinschaftsbewegung
nahestehender Theologe, in einer Dissertation an Gebhardts Liedern nachgewiesen.272 Aufgrund
des reichlich übernommenen Liedgutes kann man durchaus von einer „permanenten
methodistischen Unterwanderung“ der Gemeinschaftsbewegung sprechen.
7. Schlussbemerkung
Nach dem Jahrhundert der Abgrenzungen ist in einem ökumenischen Umfeld die Zeit
gekommen, von neuen Leitbildern her die Geschichte neu zu betrachten und historische
Entscheidungen neu zu bewerten. Die hier behandelten Themen sind dafür ein unübersehbares
Signal des Aufbruchs. Wenn in Zukunft auch die Einflüsse des Barock-Pietismus und der
Erweckungsbewegung auf die Gemeinschaftsbewegung genauso konkret in den Blick
genommen werden, wie es hier im Blick auf den angelsächsischen Einfluss geschieht, dann wird
das wesentlich dazu beitragen, den Begriff und die Rolle des sogenannten „Neupietismus“ zu
klären.
272
Vgl. Walter Schulz, Die Bedeutung der vom angelsächsischen Methodismus beeinflussten Liederdichtung für
unsere deutschen Kirchengesänge, illustriert an den Liedern von Ernst Gebhardt. Ein Beitrag zur Geschichte der
Frömmigkeit, Greifswald 1934.
72
Markus Krause
Robert Pearsall Smith als Impulsgeber für die deutsche
Gemeinschaftsbewegung
1898 schrieb Theodor Jellinghaus in seinem Nachruf auf Robert Pearsall Smith über dessen
Wirken: „In Deutschland ist der Segen so tiefgehend gewesen, daß das Jahr 1875 einen neuen
Abschnitt in der Geschichte des inneren geistlichen Lebens bedeutet.”273 Smiths triumphale
Deutschland-Reise 1875 und sein Engagement in der Higher-Life-Bewegung hatten in den
Augen von Jellinghaus eine überragende Wirkung. So zog er folgendes Fazit über das Leben von
Smith: „Darum wollen wir uns freuen, daß sowohl durch R. P. Smith’s hellleuchtendes Wirken
als durch sein stilles, gottergebenes Leiden Jesu Name verherrlicht ist. Gott sei gepriesen für
alles.”274
In diesem Nachruf verwehrte sich Jellinghaus allerdings auch dagegen, dass man „nun
nachträglich noch gegen R. P. Smith verbreitet, daß er ungläubig und weltlich geworden sei.”275
Vielmehr berichtete er: „Ich habe von allen, die ihn gesprochen haben, das Gegenteil
erfahren.”276 Jellinghaus stellte das Ende der Karriere von Smith allein als eine Folge seines
Gehirnleidens und gewisser von Gegnern gestreuter Gerüchte dar.
Trotz des positiven Grundtons zeigt dieser Nachruf, dass Smith in Deutschland nicht
unumstritten war. In einer Beurteilung von Rappard zeigt sich dieser kritische Umgang mit ihm.
Er schrieb in der Zeitschrift Des Christen Glaubensweg 1876 über Smiths Verhalten im Rahmen
des Skandals von Brighton: „Smith hat seine Verirrungen erkannt und bereut; allerdings hätte es
mich sehr gefreut, wenn in dieses Bekenntnis mehr Nachdruck gelegt worden wäre auf das
Fleisch, in dem nichts Gutes wohnt und wenn die Verwirrung deutlich ‚Sünde’ genannt worden
wäre.”277
Smiths plötzliche Abreise im Juli 1875 in die USA, die Beendigung seiner Predigttätigkeiten in
der Higher-Life-Bewegung, Gerüchte über Irrlehre, moralische Verfehlungen und über die
Erkrankung von Smith führten zu vielen offenen Fragen. Da jedoch die Hintergründe zum
damaligen Zeitpunkt größtenteils unbekannt blieben, konnte nicht geklärt werden, was in
Brighton vorgefallen war. Die daraus resultierenden Zweifel an der Person von Smith führten in
Deutschland zu einer kritischen Auseinandersetzung mit ihm. Jedoch überwog schließlich eine
positive Bewertung, was sich gerade in dem hier zitierten Nachruf von Jellinghaus zeigt.
Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, ob die damalige Darstellung und Einschätzung des
Lebens von Robert Pearsall Smith in Deutschland nicht zu einseitig war.278 Denn viele Details
der Biografie von Smith blieben unbekannt. Erst Veröffentlichungen von Briefen und von
Archivmaterial der Familie Smith in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts brachten neue
Erkenntnisse.279 Im Folgenden wird die Biografie von Robert Pearsall Smith dargestellt mit
einem besonderen Schwerpunkt auf der Analyse der amerikanischen Quellen, hier insbesondere
den Briefen von Hannah Whitall Smith.
273
Vgl. Jellinghaus, Entschlafen, Evangelisches Allianzblatt 3 (1898), 23.
Ebd.
275
Ebd.
276
Ebd.
277
Carl Heinrich Rappard, Jesus allein, Des Christen Glaubensweg 2 (1876), 43.
278
Vgl. besonders Max Möller, Robert Pearsall Smith, Ein Lebensbild (Wandsbek 1910), in demSmiths Leben zum
Teil aus Konferenzberichten und anderen Quellen rekonstruiert wird. Jedoch wird hier z.B. kaum auf den Skandal
von Brighton eingegangen und es fehlen gewisse Aspekte, die in den Briefen der Ehefrau Hannah Whitall Smith und
in anderen anglo-amerikanischen Quellen zu finden sind.
279
Zum Beispiel wurden die Briefe von Hannah Whitall Smith erst 1949 von ihrem Sohn Logan Smith teilweise in
dem Buch A Religious Rebel herausgegeben. Umfassendere biografische Arbeiten wurden erst ab 1980
veröffentlicht. Sie beschäftigen sich jedoch hauptsächlich mit Hannah Whitall Smith. Ein Beispiel dafür ist Remarkable Relations – The Story of the Pearsall Smith women (New York 1980) von Barbara Strachey.
73
274
1. Vom Kartenverleger zum Heiligungsprediger
Robert Pearsall Smith wurde am 1. Februar 1827 in Philadelphia geboren. Seine Mutter, eine
geborene Pearsall, kam aus Flushing in Long Island. Sie stammte aus einer alteingesessen
Quäkerfamilie, die sich stark für die Verbreitung des Quäkertums einsetzte. Sein Vater John Jay
Smith, Bibliothekar der Library Company in Philadelphia kam aus einer angesehenen
Quäkerfamilie, zu deren Vorfahren James Logan (1674–1751), der Sekretär von William Penn,
zählte.280
1846, nach einer Europareise mit seinem Vater, bei der man sich die Rechte für das anastatische
Druckverfahren sicherte, eröffnete Smith eine kleine Druckerei und 1848 einen Kartenverlag.
Smith blieb bis zum Sezessionskrieg als Kartenverleger in Philadelphia tätig.281
1851 heiratete er Hannah Whitall, die älteste Tochter von John Whitall, einem der Besitzer der
Whitall Tatum Glass Company. In den folgenden Jahren wurden 1852 die Tochter Eleanor und
1854 der Sohn Franklin geboren. Die ersten Jahre der Ehe waren hauptsächlich von Smiths
Tätigkeit in seinem Kartenverlag geprägt, die oft mit langen Geschäftsreisen verbunden war.282
1857 starb die Tochter Eleanor, was Smith psychisch aus dem Gleichgewicht brachte. Durch
diesen Schicksalsschlag und eine Erweckung in den Jahren 1857/58, die in vielen Städten
Neuenglands zu religiösen Umwälzungen führte, begann sich Smith gemeinsam mit seiner Frau
für christliche Bewegungen außerhalb des Quäkertums zu interessieren. 1858 bekehrten sich
beide und Smith schloss sich den Presbyterianern an.283
1861 kam der Kartenverlag von Smith durch den Sezessionskrieg in finanzielle Schwierigkeiten
und wurde 1864 endgültig aufgegeben. Smith übernahm in Absprache mit seinem
Schwiegervater den Posten als Manager einer Glasfabrik von Whitall Tatum in Milleville, um
sich finanziell zu sanieren.284 Sein Sohn Logan zog später ein nüchternes Fazit hinsichtlich der
frühen beruflichen Karriere seines Vaters: „My father after several unsuccessful business adventures had, owing to his marriage to my mother, been given a partnership”.285 1864 kam die
zweite Tochter Mary auf die Welt.
Bis 1868 blieb Smith mit seiner Familie in Milleville. In dieser Zeit wurden sein Sohn Logan
1865 und 1867 die dritte Tochter Alys geboren. Durch seine Tätigkeit in der Glasfabrik kam
Smith in Kontakt mit der methodistisch geprägten Arbeiterschaft und begann sich für die
Gedanken der Heiligungsbewegung zu interessieren. Neben den Treffen mit den Arbeitern
brachte ein baptistischer Student, der als Tutor für den Sohn Franklin angestellt war, den
Heiligungsgedanken in die Familie ein.286 Smith begann die Treffen der National Camp Meeting
Association for the Promotion of Christian Holiness (NCMA) zu besuchen. 1867 hatte er bei
dem ersten Camp Meeting Treffen in Vineland (New Jersey) ein Heiligungserlebnis, durch das
er nach eigenen Angaben zur völligen Heiligung durchbrach und eine Geistestaufe erlebte.287
280
Vgl. Robert A. Parker, A family of friends, London und Colchester 1960, 2.
Eine genaue Darstellung dieser verlegerischen Tätigkeit findet sich bei Walter W. Ristow, The map publishing
career of Robert Pearsall Smith, in: The Quarterly Journal of the Library of Congress 16 (Washington 1969), 170196.
282
Vgl. Marie Henry, The secret life of Hannah Whitall Smith, Grand Rapids 1984, 26ff.
283
Vgl. Max Möller, Robert Pearsall Smith – Ein Lebensbild, Wandsbek 1910, 8f. Hannah schildert ihr
Bekehrungserlebnis in ihrem Buch The Unselfishness of God (Princeton 1987), 152f. Von Robert gibt es einen Bericht aus einer Ansprache in Oxford: „I had been a ‘religious man’ for ten long and toilsome years, when one day, in
the railway carriage, I for the first time saw in the Scripture what the blood of Christ had done for me.” vgl. Robert
Pearsall Smith, Account of the Union Meeting for the Promotion of Scriptural Holiness, London 1874, 168.
284
Vgl. Barbara Strachey, Remarkable relations, New York 1980, 28f.
285
Vgl. Smith, Unforgotten years, 28. Er beschreibt ihn aber als sehr talentierten Verkäufer, der auf die Kunden sehr
überzeugend gewirkt hat. Smiths Berufsleben als Kartenverleger vor seiner Tätigkeit in Milleville wird in vielen
Biografien und auch von Smith selbst meistens verschwiegen.
286
Vgl. Hannah Withall Smith. The record of a happy life, Philadelphia 1873, 37.
287
Smiths Angaben hinsichtlich seiner Geistestaufe sind widersprüchlich, da er in seinem Buch Walk in the light
diese eindeutig später als sein Heiligungserlebnis datiert. Zwar gibt es einen Brief seiner Frau an ihre Schwester
Sally von 1867, in dem vermerkt ist, dass Smith eine Geistestaufe erlebt hat, vgl. Meg A. Meneghel, Becoming a
"heretic": Hannah Whithall Smith, Quakerism and the nineteenth-century Holiness movement, Indiana University
2000, 175, aber da Smith von diversen Erlebnissen mit dem Heiligen Geist in seinen Leben berichtete, bleibt unklar,
welches davon er als seine Geistestaufe ansah.
74
281
Smith engagierte sich darauf stärker im Holiness Movement. Er besuchte 1868 auch das zweite
Camp Meeting der NCMA in Manheim (Pennsylvania) und das dritte in Round Lake (New
York). Dort traf er auf William Boardman, der ihn als Laienprediger auf dem Treffen
einführte.288 Smith fand Gefallen an seinen Predigtdiensten, denn er stellte sich als begabter
Redner heraus, der sehr gut bei den Zuhörern ankam.289
1868 wurde Smith in das Hauptquartier von Whitall Tatum nach Philadelphia zurückversetzt.
Jedoch beschränkte er nun seine Tätigkeiten für die Firma und setzte sich immer mehr für die
Heiligungsbewegung ein. 1870 bringt er sein Buch Holiness through faith heraus und
gemeinsam mit Boardman wird Smith zu einem der führenden Köpfe des Holiness Movement in
den USA.290
Im August 1872 starb sein Sohn Franklin an Typhus.291 Dieses tragische Ereignis und der
enthusiastische kräfteraubende Einsatz für das Holiness Movement führten bei Smith zu einem
nervösen Zusammenbruch. Aufgrund einer folgenden schweren depressiven Phase beschloss die
Familie gemeinsam nach einer Erholungsreise das Sanatorium von Dr. Henry Forster292 in
Clifton Springs, New York aufzusuchen. Entscheidend an dem dortigen Aufenthalt war eine
Sonderlehre über die Verlobung mit Christus, die Smith und seine Frau von Henry Forster
vermittelt bekamen. Forster lehrte eine bewusste Vereinigung des Gläubigen mit dem Bräutigam
Christus. Diese tiefe Vereinigung mit Gott sollte mit körperlichen und auch sexuellen
Empfindungen einhergehen. Er verstand dieses Phänomen als eine Art Taufe mit dem Heiligen
Geist, die wiederholt bei Gläubigen eintreten könne.293 Im Kern ging es darum, dass durch
körperliche Berührungen, wie zum Beispiel Umarmungen, Emotionen ausgelöst wurden, die zu
einem geistlichen Erleben führen sollten.294 Es scheint so, dass Forster diese Sonderlehre
besonders an Alleinstehende oder Verwitwete vermittelte, die durch diese Verlobung mit
Christus Trost finden sollten.295
2. Erfolge in Großbritannien und Europa
Der Aufenthalt in Clifton Springs brachte kaum etwas für die Gesundheit von Smith. Sie
stabilisierte sich etwas, aber Anfang 1873 hatte er einen weiteren Rückfall. So wurde
beschlossen Smith auf eine Erholungsreise nach Ägypten zu schicken, mit einem Zwischenstopp
in Dorothea Trudels Erholungsheim in Männedorf in der Schweiz.296
Im Februar 1873 brach Smith zu seiner Reise auf, bei der zunächst ein kurzer Zwischenstopp in
London geplant war. Smith hatte durch sein Engagement im Holiness Movement in den USA
bereits Kontakte nach Großbritannien aufgebaut und traf sich während seines Aufenthalts mit
Geistlichen, Politikern und Adligen.297 Da in Großbritannien eine große Offenheit hinsichtlich
des Heiligungsgedankens vorhanden war, legte Smith die Pläne für seine Erholungsreise
zunächst auf Eis und begann in diversen Meetings und kleinen Konferenzen zu sprechen.
Während dieser Zeit baute er Kontakte zu führenden Personen der späteren Keswick-Bewegung
auf, mit denen er im September 1873 eine Reise nach Chamonix mit gemeinsamen Bergtouren
und Bibelstunden durchführte.298 Bei der Gelegenheit unternahm er auch den geplanten
288
Vgl. a.a.O., 174.
Vgl. Robert Allerton Parker, A family of friends, London und Colchester 1960. 33.
290
Vgl. Melvin Easterday Dieter, The Smiths – a biographical sketch with selected items from the collection, in: The
Asbury Seminarian 38/2, Wilmore (1983), 16.
291
Das kurze Leben von Franklin Smith verarbeitet seine Mutter in dem Buch Record of a happy life.
292
Henry Forster war selbst stark von der Heiligungsbewegung beeinflusst und hatte eine Geistestaufe erlebt. Als
Arzt legte er seinen Schwerpunkt auf Wasserheilkunde, wobei er sich auf das geistliche Wohl seiner Patienten
konzentrierte. Deswegen gab es in Clifton Springs eine Kapelle mit eigenem Pastor und Forster selbst betete häufig
mit seinen Patienten. Zu seiner Biografie vgl. Samuel Hawley Adams, Life of Henry Foster, Clifton Springs 1921.
293
Vgl. Ray Strachey (Hg.), Hannah Whitall Smith, Religious fanaticism, London 1928, 167f.
294
Vgl. Meneghel, Becoming a "heretic", 200f.
295
Vgl. Theodor Jellinghaus, Das völlige, gegenwärtige Heil durch Christum, Berlin 1880, 40.
296
Vgl. Marie Henry, The secret life of Hannah Whitall Smith, 62.
297
Vgl. J. C. Pollock, The Keswick Story, Liverpool u. a. 1964, 14.
298
Vgl. a.a.O., 16.
75
289
Abstecher nach Männedorf, wo ihm Samuel Zeller die Hände auflegte und für seine Gesundung
betete.299
Im September traf auch Boardman in London ein und gemeinsam mit diesem begann Smith die
Verkündigung des Higher-Life-Gedankens auszuweiten. Auch Asa Mahan, Charles Cullis300 und
Henry Varley301 beteiligten sich an diesen Treffen im Herbst. Diese Kombination von
Verkündigern, die teils aus den USA und aus verschiedenen nichtmethodistischen
Denominationen kamen, half, die Botschaft der Heiligung in Kreise zu bringen, in denen diese
sonst abgelehnt worden wäre. 1874 folgte auch Hannah Whitall Smith, nach der Totgeburt der
vierten Tochter Rachel, mit ihren Kindern ihrem Mann nach England. Smith gab ab Februar
1874 zusammen mit Boardman die Zeitschrift The Christian Pathway to Power heraus und es
zeichneten sich immer mehr Möglichkeiten ab, die Higher-Life-Theologie zu verbreiten.302 Als
im Mai bei einem Treffen mit Studenten aus Cambridge der Wunsch nach einer Veranstaltung,
die den Camp Meetings ähnelte, aufkam, beschloss man mit Unterstützung von Lord CowperTemple vom 17.-23. Juli die Broadlands-Konferenz auf dessen Anwesen durchzuführen.303 Diese
Konferenz war vom Ehepaar Smith und dem amerikanischen Camp-Meeting-Gedanken geprägt.
Etwa 100 Personen trafen sich zu gemeinsamem Gebet, Bibelarbeiten und persönlicher Stille.304
Aufgrund des Erfolgs der Broadlands-Konferenz fand vom 29. August bis zum 7. September das
Union Meeting for the Promotion of Scriptual Holiness in Oxford statt. Smith war einer der
Hauptorganisatoren und gehörte zu den Hauptrednern. Die zehntägige Konferenz orientierte sich
wieder am Camp-Meeting-Modell und wurde von 800-1.000 Personen besucht.305 Andere
Angaben sprechen sogar von 1.200 oder 1.500 Teilnehmern bei den öffentlichen
Veranstaltungen. Zwar stammten die meisten Teilnehmer aus der Oberschicht oder aus
methodistisch geprägten Kreisen, aber alleine die Berichterstattung und die
Multiplikationswirkung durch die Teilnehmer führten zu einer starken Verbreitung des
Heiligungsgedankens.306 Die Oxford-Konferenz war ein großartiger Erfolg.307
Anschließend brach sich allmählich eine überdenominationelle Bewegung Bahn, die viele
kirchliche Kreise in Großbritannien erreichte. Broadlands und Oxford legten das Fundament für
die spätere Keswick-Bewegung, die in den nächsten Jahrzehnten einen großen Einfluss auf das
kirchliche Leben in Großbritannien und auch Europa haben sollte.
Oxford markiert auch den Startschuss für die weitere Verbreitung der Higher-Life-Theologie in
Kontinentaleuropa. Die aus Deutschland gekommenen Teilnehmer waren begeistert vom Thema
Heiligung und luden Smith zu einer Vortragsreise durch Deutschland ein.308 Zudem wurde
aufgrund des Erfolgs vereinbart, eine Nachfolgekonferenz 1875 in Brighton zu organisieren.
Vgl. Stephan Holthaus, Heil – Heilung – Heiligung, Gießen und Basel 2005, 39.
Charles Cullis (1833-1892) war Arzt und gründete aufgrund einer eigenen Heilungserfahrung nach einem Gebet
ein Heilungsheim für Kranke, um diese geistlich und körperlich zu versorgen. Er gilt als einer der wichtigsten
Vertreter der frühen amerikanischen Heilungsbewegung, war zusätzlich stark vom Heiligungsgedanken beeinflusst
und hatte eine Geistestaufe erlebt, vgl. Urs Schmid, Amerikanische Heiligungsbewegung und
Gemeinschaftsbewegung in Deutschland, Basel 2002, 109.
301
Varly (1835-1912) wurde einer der bekanntesten Prediger Englands. Vor seiner Bekanntschaft mit Smith war er
schon in Heiligungskreisen aktiv und hatte z.B. auf den Konferenzen in Mildmay gepredigt.
302
Vgl. Melvin Easterday Dieter, The holiness revival of the nineteenth century, Studies in Evangelicalism 1, Manham und London 21996, 136f.
303
Teilnehmer dieser Konferenz waren z.B. Boardman, Douglas, Wilberforce, Hopkins, Thornton, W. Arthur, Fox
the Earl of Chichester, Samuel Morley, S. A. Blackwood und aus Frankreich Théodore Monod, Baron Hart, Rivier
und M. St. Hilaire. Vgl. Robert Pearsall Smith, Account of the Union Meeting, 20.
304
Vgl. ebd.
305
Die zehn Tage waren mit Bedacht gewählt und symbolisierten das Warten der Jünger auf die Ausschüttung des
Heiligen Geistes nach der Himmelfahrt Jesu.
306
Vgl. Melvin Easterday Dieter, The holiness revival of the nineteenth century, 140.
307
Vgl. Robert Pearsall Smith Smith, Account of the Union Meeting, 95.
308
Vgl. Karl Heinz Voigt, Die Heiligungsbewegung zwischen Methodistischer Kirche und Landeskirchlicher
Gemeinschaft, Wuppertal 1996, 20. Auf der Tagung waren C. H. Rappard, sein Schwager Paul Kober-Gobat, Otto
Stockmayer, Theodor Jellinghaus, Arnold Bovet, Christoph Johann Riggenbach, Oskar Pank, O. Müller, Dettloff
Prochnow, Friedrich Fabri, J. de le Roi und Julius von Gemmingen.
76
299
300
Ende September 1874 verließ Smith zusammen mit seiner Familie England, um den Winter in
den USA in Philadelphia zu verbringen.309 Diese Zeit in den USA nutzte er hauptsächlich für
verlegerische Tätigkeiten.310
Im Februar 1875 kam Smith wieder nach Europa, zuerst kurz nach England, um weitere Details
für die Konferenz in Brighton Ende Mai abzuklären. Danach reiste er über Belgien und Holland,
wo er Vorträge hielt, nach Deutschland um seiner Einladung nachzukommen. Diese Reise, die
damals in der Presse als „Triumphreise” bezeichnet wurde, war ein großartiger Erfolg, mit dem
niemand, auch Smith selbst nicht, gerechnet hatte. Auf den Stationen seiner „Triumphreise”
kamen teilweise bis zu 6.000 Personen zu den Veranstaltungen und es gab eine rege
Berichterstattung.311 Bei Smith entstand der Eindruck, dass Deutschland gegenüber den
Gedanken der Higher-Life-Bewegung offen war und es gab bei ihm sogar Überlegungen, nach
Deutschland zu ziehen.
Die Brighton-Konferenz vom 29. Mai bis zum 7. Juni 1875 markierte einen Wendepunkt im
Leben von Smith. Im Vorfeld war es bereits zu Differenzen mit einem der Mitorganisatoren
gekommen, bei denen die allversöhnerischen Tendenzen von Hannah Whitall Smith und ihre
Lehrtätigkeit als Frau diskutiert wurden.312 Die Konflikte wurden zwar beigelegt, dennoch zeigte
sich bereits vor der Konferenz, dass Smith nicht völlig unumstritten war. Offensichtlich hatten
Smiths Erfolge auch zu einer gewissen Selbstüberschätzung geführt. So soll er in Brighton
einmal vom Rednerpult aus gerufen haben: „All Europe is at my feet!”313
Dennoch wurde die Konferenz von Brighton ein voller Erfolg. Die Versammlung, die sich stark
am Programm314 von Oxford orientierte, legte einen stärkeren Schwerpunkt auf den Heiligen
Geist und hatte bis zu 6.000 Besucher.315 Nach zehn Tagen beendete Smith die Konferenz, die
durch Teilnehmer aus ganz Europa ein internationales Gepräge hatte316, mit den Worten: „The
Brighton Convention has now ended, and the blessings from the Convention have begun.”317
3. Der Skandal von Brighton
Der erwartete Segen für die Higher-Life-Bewegung wurde durch die folgenden Ereignisse
zunichte gemacht. Zwei Wochen nach Brighton kursierten Gerüchte, dass Smith zu einem
dringenden Treffen mit acht seiner Unterstützergerufen worden sei.318 Zudem wurde während
der Mildmay-Konferenz, die kurz nach Brighton stattfand, zum Gebet aufgerufen: „For God to
advert an impending calamity to the Church”319 was die Unsicherheit hinsichtlich Smiths weiter
verstärkte. Als sich daraufhin herausstellte, dass Smith die Teilnahme an der folgenden
Broadlands-Konferenz sowie der ersten Keswick-Konferenz absagte, überschlugen sich die
Vgl. Hannah Whitall Smith, The Christian’s secret of a holy life, Grand Rapids 1994, 141. Während Smiths
Abwesenheit wurden durch Boardman, Cullis und auch Asa Mahan weitere Konferenzen mit bis zu 2500
Teilnehmern in verschiedenen Städten Großbritanniens durchgeführt. Vgl. Boardman, Life and labours of the Rev.
W. E. Boradman, 161-175.
310
So wurde z.B. das Buch von Hannah Whitall Smith The Christian’s secret of a happy life (New York u. a. 1875)
in dieser Zeit aus dem Material ihrer Bibelarbeiten von Oxford zusammengestellt. Auch die Zusammenfassung der
Oxford-Konferenz wurde von Smith in dieser Zeit verfasst und veröffentlicht.
311
Ausführliche Darstellungen der Reise finden sich in Karl Heinz Voigt, Die Heiligungsbewegung zwischen
Methodistischer Kirche und Landeskirchlicher Gemeinschaft; sowie Stephan Holthaus, Heil – Heilung –Heiligung,
59-90.
312
Vgl. Meneghel, Becoming a "heretic", 224f.
313
Benjamin Breckinridge Warfield, Perfectionism. Volume I, New York 1932, 321.
314
Einen detaillierten Überblick über die Veranstaltungen gibt der Konferenzbericht „Record of the Convention for
the Promotion of Scriptural Holiness held at Brighton May 29th to June 7th“ (Brighton/London 1875).
315
Vgl. Dwight Allan Ekholm, Theological roots of the Keswick Movement, Basel 1992, 109f. Andere Quellen
sprechen sogar von 8.000-10.000. Vgl. z.B. Hannah Whitall Smith, The Christian’s secret of a holy life, 145.
316
Nach Wangemann waren aus Deutschland, Holland, Belgien, Frankreich, Spanien, Italien, Schweden, Norwegen
und der Schweiz 200 Geistliche angereist. Vgl. Theodor Hermann Wangemann, Pearsall Smith und die
Versammlungen zu Brighton in ihrer Bedeutung für Deutschland, Berlin 1875, 6.
317
Record of the Convention for the Promotion of Scriptural Holiness, 359.
318
Dieser Kreis bestand aus S.A. Blackwood. Evan H. Hopkins, Markus Martin, Donald Matheson, R. C. Morgan,
Lord Radstock, T. B. Smithies, Henry Varley und war auch maßgeblich an der Planung der ersten KeswickKonferenz beteiligt.
319
J. C. Pollock, The Keswick Story, 34.
77
309
Spekulationen.320 Zu diesem Zeitpunkt war mit dem Unterstützerkreis bereits vereinbart worden,
dass Smith von allen öffentlichen Tätigkeiten Abstand nehmen würde, und man beschloss, mit
dem Besprochenen nicht an die Öffentlichkeit zu gehen.321
Smith trafen die Anschuldigungen und die Umstände der Angelegenheit empfindlich. Sein
Gastgeber berichtete, dass sich Smiths psychischer Zustand massiv verschlechterte, dass er
Angstzustände hatte und ein Kollaps kurz bevorstand.322 In dieser eskalierenden Situation
versuchte Smith seine Frau in der Schweiz zu erreichen, die sich dort mit einigen Freunden auf
einem Erholungsurlaub befand. Jedoch kollabierte er in Paris und seine Frau erhielt bei ihrer
Rückkehr in Großbritannien in Dover ein Telegramm, dass ihr Mann krank in Paris wäre. Als sie
nach einer Nachtfahrt in Paris ankam, fand sie Robert in einem desolaten Zustand in einem
Hotel. Sie beschrieb die Situation kurz darauf in einen Brief: „It is a complete break down, and a
threatning of the same nervousness from which he suffered so fearfully two years ago, and I am
sure nothing but a long rest and a thorough change of scene and occupations will be of any avail.
[...] I then brought Robert on here to rest and be quiet until the day for sailing come. He has lost
20 lbs. already, and is suffering very much from almost constant nausea, and from his head.”323
Hannah brachte ihren Mann zunächst nach Wales, um dort auf die Überfahrt in die USA zu
warten, die am 14. Juli 1875 stattfand.324
Im Laufe des nächsten halben Jahres kursierten weiter diverse Gerüchte über die Vorfälle von
Brighton. Einerseits wurden Ehebruch oder Irrlehren als Gründe für die überstürzte Abreise von
Smith genannt, andererseits wurde seine psychische Erkrankung, an der Smith aufgrund eines
Sturzes vom Pferd leiden sollte, als Erklärung aufgeführt.325 Als Ende des Jahres in einem
Zeitungsartikel berichtet wurde, dass ein Evangelist im Schlafzimmer einer jungen Verehrerin
aufgefunden worden war, kam es zu einer Stellungnahme des Unterstützerkreises von Smith.326
In ihr wird Smith nicht namentlich genannt und nur vage auf Lehrverirrungen und
Verhaltensweisen, die ohne jegliche böse Absicht gewesen seien, verwiesen. Dies führte nur zu
weiteren Spekulationen über eventuelle kriminelle Handlungen oder mormonischer Tendenzen
von Smith. Deswegen sah sich Blackwood im Januar 1876 in der Zeitung The Record genötigt,
eine zusätzliche Stellungnahme abzugeben, um weiteren Schaden von den an dem Skandal
beteiligten Personen abzuwenden. Er entkräftete in diesem Artikel die wildesten Gerüchte,
rechtfertigte die Entfernung von Smith und sprach ihn gleichzeitig von jeglicher bösen Absicht
frei. Zudem erklärte er aber, dass er nicht tiefer ins Detail gehen wolle, weil dies zu weiteren
Spekulationen führen würde, die aber für die Öffentlichkeit unangebracht seien. Durch diese
Aussage schaffte er es, im viktorianischen Großbritannien die Diskussion zum Erliegen zu
bringen.327
320
Vgl. M. J. D. Roberts, Evangelicalism and Scandal in Victorian England: The Case of the Pearsall Smiths, History: the journal of the Historical Association 95, Oxford (2010), 443f.
321
Vgl. J. C. Pollock, The Keswick Story, 35.
322
Vgl. a.a.O., 34.
323
Hannah Whitall Smith, The Christian’s secret of a holy life, 147.
324
Vgl. Barbara Strachey, Remarkable relations, 47.
325
Eventuell hatte Smith wirklich einen Reitunfall, aber dessen Auswirkungen waren bei weitem nicht so
schwerwiegend. Vgl. die Darstellung seines Sohnes Logan Pearsall Smith, Unforgotten years, 52. Der Verweis auf
den Reitunfall scheint ein Versuch zu sein, Smiths psychische Probleme zu legitimieren. Die Darstellung ist aber
widersprüchlich und lässt sich kaum in den Lebenslauf von Smith eingliedern. Smith selbst berichtete schon auf der
Konferenz in Oxford von einem Reitunfall und dessen Auswirkungen mit einem starkem religiösen Unterton. Nach
eigenen Angaben geschah dies 1861 und er soll sich danach eine Zeit lang allein im Inneren Südamerikas befunden
haben, um dort gesund zu werden. Vgl. Robert Pearsall Smith, Account of the Union Meeting, 134f. Von dieser
Reise und dem schweren Unfall wird aber sonst an keiner anderen Stelle berichtet, nicht einmal in den Briefen der
Ehefrau Hannah findet sich eine Bemerkung darüber.
326
„Some weeks after the Brighton Convention it came to our knowledge that the individual referred to had on some
occasions, in personal coversations, incalculated doctrines which were most unscriptual and dangerous. We also
found that there had been conduct which, altough we were convinced that it was free of all evil intention, way yet
such as to render action necessary on our part. We therefore requested him to abstain at once from all public work,
and when the circumstances were represented to him in their true light, he entirely acquiesced in the propriety of this
course.” Vgl. Barbara Strachey, Remarkable relations, 47f.
327
Vgl. M. J. D. Roberts, Evangelicalism and Scandal in Victorian England, 450f. Eine Übersetzung des Briefes
findet sich bei Jellinghaus, Das völlige, gegenwärtige Heil, 46.
78
Für Smith, der sich zu diesem Zeitpunkt in den USA befand und sich nicht verteidigen konnte,
bedeuteten die Erklärung seines Unterstützerkreises und die Stellungnahme von Blackwood das
endgültige Ende seiner Karriere in Großbritannien. Zwar wurde nie offiziell aufgeklärt, was in
Brighton wirklich vorgefallen war, aber allein die öffentlichen Stellungnahmen legten schwere
moralische Verfehlungen und Irrlehren seitens Smith nahe.
4. Hintergründe zum Skandal von Brighton
Erst 90 Jahre später wurden nähere Details des Skandals von Brighton bekannt. In einen Brief
von Smith an Lord Cowper-Temple fand sich eine Schilderung des Vorfalls. Smith schrieb darin,
dass eine junge Verehrerin namens Hattie Hamilton auf sein Zimmer gekommen wäre und er in
seelsorgerischer Absicht wie ein Vater mit ihr gesprochen hätte.328 Dabei habe er seinen Arm um
sie gelegt mit dem Anliegen, dass sie in Gottes Liebe völlige Ruhe fände. Dieses Gespräch habe
aus Gedankenlosigkeit in seinem abgeschlossenen Zimmer stattgefunden. Es sei jedoch ohne
jeglichen sexuellen Hintergedanken gewesen. Diese Version von Smith scheint aber die
Angelegenheit nur teilweise wiederzugeben. Denn in einen anderen Brief an Cowper-Temple,
der als Reaktion auf die briefliche Schilderung des Zwischenfalls durch Smith geschrieben
wurde, wird davon berichtet, dass Hattie Hamilton auf dem Schoß von Smith saß und er sie
wiederholt geküsst habe.329 Ein Brief von Hannah Whithall Smith und ihr Buch Religious
fanaticism liefern noch weitere Details. Nach ihrer Darstellung soll Smith bei diesem
Seelsorgegespräch auf die Lehre von der Verlobung mit Christus von Henry Forster eingegangen
sein und er habe dabei Hattie Hamilton bewusst berührt, um ein geistliches Erleben auszulösen.
Smith sei während des Gespräches alleine an dem geistlichen Wohlergehen jener Frau
interessiert gewesen.330
Egal was letztlich zwischen Robert Pearsall Smith und Hattie Hamilton wirklich vorgefallen war,
es verletzte jedenfalls eindeutig viktorianische Moralvorstellungen und wurde von seinem
Unterstützerkreis als untragbar angesehen, so dass er fallen gelassen wurde. Wahrscheinlich
spielten auch gewisse antiamerikanische Tendenzen und persönliche Konflikte ein Rolle,
weshalb seine Unterstützer eine für Smith derartig desaströse Öffentlichkeitsarbeit durchführten.
Die vielen öffentlichen Erklärungen lieferten insgesamt solch widersprüchliche Aussagen, dass
man sich kein klares Bild der Geschehnisse machen konnte. Dadurch wurde schließlich der Ruf
von Robert Pearsall Smith grundlegend ruiniert.
5. Smiths Leben nach dem Karriereende
Zurück in den USA stabilisierte sich Smiths Gesundheit langsam. Jedoch sollte er bis zum Ende
seines Leben mit seiner labilen Psyche kämpfen. 1876 nahm er nochmals kurz Predigttätigkeiten
im Holiness Movement auf. Er predigte völlig unvorbereitet und ohne innere Anteilnahme,
dennoch kamen die Predigten bei den Teilnehmern sehr gut an. Dieser unerwartete Erfolg
bestärkte Smith jedoch nur in seinem Zweifel an der Aufrichtigkeit der Bewegung, weshalb er
sich nun endgültig von der Bewegung löste.331
1877 starb Smiths Schwiegervater Smith und hinterließ der Familie Anteile an Whitall Tatum,
die ein völlig sorgenfreies Leben ermöglichten. So findet man in den Briefen von Hannah
Whitall Smith in den nächsten Jahren diverse Reiseberichte und Smith selbst führte das Leben
eines gut gestellten Privatmannes, der diverse Künstler und Schriftsteller unterstützte.332 Die Ehe
der Smiths entwickelte sich in diesen Jahren zu einem reinen Zweckbündnis. Durch seine
psychische Erkrankung und die massive Enttäuschung in England entfremdete sich Robert auch
von seiner Frau. Allem Anschein nach hatte er 1882 eine Affäre.333 Die Briefe seiner Frau vom
328
Hannah berichtet in einem Brief, dass Hamilton Smith in Brighton überschwänglich begrüßte und sogar küsste.
Vgl. Hannah Whitall Smith, The Christian’s secret of a holy life, 149.
329
Vgl. M. J. D. Roberts, Evangelicalism and Scandal in Victorian England, 445f.
330
Vgl. Hannah Whitall Smith, The Christian’s secret of a holy life, 149.
331
Vgl. ebd.
332
Vgl. Marie Henry, The secret life of Hannah Whitall Smith, 97.
333
Vgl. Barbara Strachey, Remarkable relations, 184.
79
Anfang des Jahres zeigen deutlich, dass sie nicht mehr viel von dieser Ehe erwartete.334 Als ihre
Tochter Mary 1885 einen Engländer heiratete, begann für die Familie ein Leben zwischen den
USA und England, bis Robert und Hannah sich 1889 endgültig in England niederließen. Nach
Beschreibungen seines Sohnes Logan hatte sich Smith in dieser Lebensphase weitgehend von
christlichen Glaubensvorstellungen gelöst und scheint die letzten Jahre seines Lebens
desillusioniert in einem schlechten psychischen Zustand verbracht zu haben, bis er am 17. April
1898 in London starb.335
6. Bewertung von Smith in Deutschland
Wie schon beschrieben, überwog in Deutschland eine positive Deutung des Lebens von Smith.
Zum Beispiel verteidigte Jellinghaus 1880 in der 1. Auflage seines Buches Das völlige,
gegenwärtige Heil durch Christum Smith hinsichtlich der Ereignisse von Brighton. Er sah Smith
darin als völlig unschuldig an. Selbst in der 5. Auflage336 beschrieb er Smith noch als
glaubenstarkes Vorbild und auch in Möllers Lebensbild von 1910 wurde Smith noch durchweg
positiv dargestellt. Für ihn wurde Smiths Wirken 1875 einfach durch eine Erkrankung beendet,
von der er sich nicht mehr erholte.337
Einer der Gründe für diese positiven Beurteilungen war wahrscheinlich, dass Smith es geschafft
hatte, in Deutschland einen äußerst positiven Eindruck zu hinterlassen. Smith wurde damals als
charismatischer Redner wahrgenommen, dessen Persönlichkeit von einer tiefen eigenen
Frömmigkeit durchzogen war, gepaart mit einer demütigen Liebenswürdigkeit. Er galt als
gebildet, reich, gutaussehend und war durch seine „Triumphreise“ zu einer Symbolfigur der
aufstrebenden deutschen Heiligungsbewegung geworden. Sie identifizierte sich anfangs so stark
mit Smith, dass man fast von einer Art Personenkult sprechen kann.338 Das legt natürlich nahe,
dass überzeugte Anhänger von Smith nur schwer mit dem Skandal von Brighton und dem
Abbruch des öffentlichen Wirkens von Smith umgehen konnten und deswegen eine positive
Interpretation der Ereignisse entwickelten.
Ein anderer Grund, warum Autoren wie Jellinghaus und Möller weiter positiv über Smith
berichteten, war schlicht und einfach der, dass ihnen Fakten fehlten, bzw. sie ihnen bewusst
vorenthalten oder beschönigt wurden. Wie angemerkt, kamen viele Details über den Skandal von
Brighton erst Jahrzehnte später an die Öffentlichkeit, weshalb eine Verteidigung von Smith eine
legitime Option darstellte. Außerdem hatte Smith selbst verständlicherweise seine
Lebensgeschichte positiv dargestellt und zum Beispiel auch seine Glaubenszweifel nach 1875
nicht weiter artikuliert. Von seinem Sohn Logan gibt es Anmerkungen, dass Smith bei Anfragen
von Anhängern der Heiligungsbewegung weiterhin den Gläubigen gemimt haben soll.339 Wenn
man also nur den Eigenaussagen von Smith über sein Leben folgt, gewinnt man einen äußerst
positiven Eindruck, der jedoch nur teilweise mit der Realität übereinstimmt.
Es ist also nicht verwunderlich, dass das Leben und Wirken von Smith in Deutschland derartig
positiv bewertet wurde. Letztendlich spielte auch noch die Berühmtheit von Smith eine weitere
Rolle. Sein Auftreten in der Higher-Life-Bewegung und die äußerst erfolgreiche DeutschlandReise hatten ein großes öffentliches Interesse ausgelöst. Triumph und Tragödie liegen bei ihm
nahe beieinander. Aus heutiger Sicht ist eine Bewertung seines Wirkens ambivalent, aber ohne
ihn hätte der Heiligungsbewegung eine dynamische Identifikationsfigur gefehlt, die gerade in
Deutschland die Verbreitung des Heiligungsgedankens stark gefördert hat.
Vgl. Hannah Whitall Smith, The Christian’s secret of a holy life, 209f.
Vgl. Logan Whitall Smith, A Religious Rebel, 62, sowie: Barbara Strachey, Remarkable relations, 187.
336
Ab der 2. Auflage fehlen ausführliche Erklärungen zu den Ereignissen in Brighton.
337
Vgl. Max Möller, Robert Pearsall Smith, 56f.
338
Zum Beispiel schrieb seine Frau Hannah etwas verwundert, dass es in Deutschland eine extreme Nachfrage nach
Porträtfotos von Smith gebe. Über 2.000 Bilder wurden daraufhin angefertigt. Vgl. Hannah Whitall Smith, A Religious Rebel, 26. Rappard stellte fest, dass durch den Skandal von Brighton auch eine ungesunde Überbetonung der
Person von Smith beendet wurde. Vgl. Carl Heinrich Rappard, Jesus allein, 43f.
339
Vgl. Logan Whitall Smith, A Religious Rebel, 62.
80
334
335
Wolfgang Reinhardt
Die Erweckung in Wales 1904/05 und ihre Auswirkungen auf den deutschen
Neupietismus
Die Erweckung von Wales in den Jahren 1904-05 war die letzte „große Erweckung“ in Europa,
wenn man darunter eine geistliche Bewegung versteht, die ein ganzes Land durchdringt und für
eine gewisse Zeit verändert. Außerdem weitete sie sich wie wohl keine andere auch in kürzester
Zeit auf buchstäblich alle Kontinente aus.340
1. Der Forschungsstand
Angesichts der Größe und der Wirkungsgeschichte der walisischen Erweckung erstaunt es, dass
sie in den kirchengeschichtlichen Standardwerken des 20. Jahrhunderts wie dem „Heussi“ und
„Hauschild“ keine Erwähnung gefunden hat und sie auch in vielen wissenschaftlichen Beiträgen
über die europäische Erweckungsbewegung fehlt341 – zudem gibt es bis heute keine einzige
deutschsprachige Monographie darüber. Wales wurde als das Land der Erweckungen in Europa
bezeichnet: Allein zwischen 1762 und 1862 zählt man 15 größere Erweckungen,342 die
bedeutendsten waren die von 1859343 und vor allem die im „goldenen Zeitalter“ der
(calvinistisch-) methodistischen Erweckung des 18. Jahrhunderts mit den eigenen großen, aber
bei uns wenig bekannten Erweckungspredigern wie Howel Harris, Daniel Rowland sowie dem
Poeten der Erweckung, William Williams of Pantycelyn.344 Angesichts dieser bedeutenden
Geschichte muss man es als Versäumnis bezeichnen, dass „Wales“, anders als die Erweckungen
in anderen Teilen Europas, kein eigenes Kapitel in der großen, vierbändigen Geschichte des
Pietismus erhalten hat, ja kaum erwähnt wird.345
Aber auch außerhalb der Forschung scheint mir das geschichtliche Interesse an früheren
Erweckungen und die Hoffnung auf eine neue Erweckung im heutigen Pietismus und in
evangelikalen Kreisen unseres Landes gering zu sein. Das ist in vielen Teilen der Welt und das
war auch in Deutschland vor 100 Jahren völlig anders. In der deutschen
Gemeinschaftsbewegung gab es um die Wende zum 20 Jahrhundert eine geradezu „heiße“
Erwartung und einen „Gebetsbund“ zur Erneuerung des ganzen Landes als Teil einer
internationalen Gebetsbewegung.346
Dazu hatten nicht zuletzt die vielen Berichte aus aller Welt, besonders von der großen
Erweckung in Wales ab 1904, beigetragen. Der historische Kontext, die Ursachen sowie der
340
Am ausführlichsten dokumentiert von Noel Gibbard, On the Wings of the Dove. The International Effects of the
Welsh Revival of 1904-05, Bridgend 2002.
341
Literaturbelege und Diskussion in: Wolfgang Reinhardt, Die Erforschung der Erweckungsbewegungen des 20.
Jahrhunderts als dringendes Desiderat der internationalen Pietismusforschung, in: Interdisziplinäre
Pietismusforschungen. Beiträge zum Ersten Internationalen Kongress für Pietismusforschung 2001, hg. von Udo
Sträter (Hallesche Forschungen 17) Tübingen 2005, Bd. II, 813-23, 813f.
342
Vgl. u.a. D. Geraint Jones, Favoured with Frequent Revivals. A Brief History of Revivals in Wales 1762-1862,
Cardiff 2001.
343
Vgl. Eifion Evans, Revival comes to Wales. The Story of the 1859 Revival in Wales, Bridgend 1967; Thomas
Philipps, The Welsh Revival. Its Origin and Development, 1960, reprint: Edinburgh 1998.
344
Vgl. z.B. Geraint Tudor, Howell Harris. From Conversion to Separation 1735-1750, Cardiff 2000; Eifion Evans,
Daniel Rowland and the Great Evangelical Awakening in Wales, Edinburgh, Carlisle 1985; Ders., Bread of Heaven:
The Life and Work of William Williams, Pantycelyn, Bridgend 2010; John Morgan Jones and William Morgan, The
Calvinistic Methodist Fathers of Wales (2 vol.) Edinburgh, Carlisle 2008.
345
In GdP 3, Der Pietismus im neunzehnten und zwanzigsten Jahrhundert (Göttingen 2000), wird nur die letzte
Erweckung von Wales in den Beiträgen von Jörg Ohlemacher über das „Gemeinschaftschristentum in Deutschland
im 19. und 20. Jahrhundert“ (430ff.) und von Mark Noll zu Nordamerika (513) sehr knapp genannt.
346
Vgl. z.B.: „Jetzt ist die Ernte reif. Gottes Stunde für eine große weltweite Erweckung scheint geschlagen zu
haben.“ Der Verfasser nennt aktuelle Erweckungen in verschiedenen Teilen der Welt und fährt fort: „Laßt uns einer
dem anderen versprechen, daß wir Tag für Tag beten wollen für eine Erweckung des Geistesfeuers im unserm
Herzen, unserm Bund, unserm Land und für die Bekehrung der Menschheit!“ in: Licht und Leben 17 (1905), 352.
Im Artikel „An die Mitglieder des Gebetsbundes für eine Erweckung in Deutschland“ wird in einem
kirchengeschichtlichen Durchgang das intensive Gebet einzelner mit nachfolgenden Erweckungen verknüpft, vgl.
a.a.O., 688.
81
Verlauf sind bereits an anderer Stelle nach walisischen Quellen nachgezeichnet worden. 347
Durch englische Übersetzungen der walisischen Bücher und Zeugenberichte sehen wir heute
noch deutlicher, dass diese Erweckung unabhängig voneinander an mehreren Stellen
ausbrach.348 Manche Irrtümer sind zu korrigieren, z.B. der, dass die Erweckung von Wales durch
die Großevangelisation von Torrey und Alexander ausgelöst worden sei,349 oder dass Wales
teilweise einfach unter „England“ subsumiert wird. 350 Im Allgemeinen geben aber die alten
deutschen Berichte, besonders der Augenzeugen, ein weitgehend zutreffendes Bild der
wesentlichen Kennzeichen wieder.
2. Die Berichte über die walisische Erweckung in deutschen Veröffentlichungen
2.1 Zeitschriften- und Augenzeugenberichte aus dem landeskirchlichen Bereich
Aus den zahlreichen Zeitschriften greife ich Licht und Leben exemplarisch heraus.351 Die
bekannteste Persönlichkeit, Evan Roberts, wird darin zwar ausführlicher beschrieben, aber auch
relativiert: Die Bewegung begann vor ihm und breitete sich auch da aus, wo er nie aufgetreten
war. Es war nicht das „Evan Roberts-Revival“ – wir wissen heute, dass diese Sicht vielmehr das
Produkt der nationalen Presse, besonders der Western Mail war. Von den Zigtausenden von
Erweckungsversammlungen war er nur in etwa 250 persönlich anwesend.352 Licht und Leben
schildert die überall sichtbaren öffentlichen Wirkungen einmal so:
„In den Stahlfabriken in Gorsenon kommen die Arbeiter täglich zu Gebetsversammlungen
zusammen, und manch einer hat unter heißen Tränen Gnade gesucht und gefunden. Der Bann
des Volkes: Trunk und Fluchen hat aufgehört. [...] An einem Orte mußte eine Theatergesellschaft
mit dem nächsten Zuge wieder weiter reisen, weil alle Leute in den
Evangelisationsversammlungen waren. Berüchtigte Spieler tun Buße und liefern ihre Karten und
Würfel aus. Die Polizei hat wenig Arbeit, weil überall Ruhe und Ordnung herrscht. In einer
Kirchengemeinschaft ist durch die Erweckung ein unglücklicher Streit beigelegt worden. […]
Überall hört man Beten und Singen, und die Erweckung ist der Gegenstand allgemeinen
Interesses. […] Die Presse spricht von einer nationalen Bewegung, und fünf weltliche Zeitungen
berichten täglich eingehend über dies Wunderwerk. Die Geistlichkeit und alle Prediger des
Wortes erkennen die Hand Gottes. Alle konfessionellen Schranken fallen.“353
Bei allen Unterschieden steht nach Licht und Leben doch die Botschaft vom Kreuz im
Mittelpunkt: „Es ist köstlich zu sehen, wie in diesen Tagen des Unglaubens und der Leugnung
Vgl. Wolfgang Reinhardt, “A Year of Rejoicing”. The Welsh Revival of 1904-05 between Modernity and a Long
Revival Tradition and a Call for a Network of International Research on the Newer Revival Movements in a
Worldwide Context, in: Evangelical Review of Theology (ERT) 31,2 (2007) 100-126, mit neuerer Literatur, etwa R.
Tudur Jones, Faith and the Crisis of a Nation. Wales 1890-1914, Cardiff 2004.
348
Vgl. z.B. Philip H. Eveson (Hg.), When God came to North Wales. An account of how the 1904-05 religious
revival affected Bethesda and Rhosllanerchrugog, Oswestry 2010; Peter and Dorothy Bennett (Hg.), The Quarry
Revival. First hand accounts of the Revival in Llanfairfechan, North Wales, in 1904-5, Llanfairfechan o.J [22011].
349
So Dieter Lange, Eine Bewegung bricht sich Bahn. Die deutschen Gemeinschaften im ausgehenden 19. und 20.
Jahrhundert und ihre Stellung zu Kirche, Theologie und Pfingstbewegung, Berlin 1979; Gießen u.a. ³1990, 162:
„Die Erweckung griff bald nach Wales über.“ Ähnlich schon bei Hans von Sauberzweig, Er der Meister, wir die
Brüder. Geschichte der Gnadauer Gemeinschaftsbewegung 1888-1958, Offenbach. 1959, 184. „Wales“ ist auch
nicht durch diese Evangelisation vorbereitet und nicht „durch den Seminaristen Evan Roberts“ „ausgelöst“ worden,
wie Michael Diener meint: Kurshalten in stürmischer Zeit. Walter Michaelis (1866–1953), Ein Leben für Kirche
und Gemeinschaftsbewegung, Gießen 1998, 147.
350
Etwa noch bei Hans von Sauberzweig, a.a.O., 184, auch 185.
351
Außerdem berichteten u.a. Auf der Warte, das Calwer Missionsblatt, Philadelphia, der China-Bote, das
Evangelische Allianzblatt, der Glaubensbote sowie besonders ausführlich Israels Hoffnung, Licht und Leben und die
Sabbathklänge.
352
R. Tudur Jones, Faith, 361; Henri Bois, Le Réveil au Pays de Galles, Toulouse, Genève [1905], 418. A.T. Fryer:
“Although Evan Roberts’ name is the most prominent in the Revival, he neither created nor sustained it for the most
part. He is the embodiment of the Spirit of the Revival, the most striking manifestation of the force that caused it,
and to a very great extent its leader and director, but he did not produce the Revival, nor did the Revival produce
him.”, The Psychological Aspects of the Welsh Revival 1904-05, e-text, p.10, The Revival Library, King’s Christian
Centre, CD-ROM 2004.
353
Licht und Leben 17 (1905), 136-137; vgl. auch 19 (1907), 313f.
82
347
des Sühnopfers der Heilige Geist seine persönliche Gegenwart beweist und das Wort vom Kreuz
bezeugt als die Gotteskraft, die vom Tode errettet und neues Leben schafft.“ Diese Botschaft
habe auch an den Universitäten und Hochschulen eine Erweckung ausgelöst, so dass Professoren
ihre Vorlesung abbrechen mussten und sie zu einer Gebetsversammlung umgewandelt wurde. In
ganz besonderer Weise gebrauche Gott Jugendliche, „auch junge Mädchen, die durch ihr
Zeugnis [und Singen, WR] ganze Versammlungen bewegen.“ 354
Diese Berichte weckten bei vielen den Wunsch, mit eigenen Augen zu sehen, „um in der
pfingstlichen Luft, die jetzt dort weht, sich gleichsam zu baden.“355 Darunter waren Vertreter der
noch jungen deutschen Gemeinschaftsbewegung wie Otto Stockmayer356 und Jakob Vetter, der
einen Fortsetzungsbericht über die Erweckung in den Sabbathklängen schrieb.357
Ernst Lohmann erzählt in seinen Lebenserinnerungen: „In besonderer Weise erlebte ich die
Wirklichkeit Gottes bei der Erweckung in Wales.“358 Als er in einer privaten Unterredung
Principal Edwards die Frage stellte „Ach, sagen Sie, Herr Professor, was ist jetzt nach diesen
Erlebnissen Ihre Lehre vom Heiligen Geist?“, bekam er die freundliche Antwort: „Alle unsere
Theorien sind in die Brüche gegangen. Wir haben keine Theorien mehr, aber wir haben jetzt die
Sache … Diolch-iddo [sic! = walisisch: Dank sei ihm].“ 359
Eva von Tiele-Winckler berichtet in ihrer Autobiographie von ihren Erfahrungen im walisischen
Bergwerksort Neath und den Nachwirkungen in ihrer Miechowitzer Schwesternschaft in
Oberschlesien: „Mächtig aber waren die Eindrücke, die wir von der umwandelnden Kraft des
heiligen Geistes auf eine ganze Ortschaft und eine große Menschenmenge empfingen. [...]
Unvergeßlich – diese Versammlungen! Es war eigentlich keine Leitung da, und doch empfand
man eine wohltuende Harmonie und heilige Ordnung wie von unsichtbarer göttlicher Kraft
gewirkt.“360
Gräfin Elisabeth von Waldersee wurde durch Berichte von Besucherinnen begeistert und spürte
in Deutschland auf den Konferenzen in Wandsbek und Blankenburg 1905 und den
Versammlungen im Missionshaus der Malche den Geist der Erweckung von Wales, besonders
durch die Vorträge von Jessie Penn-Lewis und das Zeugnis von Eva von Tiele-Winckler, die
„eine Geistestaufe von nie geahnter Kraft in Wales empfangen“ habe. Dies führte dazu, dass sie
354
Licht und Leben 17 (1905), 154.
So der Verf. des Berichtes von der Erweckung in Wales im Calwer Missionsblatt über einen alten Freund, der
demnächst nach England und Wales gehen wolle, auch in: Philadelphia 15 (1905) 68.
356
Vgl. Alfred Roth, Otto Stockmayer, Ein Zeuge und Nachfolger Jesu Christi. Sein Leben und seine Lehre, Gotha
1925. Stockmayer soll vor der Reise geäußert haben: „Ich gehe nach Wales, um mich zu baden in der
Erweckungsluft.“ (222f) Aber er betonte auch: „was hilft uns jedes Baden in Geistesluft, wenn wir nicht persönlich
tiefer in der Reformation wurzeln“, d.h. dass alles nach den unantastbaren Normen des Wortes Gottes gemessen
werde, gerade weil „in Zeiten der Erweckung Mischungen aller Art, Seelisches vorkommt“ (Roth, a.a.O., 223) und
damit das geistliche Leben nicht nachlasse, wenn die Wellenschläge der Erweckung wie schon in Wales
nachgelassen haben. Er konnte sich auch gegen jede „seelische“ Nachahmung der Formen von Wales wehren, vgl.
Roth, a.a.O. 225.
357
„Die Erweckung in Wales“ in: Sabbathklänge 47 (1905), 186-188; 205-207, 219-221; 285-287, 49 (1907) 142;
ein erster Bericht auch schon vom Herausgeber in Nr. 47 (1905), 173f.
358
Nur ein Leben, Schwerin o.J., 183-187: „In Wales“.
359
Von dieser Sache, der Gegenwart des Geistes Gottes, waren viele Besucher fasziniert. Walisische Zeitungen
berichteten von Besuchen zweier Deutscher im nordostwalisischen Rhos(llanerugog), die erzählt hätten, dass (die
Erweckung in) Rhos das Thema der Gespräche in Deutschland sei. Vgl. Pontycymer, in: Y Tyst vom 16.8.1905, sowie
Y Diwygiad, in: Y Gwyliedydd vom 8.6.1905, 5.
360
Eva von Tiele-Winckler, Denksteine des lebendigen Gottes. Aufzeichnungen selbsterlebter Führungen, Gießen/
Basel 1963, 38f. Zurückgekehrt nach Deutschland in den „Friedenshort“ bittet sie ihre Schwestern um Vergebung
für ihr „bisheriges Wirken unter ihnen, für alles Eigene, Selbstgewollte und Selbstgemachte.“ (a.a.O., 43) Es kommt
in der Folge zu einer stillen Kettenreaktion von Sündenbekenntnissen, Vergebung, Gewissheit und
Lebenserneuerung unter den Schwestern. Später erlebte sie eine „große, tiefgehende und mächtige Erweckung unter
den versammelten Schwestern und Gästen“ (a.a.O., 43). Herausgefordert vom Zeugnis dieser, wie sie schreibt
„leuchtend jungen Christen“, spürte sie nach fünfzehn Jahren im Dienst Gottes ihre Kraftlosigkeit, Mangel an
„Zeugenmut“ (a.a.O., 39), aber auch, dass dann das Eis ihres „Herzens allmählich und unter der warmen
Frühlingssonne der Gnade“ auftaute und dass nach einem längeren Prozess, der innere Beugung und tiefen Frieden
einschloss, ein neuer Lebensabschnitt für sie begonnen habe. Vgl. auch Walter Thieme, Mutter Eva. Die
Lobsängerin der Gnaden Gottes. Leben und Werk der Schwester Eva von Tiele-Winckler, Berlin 1966, 150-156.
83
355
selbst mit anderen nach Wales fuhr, um „aus eigner Anschauung die Geistesbewegung an der
Quelle zu studieren.“ 361
Die ausführlichsten Berichte aus deutscher Sicht stammten von Luise Oehler362 und Adeline
Gräfin Schimmelmann. Diese „adlig, fromme, exzentrische“363 Dame am Berliner Hof, die die
üblichen Grenzen ihres Standes überwand, um als freie, „bedeutendste und wohl auch erste“364
Evangelistin zu wirken, berichtet, wie sie auf Bitten der Bergleute in 600 Metern Tiefe eine
Versammlung hielt, wo sich Hunderte von Bergarbeitern früh morgens vor Arbeitsbeginn
regelmäßig zu Gebet. Schriftlesung und Gesang trafen. Als sie noch benommen aus dem
Fahrstuhl stieg und ihr aus der Dunkelheit ein wunderbarer Gesang entgegentönte, war es ihr,
„als ob man aus dem Grabe durch Engelgesang geweckt würde.“ Die Gebete der Männer
schildert sie als „klar, kurz und bündig, kein Wort zu viel, und kein Wort zu wenig – keine
unnützen Gefühlsergüsse.“
Natürlich gäbe es auch Schwächen. „Aber Unrecht wäre es, wo ein paar Mißtöne sind, das
Ganze als eine Dissonanz zu be- und verurteilen.“ Gegenüber den Einwänden besonders der
kritisch veranlagten Deutschen entgegnet sie: Zum einen sei die Bewegung noch jung und erst
der Herbst bringe „das volle Resultat von all den Blüten, die der Sommer in ihrer Farbenpracht
entfaltet.“ Aber man könne auch zu pragmatisch und undankbar sein „und sich die Freude an der
sommerlichen Blütenpracht verderben lassen.“ 365
2.2 Berichte und Wertungen in deutschen Freikirchen
Auch in den deutschen Freikirchen wurde über die Waliser Erweckung berichtet und diskutiert.
In den Freien evangelischen Gemeinden, von deren Leitern offenbar niemand persönlich nach
Wales reiste, gab es begeisterte Berichte, aber auch Vorbehalte, weil man sich – so August Jung
– schon vorher intensiv mit der Sünden- und Rechtfertigungslehre der Heiligungsbewegung
auseinandergesetzt hatte.366 Allerdings werden in seiner Darstellung die geschichtlichen
Ursprünge, die in Wales selbst liegen, nicht richtig wiedergegeben.367 Auch die Rolle von Evan
Roberts wird hier überschätzt. Es ist weiterhin nicht richtig, dass Geistestaufen und
Krankenheilungen „an der Tagesordnung“ waren. Krankenheilungen kamen vor, aber waren
nicht häufig. „Geistestaufen“, oder wie immer man eine neue Erfüllung mit dem Geist nannte,
waren die Frucht ebenso wie Bekehrungen. Man sprach davon, dass etwa 100.000 als neue
361
Hedwig von Redern, Segensspuren im Leben von Gräfin Elisabeth von Waldersee nach ihren eigenen
Aufzeichnungen“. Leipzig o.J., 126-137, 134. Von Redern selbst war nach ihren hohen Erwartungen etwas
enttäuscht von ihren Besuchen in Keswick und Wales – sie kam allerdings auch erst 1906, als die Erweckung schon
abklang, vgl. Hedwig von Redern, Knotenpunkte, Selbstbiographie, Lahr-Dinglingen 1938, 86-91.
362
Luise Oehler, Die religiöse Bewegung von Wales. Nach den Schilderungen von Augenzeugen, Stuttgart 1905.
363
So der Titel der umfangreichen neuen Biographie: Ruth Albrecht u.a., Adeline Gräfin von Schimmelmann.
Adlig. Fromm. Exzentrisch, Neumünster 2011.
364
Paul Fleisch, Die moderne Gemeinschaftsbewegung in Deutschland. Ein Versuch, dieselbe nach ihren
Ursprüngen darzustellen und zu würdigen. 1. Band: Die Geschichte der deutschen Gemeinschaftsbewegung bis zum
Auftreten des Zungenredens (1875-1907), Leipzig 31912, 231. Jörg Ohlemacher in seinem Nachwort zu: Adeline
Gräfin Schimmelmann, Streiflichter aus meinem Leben am deutschen Hofe, unter baltischen Fischern und Berliner
Socialisten und im Gefängnis einschließlich „Ein Daheim in der Fremde“ von Otto Funke, hg, v. Jörg Ohlemacher,
(KTP 12), Leipzig 2008, 141: „Nach heutigem Forschungsstand war sie [...] die erste deutsche Evangelistin, die von
Pommern aus erweckliche Vorträge im ganzen Deutschen Reich und weit darüber hinaus bis in die Vereinigten
Staaten von Amerika hielt.“
365
Unsere Erfahrungen in der Waleser Erweckung, Berlin, o.J., 28-29. In der walisischen Presse stand übrigens, dass
Gräfin Schimmelmann bei ihrem Besuch in der walisischen Bergarbeiterstadt Pontypridd vom Interesse des
deutschen Kaisers an der Erweckung in Wales berichtet habe und dass er solch eine Bewegung auch unter den
Bergleuten in Deutschland erbitte und fördere. Vgl. The Welsh Revivalist, January 1907, 9.
366
August Jung, Vom Kampf der Väter. Schwärmerische Bewegungen im ausgehenden 19. Jahrhundert. Dokumente
aus Freien evangelischen Gemeinden und kirchlichen wie freikirchlichen Gemeinschaften, (GuTh 5,1) Witten 1995,
192.
367
Schon die Vorgeschichte ist nicht korrekt dargestellt: die entscheidenden Ursprünge der Erweckung liegen nicht
in den Konferenzen des englischen Keswick oder dann des walisischen Llandrindod (so sehr dies auch mitgewirkt
hat), schon gar nicht in den Kampagnen von Torrey und Alexander, die „die Lehre von der Geisttaufe mit nach
England“ gebracht hätten und „einen solchen Zulauf“ fanden, „daß man von einer ‚Erweckung’ sprach.“ (a.a.O.,
193).
84
Vollmitglieder den (im Gegensatz zu England meist nonkonformistisch geprägten) Gemeinden
hinzugefügt wurden.368
In den deutschen baptistischen Gemeinden fand die Erweckung in Wales in den Jahren 1905-06
große Beachtung und weckte „die Erwartungen nach einem ähnlichen Erleben in
Deutschland.“369 Wales wurde auf baptistischen Konferenzen „ausnahmslos positiv bewertet.“370
Es gab aber durchaus auch kritische und differenzierende Stimmen.371
Auch im deutschen Methodismus wurde die Erweckung in Wales beobachtet und diskutiert. Der
Evangelist vergleicht die Erweckung „in den Grubendistrikten“ mit ähnlichen Erscheinungen zu
Wesleys Zeiten und kommt dann zu dem Urteil: „Wer die Berichte von vorurteilsfreien,
christlichen Augenzeugen über diese gewaltigen Geisteswirkungen liest, der kann kaum anders
als hierin ein unmittelbares Werk von Gott zu erblicken.“372
Selbst die öffentliche Debatte pro und contra Wales in den Landeskirchen wurde kommentiert.
Auf die Streitschrift des lutherischen Pastors Max Glage aus Hamburg „Wittenberg oder Wales?
Eine ernste Frage“ hatte der ebenfalls lutherische Pastor Mummsen mit der Schrift “Wittenberg
und Wales!” geantwortet.373 Das methodistische Blatt stellte dazu grundsätzlich fest: „Es ist ja
längst zur Genüge bekannt, dass man von gegnerischer Seite alles, was sich auf kirchlichem
Gebiet irgendwie bemerkenswert aus dem Rahmen des Gewohnheitsmäßigen und
Althergebrachten heraushebt, schlechthin als ‚methodistisch’ bezeichnet. In Wirklichkeit tut man
dem Methodismus damit zuviel Ehre an.“374
3. Auswirkungen der Waliser Erweckung auf Deutschland
3.1 Regionale deutsche Erweckungen infolge von „Wales“
In Deutschland steigerten die Berichte aus Wales die Sehnsucht nach einer eigenen Erweckung,
die sich dann zuerst in Mülheim an der Ruhr ausbreitete, wo Ernst Modersohn und Martin
Girkon in einer großen Kirchengemeinde zusammenarbeiteten. Nach gemeindlichen
Gebetstreffen versammelten sich von Himmelfahrt bis Pfingsten 1905 auf übergemeindlicher
Basis in einem neutralen Saal etwa 1000 Menschen.375 Im Rückblick schreibt Modersohn:
368
Leider gehen in Jungs Darstellung die enormen positiven Auswirkungen auf das ganze Land unter der Abwehr
gegen manches „menschliche, unbiblische und unnüchterne Moment in der Bewegung“ verloren. Man spürt in dem
Beitrag eine unverhohlene Kritik daran, dass der Gärtner „im Alleingang“ einen Augenzeugenbericht aus Wales
abdruckte, „der vor Begeisterung strotzte und bedauerlicher Weise ohne einen Kommentar blieb.“ (a.a.O., 194)
Allerdings scheinen hier wie damals auf der Bundeskonferenz der FEG am 21. Juni 1905 in Siegen andere Einflüsse
und deutsche Probleme den Blick für die Waliser Erweckung getrübt zu haben, wie etwa die Frage nach der
Sündlosigkeit und Geisterfüllung, die in Wales anders verstanden wurde, vgl. den Abschnitt über „The Revival and
Doctrine“ bei Noel Gibbard, Fire on the Altar. A History and Evaluation of the 1904-05 Welsh Revival, Bridgend
2005, 170-78.
369
Günter Balders, Kurze Geschichte der deutschen Baptisten, in: Ein Herr, ein Glaube, eine Taufe, 150 Jahre
Baptistengemeinden in Deutschland, hg. von Günter Balders, Wuppertal, Kassel 1984, 60.
370
Axel Kuhlmann, Der Einfluß der angloamerikanischen Heiligungsbewegung auf den deutschen Baptismus
zwischen 1947 und 1914. Unter besonderer Berücksichtigung der auf Bundes- und Vereinigungkonferenzen
behandelten Themen. Unveröffentlichte Examensarbeit, Elstal 2000, 34.
371
Vgl. z.B. Karl Krull, Die Erweckung in Wales, in: Der Hülfsbote, 1905, 174-177: Er stellt dort die These auf, die
Erwartung, dies sei der Anfang einer „großen weltumfassenden Erweckung“ oder auch nur einer solchen in
Deutschland, sei unbegründet. Die Lehre von einer besonderen Geistestaufe für die Gläubigen, die auch in
Deutschland zahlreiche Anhänger gewonnen habe, sei auch in England nur von denen vertreten worden, die von der
Keswick-Konferenz beeinflusst worden seien.
372
Der Evangelist 56 (1905) 16. Die Einordnung in die lange Geschichte „ähnlicher Erregungen“ und die
„Volksseele“ in der säkularen Presse wird mit der geistlichen Sicht konfrontiert, dass es sich um gewaltige
Pfingstfeuer handele: „Es ist ein heiliges Feuer vom Himmel, von welchem Christus sagte: ‚... was wollte ich lieber,
es brennete schon.’“
373
Max Glage, Wittenberg oder Wales? Eine ernste Frage, Hamburg 1905. R. Mumssen, Wittenberg und Wales!
Erwiderung auf P. Glage’s Schrift: Wittenberg oder Wales? Neumünster o.J.
374
Der Evangelist 57 (1906) 147.
375
„Hunderte mußten wieder umkehren, weil sie keinen Platz mehr fanden.“ Ernst Modersohn, Er führet mich auf
rechter Straße, Lebenserinnerungen, Wuppertal 1960, 106. Berichte in den „Sabbathklängen“ 47 (1905), 411-413;
428-432; 444-446; 460-462; 476f.; 493-495; 507-509; 524-526; 540f.; 575f.; 652-654.
85
Nachdem die Glaubenden einer nach dem anderen ihre Sünde bekannt hatten, „da schenkte er
uns ein Pfingsten, wie wir noch keins erlebt hatten. Eine wunderbare Erweckung begann.“376
Die Erweckung breitete sich danach im rheinisch-westfälischen Bereich aus: in Barmen, Witten,
Gelsenkirchen, Kamen, Essen und Hamm. In Witten habe Pastor Simša von seinen Erfahrungen
in Wales erzählt, er und die Pastoren Holthey-Weber und Modersohn seien besonders der Anlass
der Erweckung gewesen.377 Auch im Oberbergischen Land, wo es schon lange ein regelmäßiges
Gebet um Erweckung gegeben habe, verstärkten die Berichte aus Wales diesen Wunsch.378
Der Einfluss von Wales war auch in Norddeutschland spürbar. Das Allianzblatt schrieb, dass in
Itzehoe durch die Verlesung des Vetterschen Berichts über die Erweckung in Wales in der
Versammlung ein Sturm von Gebeten hervorbrach und viele Gläubige unheilige Sachen in
Ordnung brachten.379
In Hamburg brach die Erweckung in der Christlichen Gemeinschaft „Philadelphia“ am
Holstenwall 1905 nach dem Bericht eines Augenzeugen von Wales aus. Es heißt, als sie „die
Gegenwart Gottes in so mächtiger Weise“ erlebten, beteten mehrere hundert Personen zur
gleichen Zeit. 380 Ähnliches geschah in Wandsbek und Elmshorn (Dolman empfahl wöchentliche
Gebetstreffen auf Allianzbasis, 1906 verschickte er 20.000 Gebetskarten).381 Weitere geistliche
Aufbrüche wurden berichtet aus Großalmerode382, Halle, Wernigerode383, Vandsburg, Stettin,
Schlesien, bei Frauenkonferenzen in der Malche Freienwalde (Oder), Liegnitz und Berlin.
Bemerkenswert ist auch der Zusammenhang von Erweckung und einer verstärkten Aktivität von
Frauen und Mädchen, die in Wales selbst noch ausgeprägter war, aber in Deutschland nicht
überall auf Zustimmung stieß.384 Dazu passt auch die Bemerkung „Sobald übrigens die Hochflut
der Erweckung vorüber war, trat auch das Gebet der Frauen und Kinder in den allgemeinen
Gebetsversammlungen wieder zurück.“385
Nicht unerwähnt bleiben soll auch das Phänomen der Kindererweckungen, das aus dieser Zeit
aus dem Oberbergischen und vom Siegerland, aus Norddeutschland und Schlesien berichtet
wird.386
376
Ernst Modersohn, Menschen, durch die ich gesegnet wurde. Erinnerungen von Ernst Modersohn, bearb. von
Alfred Modersohn, Berlin 41972, 74. Viele Berichte sind auch wiedergegeben in: Adelheid Junghardt/Ekkehart
Vetter, Ruhrfeuer, Mülheim 2004, 18-27.
377
In: Was sagt die Schrift? 51 (1905), zit. nach Fleisch, Gemeinschaftsbewegung, 458.
378
„Durch die Kunde von der Erweckung in Wales wurden die Gläubigen gestärkt, Größeres vom Herrn zu
erwarten.“ Die Folge war ein kräftiger Gebetsgeist, Reue über das bisherige Leben und die Ordnung des
Verhältnisses zu anderen Christen. Vgl. Licht und Leben 18 (1906), 293. In Wülfringhausen bei Wiehl hatte man
„unter anderem durch den Bericht eines Augenzeugen über den Segen in Wales tiefe Anregung empfangen.“ Ebd.
379
Deutschland wird heimgesucht, in: Ev. Allianzblatt 15 (1905), 134.
380
Gottes Gnadenheimsuchung in Hamburg, in: Was sagt die Schrift? 2 (1905), 535-39, 535.
381
Fleisch, Gemeinschaftsbewegung, 459.
382
„Eine Erweckung in Großalmerode“, in: Was sagt die Schrift? 2 (1905), 488f.; Bericht von Prediger KaiserHeidelberg, in: Philadelphia 17 (1907), 152-154; „Aufzeichnungen eines jungen Theologen aus dem Jahre 1908
oder was in einer deutschen reformierten Gemeinde möglich ist“, in: Karl Ecke, Der Durchbruch des Urchristentums
infolge Luthers Reformation. Lesestücke aus einem vergessenen Kapitel der Kirchengeschichte, Altdorf/ Nürnberg
2. Aufl. o.J., 80-95. Kritisch dazu Fleisch, Geschichte der Pfingstbewegung in Deutschland von 1900-1950,
Marburg 1983, 47-51.
383
Auf der Herbstkonferenz von Wernigerode 1905 habe „Gott auf das ernste Flehen seiner Kinder hin seinen Geist
ausgegossen über die Versammelten. […] Mit elementarer Gewalt trieb der Geist Gottes, Sünden zu bekennen, sich
zu versöhnen, einander abzubitten und mit allen Sünden aufzuräumen.“ Fleisch, Gemeinschaftsbewegung, 460.
384
In Gelsenkirchen z.B. hatte Cäcilie Petersen, Oberin des Diakonissenhauses Salem in Lichtenrade, 14 Tage lang
Versammlungen gehalten, die eine große Anziehungskraft auf viele Schichten ausübten und das Leben Hunderter
verwandelt haben sollen. Vgl. Erweckung in Gelsenkirchen, in: Ev. Allianzblatt 15 (1905), 158. Der zu erwartenden
Kritik wurde vorgebeugt: „Unser Herz ist voll Anbetung, besonders, dass der Herr auch die Frauen dadurch
legitimiert, an Zions Mauern bauen zu dürfen, was ja nach Neh. 3,12 nicht unbiblisch ist.“ Zit. nach Fleisch,
Gemeinschaftsbewegung, 454. Auch der schwäbische Altpietist Dietrich betrachtete bei aller Freude über die
Waliser Bewegung das öffentliche Reden der Frauen und Mädchen als eine der nicht nachzuahmenden
Äußerlichkeiten, in: Philadelphia (1905) Heft 7, zit. nach Fleisch, Gemeinschaftsbewegung, 448.
385
Licht und Leben 18 (1906) 309.
386
Vgl. z.B. „Aus dem Siegerlande wird von einer merkwürdigen Bewegung unter den Kindern berichtet. Viele
Kinder sind gläubig geworden und halten in der Woche Gebetsstunden ab.“ Evangelisches Allianzblatt 16 (1906),
163. „In Schlesien kam es auch zu Kindererweckungen, und auch dies verteidigten und verherrlichten die
‚Gottestaten’ (Nr. 17).“ Fleisch, Gemeinschaftsbewegung, 463.
86
3.2 Die Waliser Erweckung und die Konferenzen von Bad Blankenburg und
Gnadau
Die Berichte von Wales spielten auch eine Rolle auf den Konferenzen der
Gemeinschaftsbewegung und der Allianz. Auf der großen Allianzkonferenz in Bad Blankenburg
1905 herrschte eine enthusiastische Stimmung. Im offiziellen Konferenzbericht hieß es von den
Ereignissen nach den Vorträgen von Dr. Torrey über die Taufe im heiligen Geist: „Der Herr hat
[…] die Gebete vieler Seiner Kinder erhört, ihre Erwartungen erfüllt, […] und mit einer
Erweckung geantwortet, wie sie geistesmächtiger und tiefgehender wohl keiner der ca. 1300
Gäste erwartet hatte.“387
Die Gnadauer Konferenz war weniger begeistert, aber es gab auch dort – etwa in dem Referat
von Pastor Simsa – mehrfach Bezüge auf die walisische Erweckung und das, was man aus ihr
lernen könnte.388 Paul Fleisch stellte mit Genugtuung fest, dass Gnadau 1906 den Radikalen
„eine schwere Enttäuschung” gebracht habe: „Die Erweckung war nicht ausgebrochen, vor allem
deswegen nicht, weil die Ansätze dazu vom Präsidium jedes Mal unterdrückt wurden, indem das
Durcheinanderbeten abgeschnitten, die Bekenntnisse wenigstens nicht befördert wurden.”389
Lange meint, dass Theodor Haarbeck mit seinem Referat die „so hochgespielte Lehre von der
Geistestaufe einer vernichtenden Kritik unterzogen“ habe, die vielmehr nach biblischem Urteil
mit der Bekehrung zusammenfalle. So hätte die Gnadauer Gemeinschaftsbewegung „den unter
englischem Einfluss stehenden Richtungen eine entscheidende Abfuhr erteilt.“390
4. Das Verhältnis zur Pfingstbewegung
Die weiteren Ereignisse von Kassel 1907 bis zur Berliner Erklärung 1909 bewirkten, dass die
gesamte Entwicklung, die zu der sogenannten „Zungenbewegung“ geführt hat, im Gnadauer
Verband kritisch gesehen wurde.391 Insbesondere die Lehre von der „Geisttaufe“, die vorher in
der Gemeinschaftsbewegung oft wie selbstverständlich aus der angelsächsischen
Heiligungsbewegung übernommen wurde, fiel mit unter das Verdikt „undeutscher“ Lehren.
Eine bedeutsame Frage für die weitere Forschung ist, ob die berechtigte Kritik an dem Terminus
„Geistestaufe“ als einem zweiten, von der Bekehrung unterschiedenen Ereignis nicht den Blick
und die Leidenschaft dafür trübten, dass es durchaus eine größere Fülle des Geistes im Leben des
Glaubenden gibt und somit neue „Geisterfüllungen“ nach Pfingsten erstrebenswert sind – ebenso
auch neue „Ausgießungen“, besondere „visitations of the spirit“ (wie die Waliser gern sagten)
für Gemeinden, ganze Regionen und Länder. Insofern würde ich die These zur Diskussion
stellen, ob nicht die heftige deutsche Abwehr gegenüber der Erwartung eines „neuen
Pfingsten“392 zugleich auch die Erwartung einer größeren Erweckung erstickt oder zumindest
stark gedämpft hat.
In der Folge dieser Ereignisse behauptete man, dass schon in der Erweckung in Wales
Fehlentwicklungen angelegt gewesen seien wie die starke Emotionalität, die Betonung der
Geistestaufe, Visionen und Wunder und in Wales der Grundstein für die spätere
387
Reden und Ansprachen der zwanzigsten Allianz-Konferenz zur Vertiefung des Glaubenslebens, 28. August bis 2.
September 1905, Blankenburg 1905, III; ähnlich: Evangelisches Allianzblatt 15 (1905), 357ff.; 365ff. Kritischere
Beurteilung bei Lange, Bewegung, 166-68.
388
Vgl. Verhandlungen der achten Gnadauer Pfingstkonferenz gehalten zu Schönebeck a. d. Elbe vom 5.-8. Juni
1906, Stuttgart 1906, 27-34, 42, 112f., 128. „Wenn nun durch die Waliser Bewegung irgendeine Sache klar
geworden ist, so gewiß diese: Wir haben dem Heiligen Geiste die Leitung zu lassen. Was dies in der Praxis heißen
kann, möge folgendes Beispiel zeigen. Während der Erweckung in Wales ist es oft genug vorgekommen, dass ein
Pastor mit einer ausgearbeiteten Predigt in die Kirche kam, aber die Gemeinde war schon da, suchend, betend,
singend und dankend. Da hatte der Pastor nicht zu denken und zu sagen: Jetzt bin Ich da, sondern den
gegenwärtigen Gott, den Heiligen Geist, zu ehren und Ihm die Leitung zu lassen.“ (a.a.O., 32)
389
Fleisch, Gemeinschaftsbewegung 479, vgl. auch Ohlemacher, Gemeinschaftschristentum, 433.
390
Lange, Bewegung, 168.
391
Vgl. Giese, Ernst, Und flicken die Netze. Dokumente zur Erweckungsgeschichte des 20. Jahrhunderts, Marburg
1976; Lange, Bewegung 177ff.; Fleisch, Pfingstbewegung, 36ff.
392
Vgl. den berühmten Satz vom alten Elias Schrenk auf der Gnadauer Pfingstkonferenz 1910, obwohl er die
fehlende Geistesfülle der Gemeinde beklagte: „Kinder Gottes warten auf kein Pfingsten.“ Zit. nach Diener,
Kurshalten, 200.
87
Pfingstbewegung mit ihren Verirrungen gelegt worden sei.393 Es ist aber dringend nötig, dass
man trotz mancher Strukturparallelen das historische Urteil über die Erweckung in Wales
unterscheidet von den späteren Erscheinungen in Deutschland und der Pfingstbewegung, wie
immer man sie beurteilt.
Zweifellos gab es Kontakte und Briefwechsel zu späteren Führern des pentekostalen Aufbruchs
1906 in Los Angeles.394 Außerdem wurden zwei der heutigen Pfingstkirchen, die Elim-Kirche395
und die Apostolic Church396, von „Kindern der Waliser Erweckung“ begründet. Allerdings
spielte das wichtigste unterscheidende Kennzeichen der Pfingstbewegung, die Glossolalie, in
Wales fast überhaupt keine Rolle.397 Eine phänomenologische Parallele – allerdings auch zur
früheren Heiligungsbewegung und anderen Erweckungen – besteht vor allem im besonderen
Charakter der Erweckungsversammlungen, von denen viele Besucher berichteten, dass sie nicht
von Menschen geleitet wurden und der freien, spontanen Beteiligung aller Laienchristen Raum
gaben.
Gerhard Ruhbach behauptete 1989 in einem Aufsatz: „Der Beginn der Pfingstbewegung hat
nichts mit der Waliser Erweckung zu tun und knüpft auch nicht an eine laufende Erweckung in
Deutschland an“398, was in dieser Absolutheit nicht stimmt. Er bedauerte, dass es nach der
Trennung bei einem starren Nebeneinander bis in die Gegenwart geblieben sei (was inzwischen
weniger starr ist), aber sein Fazit bleibt bedenkenswert: „Der Preis war hoch, die Erweckung war
gekappt – und das auf Jahrzehnte hin; die Bereitschaft sich den aufgebrochenen Fragen
theologisch und geistlich zu stellen, blieb – aus Beunruhigung und Angst – gering.“399
5. Konsequenzen
Was Stephan Holthaus zusammenfassend in seiner umfangreichen Monographie über das Ende
der Heiligungsbewegung in Deutschland schreibt, gilt ähnlich auch für das Interesse und die
Erwartung einer neuen Erweckung in Deutschland nach 1919: „Mit den Jahren 1909 und 1910
ging eine 35jährige Ära zu Ende, die den protestantischen Gemeinden im deutschsprachigen
Raum viele geistliche Aufbrüche geschenkt hatte und deren Auswirkungen bis heute zu spüren
sind. Die Heiligungs- und Evangelisationsbewegung brach dabei nicht durch Einflüsse von
So kritisiert Hans von Sauberzweig u.a., dass „das Visionäre in den Versammlungen von Evan Roberts eine nicht
geringe Rolle spielte“, in: Er der Meister, 185. Stellvertretend für manche irrige Beurteilung steht auch die Website
des Württembergischen Christusbundes, wo es von der Erweckung in Wales u.a. heißt: „Die Waliser
Erweckungsbewegung hatte also sehr ähnliche Lehren wie Pastor Paul. Der Grundstein für die spätere
Pfingstbewegung war damit gelegt.“ http://www.christusbund.de/Die-Auseinandersetzung.33.0.html (= Wiedergabe
einer Proseminararbeit von Andreas Hirsch, FTH Gießen).
394
Z.B. Pastor Joseph Smale, der in Wales gewesen war und davon in seiner kalifornischen Heimatgemeinde
berichtete, die dann lange Zeit betete um „eine Erweckung, ähnlich derjenigen von Wales. In Wales warteten sie auf
Gott.“ Wie Pfingsten nach Los Angeles kam. Leonberg o.J., 11, 13.
395
Andrew Walker u. Neil Hudson: George Jeffreys, Revivalist and Reformer: A Revaluation. In: Andrew Walker
u. Kristin Aune (Hg.), On Revival. A Critical Examination, Carlisle 2003, 137-156, mit weiterer Literatur.
396
In Pen-y-Groes in Camarthenshire durch Daniel Powell Willams, vgl. T. N. Turnbull: What God hath Wrought:
A Short History of the Apostolic Church, Bradford 1959; James E. Worsfold: The Origins of the Apostolic Church
in Great Britain with a Breviate of its Early Missionary Endeavours, Thorndon. Wellington 991; B. Llewellyn: A
Study in the History of the Apostolic Church in Wales in the Context of Pentecostalism. Unpubl. MPhil thesis, University of Bangor 1997.
397
Als Ausnahmen nennt Noel Gibbard einerseits die vielseitig geistlich begabte Sarah Jones und die beiden Orte
Penygroes bei Ammanford 1906 (später das Zentrum der Apostolic Church) und Bridgend 1906. „Evan Roberts
visited Sarah Jones, a believer who exercised many of the spiritual gifts, including prophesying, healing and speaking in tongues. One source says that she first spoke in tongues during the revival, but another claims it was early in
1906. As far as Pen-y-groes was concerned, however, 1906 was still a time of revival. Similar developments took
place in Pen-y-fai, Aberkenfig, Bridgend, where a new wave of blessing was experienced during 1906.“ in: Gibbard:
Fire, 182. Zum Sprachengebet und einer Häufung ungewöhnlicher Erscheinungen vgl. auch Russell Davies: „At
Maesypica Farm, Cwm-twrch, when Sarah Jones saw ‚a thousand angels’, it was claimed that ‚several spoke in
tongues’, that a portrait of Christ appeared on a ceiling and that the Devil had been cast out of man.“ Secret Sins.
Sex, Violence and Society in Camarthenshire 1870-1920. Cardiff 1996, 201.
398
Die Erweckung von 1905 und die Anfänge der Pfingstbewegung, in: PuN 15 (1989), 90.
399
A.a.O., 94.
88
393
außen, sondern durch interne Querelen und Diskrepanzen auseinander. Von den Verwerfungen
dieser Zeit hat sie sich nicht mehr erholt.“400
Daraus möchte ich eine doppelte Konsequenz ziehen, zunächst auf der wissenschaftlichen
Ebene: Wir brauchen ein Forschungszentrum und ein internationales Netzwerk zur Erforschung
der Erweckungsbewegungen, besonders der vernachlässigten neueren Erweckungen des 20.
Jahrhunderts401, und zwar mit einer komparatistischen Sichtweise. Nur so kann man
Kurzschlüsse vermeiden und differenzieren zwischen typischen sowie kontextuellen oder
sekundären Merkmale von Erweckungen. Ich möchte anregen, dies im Rahmen der
Neupietismusforschung aufzugreifen.
Die zweite Konsequenz liegt auf der kirchlich- gemeindlichen Ebene. Hier könnte ein neues
geschichtliches und ökumenisches Interesse für die alten und neuen Erweckungen des 20.
Jahrhunderts manches bewirken. Zum einen eine größere Unterscheidungsfähigkeit der Christen
angesichts der verwirrenden Vielfalt von heutigen Bewegungen, zum anderen aber auch eine
neue Erwartung einer genuinen Erweckung angesichts unserer kirchlich-theologisch-geistlichen
Armut in Deutschland, so wie die Berichte von der Waliser Erweckung in vielen Teilen der Welt
starke Auswirkungen hatten.
Eine echte Erweckung hat eine begrenzte, aber unverzichtbare Bedeutung. So sollen am Schluss
zwei Äußerungen aus Wales stehen, die auch für unsere heutige Situation bedenkenswert sind.
Einer der vielen Erweckungsprediger von 1904-06, R. B. Jones, sagte 25 Jahre später in seinem
Rückblick auf die damaligen Ereignisse: Erweckungen sind „Gezeiten im Leben einer
Generation, die, wenn man sie nicht nutzt, das Segel hoch und trocken auf dem Ufer liegen
lassen […] Roberts warnte seine Zuhörer schon, dass die Hoch-Zeit der Erweckung mit ihrer
geistlich-emotionalen Anspannung nicht auf immer weitergehen werde, sondern dass man ihre
einmalige Chance ergreifen müsse, bis die Gemeinden auf eine höhere Ebene gehoben würden
und sich dann wieder in die ruhigeren Fahrwasser der normalen Gemeindearbeit begeben
könnten.“402
Einer der führenden Politiker von Wales, der spätere britische Premierminister Lloyd George,
ließ politische Veranstaltungen verschieben, damit sie nicht mit den revival meetings
kollidierten, und wandte sich später an seine Minister mit den Worten: „The material conditions
of this country will not improve until there comes a spiritual awakening”, und er fügte hinzu:
„and I charge you ministers with the responsibility of promoting and fostering such a revival.”403
Stephan Holthaus, Heil – Heilung – Heiligung. Die Geschichte der deutschen Heiligungs- und
Evangelisationsbewegung (1874-1909), (KGM 14) Gießen 2005, 596.
401
Näheres dazu in Wolfgang Reinhardt, „A Year of Rejoicing”. The Welsh Revival of 1904-05 between Modernity
and a Long Revival Tradition and a Call for a Network of International Research on the Newer Revival Movements
in a Worldwide Context, in: Evangelical Review of Theology (ERT) 31,2 (2007) 100-126, sowie ders., Die Erforschung der Erweckungsbewegungen des 20. Jahrhunderts als dringendes Desiderat der internationalen
Pietismusforschung, in: Interdisziplinäre Pietismusforschungen. Beiträge zum Ersten Internationalen Kongress für
Pietismusforschung 2001, hg. von Udo Sträter (Hallesche Forschungen 17) Tübingen 2005, Bd. II, 813-23.
Demnächst detaillierter in einem Aufsatz in der Evangelical Review of Theology.
402
R. B. Jones, Rent Heavens, The revival of 1904, some of its hidden springs and prominent results, o.O. 1931, 56.
403
A.a.O., 67.
89
400
Sven Brenner
Der angloamerikanische Einfluss auf die deutsche Pfingstbewegung
1. Forschungsstand
Den typologischen Ansätzen zur Erforschung der Pfingstbewegung, bei denen sie durch
bestimmte Merkmale von anderen christlichen Gruppen abgegrenzt wird404, stehen im
wesentlichen die historischen Ansätze, die in Verbindung mit der Debatte zu den Ursprüngen der
Pfingstbewegung einhergehen, gegenüber. Als grundlegende Annahme wird hier von einem
historisch definierbaren Zentrum der Pfingstbewegung ausgegangen, zu dem die verschiedensten
Ausläufer der Bewegung in irgendeiner historischen Verbindung stehen müssten.405 Hierbei
wird, vor allem von amerikanischen Autoren, der amerikanische und globale Ursprung der
Pfingstbewegung in der Azusa-Street-Erweckung unter Pastor William Joseph Seymour 1906 in
Los Angeles gesehen.406 Robeck spricht beispielsweise von Azusa Street als dem Geburtsort der
globalen Pfingstbewegung sowie dem vorrangigen Zentrum der weltweiten Ausbreitung der
Pfingstbewegung vor 1915, und erweckt den Anschein, dass die Pfingstbewegung ein allein
nordamerikanisches Produkt sei, das weltweit verbreitet wurde.407 Bergunder weist jedoch
darauf hin, dass dieses Erklärungsmodell zu kurz greift, da die Genese der Pfingstbewegung im
Zusammenhang mit dem missionarischen Aufbruch des 19. Jahrhunderts gesehen werden muss
und von Anfang an ein globales Geschehen war. Azusa Street kann sozusagen eher als
Ausgangspunkt, aber nicht als der eigentliche Beginn der Pfingstbewegung angesehen
werden.408 Daher gehen mit der Diskussion um die Anfänge der pfingstlichen Erweckung
verschiedene historiographische Schemata einher. Neben dem Schema des singulären Ursprungs,
wie z.B. bei Robeck (Nordamerika), das von der Konsequenz her Richtschnur und Maßstab für
alle weiteren Entwicklungen bleibt, steht das Schema der multiplen Ursprünge, bei dem der
Pfingstbewegung mehrere Identitäten mitgegeben werden.409 Auch hier sind die vielfältigen
Ursprünge für die Bestimmung und Bewertung der Pfingstbewegung maßgeblich. Ganz anders
dagegen gehen Entwürfe vor, die keinen Ursprung der Pfingstbewegung zeichnen, sondern deren
historische Kontinuität mit vorgängigen Gruppen herausstellen410. Hierbei bleibt allerdings zu
klären ab wann von der „Pfingstbewegung“ gesprochen werden kann.411 Dayton versucht
beispielsweise aufzuzeigen wie die Pfingstbewegung aus dem Methodismus und der
Heiligungsbewegung des 19. Jh. hervorging und in der Wesleyanischen Theologie wurzelte.
404
Vgl. z.B. Allan H. Anderson, Varieties, Taxonomies, and Definitions, in: Studying Global Pentecostalism.
Theories + Methods, Hg. v. Allan Anderson u.a., Berkeley 2010, 13-29.
405 Jörg Haustein, Arbeitspapier: Theorien und Methoden in der Erforschung der Pfingstbewegung, Stand 3.12.2010,
IAKP-Tagung „Aktuelle Forschungsperspektiven Theorien und Methoden“, Heidelberg, 3.-4.12.2010,
www.glopent.net/iak-pfingstbewegung.
406 Vgl. z.B. Gary B. McGee, To the Regions Beyond. The Global Expansion of Pentecostalism, in: The Century of
the Holy Spirit. 100 Years of Pentecostal and Charismatic Renewal, 1901-2001, Hg. Vinson Synan, Nashville 2001,
69-95. Robert Owens, The Azusa Street Revival. The Pentecostal Movement Begins in America, in: a.a.O., 39-68.
Vinson Synan, The Holiness-Pentecostal Tradition. Charismatic Movements in the Twentieth Century. Michigan
2
1997.
407 Vgl. Cecil M. Robeck, Jr., The Azusa Street Mission and Revival. The Birth of the Global Pentecostal
Movement, Nashville 2006.
408 Michael Bergunder, Pfingstbewegung, Globalisierung und Migration, in: Migration und Identität. Pfingstlichcharismatische Migrationsgemeinden in Deutschland, hg. v. M. Bergunder u. J. Haustein, Frankfurt 2006, 155-169.
Vgl. zum Folgenden Michael Bergunder, Mission und Pfingstbewegung, in: Leitfaden Ökumenische
Missionstheologie, hg. v. Christoph Dahling-Sander u.a., Gütersloh 2003, 200–219. Allan H. Anderson, An Introduction to Pentecostalism. Global Charismatic Christianity, Cambridge 2004, 19–38. Vgl. auch Michael Bergunder,
The Cultural Turn, in: Studying Global Pentecostalism. Theories + Methods, Berkeley, Los Angeles, London 2010,
51-73.
409 Vgl. Walter J. Hollenweger, Charismatisch-pfingstliches Christentum. Herkunft, Situation, Ökumenische
Chancen. Göttingen 1997. Allan H. Anderson, An Introduction to Pentecostalism. Global Charismatic Christianity,
Cambridge 2004, 19–38.
410 Vgl. Donald W. Dayton, Theological Roots of Pentecostalism, New Jersey 1987. Michael Bergunder, Mission
und Pfingstbewegung, in: Leitfaden Ökumenische Missionstheologie, 200–219.
411 Vgl. Michael Bergunder, The Cultural Turn, 51-73.
90
Dagegen wurde ins Feld geführt, dass die Pfingstbewegung noch zahlreiche andere Wurzeln
habe412, dass sie sich theologisch unterscheide413, und dass „diese amerikanische Einordnung die
globale Situation nur unzureichend erfasse“.414
Dieser Aufsatz möchte deutlich machen, dass das Aufzeigen von einlinigen Einflüssen, in
unserem Fall von Amerika nach Deutschland, nicht ausreicht, da wir es in der Pfingstbewegung
mit einem pluralen und multidirektionalem Netzwerk zu tun haben. Mit Blick auf die Anfänge
und die Entstehungsgeschichte der Pfingstbewegung in Deutschland, wird deutlich, dass ein
angloamerikanischer Einfluss durch eine historische Kontinuität, welche eine theologische
Kontinuität impliziert, nicht gegeben ist. Die wesentlichen Aspekte, die zum Aufbruch der
Pfingstbewegung geführt haben, sind in innerdeutschen Entwicklungen sowie exogenen
Faktoren zu suchen. Um weitere Entwicklungen, evtl. Wechselbeziehungen, Abgrenzungen und
Brüche zu eruieren, folgt ein Blick auf die bislang im Bereich „Deutsche Pfingstbewegung“
wenig beachtete Zeit des Nationalsozialismus und ein Ausblick auf die Zeit nach 1945.
2. Entstehung und Ursprung der Pfingstbewegung in Deutschland
Für Stephan Holthaus kam es in Deutschland mit dem Beginn des 20 Jh. zu einem Ende der
Heiligungs- und Evangelisationsbewegung. Vordergründig ließ die aus ihr herauswachsende
Pfingstbewegung diese zerbrechen.415 Hintergründig waren es aber auch pneumatologische
Phänomene und perfektionistische Tendenzen die zur Krise führten, obwohl es solche auch von
Beginn an in der angloamerikanischen Heiligungsbewegung gegeben hatte.416 Unter anderem
lassen sich die Auseinandersetzungen zwischen der aufkommenden Pfingst- und der etablierten
Heiligungs- und Evangelisationsbewegung auf die radikalisierten Heiligungstheorien von
Jonathan Paul, dem sogenannten „Vater der Pfingstbewegung“ zurückführen.417 Im Gegensatz
zur klassischen deutschen Heiligungsbewegung, die den Heiligen Geist nur am Rande
thematisiert und die Heiligung mehr christologisch verortet hatte, wurde die Pneumatologie
durch die von Paul stark verbreitete Lehre von der Geistestaufe, die als plötzliches Erlebnis im
Sinne einer zweiten oder dritten Erfahrung nach Bekehrung und Heiligung verstanden wurde,
mehr und mehr in den Mittelpunkt gerückt.418 Noch deutlicher wurden die Unterschiede zur
klassischen Heiligungsbewegung aber in der Frage des Perfektionismus.419 In seiner
sogenannten „Lehre des reines Herzens“ hatte sich ab 1904 die Heiligungslehre von Paul so
radikalisiert, dass seine Theologie der Lehre von einer möglichen Sündlosigkeit sehr nahe
kam.420
Zusätzliche Impulse kamen aus dem Ausland. Während innerhalb der Heiligungs- und
Evangelisationsbewegung die Erwartung einer neuen Geistesausgießung vorherrschte,
412
Vgl. Walter J. Hollenweger, Charismatisch-pfingstliches Christentum.
Z.B. zeigt dies Terry Cross gegenüber dem „Evangelicalism“ (Dayton) auf. Terry Cross, Sind Pfingstler
Evangelikale? Eine Betrachtung der Theologischen Differenzen und Gemeinsamkeiten, in: Freikirchenforschung 19
(2010), 114-138.
413
415
Zur Geschichte der deutschen Pfingstbewegung vgl. Paul Fleisch, Die Pfingstbewegung in Deutschland,
Hannover 1957; Christian Hugo Krust, 50 Jahre Geschichte der deutschen Pfingstbewegung – Mülheimer Richtung,
Nürnberg 1958; Walter J. Hollenweger, Enthusiastisches Christentum. Die Pfingstbewegung in Geschichte und
Gegenwart, Zürich 1969; Paul Schmidgall, Von Oslo nach Berlin. Die Pfingstbewegung in Europa, Erzhausen 2003;
Paul Schmidgall, Hundert Jahre Deutsche Pfingstbewegung. 1907-2007, Nordhausen 2007; Ekkehart Vetter,
Jahrhundertbilanz – erweckungsfasziniert und durststreckenerprobt. 100 Jahre Mülheimer Verband FreikirchlichEvangelischer Gemeinden, Bremen 2009.
416 Stephan Holthaus, Heil – Heilung – Heiligung. Die Geschichte der deutschen Heiligungs- und
Evangelisationsbewegung (1874-1909), Gießen 2005, 551ff.
417 Vgl. Paul Fleisch, Die Heiligungsbewegung. Von den Segenstagen in Oxfort 1874 bis zur Oxford-GruppenBewegung Frank Buchmans, Hg. und eingeleitet von Jörg. H. Ohlemacher, Gießen 2003, 357-364.
418 Vgl. Stephan Holthaus, Heil – Heilung – Heiligung, 557.
419 Vgl. a.a.O., 558.
420 Vgl. Paul Schmidgall, Hundert Jahre Deutsche Pfingstbewegung, 83. Christian Hugo Krust, 50 Jahre, 76.
Stephan Holthaus, Heil – Heilung – Heiligung, 556-563.
91
beobachtete man zur gleichen Zeit in Großbritannien eine ähnliche Erweckungssehnsucht.421
Neben großer positiver Resonanz im deutschsprachigen Raum und regelrechten „Pilgerfahrten“
von Deutschen nach Wales, gab es innerhalb der deutschen Gemeinschaftsbewegung aber auch
Kontroversen über die Einschätzung der neuen Erweckung.422 Insgesamt sieht Holthaus die
Erweckungsversammlungen in Mülheim an der Ruhr und auf der Blankenburger Konferenz im
Jahr 1905 als eine direkte Auswirkung der Aufbrüche in Wales an. „Sie trugen den Funken der
Erneuerung nach Deutschland“.423 Und obwohl die Botschaft vom Geisteswirken und
Zungenreden, angestoßen durch die Ereignisse in der Azusa Street schnell Deutschland erreichte,
schlug sie dort zunächst keine großen Wellen, da Wales näher lag. Der Durchbruch der
Pfingstbewegung in Deutschland geschah erst durch einen Umweg über Norwegen, durch
Thomas Ball Barratt, der während seines Amerikabesuches im Jahre 1906 mit der
Pfingstbewegung in Berührung gekommen war. Nach dem Empfang einer pfingstlichen
Geistestaufe kehrte er nach Norwegen zurück und berichtete über seine neuen Erfahrungen.424
„Die Nachricht von den geistlichen Aufbrüchen in Norwegen erreichte schnell auch
Deutschland, wo die Wogen der Waliser Erweckung inzwischen verklungen waren“.425
Schmidgall sieht verschiedene Erweckungsberichte für die Entstehung der deutschen
Pfingstbewegung als ausschlaggebend an, da diese enthusiastischen Berichte das Verlangen
etwas Ähnliches zu erleben verstärkten.426 „Für die Teile der Gemeinschaftsbewegung, die sich
später in der deutschen Pfingstbewegung konstituierten“ hält er aber das Diktum von Eugen Edel
für zutreffend: „Der Ursprung der heutigen (Pfingst-) Bewegung ist in Wales zu suchen“.427
Schmidgall zeigt aber auf, dass die Ereignisse von Azusa Street zu Beginn sowohl in den
Gemeinschafts- als auch in den Pfingstkreisen begrüßt wurden. „Erst als die Enthusiasmen der
Azusa Street Erweckung bekannt wurden, haben sich verschiedene Leiter der
Gemeinschaftsbewegung dagegen ausgesprochen“. Seitens Johannes Seitz wurde am 7. Juli 1907
ein kritischer Brief nach Los Angeles geschrieben, der die Warnung und Aufforderung enthielt
doch „zu prüfen“:
„Es ist viel Göttliches, Gutes und Herrliches im Anfang der Los Angeles-Bewegung gewesen.
Aber wenn Unbiblisches, Ungesundes, Schwärmerisches hineinkommt, so wird es gehen, wie
wir es in Deutschland so oft sehen mußten: wenn sich die Hölle in Lichtsgestalt verkleiden
konnte und man Verzückungen, Offenbarungen und Erscheinungen für bare Münze annahm, so
kam dadurch ein falscher Geist herein und zerstörte allmählich, oft auch schnell alles das, was
vom Geiste Gottes kam und wirklich durch den Geist Gottes entstanden war.“428
Selbst die Leiter der entstehenden Pfingstbewegung Mülheimer Prägung distanzierten sich
deutlich von Azusa Street und identifizierten sich mehr mit dem früheren Aufbruch um Charles
Vgl. Stephan Holthaus, Heil – Heilung – Heiligung, 563. Beispielsweise evangelisierte dort 1903-1904 der
amerikanische Evangelist und Heiligungstheologe Reuben Archer Torrey, begleitet von dem Sänger Charles
Alexander. Hinzu kam der damals wachsende Einfluss der Keswick-Konferenzen. Der für den deutschsprachigen
Raum wohl populärste Prediger der Erweckung in Wales, die 1904 ihren Ausgang nahm, war Evan Roberts.
422 Vgl. a.a.O., 566. Jonathan Paul sah im Aufbruch von neuen Geistesgaben die positive Besonderheit von Wales.
423 Stephan Holthaus, Heil – Heilung – Heiligung, 567
424 Barratt befand sich wegen einer Geldsammlung in New York. Er hörte von der Erweckung in der Azusa Street
und informierte sich darüber, war aber persönlich nicht in Los Angeles gewesen. Vgl. auch Paul Schmidgall, Von
Oslo nach Berlin!, 19
425 Stephan Holthaus, Heil – Heilung – Heiligung, 571.
426 Paul Schmidgall, Hundert Jahre Deutsche Pfingstbewegung, 45. Schmidgall unterscheidet zwischen externen
Gründen: Verschiedenen Erweckungsberichten, die um die Jahrhundertwende aus dem Ausland (1901
Topeka/Kansas; 1904/05 Wales; 1906 Azusa Street; 1906/07 Christiania) nach Deutschland gelangten; und internen
Gründen: Die Gemeinschaftsbewegung als Wiege der deutschen Pfingstbewegung. Durch sie wurden fünf
theologische Fundamentalien wie Heil, Heiligung, Heilung, Heilserwartung, Geistestaufe vorgeprägt.
427 Eugen Edel, Der Kampf um die Pfingstbewegung, 15. Zitiert in Schmidgall, Hundert Jahre Deutsche
Pfingstbewegung, 55. Edel zitierte selbst allerdings den Gemeinschaftshistoriker J. Warns aus dessen Monatsblatt
„Die Wahrheit in Liebe“. Vgl. das Zitat auch bei Paul Fleisch, Die Pfingstbewegung in Deutschland, 24. Paul
Fleisch bringt die „Vorgänge im Ausland“ direkt mit der Erweckung in Wales 1904 zusammen und stellt sie neben
die Wurzel der enthusiastisch-eschatologischen Richtung der deutschen Gemeinschaftsbewegung, als eine zweite
Grundströmung, auf welche die Deutsche Pfingstbewegung zurückgeht (Paul Fleisch, Die Pfingstbewegung in
Deutschland, 386).
428 In: Christian Hugo Krust, 50 Jahre Deutsche Pfingstbewegung, 56.
92
421
Fox Parham (Topeka, Kansas 1901).429 Nach den Kasseler Ereignissen 1907 wollte man wohl
nicht mehr mit „Enthusiasmen“ in Verbindung gebracht werden, und die andauernden Gespräche
mit der Gemeinschaftsbewegung nicht gefährden.430 Interessanterweise wurden die Ereignisse
unter Barratt in Norwegen weitaus positiver aufgenommen, und Jonathan Paul reiste 1907 nach
Christiania um die Erweckung persönlich zu sehen.431 Obwohl die skandinavische Erweckung in
weiten Teilen enthusiastisch war, wurde sie selbst nach den Ereignissen von Kassel von
Anhängern der deutschen Pfingstbewegung weiterhin positiv rezipiert. Schmidgall sieht als
mögliche Erklärung die geographische Nähe und damit verbundene Möglichkeit, im Gegensatz
zum weit entfernten Los Angeles, die Erweckung durch Besuche unmittelbar in Augenschein zu
nehmen.432
Obwohl die Gegner der Pfingstbewegung in Deutschland in der Berliner Erklärung von 1909 die
Bewegung „im untrennbaren Zusammenhang mit der Bewegung von Los Angeles, Christiana,
Hamburg, Kassel und Großalmerode“ sahen, lässt sich historisch gesehen keine direkte
Verbindung zwischen Azusa Street und der Pfingstbewegung in Deutschland belegen. Es besteht
höchstens eine indirekte Verbindung durch Thomas Ball Barratt.433 Somit kann das
historiographische Schema des singulären Ursprungs und der damit oft verbundenen
amerikanischen Einordnung im Falle der deutschen Pfingstbewegung nicht aufrecht erhalten
werden. Vielmehr erweist sie sich bei näherer Betrachtung als Produkt eines größeren
diskursiven Netzwerks.434
3. Angloamerikanische Einflüsse bis 1945
Schon seit den Anfängen der deutschen Pfingstbewegung hatte es Beziehungen zum Ausland
gegeben, auch nach Amerika.435 Beispielhaft sei hier ein Vorgang erwähnt, als 1928 in Mülheim
Vogets Gedanken von der Notwendigkeit tieferer Buße und der pessimistischen Gelassenheit
sich so durchgesetzt hatten, dass sich von außen und innen Kritik erhob.436 Aus den USA kam
die erstaunte Anfrage, ob Gott sich in Deutschland etwa ganz anders offenbaren und reden würde
als in Amerika? Im Gegensatz zu der in Amerika vorherrschenden Freude im Herrn,
Händeklatschen, wehenden Taschentüchern, gegenseitigem Schütteln der Hände, Lachen,
Jauchzen, und der Tatsache, dass jedermann vergnügt und glücklich sei, scheine in Deutschland
das andere Extrem vorzuherrschen: Immer in Staub und Asche und immer ein beständiges
Klagen über die eigene unwürdige und untüchtige Verfassung. Die Hauptbotschaft in
Deutschland laute wohl: „Tut Buße!“437
Doch ist z.B. der Einfluss der größten und bedeutendsten pfingstlichen Freikirche in den USA,
der Assemblies of God, in den ersten Jahrzehnten auf Deutschland als sehr gering einzustufen.438
429
Vgl. Paul Schmidgall, Hundert Jahre Deutsche Pfingstbewegung, 62. Parham lehrte die Geistestaufe als
zusätzliches Ereignis zur Heiligung und sah in der Xenolalie das Zeichen für den Empfang der Geistestaufe (nach
Apg 2). Im Januar 1901 erlebte eine seiner Schülerinnen, Agnes Ozman, das sehnlichst erwartete Zeichen. Parham
und weitere Schüler folgten.
430 Vgl. a.a.O., 56. Die Norwegerinnen Dagmar Gregersen und Agnes Thelle kamen 1907 zur Unterstützung von
Evangelisationen nach Hamburg und dann nach Kassel. Im Blaukreuzhaus in Kassel eskalierten die Veranstaltungen
und mussten abgebrochen werden.
431 Vgl. Christian Hugo Krust, 50 Jahre Deutsche Pfingstbewegung, 51-52.
432 Vgl. Paul Schmidgall, Hundert Jahre Deutsche Pfingstbewegung, 69.
433 “The news from Los Angeles created great interest in Spirit-baptism and tongues in Germany, but there appears
to be no direct link between Germany and Azusa Street, only an indirect connection existed through the ministry of
the Methodist Pastor, Thomas Ball Barratt (1862-1940).” In: Carl Simpson, A critical evaluation of the contribution
of Jonathan Paul to the development of the German Pentecostal Movement. Ph.D.-Thesis, Glyndwr University
March 2011, 101-102, bisher unveröffentlicht.
434 Vgl. Michael Bergunder, Pfingstbewegung, Globalisierung und Migration, 155-169. Die Pfingstbewegung kann
als ein internationales diskursives Netzwerk verstanden werden, das zur Definition das Vorhandensein zweier
Formalkriterien erfordert: historische Beziehungen und synchrone Interrelationen (diachrones und synchrones
Netzwerk).
435 Vgl. Carl Simpson, A critical evaluation, 124-129, sowie Paul Fleisch, Die Pfingstbewegung in Deutschland,
291f. Beispielsweise unterhielt Voget gute Beziehungen zu den amerikanischen Assemblies of God.
436 Vgl. a.a.O.,311.
437 A.a.O., 312-313.
438 Gottfried Sommer, Anfänge freikirchlicher Pfingstgemeinden in Deutschland zwischen 1907 und 1945, 24.
93
Einige Bedeutung hatte die seitens des Amerikaners Paul Bernhard Peterson 1927 gegründete
Russian and Eastern European Mission, die später den Namen Eastern European Mission
(EEM) erhielt. 1928 entstand in diesem Zusammenhang eine Bibelschule in Danzig durch
Gustav Herbert Schmidt, der auch für die EEM dort ein Hauptquartier errichtet hatte. Die
Unterrichtssprache war dort Deutsch. In den Wirren des Krieges wurde Schmidt verhaftet,
konnte Deutschland aber heimlich verlassen, nachdem er aufgrund seiner amerikanischen
Staatsbürgerschaft 1941 entlassen wurde.439
Für die Pfingstbewegung in Deutschland zur Zeit des Nationalsozialismus ist zu beachten, dass
evtl. mit Ausnahme des Mülheimer Verbandes und der Elim-Bewegung von keiner voll
organisierten Denomination gesprochen werden kann, sondern von Gruppierungen mit starken
Leiterpersönlichkeiten. Aufgrund eines ausgeprägten Partikularismus ist das Verhalten der
verschiedenen Pfingstgruppen in dieser Zeit sehr differenziert zu betrachten.440
Mit Blick auf die Pfingstbewegung Mülheimer Richtung ist auffallend, dass „Amerika“ kein
vorrangiges Thema gewesen ist. Interessanterweise findet zum Beispiel in der Zeitschrift
Heilszeugnisse441 der Mülheimer Bewegung im Zeitraum von 1930 bis 1941 „Amerika“ so gut
wie keine Erwähnung, dafür umso mehr „England“. Scheinbar englische negative
Charaktereigenschaften wie „Sentimentalität und Sensationshunger, Weichlichkeit und
Grausamkeit“ wurden als etwas angesehen, was nur auf „angelsächsischem Holze“ wuchs, aber
auf keinen Fall in Deutschland.442 In ihrer Selbstwahrnehmung spielte nur Deutschland eine
bestimmende, übergeordnete und somit einflussreiche Rolle. Gemäß nationalsozialistischer
Propaganda hatte man sich auf England als direktes Feindbild eingeschossen. Gott habe dem
gedemütigten Deutschland einen Führer erweckt, der wirklich um Frieden bemüht sei, der aber
aufgrund der Briten und Franzosen zur Kriegspolitik gezwungen wurde.443 Frankreich und
England bekämen durch den Krieg letztendlich nur das, was sie verdienten, da Deutschland den
Krieg nie gewollt habe444, im klaren Gegensatz zu England, das am liebsten gesehen hätte, wenn
überall Krieg gegen Deutschland entbrannt wäre.445
Deutschlands „Triumphe“ wurden gleichgesetzt mit Gottes Gerechtigkeit und Gericht. England
erführe dadurch „Züchtigung für ihre frevlerische Kriegsschuld“446 und sehe „die erhobene
Sense des deutschen Schnitters über sich“, verharre aber trotzdem weiterhin in seiner
Verblendung.447 Aber „wen Gott verderben will, den schlägt er mit Blindheit“.448 England
würde durch das Schwert „die ihm gewiß noch einmal heilsame Demütigung erfahren, die Gottes
Wort und Weissagung ihm nach Daniel Kapitel 7 Vers 4 zubestimmt“ habe.449 „Denn die
Engländer sie wollen ja doch angeblich eine bewußt christliche Nation sein, sie bleiben aber die
wirkliche Beweisführung dafür weitgehend schuldig.“450
Die Eschatologie war vom Ausgang des Krieges geprägt. Die Zerschlagung des Fundaments des
britischen Weltreichs, den die deutschen „Helden“ unter Einsatz ihres Lebens erzwängen, würde
den Weg zum Endsieg frei machen.451 England wurde als Blockade für das sich neu
konstruierende Europa gesehen. Die anderen europäischen Völker hätten bereits erkannt, dass
sich auf deutscher und italienischer Seite die „jungen zukunftsstarken Kräfte“ befänden.452 Am
439
Vgl. a.a.O., 25. Siehe auch J. Coletti, Russian and Eastern European Mission, in: The New International Dictionary of Pentecostal Charismatic Movements (Revised and Expanded Edition). Hg. Stanley M. Burgess and Eduard
M. Van der Maas, 2003, 1031-1032.
440 Sven Brenner, „Pentecostalism in Nazi Germany“, GloPent Conference 2009, Birmingham, U.K. unveröffentlichtes Manuskript. 1. Vgl. Paul Schmidgall, Hundert Jahre Deutsche Pfingstbewegung, 287-294.
441 Heilszeugnisse. Eine Halbmonatsschrift zum Dienst der Gemeinde Jesu Christi. Hg. K.W. Mütschele, Erschienen
in Mülheim/Ruhr. Ab Jg. 22/1930 bis Jg. 33/1941. Gemeinde Gottes Archiv Urbach.
442 Vgl. Des Engländers Feind heißt England!, in: Heilszeugnisse Nr.21, 1. November 1940, 32 Jg., 163.
443 Vgl. Gerechtigkeit erhöht ein Volk, in: Heilszeugnisse Nr.9, 1. Mai 1940, 32 Jg., 69-70.
444 Vgl. Des Engländers Feind heißt England!, in: Heilszeugnisse Nr.21, 1. November 1940, 32 Jg., 163.
445 Vgl. Ein Brandherd weniger!, in: Heilszeugnisse Nr.22, 15. November 1940, 32 Jg., 174.
446 Waffenstillstand!, in: Heilszeugnisse Nr.14, 15. Juli 1940, 32 Jg., 109.
447 Vgl. Zeit der Ernte, in: Heilszeugnisse Nr.17, 1. September 1940, 32 Jg., 135.
448 Waffenstillstand!, in: Heilszeugnisse Nr.14, 15. Juli 1940, 32 Jg., 109.
449 Gerechtigkeit erhöht ein Volk, Heilszeugnisse Nr.9, 1. Mai 1940, 32 Jg., 69f.
450 Ebd.
451 Vgl. Stück um Stück, in: Heilszeugnisse Nr.23, 1. Dezember 1940, 32 Jg., 182.
452 Neues Europa, Heilszeugnisse Nr.24, 15. Dezember 1940, 32 Jg., 189.
94
Ende stünde aber klar der deutsche Sieg, der die Neuordnung Europas bringen würde.453 Der
Untergang des englischen Weltreiches sei nötig, damit „endlich für alle Zeit Ruhe und Frieden“
einkehre.454 Nur so könne es „wirkliche Freiheit“ für die deutsche Nation geben. 455
Eine starke Abgrenzung erfolgte gegenüber dem Anglo-Israelismus, der ja beispielsweise schon
von Charles Fox Parham vertreten wurde. Parhams Hierarchie der Rassen mit den Angelsachsen
als oberster Herrenrasse passte sehr genau ins damalige Umfeld der Südstaaten der USA.456 In
den Heilszeugnissen bemerkte man mit Erstaunen gravierende Unterschiede hinsichtlich der
Einstellung zur jüdischen Abstammung. Während jedermann in Deutschland, dem Land dem es
nicht nur genügte jeder geistigen Beherrschung des eigenes Volkes durch ein fremdes Gastvolk
ein Ende zu bereiten, sondern das auf mögliche Reinheit der Rasse drang, seine arische
Abstammung beweisen musste und sich jeder glücklich schätzen konnte, wenn er „keinen
Tropfen jüdischen Blutes in seinen Adern hatte!“, brach in England, „dem größten Weltreich“,
eine genau entgegengesetzte Bewegung auf. „Der Engländer fing an, mit einem erstaunlichen
Fleiß und Eifer sich um einen lückenlosen Nachweis dafür zu bemühen, dass die Angelsachsen
eigentlich Israeliten seien.“457 In diesem Zusammenhang ging man in einem Artikel in den
Heilzeugnissen auf die British-Israel-World-Federation ein, laut der die britische Rasse das
wieder aufgefundene Israel darstelle. Die angelsächsischen Völker, zu denen auch SchleswigHolstein, Hannover, die Provinz Sachsen u.a. gehören, seien die blutsmäßige Fortsetzung der
israelitischen Nation, und somit „die Erben der besonderen Vorrechte, die Israel durch den
nationalen Bund Gottes mit ihm zugesichert empfangen habe“.458 Man stellte mit Erstaunen fest,
dass das, „was also der Deutsche verabscheut und als einen Ekel von sich weist, zur selben Zeit
des ihm doch blutsverwandten Engländers höchster Stolz und Ruhm!“ wird.459
Ohne Zweifel sah man sich aber auch gegenüber Amerika als überlegen an. Amerika war ein
Land, das man im Hinblick auf seine öffentliche Moral und seine fehlenden Persönlichkeiten mit
Verantwortlichkeitsgefühl „augenblicklich am Ende eines Sandseiles“ baumeln sah.460 Amerika,
übertraf Deutschland beispielsweise darin weit „Sekten“ zu bilden. 461 Am Beispiel von Heinrich
Vietheer (Elim-Bewegung), der auch als ein Vater der deutschen Pfingstbewegung angesehen
wird,462 möchte ich diese Positionierung gegenüber Amerika verdeutlichen. Vietheer war ein
Mann, der in seinem Dienst sogenanntes „Amerikanisches“ ablehnte. In einem speziellen Fall,
als es in Königsberg zu erheblichen Problemen durch einen Prediger kam, stellte Vietheer
beispielsweise fest, dass doch jeder Einsichtige seit Jahren wisse, dass dieser Prediger durch das
Nachahmen amerikanischer und englischer Methoden und das künstliche Forcieren von
„Erweckungen“ auf die Dauer nicht über seine Unaufrichtigkeit und innere Hohlheit
hinwegtäuschen konnte.463 Und von seiner Amerikareise 1934/35 berichtet Vietheer, dass er dort
u.a. „echt Amerikanisches“ zu hören bekam, etwas, bei dem er innerlich absolut nicht mitgehen
konnte.464
Trotz mancher Vorurteile konnte Vietheer aber Amerika auch etwas Positives abgewinnen. Z.B.
war er so beeindruckt vom Moodyschen Bibelinstitut in Chicago, dass er im Glaubensweg
darüber einen über drei Ausgaben laufenden Bericht veröffentlichte.465 Auch imponierte ihm die
dortige Gastfreundschaft und er musste zugeben, dass er so manches in Amerika lernen konnte.
453
Vgl. Gelöbnis und Gebet, in: Heilszeugnisse Nr.5, 1. März 1941, 33 Jg., 39.
Zum Zeitgeschehen, in: Heilszeugnisse Nr.8, 15. April 1941, 33 Jg., 69.
455 Verpflichtendes Gebot, Heilszeugnisse Nr.24, 15. Dezember 1940, 32 Jg., 189.
456 Walter J. Hollenweger, Charismatisch-pfingstliches Christentum. Herkunft Situation Ökumenische Chancen,
Göttingen 1997, 33-35.
457 Vgl. Wächter, wie weit ist´s in der Nacht?, in: Heilszeugnisse Nr.3, 1. Februar 1935, 27 Jg., 39.
458 A.a.O., 40f.
459 A.a.O., 39.
460 Vgl. Aporia Luk. 21,25, in: Heilszeugnisse Nr.14, 15. Juli 1933, 25 Jg., 224.
461 Vgl. a.a.O., 164f.
462 Vgl. Bernhard Olpen, Gekämpft mit Gott und Menschen. Das Leben von Heinrich Vietheer, Erzhausen 2007, 10.
463 Vgl. H. Vietheer, Reisebericht, in: Der Glaubensweg, Nr.12, 1931, 5 Jg., 142.
464 Vgl. H. Vietheer, Reisebrief aus Amerika. Von unserem Missionsleiter, in: Der Glaubensweg Nr. 12; 1934; 8 Jg.,
144.
465 Vgl. H. Vietheer, Das Moody’sche Bibelinstitut in Chicago, in: Der Glaubensweg Nr.9, 1935; 9 Jg., 106; Ein
Rundgang durch das Moodysche Bibelinstitut in Chicago, in: Der Glaubensweg Nr.10, 1935, 9 Jg., 118-119;
Interessantes aus dem Moodyschen Bibelinstitut in Chicago, in: Der Glaubensweg Nr.11, 1935, 9 Jg.,131-132.
95
454
Denn „alles in allem war es eine gesegnete Konferenz.“466 Vietheer berichtete den Geschwistern
in Deutschland erstaunt, dass er in Chicago, die in Deutschland als die größter Verbrecherstadt
der Welt galt, von den angeblich überall präsenten „Gangstern“ gar nichts bemerkte.467 Er stellte
dann aber mit Erschrecken fest, dass seitens der Amerikaner ein völlig falsches Bild von
Deutschland bestehe und sah seinen Dienst nun als dessen Korrektur. Vietheer konnte es nicht
glauben wie viel „Falsches“ in Amerika über die deutsche Regierung und besonders über den
Reichskanzler verbreitet wurde und versicherte, dass in Deutschland völlige Freiheit herrsche,
das Evangelium in biblischer Klarheit zu verkündigen. Er beschloss überall wo er in Amerika
dienen würde, am ersten Abend zuerst über die Situation in Deutschland zu sprechen.468 In
seinem ersten Abendvortrag mit dem Titel „Wie sieht es in dem heutigen Deutschland aus?“
stellte er die „vielen häßlichen und gehässigen Lügen, die hier in Amerika verbreitet werden“
bloß, bevor er anfing „den großen und herrlichen Jesus zu predigen und das gegenwärtige,
völlige Heil in ihm.“469 Vietheer wurde so, bewusst oder unbewusst, zum Botschafter für
Deutschland und seine nationalsozialistische Politik. Vietheers „aufklärender Dienst“ war aus
deutscher Sicht sogar so „erfolgreich“, dass Geschwister aus Amerika Mut bekamen nach
Deutschland zu reisen, obwohl man sie zuvor gewarnt hatte, deutschen Boden zu betreten.
Letztendlich fanden sie es hier „natürlich ganz anders vor als erwartet“, was von den damaligen
Besuchern der Gottesdienste, aber auch von den deutschen Behörden „sehr beifällig
aufgenommen“ wurde.470
Einige Geschwister in Amerika waren dankbar für die Monatszeitschrift der Elim Bewegung in
Deutschland, den Glaubensweg, den sie selbst lasen und auch bewarben, da er „wahre
Hausmannskost und unverfälschte Wahrheit“ enthalte. Und gerade das Bekennen dieser
Wahrheit sei es, was der deutschen „Geistesbewegung“ sehr hoch anzurechnen sei.471
Während seiner Amerikareise hatte Vietheer die Gelegenheit vielen Gottesdiensten
beizuwohnen, z.B. auch einer „Negerversammlung“ in der geklatscht und getrommelt wurde.
„Der Prediger stampfte dauernd mit dem Fuß, daß es nur so dröhnte und dauernd schlug er
klatschend mit der Hand aufs Podium und aufs Geländer“. Etwas, was Vietheer bisher noch nie
erlebt hatte: „Mir fing mein Kopf an zu brummen. Ja, ja, es geschieht allerlei unter der
Sonne.“472 Er besuchte auch Los Angeles. Und gerade dort hat Gott, so Vietheer „diese vielfach
auch noch heute sehr verachteten Negern“ in der kleinsten Straße von Los Angeles erwählt um
dort ein Feuer fallen zu lassen, „das sich bald über die ganze Welt ausbreitete!“. Für Vietheer hat
„sich keine christliche Bewegung in Amerika so ausgebreitet wie diese Geistesbewegung“.473
Doch obwohl Vietheer die weltweite Bedeutung von Azusa Street anerkannte, grenzte er die
deutsche Bewegung deutlich davon ab. Aus seiner Perspektive war es beispielsweise nicht leicht
eine deutsche Gemeinde auf klarer biblischer Grundlage in den Vereinigten Staaten zu gründen.
Ein Anliegen das ihn immer mehr ins Gebet trieb.474 Seiner Meinung nach war in der
Arbeitsmethode der Brüder dort noch „manches mangelhaft“.475 Auch ginge es in den
Erweckungsveranstaltungen viel zu laut zu, da die Geschwister in Amerika sich in den
öffentlichen Versammlungen auf allerlei Weise bemerkbar machten, auch während der
Ansprache. Da hierdurch das Wirken des Heiligen Geistes behindert würde, konnte Vietheer das
nicht dulden und ging ganz energisch dagegen vor. Auch schleppte man seiner Ansicht nach in
Amerika viel zu schnell Seelen, die noch gar keine klare Sündenerkenntnis hatten, zur
sogenannten Bußbank. Vietheer stellte überdies fest, dass es dort noch viele Hindernisse
wegzuräumen gäbe, da die Geschwister keine „wahre Zerbrechung“ kannten und sie auch nicht
wollten.476
466
H. Vietheer, Reisebrief aus Amerika. Von unserem Missionsleiter, in: Der Glaubensweg Nr.12, 1934, 8 Jg., 144.
Vgl. ebd.
468 Vgl. ebd.
469 H. Vietheer, Evangelisation in Benton Harbor, Mich., U.S.A., in: Der Glaubensweg Nr.1, 1935, 9. Jg., 12.
470 H. Dittert, Zeltarbeit in Altona, in: Der Glaubensweg Nr.8, 1935, 9 Jg., 96.
471 Vgl. Aus dem Leserkreis, in: Der Glaubensweg Nr. 8, 1935, 9 Jg., 96.
472 H. Vietheer, Evangelisation in Cleveland, Ohio, U.S.A., in: Der Glaubensweg Nr.2, 1935, 9 Jg., 23-24.
473 H. Vietheer, Reisebrief aus Californien, in: Der Glaubensweg Nr. 3, 1935, 9 Jg., 35.
474 Vgl. H. Vietheer, Evangelisation in Cleveland, Ohio, U.S.A., in: Der Glaubensweg Nr. 2, 1935, 9 Jg., 23-24.
475 H. Vietheer, „Reisebrief aus Amerika. Von unserem Missionsleiter“, Der Glaubensweg Nr. 12, 1934, 8 Jg., 144.
476 Vgl. H. Vietheer, Evangelisation in Benton Harbor, Mich., U.S.A., in: Der Glaubensweg Nr. 1, 1935, 9. Jg., 12.
96
467
Insgesamt lässt sich feststellen, dass ein amerikanischer Einfluss auf die Deutsche
Pfingstbewegung in den ersten Jahrzehnten kaum vorhanden war. In der Zeit des
Nationalsozialismus übernahm man innerhalb der deutschen Pfingstbewegung die
nationalsozialistische Sicht des alles überragenden Deutschland, die zur Überheblichkeit und
Abgrenzung vor allem gegenüber England, aber auch Amerika führte. Man hielt die eigenen
deutschen Wurzeln für die weitaus wichtigste Prägung.
4. Angloamerikanische Einflüsse nach 1945
Schon während der Zeit des Nationalsozialismus gab es seitens amerikanischer
Pfingstgemeinden Bemühungen in Deutschland Fuß zu fassen. Im Falle der International
Church of the Foursquare Gospel, die 1937 in Berlin gegründet, dann aber aufgrund des Krieges
verboten wurde, gelang dies beispielsweise nicht.477
Ganz anders dagegen erging es Herman Lauster, dem Begründer der Gemeinde Gottes in
Deutschland, der nach Amerika ausgewandert war und 1936 als Missionar der Church of God
aus Amerika zurückkehrte und ab 1937 in Deutschland Gemeinden gründete.478 Aufgrund seiner
evangelistischen Tätigkeiten wurde er festgenommen und von August 1938 bis März 1939 im
KZ Welzheim inhaftiert.479 Dies führte seitens des weltweiten Leiters der Church of God, J. H.
Walker, zu einem weltweiten Gebets- und Fastentag am 5. März 1939, dem wohl 50.000
Gläubige in den USA, Deutschland und anderen Ländern folgten. Am 16. März 1939 wurde
Herman Lauster aus dem KZ entlassen.480 Im Februar 1942 wurde er zum Militärdienst
eingezogen und diente während der Zeit des Krieges auf der Insel Guernsey. Er kam erst nach
Deutschland zurück, als er im August 1946 aus englischer Kriegsgefangenschaft entlassen
wurde.481 Nach dem Krieg erhielten die neugegründeten Gemeinden Hilfslieferungen mit
Kleidern und Nahrungsmitteln von der Mutterkirche, der Church of God aus den USA. Hierzu
trugen auch einige in Deutschland stationierte amerikanische Soldaten, die Mitglieder der
Church of God waren, bei. Durch finanzielle Hilfe aus Amerika konnte 1948 ein Missionszelt
gekauft werden. Im Februar 1949 wurde mit Unterstützung des Deutschamerikaners Robert R.
Seyda eine Bibelschule begonnen482, und durch weitere Unterstützung aus den USA wurde es
von 1949-55 möglich vier Gemeindehäuser zu errichten.483 1963 wurde Lambert DeLong,
Amerikaner und Schwiegersohn von Herman Lauster, als Vorsteher der Gemeinde Gottes in
Deutschland eingesetzt um den erkrankten Lauster zu entlasten, der dann 1964 verstarb. Lambert
DeLong leitete nach ihm die Gemeinde Gottes Deutschland für zehn Jahre.484
Auch bei den Assemblies of God kamen die Beziehungen zu Deutschland erst nach 1945 sichtbar
zum Tragen. Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges versuchten die Assemblies of God
bewusst Einfluss zu nehmen, da man für die „Neuerziehung“ nach die Krieg das Evangelium als
fundamental wichtig ansah: „Education did not prevent Germany from ravaging Europe in the
past and it will not now. What is needed is a power that will go below the surface and touch
men’s hearts. That power is the gospel of Christ. It needs to be preached in Germany in the power of the Spirit until men’s hearts are changed and a generation of law-abiding, peace-loving
Christian youth arises to be a blessing and not a curse to mankind.”485
Vgl. Paula Gassner, In des Töpfers Hand, Stuttgart 22007, 69. Paula Gassner berichtet hier wie sie in Berlin mit
einer Mitarbeiterin von Aimee McPherson aus Kalifornien zusammengeführt wird, die in Berlin in der
Schönfließerstraße Versammlungen abhielt. Vgl. Sommer, Anfänge freikirchlicher Pfingstgemeinden, 27.
478 Vgl. Herman Lauster, Vom Pflug zur Kanzel, Krehwinkel 1964; Bobbie Lauster, Herman Lauster. One Man and
God, Cleveland 1967; Schmidgall, Hundert Jahre Deutsche Pfingstbewegung, 323ff.
479 Vgl. Herman Lauster, Vom Pflug zur Kanzel, 60-69; Bobbie Lauster, Herman Lauster, 93-119.
480 Bobbie Lauster, die Schwiegertochter von Herman Lauster, berichtet von diesem „Wunder“. Bobbie Lauster,
Herman Lauster, 93-119.
481 Vgl. Herman Lauster, Vom Pflug zur Kanzel, 80.
482 Sie wurde zum Vorläufer des heutigen Europäischen Theologischen Seminars in Freudenstadt-Kniebis.
483 Vgl. Paul Schmidgall, Hundert Jahre Deutsche Pfingstbewegung, 373-375.
484 Vgl. Paul Schmidgall, Von Oslo nach Berlin, 96.
485 “Re-education Germany”, The Pentecostal Evangel, 26. Mai 1945, 5.
97
477
Man erkannte eine offene Tür in Deutschland, und nach und nach gewann das Thema „Einigkeit
unter den Pfingstkreisen“ an Bedeutung.486 Hierbei ist Gustav Kindermann zu erwähnen, der als
Field-Sekretär der Assemblies of God für Europa tätig war, und nach Ende des Krieges die
Initiative für eine neue internationale Konferenz ergriff. Unter anderem wollte man auch dem
besonders von amerikanischer Seite her geäußerte Wunsch die in der Nachkriegszeit
eingesetzten Hilfslieferungen nach gemeinsamen Richtlinien zu koordinieren, nachkommen.487
Als 1950 die Freien Pfingstler ihren Weg getrennt von den Mülheimern gingen, wurden sie
„sowohl von schwedischer als auch von amerikanischer Seite behutsam gedrängt, sich doch
endlich als freikirchliche Pfingstgemeinden zu einigen. Andernfalls stünde sogar die Verteilung
der humanitären Hilfsgüter für sie auf dem Spiel.“488 Als Erklärung für die Spannung zwischen
den deutschen Pfingstbrüdern wurde u.a. die Auseinandersetzung zwischen der amerikanischen
und der kongregationalistisch ausgerichteten schwedischen Pfingstbewegung gesehen.489 Es gab
nämlich besonders zwischen den Assemblies of God und den schwedischen Pfingstpastoren, von
denen viele der deutschen Prediger beeinflusst waren, eine Auseinandersetzung bezüglich der
Organisation.490 Aus schwedischer Sicht lehnte man die Idee einer denominationellen
Organisation völlig ab,491 und verstand sich im Gegensatz zu den Amerikanern „als eine
ausschließlich auf Vertrauen und Liebe der Pfingstprediger angelegte Arbeitsgemeinschaft, ohne
jede hierarchische Struktur.“492
Es stand der Vorwurf im Raum, dass die Vertreter der amerikanischen Assemblies of God – im
Gegensatz zu den völlig uneigennützig arbeitenden schwedischen Missionen, die in keinem
einzigen Fall versucht hätten so etwas wie schwedische „Filialen“ in Deutschland zu gründen –
hauptsächlich ihre eigenen Interessen in Deutschland vertreten würden.493 Schwedische Leiter
argwöhnten, „dass die amerikanischen Brüder gewissermaßen die Hand auf das Werk in Europa
legen und es sozusagen von den USA aus beaufsichtigen wollen, ein Ansinnen, dem die
amerikanischen Gesandten jedoch widersprachen.“494 Weil man kein Geld hatte, war man aber
auf die Hilfe der Amerikaner angewiesen. Auf amerikanische Initiative hin wurde schließlich das
„Theologische Institut“ gegründet.495 Die Amerikaner hatten dort ein theologisches, spirituelles
und personelles Übergewicht, so dass es von deutscher Seite zu einem Antrag kam, bestimmte
Kriterien zu berücksichtigen, da die Amerikaner dem deutschen Empfinden nicht voll gerecht
würden.496 Die Leitung sowie der Großteil der Lehrerschaft wurde aber weiterhin von den
amerikanischen Assemblies of God gestellt. Rückblickend stellte man allerdings fest, dass sich ab
486
Vgl. Gottfried Sommer, Die Sammlung Deutscher Freikirchlicher Pfingstgemeinden in der Zeit des
Wiederaufbaus 1945-1955 zur Arbeitsgemeinschaft der Christengemeinden in Deutschland (ACD). Entwicklung
und Selbstverständnis. Unveröffentlichtes Manuskript, FTA Gießen 1999, 17-18. Sommer beruft sich auf: „Reeducation Germany”, in: The Pentecostal Evangel, 26. Mai 1945, 5; „An Open Door in Germany”, in: The
Pentecostal Evangel, 23. Juni 1945, 3; John Lindvall, Pentecostal Blessings in Germany, in: The Pentecostal Evangel, 19 Juni 1948, 9; Gustav Kindermann, “Pentecostal Unity in Germany”, in: The Pentecostal Evangel, 6.
November 1948, 14.
487 Vgl. Paul Schmidgall, Hundert Jahre Deutsche Pfingstbewegung, 396-397. Die deutschen Pfingstkirchen
erhielten nach dem Krieg Direkthilfen von Pfingstgemeinden aus der Schweiz, Skandinavien und den USA, vgl.
a.a.O., 348.
488 Ludwig David Eisenlöffel, Freikirchliche Pfingstbewegung in Deutschland. Innenansichten 1945-1985.
Göttingen 2006, 67.
489 Vgl. a.a.O., 70.
490 Vgl. Gottfried Sommer, Sammlung Deutscher Freikirchlicher Pfingstgemeinden, 21.
491 Vgl. a.a.O., 27.
492 Ludwig David Eisenlöffel, Freikirchliche Pfingstbewegung in Deutschland, 56.
493 Vgl. a.a.O., 72.
494 Paul Schmidgall, Hundert Jahre Deutsche Pfingstbewegung, 398-399. Vgl. Gottfried Sommer, Die Sammlung
freikirchlicher Pfingstgemeinden, 32.
495 Gustav Kindermann kaufte im Auftrag der Assemblies of God eine gut erhaltene Villa in Stuttgart. Dies wurde
der Vorläufer des Theologischen Seminars Beröa, der Ausbildungsstätte des Bundes Freikirchlicher
Pfingstgemeinden (heute in Erzhausen bei Darmstadt).
496 Z.B. sollten deutsche Pfingstprediger die besonderen Schwerpunkte der praktischen Theologie im Blick auf die
deutsche Situation lehrmäßig vermitteln. Vgl. Ludwig David Eisenlöffel, Freikirchliche Pfingstbewegung in
Deutschland, 85-94.
98
1951 die amerikanische Kultur und Frömmigkeit neben der herkömmlichen deutschen störend
bemerkbar gemacht hatte.497
Insgesamt wird deutlich, dass es nach Kriegsende zu einem Paradigmenwechsel kam. Nun wurde
von den USA aus massiv versucht, Einfluss auf die deutsche Pfingstbewegung zu nehmen, was
insgesamt dankbar angenommen wurde.
5. Schlussfolgerungen
Im Hinblick auf die Ursprünge der Pfingstbewegung in Deutschland gibt es keinerlei historische
Belege für einen direkten Kontakt mit der Azusa-Street-Gemeinde in Los Angeles, es besteht
höchstens eine indirekte Verbindung durch die Arbeit von Thomas Ball Barratt. Somit kann das
historiographische Schema eines singulären Ursprungs und die damit oft verbundene Einordnung
der deutschen Pfingstbewegung als amerikanisches Gewächs nicht aufrecht erhalten werden. Ein
amerikanischer Einfluss war in den ersten Jahrzehnten kaum vorhanden. In der Zeit des
Nationalsozialismus kam noch dazu, dass man innerhalb der deutschen Pfingstbewegung die
nationalsozialistische Sicht eines alles überragenden Deutschland übernahm, die zu einer
verstärkten Überheblichkeit und Abgrenzung vor allem gegenüber England, aber auch in Bezug
auf die USA führte. Man hatte das Bewusstsein, ganz aus eigenen Quellen zu leben. Erst nach
Kriegsende kam es zu einem Bruch. Nun gab es von den USA aus sehr dominante Versuche
einer Einflussnahme auf die deutsche Pfingstbewegung. Dies wurde, besonders in Bezug auf
finanzielle und personelle Unterstützung in Deutschland dankbar angenommen.
497
Vgl. a.a.O., 158. Referat zum Thema „Generationskonflikte“ auf der ACD-Konferenz 1973.
99
Thorsten Dietz
Der Einfluss der anglo-amerikanischen Heiligungstheologie auf die Theologie
von Theodor Jellinghaus
1. Einleitung
„Es drängt mich, den vielen Lesern meiner Bücher und Traktate und den Teilnehmern an meinen
Bibelkursen mitzuteilen, daß meine Lehren irreführend sind.“498 Mit diesen Worten eröffnete
Theodor Jellinghaus (1841-1913) seine 1912 veröffentlichte Erklärung über meine Lehrirrtümer.
Weiter schreibt er: „Wie ich nach jahrelanger Ueberlegung sehe, verleiten meine Schriften zu
einer oberflächlichen, unbiblischen Auffassung von Sünde, Welt, Fleischeslust, Gesetz,
Heiligkeit, Gerechtigkeit, Zorn Gottes, Gericht, Ewigkeitsernst, Opfertod Christi, Wachen,
Beten, Ringen, Selbsterkenntnis, Selbstgericht, Buße und Glaube, Rechtfertigung und
Wiedergeburt und Reinigung.“499
Theodor Jellinghaus galt in seiner Zeit als der führende Theologe der jungen
Gemeinschaftsbewegung.500 Sein Werk Das völlige, gegenwärtige Heil durch Christum war
inzwischen in fünfter Auflage erschienen und weit verbreitet.501 Als Bibelschullehrer und
Konferenzredner wurde er neben Verkündigern wie Otto Stockmayer und Carl Heinrich Rappard
als einer der einflussreichsten Vertreter der Bewegung angesehen, die ausgehend von den
Heiligungskonferenzen in Oxford und Brighton 1874/75 auch in Deutschland eine beträchtliche
Verbreitung gefunden hatte.502
Eine so radikale Infragestellung des eigenen Denkens und Wirkens wirft natürlich Fragen auf.
Jellinghaus legt nicht nur Wert darauf, in fast allen von ihm ausgeführten Themen schwer geirrt
zu haben, sondern auch darauf, dass es sich dabei um sein persönliches Irren und nicht etwa um
Fehler der Gemeinschaftsbewegung oder der Heiligungsbewegung insgesamt handelt. Dies wird
deutlich, wenn man sich die Liste der Wahrheitszeugen anschaut, von denen abgefallen zu sein
er sich bekennt: Seinen eigenen Irrtümern stellt er nicht nur die gemeinsam bekannte christliche
Wahrheit der Bibel, der Kirchenväter, der Reformatoren und Pietisten gegenüber. Ausdrücklich
betont er seinen eigenen Irrtum im Gegensatz zu Vertretern der Gemeinschafts- und
Heiligungsbewegung wie Rappard, Stockmayer, Schrenk, Seitz, „wie überhaupt die ganze
gläubige Theologie des 19. Jahrhunderts, auch die leitenden Blätter der deutschen bischöflichen
Methodistenkirche, der evang. Gemeinschaft und der Baptisten“ sowie auch “fast alle Lieder des
Reichsliederbuches“503.
In der bisherigen Beschäftigung mit Jellinghaus dominierten solche Zugangsweisen, die sein
Denken aus einer bestimmten konfessionalistischen Beschreibungsperspektive rekonstruierten.
Das war in Deutschland in der Regel ein mehr oder weniger strenges vermittlungstheologisches
oder konfessionalistisches Neuluthertum504, das war in der großen amerikanischen Studie von
Benjamin Warfield505 eine stramme Variante von Old-School-Calvinismus. Mir geht es an dieser
498
Theodor Jellinghaus, Erklärung über meine Lehrirrungen, Lichtenrade 1912, 9.
A.a.O., 9-10.
500
Zur kurzen biographischen Orientierung vgl. Stephan Holthaus, Heil – Heilung – Heiligung. Die Geschichte der
deutschen Heiligungs- und Evangelisationsbewegung (1874-1909), Gießen 2005, 146-162.
501
Vgl. die systematische Würdigung dieses Werkes bei Jörg Ohlemacher, Das Reich Gottes in Deutschland bauen.
Ein Beitrag zur Vorgeschichte und Theologie der deutschen Gemeinschaftsbewegung, (AGP 23) Göttingen 1989,
165-190.
502
Vgl. etwa Inspektor Theodor Haarbeck: „Bekanntlich ist Jellinghaus der Theologe der Pearsall Smith’schen
Bewegung geworden, die im Jahre 1875 von Amerika zu uns herüberkam.“ Aus: Brief- und Fragekasten, Licht und
Leben 24 (1912) Nr. 1, 13.
503
Jellinghaus, Lehrirrungen, 6.
504
Vgl. die Studien von Paul Fleisch (Die Heiligungsbewegung. Von den Segenstagen in Oxford 1874 bis zur
Oxford-Gruppenbewegung Frank Buchmans, hg. und eingeleitet von Jörg H. Ohlemacher, Gießen 2003.), Ludwig
Ihmels (Zur Lehre von der Heiligung bei Theodor Jellinghaus, O. O. o. J.) und Ernst Cremer (Das vollkommene
gegenwärtige Heil in Christo. Eine Untersuchung zum Dogma der Gemeinschaftsbewegung, Beiträge zur Förderung
christlicher Theologie 19 (1915) H. 4/5).
505
Benjamin B. Warfield, Perfectionism, hg. von Samuel G. Craig, Philadelphia 1967. (Bd. II von Ders., Studies in
Perfectionism, New York 1931)
100
499
Stelle um eine Befreiung der Wahrnehmung von Jellinghaus aus solchen Zugangsweisen. Das
jeweils angelegte dogmatische Maß dominierte die Gesichtspunkte, unter denen Jellinghaus’
Überlegungen wahrgenommen werden konnten. Auf diesem Weg der Darstellung zerfiel seine
Theologie oft in einen guten, richtigen Part, der als biblisch, evangelisch oder gesund
eingeschätzt wurde, und in einen anderen Part, der dann für magische, mystische, arminianische
oder andere Abschweifungen gerügt wurde.
Zunächst soll der Fokus daher auf der historisch-genetischen Fragestellung liegen, wie bei
Jellinghaus die Impulse der anglo-amerikanischen Heiligungsbewegung506 mit der Tradition
deutscher Theologie vermittelt werden. Welche theologischen Einflüsse hat er verarbeitet?
Worin besteht seine eigene Syntheseleistung? In einem zweiten Abschnitt möchte ich dann nach
der inneren Logik seines Denkens fragen. Gibt es in seinen Texten auch eine Reihe von
erheblichen begrifflichen Unschärfen, so begegnen im Zentrum seiner Überlegungen doch
immer wieder konsequent gehandhabte Schlüsselbegriffe und Grundgedanken, die für eine
eindeutige Codierung und damit Präzision der Systemlogik stehen (z. B. Rechtfertigung durch
den Glauben – Heiligung durch den Glauben).507 Was machte dieses Denken für eine ganze
Generation von Pietisten und Erweckten so attraktiv? Welche Probleme löste es? Aber auch:
Welche Folgeprobleme konnte dieses Denken verursachen? In welchen Herausforderungen
konnte es sich bewähren, wo hingegen bahnte es durch die Fraglichkeit eigener Bewährung eine
theologische Weiterentwicklung an oder machte sie nötig? Dabei soll insbesondere der Umgang
mit Kohärenzbedürfnissen oder Dissonanzerfahrungen des Denkens bedacht werden. Schließlich
kehren wir noch einmal zurück zum Widerruf seiner Theologie und fragen nach Gründen für das
spektakuläre Scheitern seines Systems.
2. Die Heiligungstheologie von Jellinghaus und ihre Quellen
2.1 Die Heilsordnung (das völlige Heil)
Grundsätzlich lässt sich sagen, dass in Jellinghaus’ Theologie eine Grundlogik verwirklicht wird,
die ihren Ursprung im wesleyanischen Methodismus508 nicht verleugnen kann. Jellinghaus lässt
keinen Zweifel daran aufkommen, dass die Anleihen vom englisch-amerikanischen Christentum
wesentliche Bedeutung für sein Denken besitzen. Mit unverkennbarem Importstolz wird dies in
den frühen Vorworten deutlich. „Dies Buch“ sei eine Frucht der „Belehrungen, die ich durch
meine nähere Bekanntschaft mit den in der englisch-amerikanischen Christenheit wirksamen
Geisteskräften und Lichtgedanken und insbesondere durch meine Teilnahme an der sogenannten
Heiligungsbewegung empfangen habe.“509
Gleich im zweiten Kapitel des ersten Bandes wendet sich Jellinghaus der für den Gesamtaufbau
zentralen Frage der Heilsordnung zu. Nachdem er im Blick auf die überkommene
reformatorische Lehrbildung eine große Unsicherheit beklagt, sieht Jellinghaus vor allem durch
John Wesleys Methodismus „belebendes Licht auf den Heilsweg“510 geworfen. Dabei ist es ihm
zunächst darum zu tun, den plötzlichen, abrupten Charakter von Bekehrungen bzw.
Gnadendurchbrüchen zu betonen. Die Abgrenzung richtet sich gegen die Vorstellung eines
506
Theologiegeschichtlich vergleiche vor allem: E. Brooks Holifield, Theology in America. Christian Thought from
the Age of the Puritans to the Civil War, Yale University Press 2003. Mark A. Noll, America’s God. From Jonathan
Edwards to Abraham Lincoln, Oxford University Press 2002.
507
Vgl. in diesem Sinne die Beschreibung von Niklas Luhmann zur Funktion von Leitunterscheidungen im Sinne
einer semantischen Codierung: Mit ihrer Hilfe gelingt es, eine „Vielzahl von relevanten Oppositionen auf eine
Zentraldifferenz zu reduzieren, die alle anderen Unterschiede und Gegensätze verständlich macht.“ Niklas
Luhmann, Liebe als Passion. Zur Codierung von Intimität, Frankfurt/Main 1982, 108. Vgl. dazu die Verwendung
Luhmannscher Deutungskategorien zur Erschließung der Theologie im DGD bei Frank Lüdke, Diakonische
Evangelisation. Die Anfänge des Deutschen Gemeinschafts-Diakonieverbandes 1899-1933, Stuttgart 2003.
508
Zu Wesley vgl. als erste Hinführung die knappe wie instruktive Übersicht bei Walter Klaiber und Manfred
Marquard, Gelebte Gnade. Grundriß einer Theologie der Evangelisch-methodistischen Kirche, Stuttgart 1993,
besonders 285ff.
509
Theodor Jellinghaus, Das völlige, gegenwärtige Heil durch Christum, Basel 41898, III. In der Regel wird in
diesem Aufsatz die vierte Auflage zu Grunde gelegt.
510
Jellinghaus, Heil, 75.
101
allmählichen sukzessiven Nacheinanders von Stufen. Wesentlich sei, dass Berufung,
Erleuchtung, Erweckung, Buße, Glaube, Rechtfertigung „nicht verschiedene Stufen sein können,
die der gnadensuchende Sünder nacheinander allmählich durchzumachen hat. Es beschreiben
vielmehr diese Worte die Bekehrung des Sünders zu Gott nach verschiedenen Seiten hin.“511
Grundlegend für die Heilsordnung ist sodann die Zweistufigkeit von Rechtfertigung und
Heiligung. Jellinghaus teilt sein Buch in zwei Hauptteile, die auf Rechtfertigung durch den
Glauben und Heiligung durch den Glauben bezogen sind. Die unbedingte Zusammengehörigkeit
beider Momente wird stark betont. Zugleich wird in der permanenten Rede von diesen beiden
Seiten christlicher Existenz ihr Unterschied genauso eindeutig festgeschrieben. Immer wieder
erfolgt die Betonung, dass „der Christ an der Bekehrung und Begnadigung sich nicht als an einer
letzten Stufe genügen lassen soll, sondern zur Kraft in der Heiligung und Reinigung des Herzens
und zu tieferer Gewißheit seines Gnadenstandes und seiner endlichen Erlösung durchdringen
muß.“512 Deutlich ist die darin gegebene horizontale Streckung christlicher Existenz, die von
Anfang an auf eine Weg- bzw. Entwicklungslogik ausgerichtet wird. War in der
reformatorischen Theologie die Rechtfertigung das Zentrum, aus dem jegliche theologische
Fragestellung abgeleitet oder zumindest bestimmt wurde, so erhält diese nun den Charakter eines
Anfangs; sicher eines Anfangs, dem bestimmende Bedeutung für seine Entfaltung zugestanden
wurde, der aber eben doch überschreitbar und auf seine Überschreitung hin zur christlichen
Vollkommenheit angelegt war.513
Seine Überzeugungsstärke gewinnt dieses Konzept durch die Kraft des Analogieschlusses.
Rechtfertigung durch den Glauben, dieser Ausdruck fungiert als Opposition gegenüber
Rechtfertigung durch Werke bzw. eigene Anstrengungen. Im erwecklichen Protestantismus
konnte die grundsätzliche Evidenz dieser Opposition vorausgesetzt werden: Gnade statt
Leistung, Geschenk statt Verdienst. Diese Leitdifferenz, durch die das Christsein überhaupt
definiert wurde, ließ sich nun noch einmal hineinkopieren in die Fortsetzung des christlichen
Lebens: in die Heiligung durch den Glauben. Nicht nur in der Begründung christlicher Existenz,
auch in ihrem weiteren Vollzug konnte die Logik des Gnadenempfangs als maßgeblich
behauptet werden. Erst beides zusammen machte das „völlige Heil“ des christlichen Glaubens
aus.
2.2 Der Akt der Übergabe (das gegenwärtige Heil)
Ist der Aufbau der Jellinghaus’schen Dogmatik grundsätzlich einer solchen Theologie des
Heilsweges zuzuordnen, so ist die weitere Ausgestaltung nicht einfach aus den methodistischen
Impulsen des 18. Jahrhunderts abgeleitet, sondern verdankt sich wesentlich der amerikanischen
Weiterentwicklung dieses Ansatzes in der Zeit des Second Great Awakening in der ersten Hälfte
des 19. Jahrhunderts.514
Zunehmend wird in dieser Zeit die Lehre von der Heiligung von der Vollzugslogik der
Bekehrungserfahrung geprägt. Die Bekehrung mit ihrem Übergangscharakter, ihrer eindeutigen
zeitlichen Fixierbarkeit, wird zum Muster auch der Heiligung. Die gedankliche Parallelisierung
von Rechtfertigung und Heiligung, die schon bei Wesley formuliert wurde, findet ihre vom
Muster der Erweckung her geprägte Fortschreibung im Verständnis eines akthaften, zeitlich
fixierbaren Übergangs auch in die Heiligung.
In diesem Sinne konzentrierte sich die wesleyanische Theologie in den 1820er- und 30er-Jahren
auf diesen Übergang.515 Phoebe Palmer fragte ausdrücklich nach einem „shorter way“516 zur
Erlangung christlicher Heiligkeit; ähnlich ist die Tendenz bei Methodisten wie Timothy Merritt
und George Peck517. Was bei Wesley und Fletcher, den Klassikern des 18. Jahrhunderts, noch
511
Jellinghaus, Heil, 84.
Jellinghaus, Heil, 341.
513
Vgl. im Blick auf Wesleys Theorie der christlichen Vollkommenheit Mark K. Olson, John Wesley’s Theology of
Christian Perfection: Developments in Doctrine and Theological System, Fenwick 2007.
514
Vgl. Holifield, Theology, 268ff. und 361ff.; Noll, America’s God, 306-314, 359ff. Vgl. auch Paul Fleisch, Zur
Geschichte der Heiligungsbewegung. Erstes Heft. Von Wesley bis Boardman, Leipzig 1910.
515
Vgl. Holifield, Theology, 256ff.; Noll, America’s God, 359ff.
516
Vgl. Phoebe Palmer, The Way of Holiness, New York 1843, vor allem 5-25.
517
Vgl. Holifield, Theology, 270-272; Noll, America’s God, 359-362.
102
512
stärker ein Entwicklungshorizont war, der auch die Möglichkeit aktualer Übergänge kannte, wird
nun grundsätzlich zu einer pragmatischen Anleitung von abrupten Übergangserfahrungen.
In dieser Form wurde wesleyanische Theologie stilbildend auch für andere konfessionelle
Traditionen. Die kongregationalistischen und presbyterianischen Kirchen in den USA hatten von
ihren Traditionen her die intensivere theologische Ausbildung. Hier begann im 18. Jahrhundert
ebenfalls schon ein langer Prozess der Amerikanisierung, in dem die alteuropäischen
Erbschaften der Theologie eine allmähliche Transformation erfuhren.518 Dieser Übergang erlebte
vor allem in den 1830er-Jahren eine Beschleunigung, als in der reformierten Tradition regelrecht
anticalvinistische Theoriebildungen entstanden, die in Umkehrung oder Gegensatzbildung zu
bisherigen prädestinatianischen Denkannahmen die Erfahrung der eigenen Selbsttätigkeit in der
Erweckung zur Geltung brachten. Bei keinem lässt sich diese Tradition so gut greifen wie bei
Charles Finney.519 In unserem Zusammenhang ist er (neben Asa Mahan und Thomas Upham)
der wichtigste Vertreter ursprünglich reformierter Tradition, die den Heiligungsgedanken
prominent zur Geltung bringt. Ähnlich wie bei Phoebe Palmer tritt dabei der akthafte Übergang
besonders ins Zentrum: der Willensentschluss, der jederzeit möglich ist.
Schon in frühsten Äußerungen von Theodor Jellinghaus zur neuen Heiligungslehre in der
Zeitschrift Des Christen Glaubensweg ist es das Moment der plötzlichen, aktuellen Aneignung
des Heils, das systembildenden Charakter gewinnt.520 In seinem Beitrag Das siegreiche Leben im
völligen Glauben an Christum wird der voluntaristische Charakter der Glaubensbewegung stark
betont: „Im Willen und nicht vor Allem im Gefühl beruht die Religion und der Glaube.“521
Mehrfach in Anführungszeichen gesetzt und damit als vielfaches Zitat der Oxforder Reden
ausgewiesen wird die zeitliche Bestimmung dieses Übergangs: „Jetzt gleich“. Diese akute
Vollzugsform des Glaubens war Jellinghaus so wesentlich, dass er seinen nächsten Aufsatz in
Des Christen Glaubensweg ganz dieser zeitlichen Zuspitzung widmete: „Inwiefern will Christus
‚jetzt gleich‘ des gläubigen Christen Heiligung sein und ihn von allen Sünden erlösen?“522
Dieser Einsicht ist Jellinghaus Zeit seines Lebens treu geblieben. Wohl wird in der späteren
ausführlichen Fassung seiner Lehre umfangreicher auf die Zusammenhänge von Christi Heilstat,
menschlicher Aneignung und lebenslanger Einübung verwiesen. Der akthafte Übergang aber,
nicht nur als ein Merkmal der Bekehrung, sondern auch der Heiligung, bleibt für sein Denken
grundlegend: Entscheidend sei, dass „uns der heilige Geist klar macht, wie eine völlige Erlösung
für uns ‚jetzt’ bereit ist und es daher nur auf unser Nehmen und Ruhen in Christo durch den
Glauben ankommt.“523 Stärker betont Jellinghaus nun: Idealtypisch ist die Aneignung der
völligen Erlösung etwas, was schon in der Bekehrung gegeben ist. Empirisch aber sei es nun
einmal so, dass es bei den meisten Christen eher ein zweiter Schritt nach längerer
Vgl. vor allem die instruktive Beschreibung dieses Prozesses bei Noll, America’s God, 227ff.
Zu Finney vgl. Noll, America’s God und Holifield, Systematic Theology. In Deutschland sind vor allem seine
Lectures on Revival auch als Übersetzung intensiv rezipiert worden.
520
Die Texte, die Jellinghaus in Des Christen Glaubensweg veröffentlicht hat, stellen als Keimzelle seines Denkens
den Ausgangspunkt jeder Auseinandersetzung mit seiner Theologie dar. Vgl. Theodor Jellinghaus, Zeugnis von Th.
Jellinghaus, in: Des Christen Glaubensweg 2 (1875) 38-40; Ders., Das siegreiche Leben im völligen Glauben an
Christum, in: Des Christen Glaubensweg 4 (1875) 72-76; Ders., In wiefern will Christus „jetzt gleich“ des gläubigen
Christen Heiligung sein und ihn von allen Sünden erlösen? I, in: Des Christen Glaubensweg 10 (1875) 195-199;
Ders., In wiefern will Christus „jetzt gleich“ des gläubigen Christen Heiligung sein und ihn von allen Sünden
erlösen? II, in: Des Christen Glaubensweg 11 (1875) 212-215. Ders., Buße und Glauben. I, Buße, in: Des Christen
Glaubensweg 4 (1876) 74-79; Ders., Buße und Glauben. II, Glaube, in: Des Christen Glaubensweg 5 (1876) 87-91;
Ders., Gewißheit der Sündenvergebung und der Gotteskindschaft. I, in: Des Christen Glaubensweg 9 (1876) 165171; Ders., Gewißheit der Sündenvergebung und der Gotteskindschaft, II, in: Des Christen Glaubensweg 10 (1876)
192-197; Ders., Gewißheit der Sündenvergebung und der Gotteskindschaft, III, in: Des Christen Glaubensweg 11
(1876) 215-220; Ders., Das Gleichnis von den Arbeitern im Weinberg und seinen Mahnungen und Warnungen, in:
Des Christen Glaubensweg 7 (1877) 129-134.
521
In: Des Christen Glaubensweg 4 (1875) 73 (Hervorhebung TJ). Diese Konzentration auf den Willen entsprach
voll und ganz dem amerikanischen Mainstream von Finney bis Smith und ist kein Sondergut von Jellinghaus. Vgl.
hingegen Fleisch: Als Jellinghaus „sich der Heiligungsbewegung öffnete, blieb ihm manches an den
angelsächsischen Formulierungen bedenklich. Vor allem misstraute er aller Betonung der Gefühle […].“ Fleisch,
Heiligungsbewegung, 102.
522
In: Des Christen Glaubensweg 10 (1875) 195-199 und Des Christen Glaubensweg 11 (1875) 212-215.
523
Jellinghaus, Heil, 364.
103
518
519
Glaubenserfahrung sei.524 Am häufigsten bezeichnet er diesen Akt nun als „völlige Hingabe“525
bzw. „Übergabe“526. Die Betonung dieses Übergangs ist es, die für ein zweites Wesensmerkmal
seines Ansatzes steht: die willentliche Aneignung des vollen Heils Christi hier und jetzt („das
gegenwärtige Heil“).
2.3 Popularisierung: Boardman und das Ehepaar Smith
Dieser zentrale Gedanke der Heiligungsbewegung der augenblickshaften Aneignung einer
höheren Heiligungsstufe hat seine Wurzeln in den theologischen Strömungen des Second Great
Awakening; Jellinghaus begegnet diesem Denken jedoch vor allem in der Gestalt einer dritten
Stufe der Heiligungsbewegung. Diese Tradition ist zu greifen in den sehr populären Büchern The
higher Christian Life (1858) von William Boardman und The Christian’s secret of a happy Life
(1870) von Hannah Whitall Smith.527
Bezeichnend für diese Stufe ist, dass das polemische bzw. systematische Interesse nun stark
zurücktritt. Anders als bei Charles Finney wird nicht mehr der Gegensatz zum klassischen
Calvinismus der Old School gesucht. Anders als bei den methodistischen Vertretern des Second
Great Awakening geht es nicht mehr um die Wahrung einer wesleyanischen Identität und
insofern um die Anlehnung an Wesleysche Topoi. Die Impulse der Heiligungstheologie sind bei
den genannten Verkündigern in eine Phase der Popularisierung getreten, in der das Augenmerk
auf postkonfessioneller Anschlussfähigkeit und praktischer Aneignung der religiösen Erfahrung
liegt.
Hier wird nun nicht mehr die Abgrenzung von der klassisch-reformierten Tradition der
Gnadenlehre gesucht, sondern eher die Vereinbarkeit mit der reformatorischen
Rechtfertigungslehre betont. Schon in den ersten Kapiteln von Boardmans Buch wird Martin
Luthers Rechtfertigungserfahrung im Rahmen der Heiligungslehre gedeutet.528 Überhaupt
bemüht sich Boardman nach Kräften, die Unterschiede von Wesleyanern, Oberlinern und
Lutheranern herunter zu spielen. Bei ihnen sieht er Gegensätze der Ausdrucksweise und
vielleicht auch Unterschiede der Theoriebildung; bei allen religiösen Gruppen aber gibt es
ähnliche Beschreibungen der Grunderfahrung der Heiligung durch den Glauben.529 Boardman
zielt in seinen erbaulichen Ausführungen darauf ab, diese gemeinsame Erfahrung ins Zentrum zu
stellen und die für gegensätzliche Lehrbildung anfällige Begrifflichkeit insgesamt eher zu
vermeiden.
So tritt nun auch eine Reihe von theologischen Diskussionen zurück. Im Blick auf den
Schlüsselbegriff Wesleys, die christliche Vollkommenheit, gibt es große Zurückhaltung.530 Nun
wird in der Frage der Entscheidungsfreiheit und in der Verhältnisbestimmung zur Gnade nicht
„Wir haben also nicht anzunehmen, daß nach der Bibel bei jedem gläubigen Christen ein zweiter zeitlich
bestimmter Vorgang einer völligen Hingabe eintreten müsse. Aber das ist nach der thatsächlichen Erfahrung wahr,
daß bei den meisten gläubigen Christen nicht lange nach der Bekehrung und dem ersten Liebesfeuer ein Mangel an
völliger Glaubenshingabe und ein teilweises Wandeln im Selbstgesuch oder Selbstregierung oder Selbstquälerei
oder Weltdienerei sich zeigt.“ A.a.O., 508.
525
A.a.O., 506ff.
526
A.a.O., 508. Biblisch sieht Jellinghaus diesen Zusammenhang vor allem in Röm 12,1-2 besonders klar
ausgedrückt, vgl. a.a.O., 516.
527
Für die Zeit nach dem Rückzug von Robert P. Smith aus der Öffentlichkeit ist es bezeichnend, dass dieser nicht
mehr in erster Linie als Hauptanreger der neuen Bewegung genannt wird. Ausdrücklich beruft sich Jellinghaus auf
William Boardman: „Der gesundeste, schriftgemäßeste, vorsichtigste und einflußreichste Lehrer der Heiligung
durch den Glauben wurde W. G. Boardman“. (Jellinghaus, Heil, 718) Robert. P. Smith wird hingegen als Schüler
von Boardman, Upham und anderen eingeführt (vgl. a.a.O., 720).
528
William E. Boardman, The Higher Christian Life, Boston/New York 1859, 20ff. Fern von jeder Berührung mit
der historischen Realität wird Luthers Geschichte im Sinne der Heiligungstheologie neu erfunden: „He believed in
Jesus and trusted that for the sake of Jesus who had died, and risen again for his justification, his sins were all freely
forgiven. But he longed for a holy heart and a holy life, and sought them by means not by faith.“ A.a.O., 30.
Schließlich habe Luther erkannt, dass die Vergebung der Sünden nicht genug sei, es gelte, Christus auch zur
Heiligung anzunehmen; erst mit diesem zweiten Durchbruch sei er der große Reformator geworden (Vgl. a.a.O., 33;
38).
529
„Both Wesleyans and Oberlins differ from Lutherans in the use of terms, and in the theology of the experience
described, but aside from this, in all that is essential in the experience itself all are agreed.“ A.a.O.,41.
530
Vgl. Jellinghaus im Blick auf Boardman und Smith: „Auf diese Weise waren sie fähig, viele gefährliche Sätze
der wesleyanischen Heiligungslehre zu vermeiden.“ (A.a.O., 720).
104
524
nur auf jede Polemik, sondern auch auf jede Präzisierung verzichtet. Stattdessen konzentriert
sich die Darlegung auf die Beschreibung der Heiligung aus einer Perspektive der Partizipanten.
Wo die Generationen zuvor noch mit Fragen der Anthropologie bzw. der Gnadenlehre befasst
waren, haben Boardman, Smith und Co. geistliche Anleitungsliteratur mit nur leichtem
theologischem Gepäck verfasst.
Jellinghaus knüpfte vor allem an die Rezeptionsgestalt an, die die Heiligungsbewegung in der
popularisierenden Verarbeitung dieser Verkündiger erhalten hatte. Er verzichtete aber auf die
schroffen arminianischen Akzente wie etwa bei Finney. Wesley hatte gebrochen mit dem strikten
Erwählungs- und Verwerfungsdualismus der calvinistischen Tradition und demgegenüber die
freie Gnade betont, die jedermann angeboten sei. Die Heilsaneignung sei freilich getragen von
der vorlaufenden Gnade und ermöglicht durch das Geisteswirken. Die Oberlin-Theologie ging
über diese Version weit hinaus. Nun wurde die Entscheidung für den Glauben ganz und gar als
menschliche Möglichkeit begriffen. Erst dieser konsequente Arminianismus ermöglichte das
drängerische Zielen auf die sofortige Entscheidung für Christus, die allein in der Verfügung des
Einzelnen stand und jederzeit möglich war. Jellinghaus geht diese Frage nicht systematisch an,
sondern nur in beiläufigen Stellungnahmen. So kann es auf der einen Seite heißen: „Die ganze
Aneignung der Erlösung ist ein Werk des durch das Wort wirksamen heiligen Geistes.“531 Neben
dieser Formulierung begegnen aber auch viele Betonungen der verantwortlichen Mitwirkung des
Menschen. Die Unschärfe der eigenen synergistischen Position kann ausdrücklich betont
werden: „Ohne das Geheimnis der biblischen Gnadenwahl deshalb hier erörtern und ergründen
zu wollen, lassen wir diese altreformierte Lehre hier bei Seite und gehen immer davon aus, daß,
da Christus für alle ein wirklicher Erlöser ist, die Schuld und Ursache der Nichtannahme der im
Worte dargebotenen Gnade nur im Menschen liegen kann.“532
Genauso wird verzichtet auf die Ausformulierung des wesleyanischen Vollkommenheitsideals.
„Nun habe ich aber von der ersten Auflage meines Werkes an ängstlich den Ausdruck ‚völlige
Heiligung’ und ‚gänzliche Heiligung’ vermieden und immer nur von tieferer und völligerer
Heiligung gesprochen.“533 Auch im Blick auf das Heiligungsverständnis ist der Unterschied zu
den anfänglichen Akzenten des Methodismus deutlich. Bei Wesley und anderen Flügeln der
Heiligungsbewegung begegnet ein transformatorisches Heiligungsverständnis in dem Sinne,
dass der Mensch geistlich umgewandelt und innerlich von Sünde befreit wird. Bei Jellinghaus ist
hingegen zu reden von einem repressiven Heiligungsverständnis. Im Glaubenswandel, unter der
Führung des Heiligen Geistes bleibe Sünde wohl ein Teil der menschlichen Natur, werde aber
unterdrückt, sodass Sünde zwar vorhanden bleibe, sich aber nicht (notwendig) als Tatsünde
manifestieren müsse. Darin ähnelt Jellinghaus’ Konzeption der englischen KeswickBewegung534, die eine Verbindung von klassisch-reformatorischem Sündenernst und modernem
Fortschrittsoptimismus ermöglichte. Eine solche Sicht kann anthropologisch an der
pessimistischen Sicht des Menschen klassisch-reformatorischer Theologie festhalten, im Blick
auf den Lebenswandel aber zu einer optimistischeren Einschätzung kommen. An dieser Stelle
zeigt sich auch, dass man sich nicht zuletzt das Verhältnis zur reformatorischen Tradition und
zur deutschen Universitätstheologie anschauen muss, wenn man den theologischen Ansatz von
Jellinghaus verstehen will.
2.4 Das reformatorische Erbe und die deutsche Universitätstheologie
Die inhaltliche Herausforderung bestand für Jellinghaus sicher darin, die neuen Impulse so zu
verarbeiten, dass sie in Kohärenz mit anderen Grundüberzeugungen und Wertannahmen seines
deutschen theologischen Hintergrundes standen. „Klar war mir allerdings schon 1874, daß ohne
eine richtige biblische Rechtfertigungslehre in Deutschland die Lehre von der Heiligung durch
den Glauben nicht tiefe Wurzeln schlagen könnte.“535 Dieser Zusammenhang kam in den
531
A.a.O., 70.
A.a.O., 80.
533
A.a.O., 534
534
Vgl. David W. Bebbington, The Dominance of Evangelicalism. The Age of Spurgeon and Moody, Downers
Grove, Illinois 2005, z. B. 208.
535
A.a.O., 21.
532
105
englischen Quellen nur am Rande zur Sprache.536 Schon in den Beiträgen zu Des Christen
Glaubensweg ist deutlich zu erkennen, dass es Jellinghaus je länger je mehr um eine
Verknüpfung der neuen Einsichten mit dem Erbe reformatorischen Denkens und der deutschen
Universitätstheologie geht.537
Durchweg betont Jellinghaus, den Anschluss an die lutherische Lehre von der Rechtfertigung
allein durch den Glauben zu suchen. Laut Register ist die mit Abstand am häufigsten zitierte
Autorität in seinem Hauptwerk Martin Luther. Sicher muss man dabei in Abzug bringen, dass
Jellinghaus seine englischen Quellen selbst dort oft nicht namentlich zitiert, wo er ihnen im
hohen Maße verpflichtet ist, und er umgekehrt Luther bei möglichst vielen Gelegenheiten
einzubinden versucht. Dabei kann von einer eigenständigen Rezeption der Theologie Luthers
nicht wirklich die Rede sein. Jellinghaus hat ein klares systematisches Programm, wie Luther zur
Geltung zu bringen ist: als Lehrer der Rechtfertigung allein durch den Glauben. Diese Lehre soll
in ihrer grundlegenden Bedeutung gewürdigt werden. Zugleich geht es darum, sie zu ergänzen
und zu überbieten. „Unsere Reformatoren haben in einer sittlich rohen Zeit unter den
widerwärtigsten und hinderlichsten Verhältnissen als helle Lichter in Wort und Wandel
geleuchtet.“538 Jetzt aber „müssen wir nicht nur die Geisteskräfte der Reformation, sondern viel
höhere erlangen.“539
Neben diesem Anschluss an die reformatorische Tradition, Erweckung und Pietismus hat man
oft übersehen, welch starke Einflüsse der zeitgenössischen universitären Theologie bei
Jellinghaus verarbeitet sind.540 Unverkennbar ist vor allem der Bezug zu einer erwecklichen
Vermittlungstheologie bzw. zur milden Variante von lutherisch-konfessioneller Theologie, wie
sie ihm bei seinem Lehrer Johann Christian Konrad von Hofmann in Erlangen begegnet waren.
Jellinghaus betont ausdrücklich, er habe in den Vorarbeiten zu diesem Buch „die Schriften der
älteren und neueren Lehrer unserer evangelischen deutschen Kirche nochmals gründlichst
durchforscht.“541 Ein detaillierter Vergleich mit Albrecht Ritschl könnte zeigen, dass in einer
Reihe von Grundmotiven große Übereinstimmung besteht, wie in der Ablehnung des ArmeSünder-Christentums der Reformation oder im Ziel der Perfektibilität der menschlichen Person
als Leitperspektive menschlicher Entwicklung.542 Ist die erste Auflage von Das völlige,
gegenwärtige Heil durch Christum noch am reinsten von der Verarbeitung der OxfordErfahrungen geprägt, so gibt Jellinghaus seinem Buch ab der zweiten und vollends ab der dritten
Auflage eine neue systematische Grundidee: den Gedanken der organischen Stellvertretung
Christi als christologischer Basis, von der her in neuer Weise der Zusammenhang von
Rechtfertigung und Heiligung erst zu verstehen ist. Rechtfertigung und Heiligung werden in den
späteren Auflagen gegründet im Heilswerk Christi, im Wirken des völligen Erlösers. Der
Gedanke der „organischen Stellvertretung“ soll dabei die klassisch kirchliche Terminologie von
der juridisch-anselmischen Stellvertretungslehre ablösen. Diese mit ihrer veräußerlichten Rede
von stellvertretender Genugtuung durch Übernahme der Strafe und dem damit möglichen
Freispruch von der Verurteilung im Gericht führte dazu, dass die Rechtfertigung wesentlich als
„Größere englische Bücher über die Rechtfertigung konnte ich außer einigen ganz kleinen Büchern nicht
auffinden.“ A.a.O., VI.
537
Die Beiträge von 1875 lassen sich als dichte Zusammenfassungen der neuen Erfahrungen und Einsichten lesen.
In der Tat bemüht sich Jellinghaus schon in den Aufsätzen von 1876 („Buße und Glaube“ und „Heilsgewißheit“) um
eine Verknüpfung der neuen Einsichten mit der traditionellen lutherischen Kirchensprache.
538
A.a.O., 394.
539
Ebd.
540
Vgl. dazu Ernst Heinatsch: „Der Leser wird mehrfach Äußerungen der besten kirchlichen Theologen der
Gegenwart finden, welche zeigen sollen, wie entscheidende Grundgedanken der Gemeinschaftsbewegung bereits
ihre Parallelen in der kirchlichen Theologie haben und wie groß bereits das gemeinsame Gut ist.“ Ernst Heinatsch,
Die Krisis des Heiligungsbegriffs in der Gemeinschaftsbewegung der Gegenwart (Theodor Jellinghaus). Eine
biblisch-dogmatische Studie, Neumünster o. J., 22. Auch Benjamin Warfield betonte diese Nähe nachdrücklich,
wenn auch aus kritischer Perspektive. Vgl. Warfield, Perfectionism, 404-405.
541
Jellinghaus, Heil, V.
542
Als markante Unterschiede lassen sich benennen: Jellinghaus fehlt jegliches historisch-kritisches Bewusstsein im
Umgang mit den biblischen Texten. Sein bibeltheologischer Entwurf ist nicht an der Auseinandersetzung mit den
weltanschaulichen und kulturellen Strömungen der Zeit interessiert. Seiner Heiligung bzw. Ethik fehlt die für
Ritschl so typische Zuspitzung in Richtung auf den irdischen Beruf als den wahren Ort der verwirklichten
Heiligung.
106
536
Straferlass, nicht aber als Neuschöpfung und Umwandlung des Menschen begriffen wurde. Die
Nähe zu Hofmanns Versuch, eine alte Wahrheit in einer neuen Weise zu lehren, ist dabei
unverkennbar.543 Vor allem Benjamin Warfield hat darauf hingewiesen, dass die Theologie von
Theodor Jellinghaus nicht nur aus ihren anglo-amerikanischen Einflüssen zu erklären ist,
sondern mindestens genauso stark vorbereitet wurde von seiner Prägung durch die deutsche
Universitätstheologie. So viel ist sicher richtig: Jellinghaus geht es in seinem Buch mehr und
mehr darum, beide Welten ausdrücklich aufeinander zu beziehen. Auf beiden Seiten sieht er
Bedarf zur Abgrenzung, sei es gegenüber einem Wesleyanischen Perfektionismus einerseits, sei
es gegenüber dem unerwecklichen Intellektualismus Ritschlscher Theologie andererseits. Dass
es sich bei seinem Werk nicht einfach um eine deutsche Fassung anglo-amerikanischer
Heiligungstheologie handelt, sondern um den spannungsvollen Versuch einer Synthese, ist
unverkennbar.
3. Konstitution und Stabilisation des neuen Heiligungsbewusstseins
Bislang galt es, in historisch-genetischer Perspektive die Theologie von Jellinghaus in das
Geflecht der Einflüsse und Abhängigkeiten seiner Zeit einzuordnen. An zwei Stellen soll nun die
innere Systematik näher betrachtet werden.
3.1 Das Heiligungsziel und die Schwierigkeit seiner positiven Bestimmung
Wie schon im theologiegeschichtlichen Durchgang bemerkt, fällt es Jellinghaus nicht leicht, die
Stufe der Heiligung inhaltlich näher zu bestimmen. Den klassischen Zielbestimmungen der
Wesleyanischen Tradition, der Vollkommenheit, der völligen Heiligkeit bzw. Heiligung oder der
Ausrottung der Sündennatur erteilt er samt und sonders eine Absage.544 Worin besteht aber dann
das „völlige Heil“?
Eindeutig fällt zunächst die Abgrenzung aus: Seine Argumentation wendet sich stets gegen ein
Konzept des Glaubensbewusstseins, das die Rechtfertigung durch den Glauben für sich in
Anspruch nimmt, das dann aber in einem zweiten Schritt die Heiligung, das Leben im Einklang
mit dem Willen Gottes, sich selbst als zu erbringende Leistung und Anstrengung zuschreibt und
sich dann wiederfindet in einem Selbsterleben von Kämpfen, Erliegen, Büßen und wieder
Kämpfen. Eine solche Haltung der Selbstheiligung wird emotional eindeutig charakterisiert: Es
handelt sich um einen „schwermütigen“545, gedrückten Pietismus, bestimmt vom
„Sündenelendsgefühl“546. Dieser Haltung gegenüber wird die Heiligung durch den Glauben
empfohlen als eine Art geistliche Parallelaktion, die die Logik der Rechtfertigung als der
Anfangsgestalt des christlichen Glaubens überträgt auf den Vollzug der gesamten christlichen
Existenz. Neben die Rechtfertigung durch den Glauben tritt die Heiligung durch den Glauben.
Die Befreiung von der Schuld der Sünde wird durch die Befreiung von der Macht der Sünde
überboten. Deutlich ist, was dadurch im Lebensvollzug überwunden werden soll: der innere
Zwiespalt einer Selbstbeurteilung, die das positive Gottesverhältnis in steter Spannung erlebt
zum nur gebrochenen Vollzug eines neuen Lebenswandels. Die Erneuerung des
Gottesverhältnisses soll genauso durchgreifend auf den Lebensvollzug durchschlagen.
Welche positive Füllung gewinnt dabei aber das neue Leben? Nun tut sich Jellinghaus sichtbar
schwer, die Erfahrung der Heiligung von derjenigen der Rechtfertigung theologisch eindeutig
abzugrenzen. So lehnt er es stets ab, ein positives Ziel wie Vollkommenheit etc. zu beschreiben
oder zu definieren. Ausdrücklich gesteht er zu, dass es im Grunde diesen Unterschied nicht
geben müsste, dass es idealiter in der Erfahrung der Rechtfertigung um dasselbe gehen müsste,
was als Heiligung zu entfalten sei. Es sei nun aber eben empirisch so, dass bei den meisten
Gläubigen die Erfahrung sich in zwei Teilschritte auseinanderlege. Somit kommt Jellinghaus
nicht umhin, in der Beschreibung der Heiligungserfahrung eben auch Selbstauslegungen des
empirischen Glaubensweges einzubinden.
543
Dieses Lehrstück bedürfte einer eigenen Analyse, die im Duktus des Themas dieses Aufsatzes nicht geleistet
werden kann.
544
Jellinghaus, Heil, 717.
545
A.a.O., 81.
546
A.a.O., 114.
107
Was ist das Neue? Immer wieder wird die affektive Umbestimmung der persönlichen
Selbsterfahrung namhaft gemacht. „Grundgedanke der Heiligungsbewegung“ sei, dass man
durch die Hingabe an Christus „Heiligung und unzerstörbare Herzensruhe“547 finde. Der
affektive Wechsel von Traurigkeit zu Freude ist die konkrete Gestalt, in der die Heilserfahrung
sich in einem fröhlichen, gewissen und beruhigten Glaubensgefühl niederschlägt. Relativ
eindeutig wird der Prozess des Übergangs beschrieben. Der Glaube wird im Sinne der OberlinTradition als einzelne Willensbewegung, als Entscheidung, als Akt der Lebensübergabe an
Christus beschrieben. Diese Punktualisierung des Glaubens machte den Übergang eindeutig und
inszenierbar. Zugleich warf sie Folgeprobleme auf: Die spätere Verkündigung musste diesen
Akt, der gerade aus seiner punktuellen Vollziehbarkeit und Verfügbarkeit großen Charme bezog,
wieder strecken: Diese Entscheidung galt es „moment by moment“ zu bewähren, wie es bei den
amerikanischen Vorbildern hieß. Die klassische Formulierung des „moment by moment“ zeigt,
wie die ursprünglich gewonnene Klarheit durch Vereindeutigung des Übergangs nun in
permanente Anschlussentscheidungen überführt und damit auch wieder problematisiert wird.
Denn wie lässt es sich in der Selbstauslegung des frommen Subjekts vermeiden, den eigenen
Lebensvollzug nicht schon wieder als eine Pendelbewegung von Stehen und Fallen zu erfahren?
Wie lässt sich das Bewusstsein eines höheren Standes verstetigen?
Ausdrücklich zurückgewiesen wird die Möglichkeit, sich am Vorhandensein einer positiven
Gefühlswelt zu orientieren. Wer „noch äußere Zeichen oder fühlbare und erkennbare
Hilfbeweise in sich haben will, als Träume, plötzliche, selige Gefühle, innige Gebetsandacht,
wunderbare Führungen etc., der kann nicht zum sicheren Frieden kommen.“548 Im Sinne des
voluntaristischen Glaubensbegriffs der Oberliner wie auch bei Smith betont Jellinghaus den
„unbedingten, fühllosen Glauben“549. In diesem Sinne ist die Verkündigung strikt voluntaristisch
orientiert. Wie kommt es aber, dass diese Bewegung sich so oft des Vorwurfs erwehren muss,
ein Gefühlschristentum zu propagieren? Ist das nur ein Missverständnis? Nun, zumindest ein
leicht mögliches! Denn auf der anderen Seite lässt sich die neue Stufe überhaupt nicht
beschreiben ohne Bezug zur veränderten Gefühlslage. Der Glaube soll zwar nicht aufbauen auf
solchen Gefühlen, sein rechter Vollzug ist jedoch auch nicht denkbar unter dauerndem
Ausbleiben einer solchen positiven Gefühlswelt! Es gilt, dass „selige Erfahrungen und Gefühle
eine gesegnete Frucht und Zeichen des Glaubens“550 sind. „Innige Gefühle des Friedens und der
Liebe Gottes“ müsse man insofern „für das allein Normale und Richtige und zu Erstrebende
halten.“551
Insofern tut sich Jellinghaus schwer mit einer positiven Kennzeichnung des neuen Standes der
Heiligung durch den Glauben. Faktisch nimmt er immer wieder Bezug auf die veränderte
Erfahrungswelt des Geheiligten, systematisch versucht er aber jede grundsätzliche Bedeutung
der eigenen Erfahrungswelt zu verneinen und alles auf die stete Entscheidung des Glaubens zu
gründen. Umso stärker wird das Thema in negativer, abgrenzender Hinsicht behandelt: Welche
Erfahrungen widersprächen denn dem neuen Heilsbewusstsein und seien daher nach Möglichkeit
zu meiden?
3.2 Freiheit von der Macht der Sünde
Am deutlichsten lässt sich das Heiligungsziel negativ formulieren: Es geht um die Befreiung von
der Macht der Sünde, um die Loslösung vom Sündigenmüssen. Dieses negative Heiligungsideal
steht bei Jellinghaus im Zentrum, wenn es darum geht, das Erreichen der Heiligungsstufe auch
für das eigene Bewusstsein zu verstetigen.
Hier liegt der große Unterschied zu Wesley und dem Methodismus. Es geht nicht mehr wie in
der Wesleyanischen Tradition um die vollkommene Liebe, d. h. um eine Durchdringung des
nach außen orientierten Handelns des Christen vom Ideal der christlichen Hingabe her. Es war
die Größe Wesleys, dass er auf die Propagierung dieses Ideals seine ganze Energie verwandte.
Es ist daher kein Zufall, dass gerade der Methodismus so stark mit seinen sozialethischen
547
A.a.O., 435.
A.a.O., 162.
549
Ebd.
550
A.a.O., 166.
551
Ebd.
548
108
Impulsen (Kampf gegen die Sklaverei, gegen Alkoholismus, Benachteiligung der Frauen etc.)
die Entstehung der modernen Welt förderte und begleitete. Eine solche durch die Liebe
gesteuerte Außenorientierung des Heiligungsideals tut sich natürlich schwer, die Bedingungen
anzugeben, unter denen Vollkommenheit wirklich als erreicht betrachtet werden kann – was im
späteren Methodismus zu quälerischen Debatten führte.
Die Erreichbarkeit der Heiligungsstufe wird in der Heiligungsbewegung nicht zuletzt dadurch
ermöglicht, dass der Fokus des neuen Lebens stärker nach innen verlegt wird. Das
Heiligungsideal erfährt eine Introversion: Nicht mehr die vollkommene Liebe im Handeln,
sondern das Freibleiben von Sünden im Horizont eigener Selbstbeobachtung ist das Ziel.552 In
dieser Introspektion wird die Selbstbeurteilung mittels des Bewusstseins vom eigenen Handeln
zum allein ausschlaggebenden Maßstab.
Der zehnte Abschnitt des zweiten Bandes mit dem Titel „Sieg über die Sünde“ erweist sich daher
als Schlüsselkapitel, in dem die innere Kohärenz des gesamten Heiligungsideals nachgewiesen
werden soll. Die Sünde wird hier als eine der schwierigsten und strittigsten Fragen der
Heiligungslehre eingeführt, sodass Jellinghaus sich zunächst um eine Begriffsklärung bemüht.
Der Begriff der Sünde begegne in verschiedenen Formen: 1. als bewusste und absichtliche
Gebotsübertretung (602-604). 2. als Schwachheitssünde oder Übereilungssünde (604-606). 3. als
Sünde im Sinne von Sündennatur oder Fleisch (606-608) und 4. als unbewusste Sünde.553 Als
hermeneutischer Schlüssel im Umgang mit der vielfältigen biblischen Begrifflichkeit fungiert für
Jellinghaus dann die Auslegung des 1. Johannesbriefs. Auf der einen Seite wird dort als Ziel
formuliert: Wir sollen nicht sündigen (1Joh 2,1; 3,6). Auf der anderen Seite gilt: „Wenn wir
sagen, wir haben keine Sünde, so betrügen wir uns selbst.“ (1Joh 1,8) Jellinghaus leitet daraus
einen grundsätzlichen Unterschied von „Sünde haben“ und „Sünde tun“ ab. Sünde im
eigentlichen Sinne ist absichtliche und bewusste Gebotsübertretung. Das ist gemeint mit dem
„Sünde tun“ aus dem 1. Johannesbrief. Um die Vermeidung dieser ausdrücklichen Form der
Sünde geht es in seinem Heiligungsziel. Die anderen Sündenbegriffe der Bibel erweisen sich für
das Ziel des christlichen Lebens, nicht zu sündigen, als zu weit gefasst. In weitschweifigen
Bibelauslegungen bemüht sich Jellinghaus um den Nachweis, dass die anderen Formen der
Sünde nicht im Blick sind, wenn Johannes die Möglichkeit des Nichtsündigens stark macht. „Der
Ausspruch (1 Joh. 3,6): ‚wer in ihm bleibet, der sündigt nicht’, geht nach dem Zusammenhang
gegen das bewusste, fortwährende Sündigen der schmutzigen Irrlehrer (Joh 15,6), nicht gegen
Schwachheitssünden der treuen Gotteskinder.“554
Noch weniger lässt sich der Gedanke christlicher Sündlosigkeit ausspielen gegen die
Sündennatur der gefallen Menschheit. Zwar gelte: Sünde als Fleisch bzw. Sündennatur hätten
wir immer.555 Dabei handele es sich jedoch nicht um Sünde im eigentlichen Sinn. Man müsse
sich hüten, den christlichen Sündenbegriff zu weit auszudehnen, sonst würden Menschsein und
Sünde ununterscheidbar.556 Jellinghaus will nicht so weit (wie etwa Charles Finney) gehen,
Sünde ausschließlich im bewussten, vorsätzlichen Handeln zu sehen. Es mag verborgene Fehler
geben, für die wir um Gnade bitten müssen, die unbewussten Sünden.557 In diesem Sinne kann er
auch die reformatorische Sündenlehre ausdrücklich würdigen mit ihrem Grundsatz, Sünde nicht
nur in den Handlungen, sondern auch in den Herzensregungen und Begierden zu sehen. Generell
aber solle man dieses Verständnis vorsichtig handhaben. Wären diese unbewussten Sünden
Vgl. in Jellinghaus’ großem Werk allein das Register zum Stichwort „Liebe“: Die Liebe zu Gott und Christus
wird genannt als Kennzeichen der Wiedergeburt. Auch wo von der Liebe zu den Brüdern gesprochen wird, geht es
wieder um ein Kennzeichen der Wiedergeburt. Auch hier wird die Liebe in den Zirkel der Selbstwahrnehmung und
Selbstbeurteilung hineingenommen. Im Kontext der Heiligung spielt die Liebe dem Register nach faktisch keine
Rolle; schon gar nicht die Liebe zu den Fremden bzw. der Dienst an der Welt und den Kreaturen. Zum Konzept der
völligen Liebe im Sinne Wesleys vgl. die Abgrenzung auf Seite 710!
553
Das Schema ist weiterentwickelt gegenüber seinen Anfängen in Des Christen Glaubensweg. Dort heißt es:
„Unter Sünde versteht die Bibel (mit Ausnahme der Stellen, wo es so viel als verderbte, sündliche Adamsnatur zu
bedeuten scheint) fast immer eine erkannte Uebertretung des göttlichen Gebots in Werken, Worten oder Gedanken.“
Jellinghaus, Jetzt gleich II., 213. Die Tendenz, Sünde vor allem auf bewusste Tatsünden zu beziehen und deren
Unterlassung für möglich zu erklären, ist in den Anfängen noch stärker ausgeprägt.
554
Jellinghaus, Heil, 613.
555
A.a.O., 454.
556
A.a.O., 609.
557
A.a.O., 609f.
109
552
Sünde im eigentlichen Sinne, könne keiner sündlos sein. Die Bibel gebrauche das Wort Sünde
aber in der Regel nicht so, dafür sei sie viel zu praktisch.558 Überhaupt sei es nicht geraten, zu
scharfe Begriffsbestimmungen oder mathematisch genaue Begriffe von heilig und unheilig zu
verwenden.559
Ausführlich versucht Jellinghaus diese Unterscheidungen durchzuhalten auch im Verhältnis von
Versuchung und Sünde.560 Grundsätzlich gilt: Versuchung ist keine Sünde; was nachzuweisen
ihm im Blick auf die Versuchung des sündlosen Christus nicht schwerfällt. In reformatorischer
Perspektive vollzog sich der Übergang zur Sünde im eigenen Begehren. Die Begierde wird bei
Paulus wie bei Jesus als Wurzel der Sünde bestimmt.561 Auf dieses Zwischenglied lässt
Jellinghaus sich aber nicht ein, sondern versucht, durch eine Vielzahl von Abstufungen die
generelle Sündlosigkeit des Versuchten grundsätzlich festzuhalten: Versuchungen werden so
lange nicht zur Sünde, als wir nicht mit ihnen spielen, wohlwollend darauf eingehen oder
unterliegen.562 Dabei bleibt die Argumentation auch von Spitzfindigkeiten nicht frei: Gedanken
an Böses seien noch keine bösen Gedanken563, wie auch Gedanken an bestimmte Sünden noch
keine Gedankensünden seien.564 Für das bloße Herantreten solcher Gedanken an uns könnten wir
nicht verantwortlich gemacht werden.
Abschließend kann Jellinghaus wohl zugestehen: „Im philosophischen Sinne hat also der
geheiligte Christ kein reines Herz.“565 Das Adjektiv „philosophisch“ soll zugleich andeuten, dass
diese Zuspitzung auf völlige Reinheit eben nicht das Anliegen der Bibel sei, wenn sie den Sieg
über die Sünde verheiße. Grundlegend bleibe es dabei: Im Glauben möge sich der geheiligte
Christ trösten, dass er durch Christus von der Sünde getrennt sei. Von unwissentlichen Sünden
und von Schwachheiten mag er nicht frei werden.566 Manchmal sei es der Einfluss der
Geschichte, mal der Tradition, mal der Denomination, mal des Standes oder des Alters, mal auch
des Körpers mit seinen Leiden, von denen aus der Christ von Schwachheiten affiziert werde.
Dann aber könne Sünde nicht im vollen Sinne zugerechnet werden.567 So könne es auch sein,
dass jemand bei Jesus vollkommen sei, aber nicht in den Augen der Mitchristen oder der
Mitmenschen. Der Sieg über die Sünde und damit das zentrale Merkmal der Heiligungsstufe
bleibe von diesen Einschränkungen unberührt.
4. Vom Gelingen und Scheitern religiöser Deutungssysteme
4.1 Entfremdung von der anglo-amerikanischen Einflusssphäre
Es ist die Besonderheit des Jellinghausschen Entwurfs, dass sein Verfasser ihn noch zu
Lebzeiten zurückzog und bekannte, konservative Theologen darum bat, seinen Entwurf zu
widerlegen.568 Die eigene Verurteilung seiner vermeintlichen Lehrirrungen ist überaus
aufschlussreich für die Problematik seines Denkens.
558
A.a.O., 614.
A.a.O., 615.
560
A.a.O., 620f.
561
Vgl. Mt 5,28: „Wer eine Frau ansieht, sie zu begehren, der hat schon mit ihr die Ehe gebrochen in seinem
Herzen.“, sowie Röm 7,7: „Ich wusste nichts von der Begierde, wenn das Gesetz nicht gesagt hätte ‚Du sollst nicht
begehren‘ (Ex 20,17).“
562
Vgl. Jellinghaus, Heil, 622
563
Vgl. ebd.
564
Vgl. a.a.O., 623.
565
A.a.O., 625.
566
Vgl. a.a.O., 634.
567
Vgl. a.a.O., 639.
568
Dies berichtet etwa Paul Fleisch, der seine große, posthum erschienene Monographie über die
Heiligungsbewegung auf diesen Impuls zurückführt; vgl. den Beginn des Vorworts: „Die Anfänge dieser Arbeit
reichen 50 Jahre zurück. Damals bat mich der schwer herzkranke Pastor Theodor Jellinghaus, ich möchte etwas
gegen seine ‚heilistische‘ Lehre, wie er es nannte, schreiben.“ Fleisch, Heiligungsbewegung, 16. Vgl. auch Ludwig
Ihmels: „Dazu kam, daß Jellinghaus in den letzten schweren Jahren seines Lebens mich wie andere Theologen
gebeten hat, ihm bei der öffentlichen Widerlegung der ihm unterlaufenen Irrtümer zu helfen.“ Ihmels, Heiligung, 89.
110
559
Zunächst einmal leitet Jellinghaus fast jeden Punkt seines Widerrufs mit Formulierungen ein, die
die englisch-amerikanische Herkunft der Ideen benennen, die ihn verführt haben.569 Es ist
unverkennbar, dass Jellinghaus’ Äußerungen in einem gewissen Zeitkontext stehen, in dem die
kritische Sicht des „Englischen“ einer wachsenden Zeitstimmung entsprach. In der öffentlichen
Wahrnehmung scheint mir dabei im Längsschnitt eine Verschiebung deutlich: Wo man der
Tendenz nach vor 1900 sagte, das sei methodistisch, nicht lutherisch, hieß es nach 1900, das sei
englisch, nicht deutsch. Innerhalb der Gemeinschaftsbewegung gab es lange Zeit eine große
Offenheit für internationale Kontakte. Je näher es aber dem Ersten Weltkrieg entgegenging,
desto stärker wurde auch hier die Tendenz, in der Abgrenzung vom Westen das eigene deutsche
Profil stärken zu wollen. Bemerkenswert finde ich, dass diese Tendenz bei Jellinghaus nicht
abrupt mit der Verwerfung seiner Lehre einsetzt, sondern sich auch vorher schon abzeichnet.
Man höre und staune, was Jellinghaus in der fünften Auflage seines Werkes 1903 schon in
seinem Vorwort schreibt: „Wehmütig sehe ich, im Unterschiede von meinem noch in der
Vorrede zur vierten Auflage [1898] so stark ausgedrückten Optimismus, auf die Entwickelung
des sittlichen und religiösen Lebens in Amerika und England. Man hält an den alten
methodistischen Schlagworten von Buße, Rechtfertigung, Wiedergeburt, Heiligung und
Vollkommenheit fest, dabei aber ist man weltselig und strebt rationalistisch-evolutionistisch
nach christlichem Kulturfortschritt und Weltverklärung. Soviel ich sehe, steht der rechte Flügel
der Ritschlianer in Deutschland vielen religiösen Grundwahrheiten des Christentums viel näher
als ein großer Teil der englischen und amerikanischen Theologen und Philosophen. Bei solcher
Sachlage ist es meine Überzeugung, daß die zum Siege des Evangeliums in unserem alles
revolutionierenden und umbildenden Zeitalter so hoch nötige Neugeburt der protestantischen
Theologie nur in Deutschland erfolgen kann und wird.“570 In diesem Sinne gibt es in der 5.
Auflage noch weitere Anmerkungen, die ein Abrücken von den anglo-amerikanischen
Ausgangspunkten seiner Lehre ausdrücken.571
4.2 Die Verwerfungen im Umgang mit der Pfingstbewegung
Noch stärker zu gewichten aber dürften die Erfahrungen mit der Pfingstbewegung sein. Ernst
Buddeberg stellt es in seiner großen Kritik von Jellinghaus’ Theologie in Licht und Leben als
neue, gemeinsame Gewissheit vieler Gemeinschaftsleute und Pietisten dar: Es sei eine falsche
Heiligungslehre gewesen, die zur Pfingstbewegung geführt habe.572 Die allgemein abgelehnten
Konsequenzen der Heiligungsbewegung in der Pfingstbewegung übten starken Druck aus auf
viele Selbstverständlichkeiten in Gnadau und der Allianz. Die ausführliche Diskussion um
Jellinghaus’ Widerruf zeigt noch einmal überdeutlich, dass mit der Verwerfung der frühen
Pfingstbewegung in Deutschland in vielen Kreisen Gnadaus wie in der Allianz nun fast alles
kritisch bewertet wurde, was in einem positiven Bezug zur Pfingstbewegung gestanden haben
könnte.
Jellinghaus hatte sich in dieser Frage früh positioniert in dem Sinne, dass ein positiver Anschluss
von seiner Theologie her an die Entwicklung hin zur Pfingstbewegung nicht denkbar sei.
Geradezu scharf kann sich Jellinghaus in einem Zusatz der vierten Auflage von 1898 von
jüngeren radikalen Tendenzen (Jonathan Paul) abgrenzen: „Wer lehrt, daß jeder Christ durch
eine zweite Taufe mit dem heiligen Geiste auch die Erfahrung der Ausrottung seiner
Sündennatur und seines Sündlosseins machen müsse, der ist ein widerbiblischer Schwärmer und
Irrgeist.“573 Gleichwohl ist unverkennbar, dass für viele Zeitgenossen in der Verkündigung etwa
von Paul eine konsequente Weiterentwicklung der Gedanken von Jellinghaus vorlag.
So Jellinghaus, Lehrirrungen, 14. Jellinghaus distanziert sich von den „Oxforder Lehren“ 21 und 30, er verwahrt
sich gegen „die vor längerer Zeit von England und Amerika herübergebrachte Lehre“. 34. Vgl. auch die
Formulierungen aus „englisch-amerikanischen Kreisen“, 37 und: „Ich habe diese Art […] nicht selbst erfunden,
sondern in der englisch-amerikanischen Evangelisations- und Heilsbewegung vorgefunden.“ 43.
570
Jellinghaus, Heil, 5. Auflage, XVII.
571
Vgl. etwa die neu hinzugekommene Fußnote 533-534: „Nun habe ich aber von der ersten Auflage meines
Werkes an ängstlich den Ausdruck ‚völlige Heiligung’ und ‚gänzliche Heiligung’ vermieden und immer nur von
tieferer und völligerer Heiligung gesprochen“. A.a.O., 534.
572
Ernst Buddeberg, Die Heiligung durch den Glauben – das Losungswort der neueren Heiligungsbewegung, Licht
und Leben 24 (1912), Nr. 9, 130.
573
Jellinghaus, Heil, 71.
111
569
Die starke Spaltung unter denjenigen, die sich noch in der Heiligungsbewegung verbunden
wussten, musste natürlich für die theologische Verarbeitung der Entwicklung ein großes Problem
darstellen. Denn bei der Schärfe wechselseitiger Verurteilungen und Verwerfungen dürfte es
auch bei noch so viel Sophistik unmöglich gewesen sein, den Gedanken der tätigen
Sündlosigkeit geheiligter Gotteskinder durchzuhalten.
4.3 Der Zusammenbruch innerer Kohärenz
Diese Faktoren, die Entfremdung von den anglo-amerikanischen Einflüssen und die wachsenden
Spannungen unter den Anhängern der Heiligungsbewegung, erhöhten sicher einen gewissen
Druck auf den systematischen Zusammenhang seines Denkens. Ließ sich Jellinghaus’
Vermittlungsbemühung mit ihrem optimistischen Anspruch noch länger durchhalten, wenn
sowohl die Ursprünge wie auch die möglichen Konsequenzen dieses Denkweges immer
problematischer zu werden schienen? Nun müssen solche Schwierigkeiten für sich kein Grund
sein, das eigene Denksystem aufzugeben. Ausschlaggebend ist zuletzt die Frage nach der
internen Stabilisierbarkeit des eigenen Systems. Ließ es sich so weiterentwickeln, dass es seinen
eigenen Leitunterscheidungen treu blieb und zugleich offen war für die Beurteilung neuerer,
problematischer Tendenzen in der christlichen Welt?
Der Versuch, die Traditionen von Heiligungsbewegung, Reformation und Universitätstheologie
miteinander zu verbinden, nötigte Jellinghaus immer schon zu einem hohen Maß an
Unbestimmtheit, um Systemwidersprüche abzuschwächen. Wir haben gesehen, wie Jellinghaus
auf der einen Seite perfektionistische Spitzen abbrach, um die Kompatibilität mit
reformatorischen Überzeugungen zu wahren; auf der anderen Seite verzichtete er darauf, die
gnadentheologischen Überzeugungen der Reformation zum Zuge kommen zu lassen, um die
Handhabbarkeit der neuen Lehre nicht zu gefährden. Meines Erachtens ist es für das schließliche
Scheitern des Jellinghaus’schen Systems ausschlaggebend, dass sein System über keine
Kompetenz verfügte, Erfahrungen der Krise bzw. des Scheiterns nachhaltig noch einmal mit den
Mitteln seiner Heiligungslehre auffangen und verarbeiten zu können.
Dies unterscheidet seinen Ansatz etwa auch von der mit viel tieferem Sündenernst verbundenen
Heiligungstheologie Otto Stockmayers, die z.B. im Deutschen Gemeinschafts-Diakonieverband
(DGD) zwei Weltkriege überstand und erst im Kulturwandel der 1960er nach dem Zweiten
Weltkrieg jegliche Plausibilität und Anschlussfähigkeit an das gewandelte geistige Klima
einbüßte. Welche Möglichkeiten hatte Jellinghaus, mit den schweren Verwerfungen innerhalb
der von der Heiligungsbewegung bestimmten Gotteskinder umzugehen? Sein Widerruf ist ein
eindrückliches Zeugnis, dass diese Erfahrung sich als schlechterdings nicht deutungsfähig
erwies. Darum ist es vor allem seine Sündenlehre, die er nun radikal verwirft. Rückblickend
spitzt er dies zu auf die Einsicht: „Weil ich beweisen wollte, daß der Christ nicht zu sündigen
braucht, so erklärte ich vieles nicht für Sünde.“574 Dieses Eingeständnis ist in hohem Maße
bemerkenswert. Natürlich versuchte Jellinghaus, seine Sündenlehre durch ausführliche biblische
Untersuchungen zu untermauern. Das Heiligungsideal des Nichtsündigens, die Überbietung
eines klassischen Vergebungschristentums machte aber die Abschwächung des überlieferten
Sündenbegriffs der reformatorischen Tradition notwendig. Um dieses Überbietungsbewusstsein
auf Dauer aufrecht halten zu können, musste „Sünde im eigentlichen Sinne“ einem regelrechten
Minimalisierungsprozess unterworfen werden. Denn wenn Sünde sich auch als erfahrene und
erlebte Realität des geheiligten Christenlebens erweisen sollte, dann wäre die Grunddifferenz des
systematischen Ansatzes gegenstandslos geworden.
Daher muss Jellinghaus’ Widerruf als Ausdruck gescheiterter Stabilisierungsbemühungen des
Heiligungsbewusstseins gesehen werden. Auf die unmittelbare Stabilisierung der neuen
Selbsteinschätzung war Jellinghaus wie auch die Heiligungsbewegung im hohen Maße
eingestellt. Von Anfang an ist die Umstellung des religiösen Bewusstseins von sozialen
Vollzügen begleitet, die eine Artikulation und soziale Validierung der neuen Selbsteinschätzung
im hohen Maße unterstützte. Die Kultur der Camp-Meetings schaffte einen dichten sozialen
Gemeinschaftsrahmen, der im hohen Maße konzentriert war auf religiöse Kommunikation. Ohne
jede Alltagsunterbrechung war der Ablauf von Predigten und Erfahrungsberichten bestimmt. Die
574
Jellinghaus, Lehrirrungen, 14.
112
neue Bewegung verfügte bald über ein eigenes Liedgut, in der wesentliche Inhalte
gemeinschaftlich „ersungen“ wurden. Schließlich war das Zeugnis-Geben im Blick auf die
eigenen gemachten Erfahrungen nicht nur eine Möglichkeit, sondern ein Akt, der als notwendig
zugehörig zur gemachten Heiligungserfahrung verstanden wurde. Kognitive Präsentation,
affektiv-gemeinschaftliche Kommunikation und individuelle Artikulation der neuen
Heiligungslehre waren eng miteinander verzahnt.
Die bei weitem größere Herausforderung bestand darin, die vollzogene Umstellung des
religiösen Bewusstseins auch unter Alltagsbedingungen auf Dauer zu garantieren. Neben dem
weiteren Abhalten von Tagungen und Camp-Meetings war die Bildung von dichten
Gemeinschaften ein wesentliches Mittel. Die gemeinsame Kommunikation vollzog sich in einer
Vielzahl von Zeitschriften und Traktaten. Ließ sich aber das neue Bewusstsein der
Heiligungserfahrung auch im individuellen Vollzug dauerhaft stabilisieren gegenüber der Gefahr
des Scheiterns, also des Sündigens? Für solche Erfahrungen keine Stelle im theologischen
System zu haben, das erwies sich als der eigentliche Schwachpunkt seiner Lehre.
4.4 Radikale Bußfrömmigkeit als Umkehrung der bisherigen Systemlogik
Die ungeheure Verdüsterung seines Zeitempfindens ließ Jellinghaus nur noch die Möglichkeit
einer radikalen Bußfrömmigkeit offen: War bislang im Blick auf die Sünde ein
Minimalisierungsprogramm leitend, das vor allem auf die Identifikation von Fällen zielte, die
nicht Sünde im strengen Sinne seien, so betreibt Jellinghaus nun eine Totalisierung des
Sündengedankens. „Es ist jetzt die letzte Stunde vor der vollen Nacht des Antichristentums und
vor der Zersetzung aller moralischen und religiösen Lichts-, Liebes-, Geistes-, Lebens- und
Wahrheits-Kräfte in der Menschheit. Es ist für die Besten jetzt schwer, sich zu retten, aber es ist
möglich durch demütige Buße und selbstverleugnende Treue bis in den Tod.“575
In seinem Widerruf gelingt Jellinghaus nicht mehr die Entwicklung eines anderen Systems,
sondern nur eine negative Umkehrung aller seiner bisherigen Wertungen. Man wird seinem
Widerruf nicht damit gerecht werden können, dass man sagt, er sei darin wieder zur Position des
älteren Pietismus zurückgekehrt.576 Zu Recht betont Ernst Heinatsch, dass die Positionen, die
Jellinghaus in seinem Widerruf vertritt, so radikal sind, dass sie auch nicht einem erwecklichen
Luthertum zugeordnet werden können.577 Vielmehr erweisen sich seine Konsequenzen hier vor
allem als vollständige Umkehrungen seiner bisherigen Annahmen; auch wenn er nun versucht,
dies im Einklang mit konservativer Frömmigkeit zu formulieren. Insofern kann man sagen, dass
er auch im Widerruf noch ganz im Banne seines bisherigen Systems steht, es nun aber mit
negativen Vorzeichen vertritt; als eine ernsthafte Alternative wird man es wahrlich nicht
bezeichnen können.578
575
Jellinghaus, Lehrirrungen, 46.
So etwa Ernst Buddeberg in seiner großen Studie zur Heiligungstheologie in Licht und Leben (1912) in den Nr.
9-21: „So liegt in der Persönlichkeit und dem Geschick von Jellinghaus eine Tragik. Er gehört von Hause aus und
nach seiner angeborenen Nüchternheit zu dem älteren Pietismus, durch seine Smith’sche Heiligungslehre zu der
neueren Heiligungslehre. Diese beiden Richtungen ringen in seinem Buche miteinander. […] Jellinghaus ist jetzt
[…] in das Lager zurückgekehrt, von dem er ursprünglich ausgegangen ist.“ A.a.O, 245.
577
Ernst Heinatsch, Pastor Theodor Jellinghaus und sein Widerruf, Auf der Warte (1912) Nr. 5, 2-4. Heinatsch
zitiert hier auch Aussprüche der ersten Fassung des Widerrufs von 1911, die dann so nicht veröffentlicht worden
sind, z. B.: „Mein Buch ist vom Anfang bis zum Ende Lüge.“ A.a.O., 3.
578
Nach der Veröffentlichung des Widerrufs von Jellinghaus kam es zu teilweise unwürdigen Diskussionen um
seinen Geisteszustand. Gravierend und für Jellinghaus sicher schmerzhaft war dabei wohl die Infragestellung seiner
geistigen Gesundheit durch seinen Sohn bzw. die Familie, wie sie in Auf der Warte publik gemacht worden sind.
Sein Sohn wird dort mit den Worten zitiert: „Anfang Mai wurde mein Vater zu seiner sterbenden Tochter gegen den
Willen der Aerzte aus dem Irrenhaus genommen und, da wir überrascht waren durch die körperliche Beruhigung,
behielt man ihn zur Pflege in der Familie. Wir haben immer gewußt, daß seine Zwangsgedanken noch dieselben
waren wie vor 6 Jahren. Er hat nun hinter unserem Rücken, heimlich, wie solche Patienten das zu tun pflegen, an
alle möglichen Leute ziemlich widerspruchsvolle lange Schreiben gesandt, in denen er angeblich seine Lehre
widerlegt. Darin widerruft mein Vater Lehren, die er nie gelehrt hat, ja die er mit Fettdruck abgelehnt hat. – Mein
armer Vater ist so krank, daß er z. B. nicht beten kann.“ Auf der Warte (1912) Nr. 4, 7. Der Herausgeber Möbius
versuchte wohl mit dieser Herausgabe von vorneherein die Grundsatzkritik des Widerrufs zu diskreditieren und
große Teile der ursprünglichen Lehre von Jellinghaus auch für die Gegenwart zu retten. Je größer die Verbundenheit
mit der klassischen Heiligungstheologie war, desto stärker fiel auch die Neigung aus, ihn für krank bzw. nicht
zurechnungsfähig zu halten. Umgekehrt wird vor allem in Licht und Leben der Widerruf Jellinghaus’ von Personen
113
576
4.5 Gemeinschaftsbewegung und Theologie
Auch das spektakuläre Scheitern der Jellinghaus’schen Synthese hat für Jahrzehnte einen
unbefangenen Umgang mit anglo-amerikanischen Theologie-Importen in der Welt des deutschen
Pietismus erschwert. Wenn innerhalb der Gemeinschaftsbewegung überhaupt nach theologischer
Orientierung gesucht wurde, dann wurde zurückgegriffen auf die Traditionen eines pietistischen
Biblizismus (Theodor Haarbeck) oder auf das Erbe eines erwecklichen Luthertums (von Walter
Michaelis bis Siegfried Kettling). Ausgehend von den erwecklichen Aufbruchserfahrungen der
eigenen Geschichte einen Ansatz theologischen Denkens zu entwickeln, in dem auch das angloamerikanische Erbe der Heiligungslehre zur Geltung kommt, das wurde in der Folgezeit kaum
noch in größerem Stil versucht. Angesichts des spektakulären Scheiterns Jellinghaus’ ist dies nur
allzu verständlich. Es ist aber auch bedauerlich. Jellinghaus wollte theologisch verknüpfen, was
für viele Gemeinschaftschristen zusammengehörte: die reformatorische Betonung der
bedingungslosen Gnade Gottes in Jesus Christus und das hohe Ideal christlicher Heiligkeit und
Wirksamkeit im Sinne des modernen, methodistischen Christentums. Diese ursprüngliche
Absicht hat m. E. alle Sympathie verdient. Die Synthese, die Jellinghaus dabei entwickelte,
erforderte jedoch auf beiden Seiten einen hohen Preis. Auf Seiten der reformatorischen
Rechtfertigungslehre verzichtete Jellinghaus darauf, den spezifischen Sündenbegriff der
Reformatoren durchzuhalten. Genauso undeutlich wird die Einsicht in die Bedingungslosigkeit
der Gnade durch die Betonung immer neuer Entscheidungssituationen. Auf Seiten des
methodistischen Heiligungsideals verlor Jellinghaus hingegen die Ausrichtung auf die tätige,
reine und unbedingte Liebe Wesleys zugunsten eines negativen Heiligungsideals, das seinen
eigenen Status am präzisesten noch als Freibleiben von Tatsünden formulieren konnte. Das Ideal
der Heiligung wurde durch eine selbstbezügliche Konzeption abgelöst, in der es um das
siegreiche Vermeiden von Sünden und Niederlagen geht. Damit wurde zwar ein handhabbarer
Maßstab gewonnen im Blick auf das tatsächliche Erreichen von Sündlosigkeit, letztlich aber
zielte das Ringen um Heiligung nur noch auf die Vermeidung von inneren
Widerspruchserfahrungen. Verloren ging dabei die Weite christlicher Liebe mit ihrer
weltdurchdringenden und -verändernden Kraft.
Die Leitidee einer Verknüpfung von Gnadenbewusstsein und Heiligungsideal ist m. E. auch
heute nicht überholt. Vor welchen falschen Kompromissen man sich bei seiner Verwirklichung
hüten sollte, hat Jellinghaus auf seine Weise eindrücklich demonstriert.
wie Haarbeck und Buddeberg nachdrücklich begrüßt. In Licht und Leben wird Jellinghaus schließlich auch ein
Forum gegeben, sich selbst an seine Kritiker zu wenden. (Theodor Jellinghaus, Ist „Gnadau“ und
Heiligungsbewegung eins?, in: Licht und Leben 1912, 487-490). Die Parallelen zum Umgang mit Robert Pearsall
Smith nach dessen „krankheitsbedingtem Rückzug aus der Öffentlichkeit“ sind auffällig. Diese Diskussionen
machen insgesamt deutlich, wie schwer sich diese erweckliche Tradition damit tut, das Scheitern wichtiger
Protagonisten bzw. Irrtümer ihrerseits in den eigenen Reihen theologisch angemessen einzuordnen. Diese
Schwierigkeit ist nicht zuletzt mit dem jeweiligen Umgang mit Theologie insgesamt eng verbunden. „Theologie“
bzw. biblische Lehre ist untrennbar verknüpft mit der charismatischen Ausstrahlung und der persönlichen
Glaubwürdigkeit desjenigen, der sie als Zeuge vertritt. Die persönliche Glaubwürdigkeit und Integrität scheint
allemal schwerer zu wiegen als die Übereinstimmung mit biblischer oder traditioneller Lehre, als logische
Konsistenz oder argumentative Kraft.
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Die Autoren
Sven Brenner, M.A., Jg. 1974, Pastor der Gemeinde Gottes KdöR.
Thorsten Dietz, Prof. Dr. theol., Jg. 1971, Pfarrer; Professor für Systematische Theologie an der
Evangelischen Hochschule Tabor in Marburg.
Thomas Hahn-Bruckart, Dr. theol., Jg. 1978, Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der JohannesGutenberg-Universität Mainz.
Ekkehard Hirschfeld, Dr. theol, Jg. 1965, Gymnasiallehrer in Neckartenzlingen.
Markus Krause, B.A. theol., Jg. 1977, Königsbrunn.
Frank Lüdke, Prof. Dr. theol., Jg. 1965; Professor für Kirchengeschichte und Leiter der
Forschungsstelle Neupietismus an der Evangelischen Hochschule Tabor in Marburg.
Nicholas Michael Railton, Jg. 1957, Dozent für deutsche Sprache und Geschichte an der
University of Ulster in Coleraine/Nordirland.
Wolfgang Reinhardt, Dr. theol., Jg. 1947, ev. Pfarrer, Erweckungsforscher, Koordinator dt.
Partnerschaften mit Überlebenden des Völkermords in Ruanda durch das MFB e.V.
Hans-Martin Thimme, Dr. theol., Jg. 1940, Pfr. i.R., Münster.
Karl Heinz Voigt, Jg. 1934, Kirchenhistoriker und Pastor der evangelisch-methodistischen
Kirche, wohnhaft in Bremen.
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