Frank Lüdke / Norbert Schmidt (Hg.) Die neue Welt und der neue Pietismus Angloamerikanische Einflüsse auf die deutsche Gemeinschaftsbewegung Schriften der Evangelischen Hochschule Tabor (SEHT) 3 LIT-Verlag, Berlin 2012 Inhaltsverzeichnis Vorwort .......................................................................................................................................... 5 Von Bonifatius bis Willow Creek – eine kurze Geschichte der englisch-amerikanischen Einflüsse auf das Christentum in Deutschland........................................................................... 7 Ein Engländer als „Apostel der Deutschen“ .............................................................................................. 7 Ein Engländer als Wegbereiter der Reformation ...................................................................................... 8 Englische Bücher fördern den deutschen Pietismus ................................................................................ 8 Die Herrnhuter und ein Engländer ............................................................................................................ 8 Christen aus England und Deutschland vernetzen sich ........................................................................... 9 Die englische Idee der Sonntagsschule ................................................................................................... 9 Ein neues Kirchenmodell aus der angelsächsischen Welt ..................................................................... 10 Warum gerade England? ........................................................................................................................ 10 Das erste internationale ökumenische Netzwerk .................................................................................... 10 Die amerikanische Heiligungsbewegung ................................................................................................ 11 Robert Pearsall Smith in England und Deutschland ............................................................................... 12 Die deutschsprachige Heiligungsbewegung ........................................................................................... 12 Amerikanische Evangelisationsmethoden .............................................................................................. 13 Die Gemeinschaftsbewegung ................................................................................................................. 14 Zielgruppenarbeit .................................................................................................................................... 15 Die Heilungsbewegung – Kulturtransfer nach Amerika .......................................................................... 16 Die Pfingstbewegung .............................................................................................................................. 16 Predigende Frauen ................................................................................................................................. 17 Diakonische Impulse ............................................................................................................................... 17 Die Weltmission ...................................................................................................................................... 18 Die Gruppenbewegung ........................................................................................................................... 18 Billy Graham............................................................................................................................................ 19 Die neusten Entwicklungen..................................................................................................................... 19 Ein Fazit .................................................................................................................................................. 19 Friedrich von Schlümbach: Evangelisation und Jugendarbeit zwischen den Kontinenten . 22 1. Friedrich von Schlümbach als Organisator deutsch-amerikanischer christlicher Jugendarbeit ......... 22 2. Friedrich von Schlümbach als deutschsprachiger Exponent der angloamerikanischen Evangelisationsbewegung ...................................................................................................................... 23 3. Amerikanische Impulse für den deutschen Kontext ........................................................................... 23 4. Evangelisation und Gemeinschaftsbildung ......................................................................................... 25 5. Ambivalenzen zwischen freikirchlichen Ansätzen und landeskirchlichen Limitierungen .................... 26 6. Fazit .................................................................................................................................................... 28 August Rauschenbusch zwischen Deutschland und Amerika................................................. 29 1. Bekehrung zum wahren Leben ........................................................................................................... 29 2. Bau einer wahren Kirche ..................................................................................................................... 30 3. Taufverständnis .................................................................................................................................. 31 4. Deutsch in Amerika ............................................................................................................................. 33 Ernst Ferdinand Ströter – Endzeitspezialist zwischen den Kontinenten............................... 35 1. Der dispensationalistische Prämillenniarismus................................................................................... 35 2. Die Theologisierung der Theologie ..................................................................................................... 35 3. Die Israeltheologie .............................................................................................................................. 37 4. Das Heiligungsverständnis ................................................................................................................. 37 5. Zurück in Europa ................................................................................................................................. 38 6. Ströter verliert seinen Einfluss ............................................................................................................ 38 Die Mildmay-Konferenz und britische judenmissionarische Impulse für die deutsche Heiligungsbewegung.................................................................................................................... 40 1. Die Mildmay-Konferenz....................................................................................................................... 41 1.1 William Pennefather als Schlüsselfigur ......................................................................................... 41 1.2 Eschatologie und Israeltheologie .................................................................................................. 43 1.3 The Christian ................................................................................................................................. 44 1.4 Keswick und die Judenmission ..................................................................................................... 44 1.5 Advent Testimony and Preparation Movement ............................................................................. 45 2. Judenmissionarische Impulse für die deutsche Heiligungsbewegung ............................................... 46 2.1 Bad Blankenburg ........................................................................................................................... 46 2.2 Bonn .............................................................................................................................................. 47 2.3 Berlin ............................................................................................................................................. 49 2.4 John Wilkinson und die Mildmay Mission to the Jews .................................................................. 50 2.5 Die Pfingst-Konferenz in Wandsbek ............................................................................................. 51 2.6 Die Jerusalemkirche in Hamburg .................................................................................................. 52 2 3. Der Entfremdungsprozess .................................................................................................................. 54 4. Zusammenfassung ............................................................................................................................. 58 Methodistische Einflüsse auf die Gemeinschaftsbewegung im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts................................................................................................................................ 60 1. Die methodistischen Kirchen in Deutschland und der Schweiz zwischen 1850 und 1875 ................ 61 2. Die „Triumphreise“ von Robert Pearsall Smith ................................................................................... 61 Exkurs 1: Methodismus, Methodisten und methodistische Kirche ......................................................... 62 3. Der Einfluss von Theodor Christlieb ................................................................................................... 63 3.1 Christliebs theologisches Profil und sein Lehrauftrag ................................................................... 63 3.2 „Zur methodistischen Frage in Deutschland“ ................................................................................ 63 3.3 Christlieb und der deutsch-amerikanische Methodistenprediger Friedrich von Schlümbach (18421901). .................................................................................................................................................. 64 3.4 Zeit der Abgrenzung ...................................................................................................................... 64 3.5 Die Gnadauer Pfingstkonferenz 1888 ........................................................................................... 66 3.6 Ein neues Selbstverständnis ......................................................................................................... 66 3.7 Ein kirchenpolitischer Schachzug und die Konsequenzen ........................................................... 66 3.8 Schlümbach und der Trend zum Nationalverband ........................................................................ 66 3.9 Eine veränderte Landschaft .......................................................................................................... 67 3.10 Rückkehr aus den methodistischen Gemeinschaften in die Landeskirchen............................... 67 Exkurs 2: Pietismus und Methodismus ................................................................................................... 68 4. Kirchliche und gesellschaftliche Bedingungen für eine Distanz zwischen Gemeinschaften und Methodisten............................................................................................................................................. 69 5. Die organisatorische Ausdifferenzierung ............................................................................................ 71 6. Die verbliebene inhaltliche Ausrichtung: Singende „Unterwanderung“ .............................................. 71 7. Schlussbemerkung ............................................................................................................................. 72 Robert Pearsall Smith als Impulsgeber für die deutsche Gemeinschaftsbewegung ............. 73 1. Vom Kartenverleger zum Heiligungsprediger ..................................................................................... 74 2. Erfolge in Großbritannien und Europa ................................................................................................ 75 3. Der Skandal von Brighton ................................................................................................................... 77 4. Hintergründe zum Skandal von Brighton ............................................................................................ 79 5. Smiths Leben nach dem Karriereende ............................................................................................... 79 6. Bewertung von Smith in Deutschland ................................................................................................. 80 Die Erweckung in Wales 1904/05 und ihre Auswirkungen auf den deutschen Neupietismus ....................................................................................................................................................... 81 1. Der Forschungsstand .......................................................................................................................... 81 2. Die Berichte über die walisische Erweckung in deutschen Veröffentlichungen ................................. 82 2.1 Zeitschriften- und Augenzeugenberichte aus dem landeskirchlichen Bereich ............................. 82 2.2 Berichte und Wertungen in deutschen Freikirchen ....................................................................... 84 3. Auswirkungen der Waliser Erweckung auf Deutschland .................................................................... 85 3.1 Regionale deutsche Erweckungen infolge von „Wales“ ................................................................ 85 3.2 Die Waliser Erweckung und die Konferenzen von Bad Blankenburg und Gnadau ...................... 87 4. Das Verhältnis zur Pfingstbewegung .................................................................................................. 87 5. Konsequenzen .................................................................................................................................... 88 Der angloamerikanische Einfluss auf die deutsche Pfingstbewegung .................................... 90 1. Forschungsstand ................................................................................................................................ 90 2. Entstehung und Ursprung der Pfingstbewegung in Deutschland ....................................................... 91 3. Angloamerikanische Einflüsse bis 1945 ............................................................................................. 93 4. Angloamerikanische Einflüsse nach 1945 .......................................................................................... 97 5. Schlussfolgerungen ............................................................................................................................ 99 Der Einfluss der anglo-amerikanischen Heiligungstheologie auf die Theologie von Theodor Jellinghaus.................................................................................................................................. 100 1. Einleitung .......................................................................................................................................... 100 2. Die Heiligungstheologie von Jellinghaus und ihre Quellen ............................................................... 101 2.1 Die Heilsordnung (das völlige Heil) ............................................................................................. 101 2.2 Der Akt der Übergabe (das gegenwärtige Heil) .......................................................................... 102 2.3 Popularisierung: Boardman und das Ehepaar Smith .................................................................. 104 2.4 Das reformatorische Erbe und die deutsche Universitätstheologie ............................................ 105 3. Konstitution und Stabilisation des neuen Heiligungsbewusstseins .................................................. 107 3.1 Das Heiligungsziel und die Schwierigkeit seiner positiven Bestimmung .................................... 107 3.2 Freiheit von der Macht der Sünde ............................................................................................... 108 4. Vom Gelingen und Scheitern religiöser Deutungssysteme .............................................................. 110 4.1 Entfremdung von der anglo-amerikanischen Einflusssphäre ..................................................... 110 4.2 Die Verwerfungen im Umgang mit der Pfingstbewegung ........................................................... 111 4.3 Der Zusammenbruch innerer Kohärenz ...................................................................................... 112 4.4 Radikale Bußfrömmigkeit als Umkehrung der bisherigen Systemlogik ...................................... 113 3 4.5 Gemeinschaftsbewegung und Theologie .................................................................................... 114 Die Autoren ................................................................................................................................ 115 4 Vorwort „Die neue Welt und der neue Pietismus“, unter diesem Thema fand am 23.-24.9.2011 an der Evangelischen Hochschule Tabor in Marburg an der Lahn das zweite Theologische Symposium der Forschungsstelle Neupietismus statt, dessen wichtigste Vorträge hiermit veröffentlicht werden. Die deutsche Gemeinschaftsbewegung ist ebenso wie die meisten Freikirchen stark von Impulsen aus England und den USA geprägt. Insbesondere gegen Ende des 19. Jahrhunderts gab es einen starken Schub von angloamerikanischen Ideen sowohl struktureller als auch theologischer Art, die den Neupietismus belebten und ihm eine ganz eigene Charakteristik gaben. Immer wieder wechselten sich seitdem Phasen der offenen Anbiederung mit Zeiten der kritischen Distanz ab. Das Marburger Symposium wollte in dieses bisher kaum beachtete Forschungsfeld einige Schneisen schlagen und damit zu weiteren Untersuchungen anregen. Zur Orientierung beginnt dieser Aufsatzband mit einer überblicksartigen Gesamtschau der angloamerikanischen Einflüsse auf das Christentum in Deutschland, die von den Anfängen des Mittelalters bis heute reichen. Anschließend konzentrieren sich die Beiträge auf die Entwicklungen im ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhundert. Dabei werden zunächst einige deutsche Protagonisten in den Blick genommen. Thomas Hahn-Bruckart macht zu Beginn deutlich, welche Schlüsselrolle der deutschamerikanische Evangelist Friedrich von Schlümbach für die Entstehung, Organisation und inhaltliche Prägung der aufkommenden Gemeinschaftsbewegung hatte. Er zeigt auf, dass schon in der Person Schlümbachs die ekklesiologische Schwierigkeit des Neupietismus, sich zwischen Volkskirchlichkeit und Freikirchlichkeit zu positionieren, vorgezeichnet wird. Dabei wird auch klar, dass es unerlässlich ist, bei den betreffenden historischen Abläufen den Kontext der deutschsprachigen Amerikaner in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu beachten. Hans-Martin Thimme vertieft dies am Beispiel des nach Amerika ausgewanderten deutschen Pfarrers August Rauschenbusch (des Vaters von Walter Rauschenbusch, dem später bekanntesten Vertreter des Social Gospel). An ihm wird beispielhaft eine deutsch-amerikanische Verknüpfung deutlich, die für das 19. Jahrhundert charakteristisch war: Landeskirchliche Christen aus Deutschland gingen zu Tausenden in die USA, um dort unter Wahrung ihrer deutschen Sprache und Kultur ihren Glauben zu praktizieren. Dabei kam es zu neuen Organisationsformen freikirchlicher Art, die sich häufig mit theologischen Ansichten aus dem Umfeld der Heiligungsbewegung verbanden. Diese neu verschmolzenen Prägungen gelangten dann durch Rückwanderer wieder nach Deutschland. Ekkehard Hirschfeld beleuchtet solch eine Biographie anhand von Ernst Ferdinand Ströter, der sich ebenfalls zwischen Deutschland und den USA bewegt hat und zu einer prägenden Figur der deutschen Heiligungsbewegung wurde. An ihm wird deutlich inwiefern das große Interesse der Gemeinschaftsbewegung an der Stellung Israels und an eschatologischen Fragen mit der Heiligungstheologie zusammenhing. Ströter selbst kann maßgeblich dafür verantwortlich gemacht werden, dass die darbystische Spielart des dispensationalistischen Prämillenniarismus von weiten Teilen des Neupietismus übernommen wurde. Damit berührt sich dann auch der nächste Beitrag von Nicholas Railton, der mit der Londoner Mildmay-Konferenz und den englischen judenmissionarischen Aktivitäten einen bisher im deutschen Sprachraum kaum beachteten Strang der deutsch-englischen Verbindungen untersucht. Er stellt heraus, inwiefern gerade die Themen Judenmission und Eschatologie zunächst ein entscheidendes Band zwischen deutschen und englischen Christen bildeten, was dann aber im Vorfeld des 1.Weltkriegs und der Weimarer Republik immer problematischer wurde. Karl Heinz Voigt lenkt den Blick danach darauf, dass die deutsche Heiligungsbewegung konfessionsgeschichtlich gesehen stark vom angelsächsischen Methodismus geprägt worden ist. Er stellt dar, wie die Gemeinschaftsbewegung als eine innerkirchliche Art von Methodismus organisiert worden ist, um eine weitere Abwanderung von Kirchenmitgliedern zu methodistischen Freikirchen zu verhindern. Obwohl viele leitende Persönlichkeiten der Heiligungsbewegung gar keine Mitglieder einer Methodisten-Kirche waren, wurden sie dennoch 5 als „methodistisch“ im Sinne einer theologischen und frömmigkeitspraktischen Prägung wahrgenommen. Dies gilt ganz besonders auch in Bezug auf Robert Pearsall Smith, der danach von Markus Krause speziell in den Blick genommen wird. Durch Smiths Konferenzen in Oxford und Brighton sowie seine sogenannte „Triumphreise“ durch Deutschland im Frühjahr 1875 wurde die deutsche Heiligungsbewegung entscheidend in Gang gesetzt. Krause macht deutlich, wie Smith trotz des tragischen und schnellen Endes seiner öffentlichen Wirksamkeit zu einem Impulsgeber für die entstehende Gemeinschaftsbewegung werden konnte. Wolfgang Reinhardt stellt in seinem Beitrag dann die spezielle Prägung der Erweckung von Wales in den Jahren 1904/05 dar, und zeigt, welche Aspekte davon sich in Deutschland auswirkten und das geistliche Klima im Vorfeld der aufkommenden Pfingstbewegung prägten. Bis in diese ersten Jahre des 20. Jahrhunderts lassen sich also vielfältige Verknüpfungen zwischen der angloamerikanischen Christenheit und dem deutschen Neupietismus darstellen. Umso interessanter ist es, dass Sven Brenner im nächsten Beitrag darauf hinweist, dass die weitläufige Annahme, die deutsche Pfingstbewegung sei direkt und vor allem aus amerikanischen Wurzeln herausgewachsen, nicht zu halten ist. Vielmehr scheint gerade sie sich besonders auf die deutsche Identität besonnen zu haben, und es kam erst nach dem 2.Weltkrieg zu einer verstärkten Einflussnahme aus den USA auf deutsche Pfingstkirchen. Was sich bis hierhin schon vielfältig angedeutet hat, konzentriert sich schließlich im letzten Beitrag von Thorsten Dietz. Er analysiert die bisher kaum aufgearbeitete Theologie von Theodor Jellinghaus, des führenden Theologen der deutschen Heiligungsbewegung. Dabei wird zunächst das spannende Zusammenspiel von deutsch-lutherischen und angloamerikanischen Einflüssen im Zentrum der Theologie der Gemeinschaftsbewegung nachgezeichnet. Gerade bei Jellinghaus, der sich am Ende seines Lebens dazu gedrängt fühlte, seine gesamte Theologie zu widerrufen, wird schließlich deutlich, dass auch die damalige Zeitsituation der zunehmenden Distanzierung Deutschlands von der angelsächsischen Welt im Vorfeld des 1. Weltkriegs und damit zusammenhängend die Verwerfungen um die aufkommende Pfingstbewegung entscheidend für einen tiefgreifenden Wandel im Verhältnis der deutschen Gemeinschaftsbewegung zum angloamerikanischen Christentum geworden sind.1 Es hat sich durch die Forschungsergebnisse des Marburger Symposiums somit herauskristallisiert, dass es im Laufe des ersten Jahrzehnts des 20. Jahrhunderts zu einer bedeutsamen Wende gekommen ist. Während sich vorher vielfältige Verbindungen und massive Einflüsse aus Großbritannien und den USA auf den deutschen Neupietismus nachweisen lassen, nahm dies spätestens ab 1910 signifikant ab und wurde erst nach 1945 wieder neu belebt. Der zeitgeschichtliche Hintergrund des bewussten Abrückens Deutschlands vom angloamerikanischen Kulturraum in dieser Phase bildete sich also auch im pietistischen Spektrum der evangelischen Christenheit in Deutschland ab, obwohl gerade hier vorher starke Sympathien und vielfältige persönliche und organisatorische Verbindungen bestanden hatten. Frank Lüdke 1 Man näherte sich damit der üblichen landeskirchlichen Sicht auf das angelsächsische Christentum an, die klassisch zum Ausdruck kommt bei Otto Baumgarten, Engländerei im kirchlichen Leben, in: RGG1 2 (1910), 337-339. 6 Frank Lüdke Von Bonifatius bis Willow Creek – eine kurze Geschichte der englischamerikanischen Einflüsse auf das Christentum in Deutschland Billy Graham, Rick Warren, Bill Hybels, Rob Bell und viele andere – immer wieder sind Namen aus der englischsprachigen Christenheit bei uns in aller Munde. Zumindest die meisten Freikirchen und Landeskirchlichen Gemeinschaften in der Evangelischen Kirche schielen, so hat man den Eindruck, immer mit einem Auge nach Amerika. Die einen folgen dabei einer gewissen Sehnsucht nach neuen Ideen, inspirierenden Rednern und vielleicht sogar einer neuen Erweckung, die anderen eher einer Skepsis gegen alles typisch „Amerikanische“. Woher kommt diese Verbindung nach Amerika eigentlich? Warum haben gerade die Gemeinschaftsbewegung und die Freikirchen viel aus der englischsprachigen Welt übernommen? Und wie hat das alles angefangen? Man könnte zunächst darauf hinweisen, dass es gar nichts Besonderes ist, dass Christen sich aus Amerika beeinflussen lassen, da das ja schließlich heutzutage ein gesamtgesellschaftliches Phänomen ist. Seit ungefähr 100 Jahren diagnostizieren Historiker in mehreren Wellen eine starke Amerikanisierung unserer deutschen Kultur. Man muss sich dazu nur das Kinoprogramm und die aktuellen Musikcharts ansehen, die deutlich von Beiträgen aus den USA und auch aus England dominiert werden. Das Interessante ist allerdings, dass Christen schon sehr viel früher Einflüsse aus dem angelsächsischen Bereich aufgenommen haben. Ein Engländer als „Apostel der Deutschen“ Schon seit Ende des 6. Jahrhunderts hatte es auf dem Gebiet des heutigen Mittel- und Süddeutschlands, im damaligen Frankenreich, eine vielfältige Missionsarbeit durch iroschottische Wandermönche gegeben, wovon allerdings nur wenige Spuren erhalten geblieben sind. Ein wirklich nachhaltiger Neuanfang der Missionsarbeit in Deutschland gelang erst im 8.Jahrhundert einem Engländer. Er hieß eigentlich Winfried, aber hatte vom Papst den Namen „Bonifatius“ bekommen. Bonifatius (675-754) war Angelsachse und lebte bis er ungefähr 40 war, in einem Kloster in Südengland. Aber dann verspürte er den starken Drang, noch einmal etwas ganz anderes zu tun, Abenteuer zu erleben, und vor allem für das Reich Gottes etwas Großes zu bewirken. Als Angelsachse lagen ihm dabei seine Verwandten besonders am Herzen. Die Angelsachsen gehörten zu den Germanen. Sie waren aus Angeln und Sachsen zu einer Volksgruppe verschmolzen, und Bonifatius sehnte sich danach, zu seinen nächsten Verwandten zu gehen, die noch keine Christen waren, zu den Sachsen, die grob gesagt das heutige Niedersachsen bewohnten. Die Grenze zwischen dem heidnischen Sachsenreich und dem damaligen christlichen Großreich der Franken verlief zu Beginn des 8. Jahrhunderts in Nordhessen, ungefähr auf der Höhe von Fritzlar. Dort wagte sich Bonifatius ein einziges Mal auf sächsisches Gebiet vor, um die so genannte Donar-Eiche zu fällen, ein heidnisches Heiligtum. Das gelang zwar mit starkem militärischem Begleitschutz, aber Bonifatius entschied sich dann doch, nicht noch weiter nach Norden zu den heidnischen Sachsen vorzustoßen, sondern sich stattdessen lieber um die Chatten zu kümmern, die schon unter christlicher Herrschaft im Frankenreich lebten. Die Chatten waren die Vorläufer der heutigen Hessen und sie waren bisher nur sehr oberflächlich christianisiert worden. Sie lebten im Grunde noch eine Art Heidentum, in das ein paar christliche Begriffe integriert worden waren. 721 traf Bonifatius auf der Amöneburg in der Nähe des heutigen Marburg ein. Die dort lebenden Herzöge Dettic und Deorulf und die Dorfbevölkerung lebten in tiefem Aberglauben, aber Bonifatius gelang es, sie zu einem fest gegründeten christlichen Glauben weiterzuführen. Viele Amöneburger wurden damals getauft. Nach diesem Erfolg hatte Bonifatius seine Lebensaufgabe gefunden: Er, der Engländer, ging nun daran, die nur oberflächlich christianisierten Germanen, vor allem die Hessen und Thüringer, zu evangelisieren und die Kirche zu organisieren. Er gründete Klöster, setzte Priester ein und führte sogar ein erstes Germanisches Konzil durch. Nach 30 Jahren hatte der Engländer Bonifatius die deutsche christliche Landschaft so geprägt, dass sie nicht mehr dieselbe war, sodass man ihm, dem Angelsachsen, seit dem 12. Jahrhundert den Beinamen Apostel der Deutschen gab. Bonifatius war dabei kein Einzelkämpfer, sondern er holte viele Mönche und Nonnen aus England, um die Kirche in Deutschland zu festigen und zu prägen. Durch englische Organisation entstand also überhaupt erst so etwas wie eine durchstrukturierte Kirche in Deutschland. Dabei war es Bonifatius sehr wichtig, dass die Christen Germaniens nicht nach England schauten, sondern sich, wie schon die Angelsachsen selbst, nach Rom orientierten. Seine Gebeine liegen bis heute im Herzen des römisch-katholischen Deutschlands, im Dom von Fulda. Ein Engländer als Wegbereiter der Reformation Der nächste bemerkenswerte Einfluss durch einen Engländer geschah im 14. Jahrhundert durch John Wyclif. Dieser englische Theologieprofessor war zwar selbst nie in Deutschland, aber er sorgte hier dennoch für nachhaltige Impulse. Schon über hundert Jahre vor Martin Luther übersetzte er die Bibel in die englische Volkssprache und kritisierte den Ablasshandel. Seine Ideen trugen Studenten nach Prag, wo sie Jahrzehnte nach Wyclifs Tod den Professor Jan Hus begeisterten. Als dieser immer mehr Anhänger gewann, wurde er aus der Kirche ausgeschlossen und 1415 auf einem Konzil in Konstanz verbrannt. Gleichzeitig wurde bei der Gelegenheit auch der besagte John Wyclif, der 30 Jahre vorher gestorben war, ausdrücklich zum Tod auf dem Scheiterhaufen verurteilt. Das bedeutete, dass seine Knochen ausgegraben und verbrannt wurden, um die Asche dann in einen Fluss zu streuen. Doch Wyclifs Ideen wirkten weiter und wurden hundert Jahre später zu einem Mutterboden der Reformation. Ohne die Vorarbeiten des Engländers John Wiclif wäre Luther wohl kaum das geworden, was er war. Englische Bücher fördern den deutschen Pietismus Die Reformation in Deutschland wirkte sich schon nach kurzer Zeit auch auf England aus. Dort wurde man allerdings nicht einfach lutherisch, sondern es entstand eine eigene Nationalkirche, die Anglikanische Kirche, was allerdings auch zu mehreren Abspaltungen führte, den so genannten Dissenters, deren bekannteste Gruppe die Puritaner waren. Einflussreich für die Christen in Deutschland wurden in dieser Phase vor allem Erbauungsbücher aus England wie z.B. das Buch des Puritaners John Bunyan mit dem Titel The Pilgrims Progress (Die Pilgerreise zur seligen Ewigkeit), das bis heute verkauft wird. Solche Literatur aus England beeinflusste eine neue Bewegung, die in Deutschland ab 1675 aufblühte, den so genannten Pietismus. Der Pietismus war eine evangelische Erneuerungsbewegung, die neben der lutherischen und reformierten Tradition auch sehr offen dafür war, geistliche Anstöße aus dem Ausland aufzunehmen, aus den Niederlanden, aus Frankreich, Spanien und eben auch aus England, und zwar über konfessionelle Grenzen hinweg. Die Herrnhuter und ein Engländer Eine der prägenden Persönlichkeiten des Pietismus war Nikolaus Ludwig Graf von Zinzendorf. Er gründete die Siedlung Herrnhut in der Oberlausitz, wo sich Glaubensflüchtlinge ansiedelten und woraus schließlich eine eigene Freikirche entstand, die Herrnhuter Brüdergemeine, die bis heute weltweit eine Dreiviertelmillion Mitglieder hat. Zinzendorf hatte vielfältige Beziehungen nach England, lebte einige Jahre in London und reiste sogar schon 1741 selbst nach Amerika, wo er Herrnhuter Siedlungen gründete und die Mission unter den Irokesen unterstützte. Für unser Thema interessant ist vor allem die Verbindung zu dem bekanntesten Christen Englands im 18. Jahrhundert, John Wesley. Er war ein anglikanischer Pfarrer, der zeitweise auch in der amerikanischen Kolonie Georgia als Geistlicher arbeitete und der dort Christen aus der Herrnhuter Brüdergemeine kennen lernte. Wesley war sehr beeindruckt von der Herrnhuter Art zu glauben und besuchte eines Tages im Jahr 1738 eine Herrnhuter Gemeinde in London. Dort hörte er zu, wie Luthers Vorrede zum Römerbrief vorgelesen wurde, und war plötzlich sehr bewegt und wurde von einer tiefen Liebe erfüllt. Dieses Erlebnis wurde für ihn zu einer Initialzündung, sodass er begann, in England evangelistische Freiversammlungen zu halten. Fast 50 Jahre lang ritt er quer durch England und hielt ca. 40.000 Predigten, die zu einer tiefgreifenden Erneuerung der englischen Christenheit führten, zum einen innerhalb der anglikanischen Kirche selbst, aber langfristig auch durch die Entstehung der Methodistischen Kirche. 8 Christen aus England und Deutschland vernetzen sich Während England in geistlicher Hinsicht gegen Ende des 18. Jahrhunderts aufblühte, war das christliche Leben in Deutschland zur gleichen Zeit eher bescheiden. Deutschland war zersplittert in 300 kleine Fürstentümer, und genauso zersplittert waren einzelne fromme Konventikel überall im Land, die kaum Verbindung miteinander und auch keine gesellschaftliche Relevanz hatten. Man nannte sie die Stillen im Lande und es benötigte wieder einen Anstoß aus England, um der Christenheit in Deutschland neues Leben einzuhauchen. In Augsburg lebte Pfarrer Samuel Urlsperger. Er unterhielt Verbindungen nach England und sogar nach Amerika. Dort in Georgia hatten sich nämlich aus Salzburg vertriebene Protestanten angesiedelt. Samuel Urlsperger arbeitete eng mit einer englischen Organisation zusammen, die sich Society for Promoting Christian Knowlegde (Gesellschaft zur Förderung christlicher Erkenntnis) nannte. Sein Sohn Johann August Urlsperger war davon sehr beeindruckt. Er kämpfte auf literarischem Gebiet gegen Glaubenszweifel und kritische Theologie und ihm kam dabei irgendwann der Gedanke, dass die deutschsprachigen Christen sich dafür unbedingt vernetzen müssten. Man bräuchte so etwas wie diese englische Society for Promoting Christian Knowledge, eine Organisation, um Christen überall im Land zu informieren und zusammenzubringen, gute Literatur zu verbreiten, erfahrene Redner zu vermitteln und Hilfe zu organisieren, dort wo sie gerade gebraucht würde. So gründete Johann August Urlsperger nach englischem Vorbild im Jahr 1780 die Deutsche Christentumsgesellschaft. Sie wurde für einige Jahrzehnte das entscheidende Netzwerk von Christen in Deutschland. Aus ihr entsprangen viele christliche Vereine, Missionsgesellschaften, diakonische Initiativen und evangelistische Aktionen. Mit der Zeit wurden Reisesekretäre angestellt, um die Vernetzung voranzutreiben und neue Ideen zu verbreiten. Herausragend war dabei Karl Friedrich Adolf Steinkopf, der als Pfarrer einer deutschen lutherischen Gemeinde in London arbeitete. Er war mit einer Engländerin verheiratet, was mit dazu beitrug, dass seine Arbeiten für die Deutsche Christentumsgesellschaft immer sehr stark vernetzt mit und inspiriert vom englischen Christentum waren. So entstanden vielfältige Kooperationen von Bibel- und Missionsgesellschaften aus England und Deutschland. Im Jahr 1800 wurde zum Beispiel in enger Zusammenarbeit mit der Londoner Missionsgesellschaft das erste deutsche Missionsseminar gegründet, also eine Ausbildungsschule für Missionare. Der Berliner Prediger Johannes Jänicke hatte sie bei sich im Pfarrhaus begonnen und die Missionare wurden dann von der Londoner Missionsgesellschaft nach Südafrika ausgesandt. Die englische Idee der Sonntagsschule Auch im Bereich der Diakonie kamen Anstöße aus England. Besonders wirkungsreich war dabei die Idee der Sonntagsschule. Im englischen Gloucester hatte zunächst Robert Raikes im Jahr 1780 die erste Sonntagsschule der Welt gegründet, um verwahrlosten Kindern, die während der Woche arbeiteten, Lesen und Schreiben beizubringen und sie vom christlichen Glauben her zu prägen. Dies erlebte der deutsche Kaufmann Johann Gerhard Oncken, als er sich für einige Jahre in England aufhielt. Im Auftrag einer englischen Bibelgesellschaft nahm er die Idee mit nach Deutschland und regte den Hamburger Pfarrer Johann Wilhelm Rautenberg an, auch eine Sonntagsschule zu gründen. Nach englischem Vorbild wurden ab 1825 sechzig Kinder aus einem Hamburger Elendsviertel aufgenommen. Als Oncken 1832 seine Mitarbeit beendete, wurde für ihn als Oberlehrer Johann Hinrich Wichern (1808-1881) eingestellt. Wichern bekam durch diese Sonntagsschularbeit einen tiefen Einblick in die sozialen Missstände in Hamburg und gründete daraufhin im Jahr 1833 das Rauhe Haus, ein Kinderheim für schwer erziehbare Jungen, weil er der Überzeugung war, dass der sonntägliche Unterricht allein nicht ausreichte, sondern nur eine vollzeitliche Prägung von Jugendlichen wirklich nachhaltige Veränderungen bewirken könne. Wichern wurde damit zum Begründer der Inneren Mission, also dem heutigen Diakonischen Werk. Die Sonntagsschul-Idee aber breitete sich eigenständig aus und wurde letztlich zur Inspiration für die bis heute bestehende Kindergottesdienstarbeit, die in Freikirchen vielfach immer noch als Sonntagsschule bezeichnet wird. 9 Ein neues Kirchenmodell aus der angelsächsischen Welt Und noch etwas kam am Anfang des 19. Jahrhunderts von England nach Deutschland, das langfristig die deutsche christliche Landschaft verändern sollte: die Freikirchen! Nach den napoleonischen Umwälzungen wurde es in vielen deutschen Gebieten langsam toleriert, eine christliche Vereinigung außerhalb der Landeskirchen zu gründen. Bis dahin hatte es die Pflicht für jeden Bürger gegeben, zur Landeskirche zu gehören. Ein Kirchenaustritt war nicht möglich und wer sein neugeborenes Kind nicht vom Pfarrer taufen ließ, brach damit ein staatliches Gesetz und wurde strafrechtlich verfolgt. Das lockerte sich erst allmählich, als sich das Vereinsrecht in Deutschland langsam durchsetzte. Nun konnten sich Menschen mit gleichartigen Interessen zusammenschließen. Dies wurde im christlichen Bereich zuerst von denjenigen Christen genutzt, die es in England und Amerika schon kennen gelernt hatten: Deutsche, die in die angelsächsische Welt ausgewandert und dort Methodisten geworden waren, kamen um 1830 zurück nach Deutschland. Der erste war Christoph Gottlob Müller aus Winnenden bei Stuttgart. Er war 1806 vor den napoleonischen Truppen nach England geflüchtet, wurde dort Methodist und blieb in England. Im Jahr 1830 besuchte er seine alte schwäbische Heimat und brachte die methodistische Frömmigkeit mit. Seitdem entstanden im schwäbischen Raum methodistische Versammlungen. In den folgenden Jahrzehnten kam es zur Gründung von mehreren methodistischen Strömungen: den wesleyanischen Methodisten, die aus England inspiriert waren, und zwei methodistischen Vereinigungen, die aus den USA kamen, den bischöflichen Methodisten und der Evangelischen Gemeinschaft, die man auch Albrechtsbrüder nannte. Diese Zweige schlossen sich dann bis 1968 zur Evangelisch-Methodistischen Kirche zusammen. Ungefähr zeitgleich kam es auch zur Entstehung der deutschen Baptisten, und zwar durch den schon erwähnten Johann Gerhard Oncken, der die Idee der Sonntagsschularbeit nach Hamburg getragen hatte. Er ließ sich 1834 in Hamburg mit ein paar Freunden von einem durchreisenden amerikanischen Baptisten taufen. Das brachte ihm zwar große Probleme mit der Hamburger Polizei und den Gerichten, aber es sollte die Keimzelle der Evangelisch-Freikirchlichen Gemeinden in Deutschland werden. In der Folgezeit kooperierten die deutschen Baptisten stark mit einer amerikanischen baptistischen Missionsgesellschaft. Die zwei bedeutendsten Freikirchen des 19. Jahrhunderts wären also beide ohne Anstöße aus dem angloamerikanischen Bereich kaum entstanden. Die dritte große Freikirche, der Bund Freier Evangelischer Gemeinden, hatte dagegen nur wenige Verbindungen zum englischsprachigen Christentum. Der Gründer Hermann Heinrich Grafe war eher durch den Franzosen Adolphe Monod beeinflusst. Warum gerade England? An dieser Stelle soll ein erstes Zwischenfazit gewagt werden: Wir haben gesehen, dass gerade im 19. Jahrhundert wesentliche Anstöße zur Erneuerung und Modernisierung des Christentums in Deutschland aus dem angloamerikanischen Bereich kamen. Das lag zum einen daran, dass England damals die führende Weltmacht war, die in Bezug auf die Wirtschaftskraft, moderne demokratische Strukturen und Sendungsbewusstsein eine Art Leitkultur darstellte. Gleichzeitig war das englische Christentum zu Beginn des 19. Jahrhunderts durch die methodistischen Einflüsse weitaus lebendiger als die deutsche kirchliche Landschaft. Und die Lebensphilosophie des Pragmatismus im angloamerikanischen Bereich förderte besonders in den USA ganz schlicht das Ausprobieren von neuen Formen und Inhalten christlichen Lebens, einfach weil es Freiräume gab, die in Deutschland undenkbar waren. Reisende Deutsche und ehemalige Auswanderer kamen deshalb oft mit vielen neuen Ideen aus England und Amerika zurück. Das erste internationale ökumenische Netzwerk Eine wichtige Schaltstelle zur Übertragung angloamerikanischer Einflüsse nach Deutschland war dabei die Arbeit der Evangelischen Allianz. Im Jahr 1846 kam es in London zu einer Gründungsversammlung mit über 900 Vertretern aus rund 50 verschiedenen evangelischen Gruppierungen aus 11 Ländern, die sich zu einem evangelischen Bündnis zusammenschlossen. 10 Es gilt als das erste überdenominationelle Treffen der protestantischen Welt mit dem Ziel, die Einheit der Christen darzustellen und zu fördern. 95 % der Teilnehmer der Gründungsversammlung kamen aus Großbritannien und den USA, es gab nur 11 Teilnehmer aus Deutschland. Aber schon 1857 kam es zum Durchbruch der Allianzidee auch in Deutschland, als man den dritten internationalen Kongress der Evangelischen Allianz mit 1300 Teilnehmern in Berlin durchführte. Daraufhin setzten sich auch in Deutschland langsam die AllianzGebetswochen durch und immer mehr Pfarrer öffneten sich für die Begegnung mit freikirchlichen Christen. Die von Engländern dominierte Arbeit der internationalen Evangelischen Allianz war vor allem für die entstehenden Freikirchen in Deutschland ganz wichtig, um Freiräume und Anerkennung zu bekommen. Einen besonderen Akzent setzte dabei eine spezielle Allianzkonferenz im thüringischen Bad Blankenburg. Dort lebte Anna Thekla von Weling. Ihre Mutter stammte aus Schottland und sie selbst hatte in Großbritannien ihre Glaubensprägung erhalten. Nach englischem Vorbild organisierte sie in Blankenburg Allianz-Konferenzen, die weitaus internationaler besucht waren als alles, was es vorher in Deutschland gab. Viele englische Redner wurden eingeladen und konfessionelle Zugehörigkeit spielte so gut wie keine Rolle. 1906 wurde eine große Konferenzhalle eingeweiht und bis heute werden die Blankenburger Konferenzen von Tausenden besucht. Außerdem wurde durch das Evangelische Allianzblatt das Gedankengut in Deutschland verbreitet. Blankenburg wurde damit ein ganz wichtiger Ort für den Transfer von angloamerikanischen Anregungen nach Deutschland. Die amerikanische Heiligungsbewegung Um die Prägung des Blankenburger Allianzhauses zu verstehen, müssen wir an dieser Stelle noch einmal einige Jahrzehnte zurückgehen und uns mit der so genannten angloamerikanischen Heiligungsbewegung beschäftigen. Schon seit dem Jahr 1835 luden die amerikanischen Methodistinnen Sarah Lankford und Phoebe Palmer zu Gebetstreffen für Frauen in ihr Haus in New York ein. Regelmäßig an jedem Dienstagnachmittag fanden diese Tuesday Meetings for the Promotion of Holiness (Dienstagstreffen zur Förderung von Heiligung) statt, und zwar 40 Jahre lang. Zu Anfang traf man sich im Wohnzimmer, dann wurde eine Halle für ein paar Hundert Leute gebaut und nach vier Jahren durften dann sogar Männer dazukommen. Und sie kamen: einfache Männer, aber auch Pastoren, Bischöfe und Professoren. Viele wurden inspiriert von der Botschaft Phoebe Palmers, die sich ungefähr so zusammenfassen lässt: Leg dein ganzes Leben auf den Altar Gottes, gib dich ihm ganz hin und du wirst mit vollkommener Liebe erfüllt und frei von Sünde werden. Das ist die wahre Heiligung, das eigentliche Ziel des Christseins. Zusammen mit ihrem Mann verbreitete sie diese Theologie schon bald als Rednerin auf großen Konferenzen und Freiversammlungen, so genannten Camp-Meetings. Dabei kamen die Menschen aus einer weiteren Umgebung und zelteten eine Zeitlang zusammen, um jeden Tag Evangelisations- und Heiligungsansprachen zu hören. Phoebe Palmer wurde bald eine der bekanntesten Rednerinnen der USA. Nach einiger Zeit wurde sie auch nach England eingeladen und verbreitete dort vier Jahre lang ihre Botschaft. So kam es gleichzeitig in den USA und in England zu einer Heiligungsbewegung. Diese breitete sich schließlich in den USA so aus, dass es um 1867 zur Gründung der National Association for the Promotion of Holiness kam, die alle Aktivitäten koordinierte. Theologisch wurde die Bewegung vor allem vom Oberlin-College in Ohio getragen. Es wurde 1833 gegründet und wurde schon ab 1835 schnell berühmt durch seine ersten beiden Präsidenten Charles Finney und Asa Mahan. Sie prägten das College mit einer speziellen Heiligungstheologie. Entscheidend war dabei, dass der Mensch sich mit freiem Willen für Gott entscheiden kann. Er soll ihm sein Leben übergeben, woraufhin Gott mit dem Geschenk der Wiedergeburt antworten wird. Aufgrund dieser Überzeugung, dass der Mensch sein ewiges Schicksal selbst in der Hand hat, begann Finney als erster damit, Massenevangelisationen in amerikanischen Großstädten durchzuführen, bei denen er die Menschen zu einer bewussten, persönlichen Entscheidung aufrief. Sie sollten nach vorne kommen und sich als Zeichen auf spezielle Bußbänke setzen – eine amerikanische Missionsmethode, die dann später in abgewandelter Form auch in Europa Furore machte. Außerdem lehrte man in Oberlin nach der 11 Wiedergeburt noch eine zweite Stufe des Christseins, das Higher Christian Life, also die völlige Heiligung. Sie sollte die Freiheit von jeder bewussten Sünde beinhalten, die Ausrottung von allen bösen Neigungen und die Erfüllung mit vollkommener Liebe. Dies hielt man für jeden Christen für erreichbar, wenn die einzelne Person es nur will und sich Gott ganz ausliefert. Robert Pearsall Smith in England und Deutschland Diese Theologie prägte die amerikanische Heiligungsbewegung und inspirierte weitere Multiplikatoren, die diesen Ansatz über den Atlantik nach Europa trugen. Entscheidend für uns in Deutschland wurden dabei Robert Pearsall Smith und seine Frau Hannah Whitall Smith aus Pennsylvania. In den 1860er-Jahren wurden sie für die Heiligungsbewegung gewonnen und kamen zu der Überzeugung, dass echte Heiligung im Sinne einer dauerhaften Überwindung von sündigen Verhaltensweisen möglich sei. Sie veröffentlichten ihre Erkenntnisse in dem vielgelesenen Buch Holiness through Faith (Heiligung durch Glauben). Im Jahr 1873 kamen die Smiths zu einem Kuraufenthalt nach England und begannen dort auch als Heiligungsredner aufzutreten. Im September 1874 organisierte man eine große Heiligungskonferenz in Oxford mit 1500 Teilnehmern, darunter auch einige deutschsprachige wie Otto Stockmayer und Theodor Jellinghaus. Die 10-tägige Konferenz machte einen gewaltigen Eindruck auf die Teilnehmer. Carl Heinrich Rappard, der Direktor des Predigerseminars St. Chrischona in Basel, machte eine tiefgreifende Heiligungserfahrung, hielt danach selbst Heiligungskonferenzen ab und lud Robert Pearsall Smith zu einer fünfwöchigen Vortragsreise durch Deutschland und die Schweiz ein. Smith predigte im April 1875 vor Tausenden von Zuhörern in großen deutschen Kirchen und weckte eine starke Sehnsucht nach Erneuerung. Im Juni 1875 fand dann eine zweite große Heiligungskonferenz im englischen Brighton statt. 8000 Teilnehmer waren neun Tage lang zusammen, darunter 200 Deutsche. Sie waren beeindruckt von Pearsall Smiths authentischem, zeugnishaftem Reden und dem Mitteilen von persönlichen Gotteserfahrungen, verbunden mit biblischer Auslegung. Die Konferenzen von Oxford und Brighton riefen in Europa etwas ins Leben, das fortan nach dem Ort der ersten großen Versammlung als „Oxfordbewegung“ bezeichnet wurde. In England institutionalisierte sich die Bewegung in einwöchigen Heiligungskonferenzen, die bis heute im nordenglischen Keswick stattfinden. Und auch in Deutschland gingen nun einige der Teilnehmer der Konferenzen von Oxford und Brighton daran, die Gedanken der Bewegung auszubreiten. Die deutschsprachige Heiligungsbewegung Chrischona-Direktor Carl Heinrich Rappard begann 1875 damit, die Heiligungszeitschrift Des Christen Glaubensweg herauszugeben, und seine Frau Dora übersetzte viele Lieder der englischen Heiligungsbewegung ins Deutsche. Rappard hatte in Schottland studiert und war dann Missionar in Ägypten gewesen. Von daher sprach er Englisch und konnte problemlos viele Kontakte in die englischsprachige Welt aufbauen. St. Chrischona wurde jetzt der institutionelle Motor der deutschen Heiligungsbewegung. Vor allem durch die Chrischona-Prediger verbreiteten sich die Gedanken der angloamerikanischen Heiligungsbewegung quer durch Deutschland und die Schweiz und die Oxford-Konferenz wurde das Vorbild für viele Heiligungstreffen und Konferenzen überall im Land. Das eigentliche Gesicht der deutschen Heiligungsbewegung aber wurde Otto Stockmayer. Er war Schwabe, studierte Theologie und ging dann in die französische Schweiz, wo er als Evangelist einer Freikirche in Genf arbeitete. Stockmayer war 1874 in Oxford dabei gewesen und propagierte von da an die Lehre der Heiligungsbewegung. Er war ein brillanter Redner und da er fließend Englisch und Französisch sprach, war es kein Problem für ihn, auch in England und Amerika aufzutreten und dort Kontakte zu knüpfen. Häufig war er auf den KeswickKonferenzen und er machte drei längere Reisen in die USA. Stockmayer war sozusagen in Person die entscheidende Brücke für den Transfer der angloamerikanischen Heiligungsideen nach Deutschland. Neben Stockmayer als Redner und Rappard als Organisator versuchte Theodor Jellinghaus die neuen Heiligungsideen theologisch zu systematisieren. Jellinghaus war Missionar in Indien gewesen und war von daher auch mit dem englischsprachigen Christentum vertraut. Er schrieb die einzige ausführliche Dogmatik der Heiligungsbewegung mit dem bezeichnenden Titel Das 12 völlige, gegenwärtige Heil durch Christum. Es ging also nicht nur um das zukünftige Heil, die Rettung im Jüngsten Gericht, sondern um ein gegenwärtiges Heil, um die Erfahrung, die man jetzt schon machen kann, dass die Macht der Sünde heute, mitten im Leben gebrochen ist, und man voll Friede, Freude, Liebe und Glück leben kann. Es wurde also versprochen, dass ein Stück Himmel schon hier auf Erden erfahren werden kann, und zwar weitaus mehr als das, was man normalerweise von kirchlichen Kanzeln hörte. Das alles wurde von Jellinghaus auf über 600 Seiten ausführlich theologisch entfaltet und begründet. Das Buch erlebte fünf Auflagen und Jellinghaus gründete eine Bibelschule in der Nähe von Berlin, in der bis 1910 ca. 3000 junge Männer in den Ideen der Heiligungsbewegung unterrichtet wurden. Am Ende seines Lebens verfiel Jellinghaus allerdings in Depressionen, hielt sich mitverantwortlich für die tragischen Konflikte um die Pfingstbewegung und widerrief 1911 sein gesamtes Lehrsystem. Bis dahin aber sorgten Rappard, Stockmayer und Jellinghaus mit vielen anderen 30 Jahre lang intensiv dafür, dass die Theologie der angloamerikanischen Heiligungsbewegung Eingang in die deutsche Christenheit fand. Dies wurde umso wirkmächtiger, als neben dem Thema der Heiligung auch noch das Thema der Massenevangelisation aus Amerika und England in Deutschland Eingang fand. Amerikanische Evangelisationsmethoden Was mit Charles Finneys Großstadtevangelisationen begonnen hatte und durch die CampMeetings zur Bewegung geworden war, wurde um 1870 in den Schatten gestellt durch den Evangelisten Dwight L. Moody. Dieser hatte in Chicago eine große Sonntagsschularbeit aufgebaut und engagierte dann den christlichen Sänger Ira David Sankey, um mit ihm zusammen evangelistische Großveranstaltungen zu gestalten. Von 1872-1892 gingen die beiden mehrmals jahrelang nach England und füllten dort große Stadien mit Tausenden von Zuhörern (und das alles ohne Mikrofon!). Auch in den USA kam es nun zu Groß-Evangelisationen mit bis zu 20.000 Besuchern. Sankey komponierte passende Lieder und gab das berühmteste Liederbuch der Heiligungsbewegung mit 1200 Liedern heraus. Die Sacred Songs and Solos sollen allein bis zum 2.Weltkrieg 90 Millionen Mal verkauft worden sein und werden sogar heute immer noch aufgelegt. Moody und Sankey, diese Kombination von einem begnadeten Redner und einem einfühlsamen Musiker, wurde zum großen Vorbild auch für Deutschland. Als Robert Pearsall Smith 1874 seine so genannte Triumphreise durch Deutschland machte, wurde auch er bei seinen Ansprachen durch einen Solisten musikalisch begleitet. Es war der Methodist Ernst Gebhardt, der sich selbst auf dem Harmonium begleitete und die Zuhörer oft in den Refrain der Lieder mit einstimmen ließ. So etwas hatte man bis dahin in deutschen kirchlichen Veranstaltungen noch nicht erlebt. Am bekanntesten wurde eine Vertonung des einzigen deutschen Satzes, den Pearsall Smith ständig wiederholte: „Jesus errettet mich jetzt!“ Das war das Programm der Heiligungsbewegung: Nicht erst im Himmel, sondern jetzt schon ist die Erfahrung möglich, dass man gerettet ist! Gebhardt war insgesamt sehr innovativ, so versuchte er z.B. auch als einer der ersten die Gospelmusik der Afroamerikaner in Deutschland zu etablieren. Die Wirkung der Musik für den angloamerikanischen Kulturtransfer kann kaum überschätzt werden. So wie wir heute durch englische Musik geprägt werden, so wurde damals die deutsche Heiligungsbewegung durch die Lieder aus England und Amerika stark beeinflusst. In der ersten Auflage des deutschen Reichsliederbuchs, das immerhin auch 3 Millionen Mal verkauft wurde, waren 30 % der Lieder Übersetzungen aus dem Englischen. Diese so genannten Heilslieder, die meist einen wiederkehrenden Refrain hatten, bildeten dabei einen in Deutschland bisher kaum bekannten neuen Liedtyp, der zunächst in landeskirchlichen Kreisen heftig kritisiert und verachtet wurde. Das entscheidende Musikinstrument war in dieser Bewegung nun auch nicht mehr die große Kirchenorgel, sondern eher das Klavier, und vor allem das Harmonium. Anfang der 1880er-Jahre waren sich führende Christen in Deutschland einig, dass auch bei uns die Zeit für Großevangelisationen nach englischem Vorbild gekommen sei. Theodor Christlieb war einige Jahre Pfarrer einer deutschen Gemeinde in London gewesen und hatte dort große evangelistische Versammlungen miterlebt. 1868 nahm er den Ruf auf die Professur für Praktische Theologie in Bonn an und führte dort viele englische Ideen in Deutschland ein. Christlieb ist Pearsall Smith und Moody persönlich begegnet und er war beeindruckt von ihrer 13 Botschaft und ihren Methoden. Seine große Sorge aber war, dass diese Ansätze in Deutschland um 1880 fast nur von den Methodisten übernommen wurden, und zwar mit Erfolg. Immer mehr Menschen traten in den 1880er-Jahren aus der Kirche aus, um sich den Methodisten anzuschließen. Christliebs Ansatz als Theologieprofessor war nun der, dass er dazu anregte, im Raum der Landeskirchen eben genau die typisch englischen Formen der Evangelisation, der Seelsorge, des Gesangs und der Jugendarbeit aufzunehmen, um dem Methodismus das Wasser abzugraben und die Menschen innerhalb der Landeskirche zu halten. Seine erste Idee war die, einen Deutsch-Amerikaner zu holen, der es den Deutschen vormachen sollte. Friedrich von Schlümbach war ein deutscher Auswanderer, der in Amerika Methodist und Evangelist in Diensten des CVJM geworden war. Er wurde 1882 von Christlieb nach Deutschland geholt, um zwei Monate lang in Berlin zu evangelisieren. Mit für deutsches Empfinden sehr amerikanischen Methoden, nämlich mit Werbeflyern und Plakaten, versuchte man an die entkirchlichten Menschen Berlins heranzukommen. Es gab viel Kritik, aber es sollte unter anderem der Anstoß zur Gründung des ersten deutschen CVJM im Jahr 1883 werden. Die Erfahrungen waren so ermutigend, dass sie tatsächlich dazu führten, einen ersten deutschen Berufsevangelisten anzustellen. Man fand ihn in Elias Schrenk. Elias Schrenk war Schwabe, arbeitete zunächst als Missionar in Ghana und danach als Prediger in Bern. Während dieser Zeit hielt er sich einige Male in Großbritannien auf. Er hörte Pearsall Smith und Charles Haddon Spurgeon und war so beeindruckt von den Großevangelisationen Moodys, dass er seinem Baseler Inspektor schrieb, er möchte gerne Evangelist in Deutschland werden. Im Jahr 1884, im Alter von 53 Jahren, fand er seine Lebensaufgabe, indem er mit Evangelisationsversuchen in deutschen Großstädten begann. Die Ergebnisse waren so positiv, dass man den Deutschen Evangelisationsverein gründete, der Elias Schrenk als Berufsevangelisten anstellte. Innerhalb von dreißig Jahren führte Schrenk ca. 400 systematisch geplante Evangelisationen in Turnhallen, Zirkuszelten und Tanzlokalen durch. Er ging dorthin, wo die Menschen waren, und erfuhr teilweise heftigen Widerstand. Er wurde mit Jauche übergossen, es wurde auf ihn geschossen und einmal wurde er von Männern in Frauenkleidern und mit Knüppeln bewaffnet überfallen, doch er ließ sich davon nicht abbringen. Bei seinen Evangelisationen übernahm Schrenk viele Ideen, die er bei Moody kennen gelernt hatte: Er rief zur Bekehrung auf, indem er die Menschen um ein Handzeichen bat, sie nach vorne rief oder sie sich auf spezielle Stühle setzen ließ. Er ließ Plakate und Handzettel drucken und gab auch Zeitungsanzeigen auf. Auch wenn Schrenk bewusst versuchte, nicht so aufdringlich zu sein wie seine amerikanischen Vorbilder, kam es gerade im Bereich der Evangelisationsmethodik zu einer nie da gewesenen Annäherung zwischen der angloamerikanischen und der deutschen christlichen Welt. 1886 wurde schließlich die Evangelistenschule Johanneum in Bonn gegründet, die dann später nach Wuppertal umzog, um weitere Berufsevangelisten auszubilden. Eine spezielle Idee, die man aus England übernahm, war darüber hinaus die Zeltmission. Der Chrischona-Prediger Jakob Vetter hatte auf einer Reise nach England 1899 die Zeltmissionsarbeit kennen gelernt. Er gründete daraufhin im Jahr 1902 die Deutsche Zeltmission mit ihrem Zentrum im Erholungsheim Patmos bei Siegen. Seitdem wurden Zeltevangelisationen nach angloamerikanischem Vorbild ein prägendes Merkmal der erweckten Christen in Deutschland. An vielen Orten wurde es zu einer regelrechten Tradition, einmal im Jahr eine Zeltevangelisation durchzuführen. Die Gemeinschaftsbewegung Evangelisation und Heiligung, diese beiden Themen, die ganz stark aus der angloamerikanischen Welt nach Deutschland getragen wurden, führten zu einer starken Neubelebung der erwecklichen Kreise in Deutschland. Zum einen betraf das natürlich die Freikirchen. Da sie sowieso meistens eng mit ihren Mutterkirchen in England und den USA verbunden waren, war es geradezu selbstverständlich, dass englischsprachige Erweckungsprediger nach Deutschland eingeladen wurden und ihre Impulse hier weitergaben. Von daher ist es nicht verwunderlich, dass gerade der Methodismus in Deutschland als eine ausländische Sekte verachtet wurde. Trotzdem hielt das immer mehr Deutsche nicht davon ab, aus der Kirche auszutreten und zu den Methodistengemeinden überzuwechseln. 14 Angeregt durch den Bonner Theologieprofessor Theodor Christlieb verfolgte man deshalb innerhalb der Landeskirchen die Strategie, einem Christentum angloamerikanischer Prägung einen gewissen Freiraum innerhalb der Kirche zu gewähren. Pfarrer, die selbst von der Heiligungs- und Evangelisationsbewegung begeistert waren, konnten nun diese Akzente in ihren eigenen Kirchengemeinden verstärken und fördern. An manchen Orten wurden dadurch alte Bibelstundenkreise neu belebt, aber vielfach entstanden auch ganz neue Gruppen und Kreise, die sich meistens als freie Vereine von Kirchenmitgliedern konstituierten, als so genannte Landeskirchliche Gemeinschaften. Im Jahr 1888 trafen sich zum ersten Mal 142 Vertreter solcher Kreise zu einer Pfingstkonferenz in einer Herrnhuter Kirche in dem kleinen Ort Gnadau bei Magdeburg. Dies gilt als die Geburtsstunde der Gemeinschaftsbewegung, die sich schließlich 1897 auch offiziell als Deutscher Verband für Gemeinschaftspflege und Evangelisation verfasste, und meist als Gnadauer Verband bezeichnet wurde. Man profitierte dabei von der 1871 erfolgten Reichsgründung, die eine deutschlandweite Vernetzung ermöglichte. Im Gnadauer Verband verschmolzen die alten pietistisch und erwecklich geprägten Strömungen innerhalb der Landeskirchen mit den neuen angloamerikanischen Anstößen. Da dieser englischamerikanische Einfluss in den einzelnen Mitgliedsverbänden durchaus unterschiedlich stark ausgeprägt war, kam es von Beginn an häufig zu Spannungen zwischen den Gemeinschaftsverbänden, die eher das alte deutsche Erbe betonten, und den anderen Gruppierungen, die sich stark für Einflüsse aus den USA und England öffneten. Innerhalb des Gnadauer Verbandes sprach man bis 1945 manchmal von den weniger englisch beeinflussten Altpietisten, die eher in Westdeutschland die Mehrheit waren, und den stärker englisch geprägten Neupietisten, die vor allem in Ostdeutschland in der Mehrheit waren, aber durch Chrischona, Liebenzell und die Zeltmission auch im Westen starke Stützpunkte hatten. Doch gerade dieses Zusammenhalten der einen Werke, die eher die deutsche Tradition, und der anderen, die eher die englischen Neuerungen im Blick hatten, machte die Stärke des Gnadauer Verbandes aus. Man war auf der einen Seite deutsch, innerlandeskirchlich und traditionsverwurzelt, hatte gleichzeitig aber auch einen internationalen und überkonfessionellen Horizont, der neue Ideen und viele Modernisierungen mit sich brachte. Zielgruppenarbeit Ein wichtiges Feld war dabei das, was wir heute Zielgruppenarbeit nennen würden. Wieder meist nach angloamerikanischen Vorbildern entstanden Initiativgruppen. Im Bereich der Jugendarbeit gab es neben den CVJM-Gruppen für junge Männer ab 1894 auch EC-Jugendbünde, in denen sich nach amerikanischem Vorbild junge Männer und Frauen miteinander trafen, sich in Weihestunden ganz in der Tradition der Heiligungsbewegung immer wieder neu Gott hingaben und gemeinsam evangelistisch aktiv wurden. Im Hinblick auf die Universitäten kam es 1897 zur Gründung der Deutschen Christlichen Studentenvereinigung (DCSV), also dem Vorläufer der heutigen SMD, die Christen an den Universitäten in Gruppen sammelte und evangelistische Aktionen durchführte. Der Anstoß dazu kam aus den USA: der deutsche CVJM-Sekretär Waldemar von Starck hatte in Northfield in den USA eine christliche Studentenkonferenz miterlebt und übertrug das Modell auf Deutschland. Daneben entstanden vielfältige Gruppen, die sich um bestimmte Berufsstände kümmerten, die so genannten Berufsmissionen, wie z.B. die Christliche Postvereinigung, die Christliche Bäckerund Konditorenvereinigung oder die Eisenbahnermission. In vielen Fällen orientierte man sich dabei an bereits bestehenden englischen Vorbildern. Einen interessanten Unterschied zwischen der Entwicklung in den USA und in Deutschland gab es allerdings in Bezug auf die Entstehung von neuen Heiligungskirchen. Während in Amerika um 1900 ca. 30 neue Denominationen entstanden, die das Anliegen der persönlichen Heiligung ins Zentrum ihrer Lehre stellten, scheiterten solche Gründungsversuche in Deutschland meistens. Nur die Kirche des Nazareners und die Gemeinde Gottes haben sich letztlich als kleine Freikirchen in Deutschland etabliert. Insgesamt institutionalisierten sich die Einflüsse der angloamerikanischen Heiligungs- und Evangelisationsbewegung in Deutschland eher in den klassischen Freikirchen und in der innerkirchlichen Gnadauer Gemeinschaftsbewegung. Hier gelang es mit Erfolg, die amerikanischen Anstöße in deutsche Formen zu gießen und es 15 verbreiteten sich auch die vielfältigen Übersetzungen der englischsprachigen Erbauungsliteratur besonders gut. Die Heilungsbewegung – Kulturtransfer nach Amerika Es gab im Grunde nur einen einzigen Bereich, in dem die große Bewegung des angloamerikanischen Kulturtransfers nach Deutschland umgedreht wurde. Nur in einer einzigen christlichen Thematik übernahmen Amerikaner Anstöße aus Deutschland und trugen sie in die USA, und zwar beim Thema Heilung. Pfarrer Johann Christoph Blumhardt wirkte nach der Erfahrung der Heilung einer Frau in seiner Gemeinde in Möttlingen ab 1852 in einem Kurhaus in Bad Boll, in dem Gebet und medizinische Versorgung miteinander verbunden waren. Zur gleichen Zeit eröffnete Dorothea Trudel im schweizerischen Männedorf ein Haus, in dem durch Gebet und Handauflegung viele Menschen wieder gesund wurden, unter anderem auch einige der späteren Leiter der deutschen Gemeinschaftsbewegung wie Elias Schrenk und Otto Stockmayer. Nach diesem Vorbild wurden in der Folgezeit viele so genannte Erholungsheime in Deutschland und der Schweiz eröffnet, wo Menschen zur vollen Lebensübergabe an Jesus ermutigt wurden, um dadurch auch körperlich zu gesunden. Am bekanntesten wurden die Erholungsheime in Teichwolframsdorf von Johannes Seitz und im schweizerischen Hauptwyl, das von 1879-1895 von Otto Stockmayer geleitet wurde. Diese Einrichtungen erregten besonders die Aufmerksamkeit von amerikanischen Vertretern der Heiligungsbewegung. Im Jahr 1882 eröffnete der Amerikaner William Boardman davon inspiriert das Heilungshaus Bethshan in London. Charles Cullis gründete ein Heilungshaus in Boston und wurde der führende Vertreter des Faith Cure Movements in den USA. Albert Benjamin Simpson wurde durch Anstöße von Cullis geheilt und begann in New York die Glaubensheilung zu predigen. Er gründete die Christian and Missionary Alliance, die durch viele Missionare die Botschaft der Glaubensheilung in die Welt trug. Die skurrilste Erscheinung dieser Bewegung aber wurde John Alexander Dowie, der z.B. medizinische Hilfsgeräte ausstellte, die Menschen nach einer Heilung zurückgelassen hatten. Er gründete 1901 sogar eine eigene Stadt, Zion in Illinois, in der 8000 Einwohner sündlos auf die Wiederkunft Jesu warten sollten. Aus deutschen Anstößen entwickelte sich also eine vielschichtige Heilungsbewegung im angloamerikanischen Raum, die dann ab 1909 fast vollständig von der Pfingstbewegung absorbiert wurde. Das Thema Glaubensheilung, das seit Christoph Blumhardt ein wichtiger Aspekt für die Gemeinschaftsbewegung war, sodass sogar viele führende Leiter ärztliche Hilfe ganz ablehnten, wurde danach in der Gnadauer Bewegung und in den klassischen Freikirchen nur noch sehr dezent und nüchtern thematisiert. Was war passiert? Die Pfingstbewegung Um die Jahrhundertwende stieg in den Kreisen der Heiligungsbewegung in Amerika und Europa die Endzeiterwartung stark an. Man rechnete in diesem Zusammenhang unter anderem damit, dass es zu besonderen Wirkungen des Heiligen Geistes und noch tieferen Erfahrungen kommen würde. Tatsächlich gab es im Frühjahr 1905 einen geistlichen Aufbruch in Wales. Durch evangelistische Predigten des Bergmanns Evan Roberts und der Autorin Jessie Penn-Lewis kam es zu einer Bewegung, bei der sich ca. 100.000 Menschen bekehrt haben sollen. Im deutschsprachigen Raum verfolgte man die Nachrichten aus Wales mit großer Spannung und Begeisterung. Regelmäßig wurde in der Zeitschrift Auf der Warte über die neusten Ereignisse aus Wales berichtet. Der britische Heiligungsprediger Charles Inwood reiste extra selbst nach Deutschland, um über die Waliser Erweckung als Augenzeuge zu berichten und viele Deutsche zog es im Gegenzug nach Wales. Angestoßen durch die Waliser Ereignisse kam es auch in Mülheim an der Ruhr bei Ernst Modersohn zu einem erwecklichen Aufbruch und man war stark sensibilisiert für jegliche neue Nachrichten – vor allem aus Amerika. Dort gab es inzwischen Anzeichen für eine neuartige Bewegung. In Topeka in Kansas hatte der Heilungs- und Heiligungsprediger Charles Parham eine kleine Bibelschule gegründet, bei der seine Schülerin Agnes Ozman am 1.1.1901 nach Gebet und Handauflegung in einer nie gelernten Sprache zu reden begann, die man als Chinesisch identifizierte. Parham lehrte seitdem, dass ein solches Zungenreden das sichtbare Zeichen für eine Geistestaufe sei. Er gründete die Apostolic Faith Assemblies, die diese neue Lehre propagierten. In einer dieser Versammlungen, der Azusa 16 Street Mission in Los Angeles, kam es dann 1906 durch den afroamerikanischen Prediger William Seymour zu einem Durchbruch der so genannten Zungenbewegung. Drei Jahre lang kam es dort zu sehr emotionalen geistlichen Erfahrungen, die durch viele Besucher weitergetragen wurden, sich über New York ausbreiteten und dann durch den norwegischen Prediger Thomas Ball Barratt nach Christiania (dem heutigen Oslo) gelangten. Als man in Deutschland hörte, dass es in Christiania zu Heilungen und Zungenreden gekommen war, reisten einige deutsche Vertreter der Heiligungsbewegung dorthin. So kam es zur Einladung von zwei Norwegerinnen, die in Zungen reden konnten, um bei einer Evangelisation im Juli 1907 in Kassel mitzuwirken. Sie fand vier Wochen lang täglich statt, erregte durch manche ekstatische Phänomene viel Aufsehen und polarisierte die deutsche Gemeinschaftsbewegung. Ein Teil der Gemeinschaften hielt das Zungenreden nun für das sichtbare Zeichen der Geistestaufe, also für die höchste Stufe der Heiligung. Andere lehnten diese Sichtweise vehement ab. Sie verfassten 1909 die Berliner Erklärung, die schließlich zur Trennung zwischen Pfingst- und Gemeinschaftsbewegung führte. Diese Krise und der wenige Jahre später einsetzende 1.Weltkrieg, der zunächst England und später auch die USA zu Feinden Deutschlands machte, war die Wendezeit für den angloamerikanischen Kulturtransfer auf die deutsche Christenheit. Das ständige sehnsüchtige Schielen nach Amerika hatte letztlich zu einer schmerzlichen Spaltung der deutschen Erweckungsbewegung geführt. Als Ursache dafür identifizierte man nun eine übersteigerte Sehnsucht nach Erfahrungen und eine überzogene Heiligungstheologie und drängte deshalb die bisherigen Kernthemen Heilung und Heiligung immer mehr in den Hintergrund. Stattdessen besann man sich wieder stärker auf das deutsche reformatorische Erbe und versuchte, Einflüsse aus dem angloamerikanischen Bereich in Zukunft nicht zu stark werden zu lassen. Predigende Frauen Einer dieser Aspekte war dabei z.B. das öffentliche Predigen von Frauen. Vor allem in Amerika hatte die Betonung der Souveränität des Heiligen Geistes von Beginn an in der Heiligungsbewegung dazu geführt, dass begabte Frauen als Rednerinnen auftauchten, und zwar nicht nur in reinen Frauenversammlungen, sondern auch vor gemischtem Publikum. Von einigen war schon die Rede: Phoebe Palmer, die schon seit 1835 als Rednerin auftrat, Hannah Whitall Smith, die in Oxford und Brighton eigenständig Versammlungen abhielt, die viele Männer geistlich weiterbrachten, und Jessie Penn-Lewis, die prägende Frau der walisischen Erweckung, die auf weltweite Vortragsreisen ging. Dazu muss nun auch noch Antoinette Brown genannt werden. Sie studierte ab 1846 am Oberlin-College in Ohio und wurde 1852 als erste Frau der Welt als Pastorin ordiniert. Bis dahin war es in Deutschland noch ein weiter Weg, aber diese amerikanischen Vorbilder ermutigten doch auch die deutschen Frauen in der Heiligungsbewegung dazu, Verantwortung zu übernehmen. Dora Rappard in Chrischona war durch das Vorbild von Hannah Whitall Smith sehr inspiriert worden, Anna von Weling in Blankenburg wurde die Organisatorin der Evangelischen Allianz und die Diakonissen des Deutschen Gemeinschafts-Diakonieverbandes bekamen immer wieder große Schwierigkeiten, weil sie sich nicht scheuten, vor gemischten Versammlungen zu predigen. Insgesamt aber blieben diese predigenden Frauen auch im deutschen Neupietismus eher ein Randphänomen, das mit heftigem Widerstand zu kämpfen hatte, nicht nur von Seiten der Landeskirchen, sondern auch von der breiten Masse der konservativen Erweckten. Im Gegensatz zu den USA blieben die Frauen der deutschen Gemeinschaftsbewegung völlig unpolitisch und sahen keine Veranlassung für die Kooperation mit Frauenrechtlerinnen. Sie fanden im Großen und Ganzen ihre traditionelle Rolle als Ehefrau und Mutter oder, wenn ihnen das versagt bliebt, als Diakonisse. Diakonische Impulse Die diakonische Arbeit hatte im deutschen Pietismus seit den Halleschen Waisenhäusern von August Hermann Francke schon eine lange Tradition. Diese war durch Johann Hinrich Wichern in den 1830er-Jahren neu belebt worden. Auch Wichern hatte Anstöße aus England übernommen, um in Deutschland die Innere Mission aufzubauen. Als die Heiligungsbewegung dann um 1875 in Deutschland ankam, gab es dort bereits ein sehr gutes Netz von christlichen diakonischen Vereinen, die teils konservativ-kirchlich und teils pietistisch-erwecklich geprägt waren. Die angloamerikanische Heiligungsbewegung hatte im englischsprachigen Raum auch 17 sehr weitreichende soziale Arbeiten in Gang gesetzt. In Deutschland sahen die heiligungsbewegten Kreise dafür zunächst keine große Notwendigkeit, da die Innere Mission um 1880 bereits die meisten Nöte und sozialen Missstände im Deutschen Reich im Blick hatte. So konzentrierte man sich zunächst auf das, was man als Defizit bei der Inneren Mission ausmachte, und das war nicht die Sozialarbeit, sondern die evangelistische Arbeit und die Sammlung der Bekehrten in Gemeinschaften. Erst um 1900 herum begann man auch in der Gemeinschaftsbewegung, eigene diakonische Arbeiten aufzubauen. Es entstanden nach und nach Gemeinschafts-Diakonissenhäuser mit zeitweilig bis zu 5000 Diakonissen. Das Berufsbild der Diakonisse wurde nicht aus England übernommen, sondern von Theodor Fliedner in Kaiserswerth ab 1836 institutionalisiert. Engländer und Amerikaner lernten es in Deutschland kennen und übertrugen es in ihre Heimat. Im Bereich der diakonischen Vereine gab es aber auch manche Anstöße, die aus der angelsächsischen Welt nach Deutschland flossen, wie z.B. die Arbeit unter Prostituierten und ungewollt Schwangeren. Nach amerikanischem Vorbild entstand so z.B. 1890 das Weiße Kreuz in Deutschland. Als Ziel der Heiligung wurde in der Gemeinschaftsbewegung eben nicht der Rückzug in die eigene Gemeinschaft angesehen, sondern gerade die Hinwendung zu den Nöten der Welt, vor allem natürlich zur geistlichen Not der Verlorenheit, aber genauso auch zu den körperlichen und seelischen Nöten. Die Weltmission Dies galt auch für eine ganz neue Form von weltweiter Missionsarbeit, die so genannten Glaubensmissionen. Auch hier kamen die Anstöße zur Gründung einer Vielzahl neuer Missionsgesellschaften wieder aus dem angloamerikanischen Bereich. Der Engländer Hudson Taylor hatte 1865 die China-Inland-Mission gegründet. Im Unterschied zu den klassischen Missionsgesellschaften passten sich ihre Missionare in Kleidung und Lebensstil der chinesischen Kultur an. Es gab keine festen Gehälter, sondern man wollte im Hinblick auf die finanzielle Versorgung ganz auf Gott vertrauen. Man war von einer baldigen Wiederkunft Jesu überzeugt und lehrte, dass Menschen, die in diesem Leben nicht von Jesus gehört hatten, in Ewigkeit verloren waren. Deshalb kümmerte man sich speziell um die Gebiete, in denen bisher keine christlichen Missionare gewirkt hatten. Die Prägung durch die Heiligungsbewegung wirkte sich unter anderem auch dadurch aus, dass Frauen als selbständige Missionarinnen ausgesandt wurden. Dies wurde von den meisten deutschen Missionskreisen zunächst als eine unerhörte englische Neuerung abgelehnt. Ab 1882 kam es in Deutschland zur Gründung von ähnlichen Missionsgesellschaften, die Prinzipien der China-Inland-Mission übernahmen oder mit ihr kooperierten. Die Gruppenbewegung In Deutschland selbst nahmen die angloamerikanischen Einflüsse auf den deutschen Neupietismus nach dem 1.Weltkrieg zusehends ab. Der Bruch mit der Pfingstbewegung war zunächst verbunden mit einer steigenden Entfremdung vom englischen und amerikanischen Christentum. Nur der Amerikaner Frank Buchman sorgte zwischen den Weltkriegen für Diskussionen in den erwecklich geprägten Kreisen. Er war in den USA geboren, aber von seinen Vorfahren her deutscher Abstammung. Als lutherischer Pfarrer besuchte er in einer Lebenskrise 1908 die Keswick-Heiligungs-Konferenz in England. Dort hörte er in einer halbleeren Kapelle Jessie Penn-Lewis. Deren Predigt berührte ihn tief und führte dazu, dass er sich mit allen versöhnte, mit denen er in der Heimat zerstritten war. Beeinflusst von der Heiligungsbewegung entwickelte er nun für sich die Praxis der so genannten Stillen Zeit, d.h. einer Zeit des Gebets und Bibellesens am Morgen, verbunden mit einer Zeit der auf Gott hörenden Stille. Außerdem begann er ab 1928, zunächst im englischen Oxford Studenten zu so genannten house parties einzuladen, in denen der christliche Glaube zeugnishaft weitergegeben und zu radikaler Ehrlichkeit ermutigt wurde. Daraus entstand die Oxford-Gruppenbewegung, die besonders in Deutschland, Skandinavien und der Schweiz durch ihre Kombination von einer Heiligungstheologie mit sehr unkonventionellen Formen in erwecklichen Kreisen und auch an den Universitäten, z.B. beim Schweizer Theologen Emil Brunner, für viele Diskussionen sorgte. Das politische Interesse der Gruppenbewegung führte dazu, dass man sich in der Zeit des 2.Weltkriegs für Frieden und Versöhnung einsetzte und sich in Moralische Aufrüstung 18 umbenannte. In Deutschland wurde die Arbeit seit den 50er-Jahren als Marburger Kreis weitergeführt. Billy Graham Nachdem zur Zeit des Dritten Reiches jegliche Verbindungen nach England und den USA als verdächtig galten, kam es seit den 1950er-Jahren zu einer starken Amerikanisierung der deutschen Gesellschaft. Auch im christlichen Bereich schaute man nun wieder verstärkt auf Ideen und Redner aus den USA. Die wohl einflussreichste Persönlichkeit der Nachkriegsjahrzehnte war diesbezüglich Billy Graham. Er knüpfte seit 1948 wieder an die amerikanische Tradition der Massenevangelisation an und mietete dafür Stadien und große Versammlungsplätze. 1954 kam er zum ersten Mal nach Deutschland und predigte vor 35.000 Zuhörern in Düsseldorf und vor 90.000 in Berlin. Immer wieder evangelisierte Billy Graham danach in Deutschland und im April 1970 kam es zur Euro 70 in Dortmund: der ersten Großevangelisation mit Fernsehübertragung in Deutschland, sozusagen der Urform der heutigen ProChrist-Veranstaltungen. Aber Billy Graham war nur das öffentliche Gesicht der christlichen Amerikanisierung. In seinem Gefolge kam es zu einer Fülle von amerikanisch inspirierten Gründungen in Deutschland. Die kanadischen Brüder Leo und Hildor Janz führten als Janz-Team ab 1957 Großevangelisationen in Deutschland durch. Im Jahr 1961 ging der deutsche Ableger der amerikanischen Radiomissionsgesellschaft Trans World Radio als Evangeliums-Rundfunk (ERF) auf Sendung. Amerikaner gründeten neue Bibelschulen wie z.B. die Bibelschule Brake oder die heutige Freie Theologische Hochschule in Gießen. Jugendmissionarische Werke wie Jugend für Christus oder Jugend mit einer Mission pflanzten ihre Ableger in Deutschland und auch englischsprachige Lieder fanden wieder neu den Eingang in die evangelikalen Gemeinden, teils in deutschen Übersetzungen, nun aber auch immer öfter im englischen Original. Die neusten Entwicklungen In den 90er-Jahren machten vor allem zwei amerikanische Prediger besonders von sich reden. Zum einen Bill Hybels: Der Pastor der Willow Creek Community Church aus Chicago begann 1995 damit, Kongresse in Deutschland anzubieten, die bis heute Tausende Besucher anziehen. In besonderer Weise werden dabei Leiter christlicher Gemeinden angesprochen, es gibt aber auch spezielle Willow-Creek-Kongresse für Jugendarbeit und Kinderarbeit. In vielen Freikrichen und Gemeinschaften, aber z.B. auch in der Badischen Landeskirche hat man bewusst versucht, diese Impulse umzusetzen. Der wohl bekannteste evangelikale Pastor Amerikas ist Rick Warren. Er leitet die Saddleback Community Church in Kalifornien und ist in Deutschland vor allem durch seine Bücher Kirche mit Vision und Leben mit Vision bekannt geworden. Neben diesen amerikanischen Impulsen kam es insbesondere im landeskirchlichen Bereich in den letzten Jahren auch wieder zu einem verstärkten Blick nach England. Dort hat die Anglikanische Kirche begonnen, neue Formen kirchlichen Lebens zu entwickeln, um entkirchlichte Bevölkerungsschichten wieder neu für den christlichen Glauben zu interessieren. Diese so genannten fresh expressions of church werden vor allem durch das Institut zur Erforschung von Evangelisation und Gemeindeentwicklung in Greifswald untersucht und in Deutschland als Modelle bekannt gemacht. Schließlich drang in den letzten Jahren auch ein neuer Begriff aus dem Englischen in den deutschen christlichen Sprachgebrauch: das Wort „missional“. Manche Redner aus dem englischsprachigen Ausland sind inzwischen durch Deutschland gereist, um uns zu erklären, dass es letztlich darum geht, nicht nur mit Worten zu evangelisieren (also missionarisch zu sein), sondern mit den Menschen zu leben und in Tat und Wort für sie dazusein. Junge Christen versuchen in diesem Sinne teilweise unter dem Begriff Emerging Church zeit- und milieugemäße Formen für gelebtes Christsein im 21. Jahrhundert zu entwickeln. Ein Fazit Wir sehen also: Schon immer und bis heute übt das amerikanische Christentum eine unverändert große Anziehungskraft auf Christen in Deutschland aus, zumindest gilt das für den 19 innerkirchlichen Pietismus und die Freikirchen. Die heutige Gemeinschaftsbewegung gäbe es wohl ohne Impulse aus den USA gar nicht. Man hat zwar nicht einfach etwas Amerikanisches 1:1 nach Deutschland übertragen, aber man empfing aus dem englischsprachigen Bereich solche gewichtigen Impulse, dass das traditionelle erwecklich-konservative Christentum in Deutschland einen deutlich anderen Geschmack und eine andere Ausrichtung bekam. So stellt sich zum Schluss die Frage nach einer Bewertung dieser deutsch-englischen Verbindung. Im Jahr 1925 formulierte der Schweizer Theologe Eduard Thurneysen an seinen Freund Karl Barth folgende vernichtend-negative Einschätzung: „Amerika scheint auch auf dem Religionsmarkt als der große Aufkäufer auftreten zu wollen; seinem Kapitalismus entspricht ein unsäglich gottloses, antireformatorisches methodistisches Massenbekehrungs- und Seelenfängerchristentum […]. Wenn nur dein ‚deutscher Einwand’ […] stark genug ist, um da einigermaßen als Schutzimpfung zu dienen! [...] Nichts hilft da als eine möglichst strenge, unpietistische Rechtfertigungslehre, gepaart mit einer reformiert nüchternen Verkündigung der Gebote, damit auch das aktivistische Anliegen des Westens aufgenommen sei.“1 Die Barth’sche „Schutzimpfung“ hat – zumindest in manchen Kreisen – nachhaltig gewirkt. Bis heute gilt bei einigen Christen ein grundsätzlicher Vorbehalt gegen alles Amerikanisch-Evangelikale. Nach über 100 Jahren Amerikanisierung unserer Kultur hat sich aber inzwischen meistens eine differenziertere Beurteilung durchgesetzt. Harm Schröter, Geschichtsprofessor aus Norwegen, schreibt in seiner kurzen Geschichte der Amerikanisierung, die er vor allem in wirtschaftlicher und kultureller Hinsicht untersucht: „Amerikanisierung ist also […] ebenso wenig etwas grundsätzlich Schlechtes wie grundsätzlich Positives.“2 Theodor Christlieb, einer der Hauptverantwortlichen für die Öffnung der Landeskirchen für angloamerikanische Einflüsse, hatte das schon früh sehr genau erkannt. Ganz zu Beginn, genau an dem Punkt, an dem die ganze Amerikanisierung des Neupietismus begann, als Robert Pearsall Smith im Frühjahr 1875 seine Vortragsreise durch Deutschland machte, wurde er von Christlieb in Wuppertal begrüßt und vorgestellt. Bei dieser Gelegenheit wollte Christlieb die Vorurteile der Deutschen zerstreuen und sagte: „Es liegt in der englischen und amerikanischen Art des Christenthums ohne Frage Vieles, was uns Deutschen zunächst befremdlich ist, bei dem wir uns fragen müssen, ob wir das je nachahmen können und sollen, ob wir es nach unserer Eigenthümlichkeit, nach unserer ganzen nationalen Artung, und besonders nach unserer eigenthümlichen kirchlich-theologischen Bildung auch annehmen dürfen. Es ist sehr natürlich, dass wir in diesem, wenn ich so sagen darf, kirchlichen oder auch theologischen Particularismus gegenüber dem Neuen und Fremden, was nicht recht in unsere Art passt, etwas misstrauisch sind. So ist es mir überall in England, auch zum Theil in Amerika bei ähnlichen Versammlungen ergangen. Wir müssen die Sache lassen, wie sie ist, und nach diesem Wort des Apostels handeln. Wir müssen nüchtern prüfen und das Beste behalten. Wenn uns auch Vieles, wie man sagt, wider den Mann ist, lassen wir es einstweilen! – vielleicht können wir doch mit der Zeit erkennen, dass daraus auch etwas Gutes kommen mag.“3 Wer sich die Geschichte der angloamerikanischen Einflüsse auf das Christentum in Deutschland vorbehaltlos anschaut, entdeckt dabei beides: Dinge, die uns großartig vorangebracht haben, und für die wir nur dankbar sein können, und ebenso Dinge, die man tatsächlich kritisch beurteilen und hinterfragen muss. Allerdings ist der rückwärtsgewandte, beurteilende Blick des Historikers allein eine viel zu begrenzte Perspektive. Dietrich Bonhoeffer, der selbst in den USA gelehrt hat, formulierte 1939 etwas Anderes für das Verhältnis der deutschen und amerikanischen Christen. Er blickte nach vorne und formulierte die Vision einer geistlichen deutsch-amerikanischen 1 Eduard Thurneysen an Karl Barth am 21.7.1925, in: Martin Reppenhagen, Auf dem Weg zu einer missionalen Kirche, Neukirchen-Vluyn 2011, 333. 2 Harm G. Schröter, Winners and Losers. Eine kurze Geschichte der Amerikanisierung, München 2008, 11. 3 Theodor Christlieb, Einleitende Ansprache. In: R.Pearsall Smith’s Reden, Barmen, o.J. [1875], 85f. Zitiert nach Karl Heinz Voigt, Theodor Christlieb, Göttingen 2008, 88f. 20 Lerngemeinschaft, indem er fragte: „Was tut Gott an und mit seiner Kirche in Amerika, was tut er durch sie an uns und durch uns an ihr?“4 Erst dieser geistliche Blick über die beurteilende Sicht des Geschichtsforschers hinaus wird uns erschließen, worum es von Bonifatius bis Willow Creek wirklich gegangen ist. 4 Dietrich Bonhoeffer, Protestantismus ohne Reformation. Aufsatz über den Protestantismus in den Vereinigten Staaten von Amerika. August 1939. In DBW 15 (Gütersloh 1998), 433. 21 Thomas Hahn-Bruckart Friedrich von Schlümbach: Evangelisation und Jugendarbeit zwischen den Kontinenten Fragt man nach angloamerikanischen Einflüssen auf den deutschen Neupietismus, so kommt das Wirken des Deutsch-Amerikaners Friedrich von Schlümbach (1842-1901) in zweifacher Hinsicht in den Blick. Zum einen findet man bei ihm die erste regelrechte Kampagne großstädtischer Evangelisation nach amerikanischem Vorbild in Deutschland, zum anderen übte er einen nachhaltigen Einfluss auf die Gestalt christlicher Jugend- bzw. Jungmännerarbeit in Deutschland und damit auch auf die Organisationsformen erwecklich-protestantischen Christentums aus. Um seine Tätigkeit versammelten sich die späteren Protagonisten der Deutschen Gemeinschaftsbewegung. Der Zeitraum, der dabei im Mittelpunkt steht, sind die frühen 1880er-Jahre. 1. Friedrich von Schlümbach als Organisator deutsch-amerikanischer christlicher Jugendarbeit Friedrich von Schlümbach, 1842 in Württemberg geboren, war als 17-Jähriger in die USA emigriert und hatte sich dort vor allem im freidenkerisch und sozialistisch geprägten Bevölkerungssegment der Deutsch-Amerikaner beheimatet. Bereits in dieser Zeit trat er öffentlich als Redner in sowohl politischen als auch weltanschaulichen Zusammenhängen in Erscheinung. Als Bürgerkriegsoffizier machte er in englischsprachigen Kontexten religiöse Erfahrungen, die schließlich zu seiner Bekehrung führten. Er wurde Reiseprediger der Bischöflichen Methodistenkirche, dem deutschsprachigen Zweig der Methodist Episcopal Church.5 Aufgrund der eigenen biographischen Erfahrung, als junger Einwanderer in die USA vor allem Anschluss an säkulare Vereine gefunden zu haben, setzte er sich für deutschsprachige christliche „Jünglingsvereine“ in den USA ein. Solche gab es im Land bereits, allerdings zumeist im engen Anschluss an einzelne deutschsprachige Kirchengemeinden.6 Anders strukturiert waren die englischsprachigen YMCAs, die auf überkonfessioneller Basis operierten, eigene Häuser und hauptamtliche Sekretäre hatten und stärker missionarisch nach außen gerichtet waren.7 Zudem waren die YMCAs seit den 1850er- Jahren in einem Nationalverband organisiert. Um junge Menschen wirklich erreichen zu können, schwebte Schlümbach eine ähnliche Strukturierung der deutschsprachigen Vereinsarbeit in Nordamerika vor. Daher organisierte er 1874 einen Nationalbund Christlicher Jünglingsvereine von Nordamerika, als dessen Sekretär er jährlich zahlreiche Vereine bereiste oder gründete. Die nicht linear verlaufende Entwicklung dieses Nationalbundes und seiner Vereine kann hier nicht im Einzelnen nachgezeichnet werden, aber man kann festhalten, dass Schlümbach durch angloamerikanische Vorbilder inspiriert wurde, analoge Strukturen und Inhalte im deutsch-amerikanischen Bevölkerungsteil zu implementieren. Gleichwohl nahm er differenziert die dort zu berücksichtigenden Bedingungen wahr und bemühte sich um eine reflektiert deutsch-amerikanische Adaption. Zum frühen Lebensweg Friedrich von Schlümbachs vgl. Thomas Hahn-Bruckart, Friedrich von Schlümbach – Erweckungsprediger zwischen Deutschland und Amerika. Interkulturalität und Transkonfessionalität im 19. Jahrhundert, Göttingen 2011, 20-118. 6 Die Geschichte der deutschsprachigen christlichen Jünglingsvereine in den USA hat bis jetzt noch keine umfassende Darstellung gefunden. Das Manuskript von Frederick W. Godtfring, History of the German Branches of the Young Men’s Christian Association in the United States, 1946 (Kautz Family YMCA Archives, Minneapolis) ist wegen inhaltlicher Defizite nicht in den Druck gelangt. Vgl. daher für die bisher umfassendsten Informationen Hahn-Bruckart, Friedrich von Schlümbach, passim. 7 Zum nordamerikanischen YMCA vgl. C. Howard Hopkins, History of the Y.M.C.A. in North America, New York 1951. 22 5 2. Friedrich von Schlümbach als deutschsprachiger Exponent der angloamerikanischen Evangelisationsbewegung Eine für die Profilbildung der englischsprachigen YMCAs wichtige Gestalt war Dwight Lyman Moody.8 Er hatte in Chicago eine Sonntagsschule gegründet, wurde dann im Chicagoer YMCA aktiv und 1866 dessen Präsident. Unter Moodys Einfluss bekam der religiöse Aspekt in den Aktivitäten des YMCA den wesentlichen Akzent. Moody verstand die Vereine als eine Art Aktionsgemeinschaft für die Evangelisation der Gesellschaft. Er entwickelte mit seinen Chicagoer Gebetsversammlungen ein Veranstaltungskonzept, in das er in erzählendem und persönlichem Ton kurze Predigten einflocht, die bildreich waren und oft anschauliche Berichte über Bekehrungen enthielten. Moody fand rasch über Chicago hinausgehende Beachtung, sodass er ab den frühen 1870er-Jahren als Evangelist durch die USA und Großbritannien reiste, wo er zum Teil vor Menschenmassen von zehn- bis zwanzigtausend Zuhörern sprach. Entscheidenden Anteil hatte der ihn musikalisch kongenial begleitende Ira Sankey.9 Moody bemühte sich stets, vor Ort auf überkonfessioneller Basis zu arbeiten und seine Kampagnen logistisch und publizistisch gründlich vorzubereiten.10 Auch Schlümbach setzte bei seinen Rundreisen zu den Jünglingsvereinen mehr und mehr auf öffentliche Versammlungen, zu denen publikumswirksam eingeladen wurde. Auch er entwickelte – wie Moody – eine sehr anschauliche, von Erzählungen durchzogene Predigtweise, die im Plauderton daherkam und die Zuhörer zu fesseln wusste. In besonderer Weise gelang es ihm, religiöse Erfahrungsgehalte englischsprachiger Kontexte für die Bedürfnisse und Kapazitäten kulturell anders geprägter deutschsprachiger Zusammenhänge zu erschließen. 11 Auch bei Schlümbach entwickelte sich eine evangelistische Tätigkeit also in enger Verbindung mit der Jugendarbeit. Durch seine denkwürdigen Auftritte auf den Konferenzen des YMCA und innerhalb seiner Kirche erlangte Schlümbach bald einige Bekanntheit im erwecklichen Spektrum des deutsch-amerikanischen Protestantismus. Nach vier Jahren als Pastor in Texas wurde er daher hauptamtlich in das Internationale Komitee des YMCA mit Sitz in New York berufen, um dort das Sekretariat für den Arbeitszweig unter den Deutsch-Amerikanern zu führen. Er war nun fast ständig in den USA auf Reisen, besuchte Vereine, redete auf Konferenzen und evangelisierte vor wachsenden Menschenmassen in den Städten. Anfang des Jahres 1880 wurde er von Dwight Lyman Moody eingeladen, mit ihm gemeinsam in St. Louis zu evangelisieren – Moody unter den Englischsprachigen der Stadt, Schlümbach unter den Deutschsprachigen. Das Aufsehen war groß, täglich berichteten die Zeitungen von den Versammlungen und Schlümbach erhielt in diesen Blättern den Beinamen „The German Moody“.12 3. Amerikanische Impulse für den deutschen Kontext Nicht nur Amerika lag Schlümbach als Arbeitsfeld am Herzen, sondern er dachte nach einer Deutschland-Reise im Jahr 1875 – der ersten seit seiner Emigration – auch vermehrt über sein 8 Zu Dwight L. Moody (1837–1899) vgl. William R. Moody, The Life of Dwight L. Moody. By His Son, New York u. a. 1900; James F. Findlay, Dwight L. Moody. American Evangelist. 1837-1899, Chicago 1969; Lyle W. Dorsett, A Passion for Souls. The Life of D. L. Moody, Chicago 1997; Stanley Gundry, Love Them In. The Life and Thought of D. L. Moody, Chicago 1999. 9 Zu Ira D. Sankey (1840–1908) vgl. die entsprechenden Angaben in den vorgenannten Werken. 10 Ulrich Gäbler überschreibt das Moody gewidmete Kapitel in seinem Buch: Auferstehungszeit. Erweckungsprediger des 19. Jahrhunderts. Sechs Porträts, München 1991, entsprechend mit „Die organisierte Botschaft“. Zur Evangelisationsbewegung in den USA vgl. Stephan Holthaus, Heil – Heilung –Heiligung. Die Geschichte der deutschen Heiligungs- und Evangelisationsbewegung (1874-1909), Gießen/Basel 2005, 26–30; 192– 195. 11 Dass Schlümbach dabei in gewissem Sinne eine Brückenfunktion erfüllte, wurde von verschiedenen Seiten – und ihm selbst – wahrgenommen. So bezeichnete ihn der deutsch-amerikanische Methodist Wilhelm Nast im Rahmen einer YMCA-Konferenz pointiert als „a real incarnation of American religion in a German constitution“; vgl. Proceedings of the Twentieth Annual Convention of the Young Men’s Christian Associations of the United States and British Provinces, held at Richmond, Va., May 26-30, 1875, New York 1875, 63. 12 Vgl. die Berichterstattung des St. Louis Globe-Democrat, in dem am 16.1.1880 auf Seite 5 unter der Überschrift „The German Moody“ von der Ankunft Schlümbachs in der Stadt berichtet wird; diese Überschrift wurde auch für weitere Berichte von der Arbeit Schlümbachs beibehalten. Vgl. auch Editorielle Notizen, in: Der Christliche Apologete 1880, 44. 23 Heimatland und die dortige kirchliche Situation nach. Religiöse Gleichgültigkeit, leere Kirchen und Sonntagsarbeit waren zentrale Eindrücke seines Deutschlandaufenthalts gewesen. Deutschland bedürfe einer freien Kirche, die nicht an den Staat gebunden sei. Auch dort liege die Zukunft des Landes bei der Jugend. Der Methodismus könne wichtige Impulse bringen und habe geradezu eine Verpflichtung gegenüber Deutschland.13 Eine erneute Reise nach Deutschland ergab sich für Schlümbach im Jahr 1881, da seine Ärzte ihn zur Kur nach Europa schickten. Statt zu kuren besuchte er allerdings Ende Juli die Weltkonferenz des YMCA in London. Dort ergaben sich für ihn endlich die Kontakte nach Deutschland, die er lange gesucht hatte. Er wurde zum Bundesfest des Rheinisch-westfälischen Jünglingsbundes eingeladen.14 Dabei begriff Schlümbach die Jugendarbeit als Türöffner für eine umfassendere Tätigkeit in Deutschland, wie sie ihm im Sinne allgemeiner Erweckung und Neubelebung seit 1875 vorschwebte.15 Beim Bundesfest in Wuppertal 1881, wo er die Jünglingsvereine zu größerer Einigkeit aufrief und die jungen Männer begeisterte, lernte Schlümbach neben Karl Krummacher16 und Jasper von Oertzen17 auch Theodor Christlieb18 kennen, der die Entwicklungen in der angelsächsischen Welt immer sehr genau im Blick hatte und in Schlümbach den richtigen Mann für seinen ersten Schritt zu Beheimatung „methodistischer“, das heißt erwecklicher, auf Bekehrung zielender Arbeitsformen in den deutschen Landeskirchen sah.19 Damit traf er bei Schlümbach auf offene Ohren. Da Berlin die Stadt in Deutschland war, die am ehesten mit dem Phänomen der „Entkirchlichung“ identifiziert wurde, suchte Christlieb den Kontakt zu Hofprediger Adolf Stoecker20 und empfahl ihm Schlümbach für eine Evangelisationstätigkeit in den Berliner Vorstädten.21 Christlieb und Schlümbach nutzten ihre Kontakte nach England, um Gelder für eine Evangelisationskampagne in Deutschland zu beschaffen, was wesentlich durch Unterstützung George Williams’ und eines beim Londoner YMCA angesiedelten Fonds gelang.22 Hier sollte für die gesamte Evangelisationskampagne die finanzielle Basis liegen. Damit ergab sich die ungewöhnliche Konstellation, dass ein amerikanischer Methodist im 13 Vgl. Friedrich von Schlümbach, Reiseskizzen. In: Der Christliche Apologete 1875, 305. Von seiner Europareise berichtete Schlümbach in einer insgesamt 23-teiligen Reihe im Christlichen Apologeten. 14 Vgl. Ein deutsches Jubiläum. Geschichte der Nationalvereinigung der Evangelischen Jünglingsbündnisse Deutschlands. Dargereicht zum 25-jährigen Jubiläum vom 13.–16. September 1907 von Pastor Alfred Klug, Präses der Nationalvereinigung, Barmen 1907, 47-48. 15 Bereits im Laufe der Artikelserie über seine Deutschlandreise im Christlichen Apologeten 1875 war Schlümbach zu dem Schluss gekommen, dass eine Belebung des deutschen Protestantismus v. a. über eine Neustrukturierung der Jünglingsvereine zu erreichen sei. „Methodistische“ Anliegen könnten so ohne Bindung an die methodistischen Kirchen eingebracht werden. 16 Zu Karl Krummacher (1830-1899) vgl. Uwe Eckardt, Art. Krummacher, Karl Emil, in: BBKL IV (1992), 720722. 17 Zu Jasper von Oertzen (1833–1893) vgl. Jörg Ohlemacher, Das Reich Gottes in Deutschland bauen. Ein Beitrag zur Vorgeschichte und Theologie der deutschen Gemeinschaftsbewegung, Göttingen 1986, 48–55 (Lit.). 18 Zu Theodor Christlieb (1833–1889) vgl. Karl Heinz Voigt, Art. Christlieb, Theodor. In: BBKL XXV (2005), 140– 170 (Lit.); Thomas Schirrmacher, Theodor Christlieb und seine Missionstheologie, Wuppertal o. J. [1985]. 19 Vgl. zu diesem Aspekt bes. Karl Heinz Voigt, Theodor Christlieb (1833-1889). Die Methodisten, die Gemeinschaftsbewegung und die Evangelische Allianz, Göttingen 2008. 20 Zu Adolf Stoecker (1835–1909) vgl. Dietrich von Oertzen, Adolf Stoecker. Lebensbild und Zeitgeschichte. 2 Bde., Berlin 1910; Günter Brakelmann/Martin Greschat/Werner Jochmann, Protestantismus und Politik. Werk und Wirkung Adolf Stoeckers, Hamburg 1982; Martin Greschat, Adolf Stoecker. In: Ders. (Hg.), Gestalten der Kirchengeschichte Bd. 9/2: Die neueste Zeit II, Stuttgart u. a. 1985, 261–277. 21 Infolgedessen traten sowohl Christlieb als auch Stoecker und Oertzen mit dem International Committee des YMCA in Verbindung, um Schlümbach für eine mehrmonatige Tätigkeit in Deutschland gewinnen zu können. Das International Committee konnte allerdings keine direkten Geldmittel zusagen, verwies aber auf Möglichkeiten der Mitteleinwerbung. Vgl. die entsprechende Korrespondenz in den Kautz Family YMCA Archives, Box „Germany 1882–1947“, Folder „Germany 1882–1884“. 22 Vgl. Brief Ernst F. Stroeters an Richard C. Morse vom 10.5.1882 (Kautz Family YMCA Archives, Box “Germany 1882–1947”, Folder „Germany 1882–1884“); Schlümbach hatte dies von London aus Ernst Stroeter brieflich mitgeteilt. Dass es sich hier um eine langfristige Zusammenarbeit handelte, zeigt sich auch daran, dass George Williams im Oktober 1883 einen Brief an den deutschen Jünglingsverein in London richtete, in dem es um Spenden für die Evangelisationsarbeit in Deutschland ging. Vgl. Bernd W. Hildebrandt, It Can Be! 150 Years German YMCA in London. 1860-2010, London 2010, 23. 24 Rahmen der Preußischen Landeskirche aus England finanziert Evangelisationsveranstaltungen abhielt. Der Zweiklang aus Arbeit für die Jünglingsvereine und großen Evangelisationsveranstaltungen sollte das Charakteristikum der Tätigkeit Schlümbachs in Deutschland werden. Denn zunächst reiste er durch den Rheinisch-westfälischen Jünglingsbund und traf Vorbereitungen für ein Treffen, das nach seiner Vorstellung zu einer Vereinigung der bisher getrennten fünf Jünglingsbündnisse in Deutschland und damit zu einer durchschlagenden Organisation führen sollte. Das erste Nationalfest der deutschen Jünglingsvereine fand auf seine Initiative hin am Hermannsdenkmal als einem wie kaum ein anderer Platz zu dieser Zeit für die Einheit Deutschlands stehenden Ort statt. Es brachte Delegierte aus allen deutschen Jünglingsbündnissen zusammen, vor denen Schlümbach – als ein Teil des Programms – seine Vorstellungen moderner, nach außen gerichteter Vereinsarbeit vorstellte.23 Wenngleich die von ihm angestrebte Vereinigung der deutschen Jünglingsbündnisse noch nicht zustande kam, war doch ein Schritt auf größere Einheit hin getan und er nun mit Kontakten in alle Teile Deutschlands ausgestattet. Mit Christlieb begab er sich im Anschluss zu einer Tagung der Freunde der Positiven Union in Berlin. Dort stellten sie gemeinsam mit Stoecker ihr Konzept der großstädtischen Evangelisation vor und zeichneten es damit auch in die kirchenpolitische Konstellation ein. Es wurde Wert darauf gelegt, im angelsächsischen Bereich erprobte Methodik nur nach sorgfältiger Adaption an den neuen Kontext zum Einsatz zu bringen. Schlümbachs Zugehörigkeit zur Methodistenkirche wurde aber nicht weiter problematisiert.24 4. Evangelisation und Gemeinschaftsbildung Im August war die bevorstehende Evangelisationskampagne Schlümbachs publik gemacht worden, um unter den „unbekehrten Massen“ zu wirken.25 Anfang Oktober 1882 konstituierte sich schließlich in Berlin ein Evangelisationskomitee aus Christlieb, Stoecker, Bernstorff26 und Oertzen, eventuell auch Krummacher, um Schlümbachs Arbeit in Deutschland zu koordinieren und zu leiten.27 Im Berliner Norden begann Schlümbach seine Evangelisationen in der Parochie der Nazarethgemeinde auf Einladung des dortigen Pfarrers. Anders als in den USA, wo Schlümbach häufig in Kirchengebäuden evangelisiert hatte, wirkte er nun in wechselnden nichtkirchlichen Lokalen. Für die Veranstaltungen, zu denen die Menschen bald zu Hunderten – auch aus den ärmsten Bevölkerungsschichten – kamen, wurde bewusst nicht in den Zeitungen, sondern durch persönliche Einladung geworben. Schlümbachs die christliche Botschaft elementarisierende und mit konkreten Erfahrungen verknüpfende lebensnahe Predigtweise, verbunden mit den von ihm vorgetragenen eingängigen Lieder der angelsächsischen Heiligungs- und Evangelisationsbewegung, die für viele ein Novum darstellten, sprachen sich schnell herum und sorgten für Aufsehen.28 Um die durch seine Evangelisationen Erweckten zu sammeln und weiter Zum Jünglingsfest am Hermannsdenkmal vgl. Walter Stursberg, Glauben – Wagen – Handeln. Eine Geschichte der CVJM-Bewegung in Deutschland, Wuppertal 1977, 82-87; Thomas Hahn-Bruckart, Friedrich von Schlümbach, 261-269. 24 Vgl. die ausführlichen Berichte von der Tagung in: Neue Evangelische Kirchenzeitung 1882, 625–628, 644–646, 660–662. Zu den kirchenpolitischen Hintergründen vgl. Rudolf Mau, Die Formation der kirchlichen Parteien. Die Dominanz der „Positiven Union“, in: Joachim Rogge/Gerhard Ruhbach (Hgg.), Die Geschichte der Evangelischen Kirche der Union. Bd. 2. Die Verselbständigung der Kirche unter dem königlichen Summepiskopat (1850–1918), Leipzig 1994, 233–246. 25 Vgl. Allgemeine Evangelisch-Lutherische Kirchenzeitung 1882, 764. 26 Zu Andreas Graf Bernstorff (1844–1907) vgl. Karl Heinz Voigt, Art. Bernstorff, Andreas Graf von, in: BBKL XXVII (2007), 79-99. 27 Vgl. Brief Jasper von Oertzens an Karl Krummacher vom 5.10.1882 (Archiv des CVJM-Westbundes, Akte 02.2–4, Bd. 1), durch den dieser umgehend über die konstituierende Sitzung des Komitees informiert wurde. Bei der Aufzählung derer, die ihn zur Evangelisation nach Deutschland berufen hatten, wird Krummacher von Schlümbach in: Der Christliche Apologete 1883, 284 zusammen mit den anderen Komiteemitgliedern genannt. 28 In den Berichten ist fast immer nur von den Wirkungen des Auftretens Schlümbachs die Rede, Näheres über die Inhalte seiner Ansprachen ist kaum zu erfahren. Nach Amerika kommunizierte Schlümbach, dass in der kirchlichen Situation erst noch Bahn gebrochen werden müsse für eine durchgreifende Erweckung. Einen knappen Überblick über die Berliner Evangelisationen und die daraus erwachsene Gemeinschaftsarbeit gibt Paulus Scharpff, Geschichte 25 23 zu betreuen, sprach er Eduard Graf Pückler29 auf eine solche Tätigkeit hin an und ermutigte ihn, als Laie eine derartige Aufgabe übernehmen zu können. Daraus entstand die Gemeinschaftsarbeit im neu gegründeten Christlichen Vereinshaus am Weddingplatz.30 Anfang 1883 wechselte Schlümbach mit seinen Evangelisationen in die Parochie der Zionskirche, wo er ebenfalls vor großen Versammlungen sprach. Auch hier wurden die Erweckten in einer Gemeinschaftsarbeit gesammelt, diesmal unter Federführung der Stadtmission.31 In Schlümbachs Wahrnehmung waren die Jünglingsvereine der Stadt in ihrer Ausrichtung nicht dazu angetan, dem Zustrom an jungen Männern nach Berlin gerecht zu werden. Daher empfand er die Notwendigkeit einer neuen, stärker nach außen gerichteten Vereinsform, konnte sich beim Zentralausschuss der Berliner Jünglingsvereine damit aber nicht durchsetzen.32 Daraufhin gründete er mit einem kleinen Unterstützerkreis einen am großstädtischen YMCA-Modell orientierten Verein und nannte ihn in möglichst enger Anlehnung an dieses Vorbild „Christlicher Verein Junger Männer“. In den Statuten versuchte man den ersten Artikel der Pariser Basis in überkonfessioneller Weite nachzubilden und die Prinzipien einer doppelten Mitgliedschaft und einer Leitung durch Laien zu verankern. Eberhard von Rothkirch33 und Andreas Graf Bernstoff wurden zu führenden Gestalten. Mit tatkräftiger Unterstützung aus adeligen Kreisen konnten Anfang April 1883 eigene Räume eingeweiht werden, von denen aus sich in den nächsten Jahren ein rasantes Vereinswachstum vollziehen sollte.34 5. Ambivalenzen zwischen freikirchlichen Ansätzen und landeskirchlichen Limitierungen Von Beginn der Tätigkeit Schlümbachs in Berlin an war diese von Kritik und Polemik begleitet gewesen, die vor allem aus den Reihen der Inneren Mission kam. Man warf Schlümbach Unverständnis für die Eigenart des deutschen Kirchen- und Vereinswesens, verbunden mit dem Einführen „undeutscher“ Methoden vor, eine Störung der kirchlichen Ordnung durch seine Wirksamkeit als der eines Methodisten, generell eine Beförderung des Methodismus und damit Zersetzung der Gemeinden. Diese Kritik wurde in Periodika verbreitet und auch in einem anonymen Pamphlet konzentriert veröffentlicht.35 Auch auf kirchenamtlicher Seite beschäftigte man sich zu der Zeit mit Fragen des Kanzelrechts und der Abwehr sektiererischer Einflüsse.36 Jasper von Oertzen hatte Schlümbach nach Hamburg holen wollen, scheiterte aber daran, dass sich die dortigen Pastoren gegen eine Wirksamkeit Schlümbachs sperrten und in Eigeninitiative Evangelisationsveranstaltungen abhielten.37 Stattdessen wirkte Schlümbach in SchleswigHolstein, stieß dort aber auf entschiedenen Widerstand von konfessioneller Seite. Dabei hatte er den Ablauf seiner Veranstaltungen schon insofern modifiziert, dass er primär aus Volkenings der Evangelisation. Dreihundert Jahre Evangelisation in Deutschland, England und USA, Gießen 21980, 251-254; vgl. ausführlicher Thomas Hahn-Bruckart, Friedrich von Schlümbach, 275-291. 29 Zu Eduard Graf Pückler (1853–1924) vgl. Jörg Ohlemacher, Art. Pückler, Graf Eduard von, in: Evangelisches Lexikon für Theologie und Gemeinde 3 (1994), 1634; Hedwig von Redern: Berufen mit heiligem Ruf. Leben und Dienst des Grafen Eduard von Pückler, Berlin 1925. 30 Diese wurde später als Gemeinschaft St. Michael bekannt. Vgl. Thomas Hahn-Bruckart, Friedrich von Schlümbach, 285-289. Zur Berufung Pücklers durch Schlümbach vgl. Hedwig von Redern, Berufen mit heiligem Ruf, 50-51. 31 Vgl. Ulrich Mayer, Die Anfänge der Zionsgemeinde in Berlin. Ein Beispiel für die Entstehung von Kirchengemeinden im 19. Jahrhundert, Bielefeld 1988, 156-157. 32 Vgl. Geschichte des Kreisverbandes der Berliner Ev. Jünglingsvereine. 1880–1905, Berlin 1905, 19. Vgl. zum Folgenden Karl Kupisch, Der deutsche CVJM. Aus der Geschichte der Christlichen Vereine Junger Männer Deutschlands, Kassel 1958, 22-31; Thomas Hahn-Bruckart, Friedrich von Schlümbach, 291-303. 33 Zu Eberhard von Rothkirch (1852–1911) vgl. Jörg Ohlemacher, Art. Rothkirch, Eberhard von, in: Evangelisches Lexikon für Theologie und Gemeinde 3 (1994), 1726; Ulrich von Hassell: Eberhard von Rothkirch und Panthen. Ein Lebensbild nach Briefen und Aufzeichnungen, Berlin 31923. 34 Vgl. zur Vereinsgeschichte: Festschrift zum 25jährigen Bestehen des Christlichen Vereins junger Männer zu Berlin, Berlin 1908; 50 Jahre Christlicher Verein Junger Männer zu Berlin. 1883-1933, Berlin 1933. 35 Pastor von Schlümbach, Berlin 1883. Hauptsächliches Organ der Kritik gegen Schlümbach war der vom Vereinsgeistlichen Ernst Hülle redigierte Evangelisch-kirchliche Anzeiger von Berlin. 36 Vgl. Karl Heinz Voigt, Theodor Christlieb, 95-96. 37 Vgl. Kirchliche Nachrichten, in: Der Evangelist 1883, 101 u. 149; Johannes Ninck, Frei von jedermann und aller Knecht. Lebenswerk und Persönlichkeit des Menschenfreundes Carl Ninck, Leipzig/Hamburg 1932, 189-192. 26 Missionharfe singen ließ und in seine Ansprachen keine Sologesänge eingliederte. Die Polemik baute einen grundsätzlichen und unüberbrückbaren Gegensatz zwischen Luthertum und Methodismus auf und kreiste nun auch um die Bewahrung der reinen Lehre. Man sah die Gefahr eines „verschwommenen“ Christentums und stichelte gegen die Union, indem man eine Kooperation mit Methodisten letztlich als die logische Konsequenz unierter Gesinnung herausstellte.38 Schlümbach versuchte zwar, sich durch seine Herkunft aus der württembergischen Landeskirche und explizite Bezüge auf Luther in seinen Ansprachen in Nähe des Luthertums zu rücken, und Oertzen wehrte sich dagegen, Schlümbach als Sektierer zu bezeichnen, jedoch ohne Erfolg. Im Hintergrund standen wieder kirchenpolitische Animositäten, zum einen zwischen Vertretern der Inneren Mission selbst, zum anderen innerhalb der Landeskirche bezüglich des Kurses des Landesvereins für Innere Mission, was die Wellen bis in die Landessynode hinein hochschlagen ließ.39 Schlümbach rückte sich mittlerweile selbst in die Nähe der Evangelischen Synode von NordAmerika, die eng mit der Preußischen Landeskirche verbunden war. Noch vor seiner Rückreise in die USA erklärte er förmlich seinen Austritt aus der Methodistenkirche und bezog sich dabei darauf, dass er sich als freier Evangelist nicht mehr voll deren Ordnungen unterwerfen könne.40 Wenngleich sich zunächst weiter Gegenstimmen regten, die Angriffe hätten sich keinesfalls nur gegen seine Kirchenzugehörigkeit gerichtet, sondern auch gegen die „methodistische Manier“ seiner Arbeit,41 brachte dieser Schritt doch eine deutliche Beruhigung im Hinblick auf sein weiteres Wirken. Schlümbach gab später als weiteren Grund für den Austritt an, dass er innerlich einen neuen Zugang zur Volkskirche in Deutschland gefunden habe.42 Im Hintergrund stand aber auch, dass Christliebs Modell einer vom Grundansatz her undenominationellen Evangelisationsarbeit sich aufgrund des intensiven Widerstands nicht hatte verwirklichen lassen und von nun an eine Zugehörigkeit der Evangelisten zur Landeskirche unumgänglich geworden war.43 Aus diesen weiteren Bemühungen entwickelte sich der Deutsche Evangelisationsverein, der wiederum die Keimzelle für den späteren Gnadauer Gemeinschaftsverband darstellte. Schlümbach selbst nahm auch in der Folgezeit Anteil an den Aktivitäten des Evangelisationsvereins, war aber an der ersten Gnadauer Pfingstkonferenz nicht beteiligt. Jasper von Oertzen berichtete auf der zweiten Gnadauer Konferenz, dass es Friedrich von Schlümbach gewesen sei, der ihm den Wert der Volkskirche vor Augen geführt habe, als er in der Frage der Ausrichtung der Gemeinschaftsbewegung schwankend geworden sei. 44 Eduard Pückler setzte sich immer wieder für das Thema ein, das Schlümbach ihm vor Beginn der Gemeinschaftspflege im Wedding aufgeschlossen und ans Herz gelegt hatte: die aktive Mitarbeit von Laien.45 38 Vgl. Kirchliches, in: Kropper Kirchlicher Anzeiger 1883, 77; 84-85; 88-89; vgl. auch J. E. Busse: Offenes Sendschreiben der Pastoralkonferenz des Fürstentums Lübeck an den Herrn P. Jensen. In: Schleswig-HolsteinLauenburgisches Kirchen- und Schulblatt 1883, 78. 39 Vgl. Thomas Hahn-Bruckart, Friedrich von Schlümbach, 330-333. 40 Ein offenes Wort zum Abschied von Pastor von Schlümbach, in: Der Evangelist 1883, 268-269 (auch abgedruckt im Reichsboten und im Christlichen Apologeten). 41 So erneut Ernst Hülle im Evangelisch-kirchlichen Anzeiger; vgl. auch Aus den deutschen Jünglingsvereinen, in: Der Jünglingsbote 1883, 149-150. 42 So berichtet Jasper von Oertzen später von Unterredungen mit Schlümbach, in denen gerade dieser ihm den Wert der Volkskirche eindringlich vor Augen gemalt habe. Vgl. Verhandlungen der Gnadauer Pfingstkonferenz Bd. 2, o.O. 1890, 57–58; Dietrich von Oertzen, Jasper von Oertzen, ein Arbeiter im Reiche Gottes, Hagen 2o.J., 136. 43 So heißt es auch kurz darauf in einer Vorstellung des neu entstehenden Evangelisationsvereins durch Christlieb, dass die Evangelisten in die Landeskirche „eingetreten sein“ müssen; vgl. die Wiedergabe des Artikels unter: Bruder von Schlümbachs Austritt aus der Methodisten-Kirche, in: Der Christliche Apologete 1883, 284, wo dieser Zusammenhang bereits hergestellt wird. Zu diesem Zusammenhang insgesamt vgl. Karl Heinz Voigt, Friedrich von Schlümbach, Theodor Christlieb und die Evangelisation in Deutschland. Vom ökumenischen Verein mit ‚undenominationellem Charakter‘ zum ‚Deutschen Evangelisationsverein‘, in: Monatshefte für Evangelische Kirchengeschichte des Rheinlandes 53 (2004), 337-358, dort 348. 44 Vgl. Verhandlungen der Gnadauer Pfingstkonferenz Bd. 2, o.O. 1890, 57–58. 45 Dies betraf sowohl seine Konzeption der Gemeinschaftsarbeit in Berlin als auch die thematische Schwerpunktsetzung für die sich um Gnadau formierende Deutsche Gemeinschaftsbewegung; vgl. z. B. seinen ersten Entwurf für das Einladungsschreiben nach Gnadau von 1886, abgedruckt bei Jörg Ohlemacher, Reich Gottes, 229-231. Zum Einfluss Schlümbachs vgl. Hedwig von Redern, Berufen mit heiligem Ruf, 50-51. 27 6. Fazit 1. Mit Schlümbach trat erstmals ein deutschsprachiger Exponent der angloamerikanischen Evangelisationsbewegung über längere Zeit in Deutschland in Erscheinung. 2. Evangelisation und Gemeinschaftsbildung gingen Hand in Hand. Für die Gemeinschaftspflege wurden Laien engagiert. 3. Das Wirken Schlümbachs führte die späteren Protagonisten der Deutschen Gemeinschaftsbewegung organisatorisch zusammen. Einzelne Mitglieder wurden entscheidend von Schlümbach geprägt. 4. Schlümbach brachte im Rahmen der Jugendarbeit die Elemente der Einigkeit und eines erhöhten Organisationsgrades ein. 5. Die Wirksamkeit Schlümbachs lässt fragen, ob die mit ihm einhergehenden Einflüsse aus dem amerikanischen Raum mit „angloamerikanisch“ präzise bezeichnet sind. Es erscheint angemessener, von einer doppelten Brechung bzw. Transformation zu sprechen: erstens beim Transfer zwischen angloamerikanischem und deutsch-amerikanischem Raum, dann zweitens beim Transfer zwischen deutsch-amerikanischem und deutschem Raum. 6. Die Erfahrungen mit Schlümbach präfigurierten die Ambivalenzen der sich formierenden Gemeinschaftsbewegung zwischen freikirchlichen und volkskirchlichen Ansätzen und in den kulturell konnotierten frömmigkeitlichen Zuordnungen – Ambivalenzen, die bereits Schlümbach persönlich in seinem Leben empfunden hatte. 28 Hans-Martin Thimme August Rauschenbusch zwischen Deutschland und Amerika August Rauschenbusch wurde am 13. Februar 1816 in Altena im Sauerland geboren und starb am 5. Dezember 1899 in Hamburg-Wandsbek.46 Zum 1. Juli 1845 gab er als wohlbestallter lutherischer Pfarrer von Altena seinen Dienst auf der Stelle seines Vaters auf und ließ sich von der Langenberger Gesellschaft in die Vereinigten Staaten von Amerika entsenden, um dort seine Arbeitskraft den deutschen Einwanderern zur Verfügung zu stellen. Dieser Schritt war in der damaligen Zeit höchst ungewöhnlich, denn Kirche, Politik und Intelligenz in Deutschland sahen die gewaltigen Auswandererströme von Heuerlingen und kleinen Handwerkern um die Mitte des 19. Jahrhunderts äußerst kritisch. Amerika galt als wüstes Land ohne Ordnung und Zivilisation, dem man sich als gebildeter Preuße und Europäer nicht aussetzen sollte. Untergründig wurde diese Haltung sicher auch von der Sorge befördert, das nach dem Scheitern der französischen Revolution einzige demokratische Staatswesen der Welt, in dem es weder Adel noch Klerus gab, könnte im von der Restauration geprägten Deutschland zu neuen Versuchen revolutionärer Erneuerung anregen. Rauschenbusch war im Bereich der deutschen Kirchen einer der ganz wenigen ausgebildeten Theologen, die die Auswanderung wagten. 1. Bekehrung zum wahren Leben August Rauschenbusch wuchs in Altena in großer Ungebundenheit und Freiheit auf. Sein von den romantischen Idealen Rousseaus geprägter Vater ließ ihm viel Raum in seiner kindlichen Entwicklung. Die Burg Altena regte die Jugendlichen zu vielfachen Ritterspielen an. Augusts Begeisterung für das Mittelalter verstärkte sich, nachdem er im Oktober 1830 nach Wuppertal ins Haus seines Schwagers, des Pfarrers August Döring, umgezogen war, um das dortige Gymnasium besuchen zu können. Dort steigerte sich sein Eifer um die persönliche Vergegenwärtigung deutschen ritterlichen Wesens, das er durch strenge Regeln geistiger und körperlicher Ertüchtigung in seinen Alltag umzusetzen versuchte. In seiner schwärmerischen Phantasie fühlte er sich durch seinen Lehrer Wilhelm Landfermann angeregt, der als Burschenschaftler zu mehrjähriger Festungshaft verurteilt worden war und nach seiner Haftentlassung eine Probezeit als Lehrer am Gymnasium in Wuppertal ableistete. In Wuppertal konnte August Rauschenbusch auch noch die Ehefrau seines Großvaters, Hilmar Ernst Rauschenbusch, erleben, der in Bünde im Ravensberger Land als erfolgreicher Erweckungsprediger gearbeitet hatte und im Frühjahr 1790 einem Ruf der lutherischen Gemeinde Elberfeld gefolgt war. Dort rückte die alltägliche Lebensgestaltung seiner Gemeindeglieder in den Mittelpunkt seiner Arbeit, die er mit einer zum Rigorismus neigenden Strenge betrieb. Das bewunderte sein Enkel August, dem sein Großvater lebenslang ein leuchtendes Vorbild seiner Arbeit blieb. Sein nach dem Abitur in Berlin beginnendes Theologiestudium stellte Rauschenbusch niemals in Frage, konzentrierte sich aber auch dort zunächst weniger auf das Studium, sondern pflegte intensive Kontakte zur Bewegung des Turnvaters Jahn. Später unternahm er nach Art reisender Scholaren des Mittelalters mit äußerst geringem finanziellem Aufwand große Fahrten, die ihn über die Tschechei und Süddeutschland bis nach Österreich führten. Eine Inschrift an einem hohen Felsen am Königsee, die die Erhabenheit des ewigen Schöpfers anbetete, bewirkte den Anfang seines inneren Umschwungs. Nach seiner Rückkehr nach Berlin widmete er sich nun mit großem Ernst seinem Studium. Mit noch größerer Energie betrieb er aber eine aufwühlende Suche nach wahrem Glauben und wahrem christlichem Leben. Als Anleitung diente ihm schließlich die Imitatio Christi von Thomas a Kempis, die er in einer von Johannes Goßner kommentierten Ausgabe benutzte. Wie damals üblich, las er dieses Werk nicht als Hilfe zur Einübung in die mystische Nachfolge des Vgl. zum Thema dieses Aufsatzes Hans-Martin Thimme, August Rauschenbusch (1816-1899) – Lutherischer Pfarrer in Westfalen und baptistischer Dozent in Amerika, Beiträge zur Westfälischen Kirchengeschichte Nr. 33, Bielefeld 2008. 46 29 Erlösungswerkes Christi, sondern als Anleitung zur Nachahmung Christi im eigenen frommen Leben. Nach monatelangen schweren Kämpfen gewann er endlich Gewissheit nach dem Besuch eines Oratoriums mit dem letzten Vers: „Zum Abgrund dringt der Gnade Blick, und was verloren, bringt zurück der große Hirt der Herde.“ Als erste Folge seiner Bekehrung nannte Rauschenbusch die Abkehr von Theater und losen Reden. Die in der Bekehrung gewonnene Lebenssicherheit war ihm der größte Gewinn der endlich geschenkten Glaubenssicherheit. Fortan wurde er nie mehr von Zweifeln darüber geplagt, wie das Leben eines Christenmenschen aussehen sollte. Er hatte zu einer ethischen Gradlinigkeit gefunden, wie er sie an seinem Großvater in Elberfeld bewunderte. Von nun an ging es nur noch darum, solche Erkenntnisse in Gemeinde und Kirche umzusetzen.47 Zunächst allerdings musste er sein Studium unterbrechen. Eine übertriebene asketische Lebensweise und schwere geistige Kämpfe führten zu einem körperlichen und seelischen Zusammenbruch, der erst nach vielmonatiger intensiver Pflege im Altenaer Elternhaus geheilt werden konnte. 2. Bau einer wahren Kirche Nach Beendigung seines Studiums in Bonn konnte Rauschenbusch ohne große Verzögerungen im Jahr 1841 die Nachfolge seines Vaters im Pfarramt von Altena antreten. Dort erregte er schon mit seiner Predigt zu Ordination und Einführung Aufsehen, weil er an diesem Festtag die Gemeinde eindringlich zur Buße rief. Es ging ihm von Anfang an um den Aufbau einer Gemeinde wahrer, gläubiger Christen. Mit dem in einer bürgerlich-volkskirchlichen Gemeinde üblichen und erwarteten Dienst wollte er sich nicht zufrieden geben. So benutzte er Verbindungen zur Erweckungsbewegung in Lippe und Ravensberg, um zwei junge Leute aus dem Fürstentum Lippe nach Altena einzuladen, die Gruppenstunden leiten und eine Erweckung fördern sollten. Das führte zu lautstarken Protesten vieler Bürger vor dem jeweiligen Versammlungsort, so dass der Bürgermeister Rauschenbusch um Zurückhaltung und Mäßigung bat. Noch deutlicher wurde Rauschenbuschs Kompromisslosigkeit beim Versuch der Durchsetzung seines Beschlusses, einem Konfirmanden, der der Lüge und der Unterschlagung eines Pakets beschuldigt wurde, die Konfirmation zu verweigern. Nicht einmal dem vermittelnden Vorschlag seines Superintendenten, den Jungen in einer anderen Gemeinde konfirmieren zu lassen, konnte er zustimmen. Dabei ging es Rauschenbusch weniger um die Konfirmation als um die Zulassung zur Feier des Abendmahls. Er wollte sich nicht damit abfinden, das Abendmahl mit Menschen zu feiern, die er wegen ihres Lebenswandels nicht als wahre Christen anerkennen konnte.48 Es waren derartige Beschwernisse, die Rauschenbusch den Entschluss, nach Amerika zu gehen, erleichterten. Von der großen Freiheit in der Neuen Welt erhoffte er sich vielfältige Gelegenheiten, am Bau der wahren Kirche mitzuwirken.49 Am 16. Juni 1846 fand in Elberfeld der Aussendungsgottesdienst statt. In St. Louis (Missouri) angekommen sollte er eigentlich eine Pfarrstelle in einer wachsenden deutschen Gemeinde antreten. Als sich das aus verschiedenen Gründen zerschlug, kam er bald in Kontakt mit der American Tract Society und wurde nach einigen Monaten des Dienstes als Kolporteur im Jahr 1847 deren Sekretär für deutschsprachiges Schrifttum. Sein Einsatz dort war äußerst erfolgreich. Bald verantwortete er die Arbeit von 70 deutschsprachigen Kolporteuren und war Herausgeber der Zeitschrift Amerikanischer 47 Es ist sinnvoll, Rauschenbuschs Bekehrung mit allen ihren Konsequenzen unter dem Thema „Heiligungsbewegung“ einzuordnen, obwohl er selbst diesen Begriff wohl nicht kannte. Zum biblischen Begriff der Heiligung gehört neben der geistlichen Erfahrung auch die ethische Bewährung, wie sie August Rauschenbusch mit manchmal in Gesetzlichkeit abgleitender Strenge forderte. Hier wird dann auch die Brücke zu der von Augusts Sohn Walter beeinflussten Bewegung des Social Gospel deutlich, die die individuelle Heiligung auf den sozialen und politischen Bereich übertrug. 48 Mit dieser Haltung bewegte sich Rauschenbusch nicht außerhalb der Grenzen der rheinisch-westfälischen Kirchenordnung von 1835. In deren Vorbereitung hatte man die Frage der Kirchenzucht behandelt, aber keine eindeutige Formulierung finden können. Die Provinzialsynode von 1844 beschloss schließlich, der Pfarrer könne in eigener seelsorgerlicher Verantwortung und ohne Beteiligung des Presbyteriums einen Ausschluss vom Abendmahl aussprechen. Dem Presbyterium solle nur auf Verlangen des Betroffenen Mitteilung gemacht werden. 49 Bekannter sind ähnliche Bemühungen von Wilhelm Löhe (1808-1872), der Sendlinge nach Ohio schickte, um dort eine wahre lutherische Kirche aufzubauen. 30 Botschafter, die mit einer Auflage von 10.000 Exemplaren zu einer der größten deutschsprachigen Zeitschriften des Landes wurde. Aber Rauschenbusch musste bald einsehen, mit diesem Dienst der Erfüllung seines selbst gestellten Auftrags nicht näher kommen zu können. Zwar hatte er einen unvergleichlich großen Einflussbereich, konnte ihn aber nicht so für den Bau der wahren Kirche nutzen, wie er es wünschte. Die American Tract Society wurde wie alle amerikanischen Gesellschaften dieser Art von einer Gruppe überzeugter Christen getragen, die sich der Ausbreitung und Vertiefung des Christentums über erbauliches Schrifttum verschrieben hatten. Es ging ihnen um ein alles gesellschaftliche Leben begründendes allgemeines Christentum, das sich nicht in feste kirchliche Grenzen fassen ließ. Ein reines Christentum sollte gefördert werden, nicht der Aufbau von Denominationen. Deren Sonderlehren durften darum von den Mitarbeitern nicht vertreten werden. Rauschenbusch konnte sich also wohl für Christlichkeit einsetzen, aber nicht für den praktischen Aufbau einer wahren Gemeinde. Darüber hinaus war er zu der Überzeugung gekommen, zur Abgrenzung der wahren Gemeinde gehöre zwingend die Erwachsenentaufe als öffentliches Siegel wahren Glaubens. Das konnte er im Rahmen der Traktatgesellschaft nicht vertreten. Rauschenbusch ließ sich im Jahr 1850 taufen und verließ drei Jahre später den Dienst der Traktatgesellschaft. Er brach zunächst zu einem einjährigen Aufenthalt nach Deutschland auf und begann nach dort erfolgter Heirat anschließend wieder in Missouri unter den zahlreichen Deutschen, insbesondere unter den ihm besonders vertrauten Westfalen, eine eigene Gemeinde aufbauen. Er gründete die Pin Oak Creek Baptist Church und taufte dort im Laufe von drei Jahren 21 Personen. Richtschnur war ihm dabei eine selbst verfasste Gemeindeordnung, die dazu beitragen sollte, aus der Gemeinde sichtbar und erfahrbar eine Gemeinde der Heiligen zu machen. So werden dort in der Hauptsache die Binnenverhältnisse der Gemeinde behandelt. Entscheidende Voraussetzung zur Aufnahme ist die Bekehrung. Die Taufe wird als selbstverständliche Folge der Bekehrung eher nebenbei erwähnt. Erst nach der Aufnahme empfängt das neue Gemeindeglied die Taufe und wird dann auch in die Abendmahlsgemeinschaft aufgenommen.50 Schon 1858 verließ Rauschenbusch seine Gemeinde, um in Rochester (New York) die Verantwortung für die Ausbildung der Prediger der jungen deutschen baptistischen Denomination zu übernehmen. Diese Entscheidung ist ihm schwer gefallen. Er hatte sie jahrelang mit sich herum getragen, da er eigentlich nie in aller Öffentlichkeit als Mitglied einer einzelnen Denomination genannt werden wollte. Dies widersprach zutiefst seinen Zielen, so dass er auch in Rochester weiter seine Überzeugungen von der einen wahren Kirche Jesu Christi lehrte. 3. Taufverständnis August Rauschenbusch hat sich am 19. Mai 1850 (Pfingsten) im Mississippi bei St. Louis taufen lassen. Zwei Wochen vorher schrieb er einen ausführlichen Brief über seine Arbeit an die Langenberger Gesellschaft, in dem er im letzten Drittel seine Taufabsicht erwähnte und begründete. Er gab darin zu, die von ihm angeführten theologischen Argumente seien nicht neu. Ihm sei jetzt nur klar geworden, er sei noch nicht getauft. Eine Taufe vor der Bekehrung könne nicht eine biblisch gültige Taufe sein. Warum er nach seiner Bekehrung in Berlin 15 Jahre wartete, bis er sich zu diesem Schritt entschloss, bleibt offen. Rauschenbusch schrieb, eigentlich sei er schon seit zwei Jahren Baptist und vollziehe nun auch äußerlich, was er schon lange vertrete. Damit bezog er sich auf sein Zusammenleben mit der Familie Wagner, in deren Haus in Williamsburg er während seiner Arbeit in New York zeitweise wohnte, Gustav Wagner war als Baptist aus religiösen Gründen aus Deutschland ausgewandert und arbeitete als Setzer in der Druckerei der Tract Society. Seine amerikanische Frau hatte eine ältere Tochter in die Ehe gebracht und sie hatten dazu drei eigene Kinder bekommen. Mit der Familie Wagner hatte Rauschenbusch erlebt, wie die zunächst unbekehrte Tochter zur Vergebung der Sünden gelangte und daraufhin getauft wurde. Die selbstverständliche Folgerichtigkeit des Weges vom sündigen 50 Die Gemeindeordnung ist vollständig abgedruckt in Thimme, August Rauschenbusch. 285-293. 31 zum bekehrten Leben, was dann mit der Taufe besiegelt wurde, hat Rauschenbusch beeindruckt. Hier erlebte er in menschlicher Nähe, wie der Weg der Heiligung in aller Selbstverständlichkeit gegangen werden konnte. Das hat ihm den Anstoß gegeben, selber diesen Weg zu gehen. Dies erweckt den Eindruck, als sei August Rauschenbusch eher zufällig auf einen baptistischen Lebensweg geraten. den. Hätte Rauschenbusch etwa in einer methodistischen Familie den Weg zur Bekehrung miterlebt, wäre die Taufe vermutlich kein besonderes Thema für ihn geworden. Bis zu seinen Erlebnissen bei Familie Wagner hatte Rauschenbusch zwar oft über das Abendmahlsgemeinschaft nachgedacht aber nur wenig über die Taufe. Immer aber war sein Hauptthema die Suche nach einem klaren Weg in das Leben eines wahren Christen. Die Selbstbezeichnung als Baptist gegenüber der Langenberger Gesellschaft ist darum genauer zu bestimmen. In einem Brief, in dem Rauschenbusch seiner Mutter und Schwester über seine Taufe schreibt, stellt er klar: „Ich will feierlich bezeugen, ich gehöre keiner anderen Kirche an, als der ich seit 15 Jahren angehört habe. Daran hat sich durch die Taufe nichts geändert. Das habe ich auch vor meiner Taufe feierlich erklärt, dass ich durch diesen Schritt nicht zu einer anderen Kirche übertrete, als in der ich bisher war, nämlich der Kirche Jesu Christi. Ich bitte auch, in Briefen nicht zu sagen, ich sei der Baptistenkirche beigetreten. Wir wissen von keiner Baptistenkirche, die Schrift auch nicht, sondern nur von der Kirche Jesu Christi, die eins ist und alle Gläubigen umfasst.“51 Der Zwiespalt zwischen seiner Überzeugung, die Gläubigentaufe sei Bedingung der Mitgliedschaft in der wahren Kirche und der Notwendigkeit, sie in der baptistischen Denomination zu empfangen, zeigt sich auch an den äußeren Umständen der Taufe. Er schildert in dem erwähnten Brief, wie er einer größeren Gruppe lippischer Einwanderer das Wesen der Taufe erläutert habe und daraufhin ein Großteil der Gruppe zur Überzeugung gekommen sei, noch nicht getauft zu sein. Die Mehrzahl von ihnen wurde daraufhin im Baptisterium der baptistischen Gemeinde in St. Louis getauft. Er selbst lud einen Bruder aus New York ein, der ihn im Mississippi taufen sollte, und einige andere aus der Gruppe schlossen sich ihm an. Rauschenbusch redete nie von einer formellen Mitgliedschaft in der Gemeinde von St. Louis, obwohl es sie in irgendeiner Form gegeben haben muss, damit die Taufe auch in anderen Gemeinden anerkannt wurde. Als er später als ehrenamtlicher Prediger in einer Gemeinde in New York wirkte, setzte er einen Synodenbeschluss durch, der seine Ordination in Deutschland für gültig erklärte, obwohl er sie als „Ungetaufter“ empfangen hatte. Denn damals sei seine in der Bekehrung empfangene Geistesgabe zum Predigtamt bestätigt worden, die Taufe habe dem nichts hinzugefügt. Zusammenfassend lässt sich konstatieren, dass Rauschenbusch seine in Deutschland erworbenen Überzeugungen in Amerika nicht geändert und nicht einmal weiter entwickelt hat. Er nahm einfach dankbar die sich bietende Möglichkeit wahr, sie unter den Bedingungen des amerikanischen Kirchenwesens zu verwirklichen. Auch als Prediger und später als theologischer Lehrer blieb sein eigentliches Arbeitsziel immer die Darstellung der wahren Gemeinde Jesu Christi auf Erden. Weil es ihm um das in seinen Augen unverkürzte Christuszeugnis ging, war nach seiner Überzeugung mit seiner Taufe kein Konfessionswechsel verbunden. Darum sah er auch keinen Grund für eine Trennung von der Langenberger Gesellschaft. Wie die American Tract Society um der Umsetzung einer Aufgabe willen Mitglieder verschiedener Konfessionen zusammenführte, so sah er auch die Langenberger Gesellschaft als von der Kirche unabhängige Organisation von Christen und hatte damit auch Recht. Aber unter den Bedingungen der Staatskirche gab es in Deutschland noch nicht die Möglichkeit, dass diese Christen aus verschiedenen Kirchen kommen konnten. Das versuchte er in einem ausführlichen Brief zu erklären und erläuterte gleichzeitig, wie er von Amerika aus der Gesellschaft nützlich sein konnte. Die Langenberger Gesellschaft jedoch sah sich als Institution innerhalb der Staatskirche und meinte sich darum von Rauschenbusch trennen zu müssen. 51 Brief von August Rauschenbusch an seine Mutter und Schwester vom 23.5.1850, Oncken-Archiv Elstal, ohne Standortangabe. 32 4. Deutsch in Amerika Als einziger akademischer Theologe seiner Baptisten-Gemeinschaft versuchte August Rauschenbusch von Rochester aus in aller Offenheit das durchzusetzen, was er schon in Deutschland angestrebt hatte. Als wahrhaft bekehrter und getaufter Christ erklärte er nicht nur seinen Studenten, sondern unermüdlich landauf landab in den Gemeinden, wie Glieder der wahren Kirche Christi leben sollten. So vertrat er mit aller Konsequenz energisch die Forderung nach einem „geschlossenen“ Abendmahl. Da nur bekehrte Christen getauft werden könnten und die Taufe Voraussetzung der Teilnahme zum Abendmahl sei, könnten Baptisten nur in baptistischen Gemeinden an der Feier des Abendmahls teilnehmen. Eine Zulassung von als Kinder getauften oder gar nicht getauften Christen sei nicht möglich. Derartig strenge Richtlinien waren vermutlich ein Grund dafür, warum sich die Zahl der deutschen Baptisten nicht so schnell vergrößerte, wie es etwa ihre amerikanischen Brüder und Schwestern erwartet und gehofft hatten. Ein anderer wichtiger Grund war der fehlende Wille der deutschen Baptisten zur Integration in den englischen Sprachraum. Rauschenbusch trat bis zum Ende seines Dienstes in Rochester kompromisslos für den ausschließlichen Gebrauch der deutschen Sprache in Gemeinde und Familie ein. Seine Kinder sollten auch untereinander nur Deutsch sprechen. Durch ausführliche Besuche in Deutschland wollte er die Verbundenheit seiner Familie mit Deutschland stärken. Seinen Sohn Walter schickte er von 1879-1883 auf das Gymnasium nach Gütersloh, um dort das Abitur zu machen.52 In seinem Eintreten für deutsche Sprache und Kultur wusste er sich einig mit allen bestimmenden Vertretern der Gemeinschaft der deutschen Baptisten. Man erwartete von den Gemeinden, Deutschkurse einzurichten und beklagte, die Deutschen legten zu wenig Wert auf ihr kulturelles Erbe. Das Verhältnis von Deutschen zu Amerikanern sei mit dem der Griechen zu den Römern zu vergleichen. Deutsches stand dabei für Geistiges und Amerikanisches für Praktisches und Nützliches. Deutsche würden den besten Beitrag zur Entwicklung Amerikas leisten, wenn sie konsequent an ihrer Sprache und Kultur festhielten. Den amerikanischen Baptisten fiel es oft schwer, dieses Bestehen auf der deutschen Sprache auszuhalten. Zu einem ernsthaften Problem wurde die Auseinandersetzung zwischen deutschen und englischen Gemeinden aber solange nicht, wie die deutschen Gemeinden konsequent von der Baptist Home Mission Society unterstützt wurden. Sie hielt starke deutsche Gemeinden für eine wesentliche Voraussetzung für den Erfolg der Mission unter deutschen Einwanderern. Trotzdem fühlten sich die deutschen Gemeinden immer wieder ungenügend unterstützt. Die meisten von ihnen waren aus deutschen Landeskirchen gekommen und hatten erst in Amerika zum Baptismus gefunden. Sie konnten sich nicht von der Erfahrung der Gemeinden in Deutschland lösen, die sich um Geld, Grundstücke, Gehälter und andere praktische Fragen der Institution nicht zu kümmern brauchten, weil dafür staatliche Stellen verantwortlich waren. Die überwiegende Mehrzahl deutscher Christen in Amerika tat sich schwer, selber Verantwortung für Organisation und Finanzwesen ihrer Gemeinde zu übernehmen. Die theologische Schule der Deutschen war auf Veranlassung der Amerikaner als Abteilung des englischen Seminars in Rochester gegründet worden. Zwar hatte man wenig Verständnis für das starre Festhalten der Deutschen an ihrer Sprache, aber man ging pragmatisch damit um. Die Bekehrung der wachsenden Zahl der deutschen Einwanderer war das bestimmende Ziel. Wenn es nicht auf Englisch ging, dann sollte es eben mit deutschsprachigen Kräften erreicht werden. Man beschloss darum bereits 1852, Gehalt und Ausstattung für einen deutschen Dozenten zu finanzieren. Rauschenbusch zögerte unter anderem auch deswegen so lange, dieses Angebot anzunehmen und kam erst sechs Jahre später nach Rochester, weil er bezweifelte, die Deutschen seien selber bereit, die volle Verantwortung für die Ausbildung ihrer Prediger zu übernehmen. Tatsächlich zahlten die Amerikaner noch bei Rauschenbuschs Ausscheiden die Hälfte aller Kosten für das deutsche Seminar. Keiner der Gründerväter der deutschen Baptisten in Amerika hatte bereits in Europa Kontakt zum organisierten Baptismus gehabt, obwohl einige vor ihnen schon vor ihrer Auswanderung 52 Vgl. Christopher H. Evans, The Kingdom is Always but Coming: A Life of Walter Rauschenbusch, Grand Rapids 2004, 23. 33 aus Deutschland oder der Schweiz die Erwachsenentaufe vertreten hatten. Johann Gerhard Oncken wurde 1834 von dem Amerikaner Barnas Sears in Hamburg getauft, der am College der Baptisten in Hamilton (New York) unterrichtete, der Vorgängerinstitution des englischen Seminars in Rochester. Vielleicht war das auch ein Grund, warum es bei seiner Predigtreise durch die USA im Jahr 1853 nicht zu einem Kontakt mit den deutschen Baptisten kam. Das Reiseprogramm wurde allerdings auch durch Onckens Verwicklung in einen Eisenbahnunfall durcheinander gebracht. Andererseits unterstützten die deutschen Baptisten Amerikas in vielfacher Weise ihre Glaubensgeschwister in Deutschland. Philipp Bickel etwa, der zunächst ein erfolgreicher Pfarrer in Cincinnati (Ohio) wurde, war einer der Studenten Rauschenbuschs. Später ging er im Auftrag der American Baptist Publication Society nach Deutschland, um Oncken in seiner Verlagsarbeit zu unterstützen und abzulösen. Er verlegte den Verlag nach Kassel und machte ihn dort zu einem erfolgreichen Unternehmen. Auch Georg Fetzer war Rauschenbuschs Student und wurde zudem noch sein Schwiegersohn. Er ging zum weiteren Studium nach Deutschland und wurde in den 1870er-Jahren Prediger der baptistischen Gemeinde in Volmarstein (bei Hagen). Schließlich wurde er als erster Leiter des neuen deutschen Seminars der Baptisten nach Hamburg gerufen. In seiner Familie verbrachte Rauschenbusch seinen Lebensabend und starb dort am 3. Dezember 1890. 34 Ekkehard Hirschfeld Ernst Ferdinand Ströter – Endzeitspezialist zwischen den Kontinenten Ernst Ferdinand Ströter, geboren 1846 in Barmen, wuchs in einem reformierten Elternhaus auf.53 Nach Abschluss seiner Schulzeit in Bonn studierte er evangelische Theologie in Bonn, Tübingen und Berlin. Nachhaltig beeinflusst wurde Ströter dabei durch den Tübinger Systematiker Johann Tobias Beck. Es waren Becks Formalprinzip einer allein der Schrift verpflichteten Theologie, seine offenbarungs- und entwicklungstheologische Hermeneutik, die heilsgeschichtliche Grundausrichtung seiner Theologie sowie eine ausdifferenzierte, zukünftig-real verstandene Eschatologie, die Ströters Denken unübersehbar geprägt haben. Als Hauslehrer bei einer amerikanischen Familie in Paris konvertierte Ströter 1869 zum Methodismus und wanderte noch im selben Jahr in die USA aus. Hier wirkte er als junger Prediger des deutschsprachigen bischöflichen Methodismus zunächst an der Ostküste. 18721879 ging er, mittlerweile verheiratet, zunächst als Pionierprediger nach Texas und anschließend in zwei größere Gemeinden nach Minnesota. Von 1884-1890 lehrte er als Professor für Historische und Praktische Theologie am methodistischen Central Wesleyan College in Missouri und von 1890-1894 als Professor für Latein an der Universität Denver. 1894 siedelte er nach New York über, von wo aus er als Judenmissionar, Herausgeber der judenmissionarischen Zeitschrift Our Hope und freier Redner seinen Wirkungsradius wieder nach Europa einschließlich Russlands und bis ins damalige Palästina ausdehnte, bis er 1897 schließlich nach Deutschland zurückkehrte. 1. Der dispensationalistische Prämillenniarismus Bereits durch Johann Tobias Beck einer heilsgeschichtlichen Theologie verpflichtet, übernahm Ströter 1880 den dispensationalistischen Prämillenniarismus John Nelson Darbys. Mit seinem Dispensationenmodell (Einteilung der Heilsgeschichte in unterschiedliche Haushaltungen) und seinem Prämillenniarismus vertrat Darby ein ausgesprochen kirchen- und auch gesellschaftskritisches Geschichtsmodell, das von einer krisenhaften Zukunft der Welt, gefolgt von Christi Wiederkunft und anschließendem Tausendjahrreich ausging. Dieses System pessimistischer Deutung der Welt samt ihrer Gesellschaften, staatlichen und kirchlichen Institutionen hatte in den USA besonders in der Ära nach dem Sezessionskrieg an Boden gewonnen und stand in Konkurrenz zum damals in den USA dominierenden System des Postmillenniarismus. Dieser erwartete die Verbesserung und Christianisierung der Welt bis zum Eintritt des Tausendjahrreiches und erst anschließend Christi Wiederkunft auf Erden. Untrennbar mit Darbys System des dispensationalistischen Prämillenniarismus verbunden waren auch die theologischen Grundlagen und eschatologischen Verfeinerungen. Dazu gehörten etwa die Hermeneutik einer Verbalinspiration der Schrift sowie eine theologische und real-politische Aufwertung Israels – namhafte christliche Unterstützer des damaligen Zionismus standen auf dem Boden des Prämillenniarismus. Ströter entwickelte sich zum einflussreichsten deutschsprachigen Vertreter des dispensationalistischen Prämillenniarismus in den USA, wo er besonders über Konferenzen und durch Zeitschriftenartikel wirkte. Er fand für dieses theologische Modell jedoch keine Unterstützung in seiner methodistischen Mutterkirche, was zu einer inneren Entfremdung Ströters von ihr führte, auch wenn er zeitlebens Methodist blieb. 2. Die Theologisierung der Theologie Als Ströter kurz vor der Jahrhundertwende nach Europa zurückkehrte, stand er im Wesentlichen für ein von Beck und Darby herkommendes, aber eigenständig verfeinertes theologisches Programm. Als Leitgedanke seiner Programmatik lässt sich die Formel einer „Theologisierung der Theologie“ fassen. 53 Zu Ströter vgl. bisher Karl Heinz Voigt, Ströter, Ernst Ferdinand, in: BBKL 11 (1996), Sp. 89-93. Außerdem bisher noch unveröffentlicht: Ekkehard Hirschfeld, Ernst Ferdinand Ströter: Eine Einführung in sein Leben und Denken, Diss. masch., Greifswald 2010. 35 Dreh- und Angelpunkt von Ströters Theologie – hier ist deutlich auch sein reformiertes Erbe sichtbar – bleiben die Göttlichkeit, die Souveränität, die Macht und die Treue Gottes. Gott ist und bleibt der Souverän seiner Schöpfung, seiner Geschöpfe und der Heilsgeschichte, die er zu einem letzten Ziel führt. Gott geht dabei planvoll vor, um seine ganze Schöpfung zu erlösen und zu vollenden: „Die gesamte Darstellung des göttlichen Schöpfungswerkes in Himmel und Erde erscheint dem prüfenden Blick als ein großartiges Modell, als gewaltiges, zielbewusstes Schema für seine unermesslichen, aber unfehlbar sicheren Wiederherstellungsgedanken und -pläne mit einer Schöpfung, die unter die Gewalt des Bösen und des Todes geraten. Die ganze Welt- und Reichsgeschichte hat kein anderes Motiv als die endliche Lösung all der verwickelten, für das rein menschliche Denken unergründlichen und für menschliches Können unerreichbaren Probleme, die aus der Herrschaft des Bösen in der Welt der Geschöpfe erwachsen sind. Gott kommt schließlich mit seiner Schöpfung zur Ruhe.“54 Dabei zielte Ströters Kronargument auf die Integrität des göttlichen Wesens und auf die Göttlichkeit Gottes: „Die große Frage ist nicht, was wird aus all den verlorenen Geschöpfen, Menschen oder Engeln, sondern was wird aus dem Charakter, dem Wesen, den Eigenschaften unsres großen Schöpfer- und Rettergottes?“55 Mit dieser „Theologisierung der Theologie“, die zwar erst der späte Ströter in dieser Schärfe formuliert, die er aber bereits früh durch theologische Entscheidungen eingeleitet hat, korrelieren einige weitere theologische Paradigmen. Hinsichtlich des Schriftverständnisses gilt nicht das als entscheidend, was der Mensch über Gott denkt, sondern was Gott von sich sagt, wie er sich offenbart. Damit versteht Ströter die Schrift als Gottes untrügliche, verbindliche, autoritative Offenbarungsurkunde, die historisch und prophetisch-zukünftig wahr ist. Möglich wird die Behauptung der Widerspruchslosigkeit und heilsgeschichtlicher Relevanz der Schrift durch die konsequente Unterscheidung der Adressaten, besonders Israels und der Gemeinde, dem sog. „Schriftteilen“. Das Schriftteilen impliziert ein chronologisches Verstehen der Offenbarung. Obwohl Ströter Darbys Dispensationenmodell nicht im Detail übernimmt, liegt in dieser heilsgeschichtlich-chronologischen Ausdifferenzierung der Schlüssel zu seinem Verständnis, dass die Schrift in sich harmonisch und widerspruchsfrei ist. Dabei geht die „Theologisierung der Theologie“ nicht auf Kosten der Christologie: Christus ist und bleibt die zentrale Offenbarung Gottes und ist darin Inbegriff der Schöpfung, der Erlösung und der Vollendung. Das Christusereignis – Fleischwerdung, Kreuzigung, Auferstehung und Verherrlichung – ist das Zentrum der göttlichen Heilsgeschichte, denn im Christusereignis werden hinsichtlich der universalen Erlösung der gesamten Kreatur die Fragen nach dem Rechtsanspruch, nach dem Willen und nach der Macht Gottes beantwortet. In Bezug auf sein Gemeindeverständnis hegte Ströter eine ausgeprägte Skepsis gegenüber Kirche und Kirchentümern, gegenüber der kirchlichen Christenheit überhaupt, die er als abgefallene, verdorbene Christenheit begriff. Dagegen stellte Ströter die Gemeinde aus Juden und Nichtjuden, eine neue Heilskörperschaft, die sich Gott in diesem Zeitalter (Äon) zubereite, um mit ihr als Werkzeug in Zukunft weiteres Heil zu schaffen. Dazu formulierte Ströter ein neues Verständnis von Erwählung. In einem längeren Prozess hatte sich Ströter – in Auseinandersetzung mit seiner eigenen reformierten Tradition – von der calvinistischen Lehre einer doppelten Prädestination gelöst. Er verstand Erwählung nun nicht mehr soteriologisch exklusiv – nur die zur Gemeinde Gehörenden würden gerettet, alle anderen seien verdammt –, sondern inklusiv: Die Erwählten bzw. die Gemeinde sind nur Werkzeug, mit dessen Hilfe im Lauf der Heilsgeschichte weitere Menschengruppen errettet werden. Diese wahre Gemeinde ist nicht konfessionell, kulturell, geschichtlich oder territorial gebunden, sondern eine geistliche Größe, die sich jedoch im Glaubenden bzw. der Gemeinschaft der Glaubenden realisiere. Allerdings sei die Aufgabe dieser Gemeinde für die Gegenwart nicht die Evangelisierung oder Christianisierung der Welt, die Verchristlichung ganzer Völker oder Kontinente, gar noch durch Massentaufen, sondern die Herausrufung Einzelner aus allen Völkern. Diese Sammlung und Zubereitung der Gemeinde geschehe durch Leid und Verfolgung, durch ihre Christusnachfolge, in der sie dem leidenden Christus gleichgestaltet werde. 54 55 Ernst Ferdinand Ströter, Das Evangelium Gottes von der Allversöhnung in Christus, Chemnitz o. J. [1916], 80-81. A.a.O., 252. 36 3. Die Israeltheologie Besondere Beachtung verdient Ströters Israeltheologie. Ströter verstand Israel als bleibend auserwähltes Volk Gottes und Träger des Heils. Die nationenchristliche Kirche habe Israel nicht beerbt oder enterbt, sondern im Gegenteil: Die theologische und physische Missachtung Israels werde als Gericht über die Christenheit zurückfallen. Israel erlebe in dieser Zeit eine Krise, eine Zurückstellung, solange die Gemeinde gesammelt wird, werde aber am Ende der Trübsalszeit den dann wiederkommenden Christus als seinen Messias erkennen. Somit seien Israel und die Gemeinde zwei zu unterscheidende, sich aber – heilsgeschichtlich betrachtet – ergänzende Heilskörperschaften. Im Unterschied zu fast allen damaligen Judenmissionsgesellschaften lehnte Ströter es ab, an Christus glaubende Juden aus ihrer nationaljüdischen Existenz zu reißen. Vielmehr sollten sich diese in judenchristlichen Gemeinden sammeln und weiterhin in Observanz der Thora, d. h. der Beschneidung, des Schabbath, der Speisegebote, der Reinheitsvorschriften usw. leben. Für dieses Anliegen hat Ströter nicht nur literarisch und auf Vorträgen, oftmals in Russland, in Südafrika und im damaligen Palästina geworben, sondern er versuchte auch durch die Gründung einer Gesellschaft, judenchristliche Projekte wirtschaftlich zu unterstützen. Daneben bekämpfte Ströter jede Form des Antijudaismus, auch noch kurz vor seinem Lebensende: „Wenn noch etwas fehlte, um jedem wahren Christen die Augen zu öffnen über den Abgrundscharakter des organisierten Antisemitismus, der sich in das Engelsgewand eines Verteidigers ‚echt-deutscher Frömmigkeit’ kleidet, dann ist es das von ihm selbst erwählte Zeichen des – Hakenkreuzes! Das Symbol der erlösenden Liebe Gottes in Christo mit – Teufelskrallen! Das allein sollte genügen, jedem ernsten Christen zu offenbaren, was das für ein Geist sei, der den heutigen Antisemitismus beseelt und treibt.“56 Hinsichtlich seiner Eschatologie erwartete Ströter nicht – postmillenniaristisch – das Reich Gottes auf Erden, sondern eine Zeit der Krise, des Abfalls besonders der Christenheit, den, wie er es gerne nannte, „Bankrott“ des Menschen in all seinen Selbsterlösungs- und Selbstheilungsversuchen. Am Ende dieses Zeitalters stehe nicht die Weltmission, sondern die Entrückung der Gemeinde zu Christus. Es folge die siebenjährige Trübsalszeit als Zeit des globalen Gerichtshandelns Gottes, aus der das Millennium unter der Königsherrschaft Christi hervorgehe. Im Tausendjahrreich dann finde auch Israel endlich zur Erfüllung bzw. die Erfüllung aller ihm zugesagter Verheißungen, nämlich Zeuge Gottes, das Missionsvolk der Erde zu sein. 4. Das Heiligungsverständnis Da Ströter als Methodist zu einer Kirche gehörte, aus der zahlreiche Heiligungsimpulse hervorgegangen sind, interessiert auch sein Verständnis von Heiligung. Besonders in seinen jungen Jahren in den USA war Ströter offen für das Heiligungsanliegen. Allerdings fand bei ihm im Lauf der Jahre eine bemerkenswerte Akzentverschiebung statt, denn er sprach nun weniger von „Heiligung“ als mehr von „Heiligkeit“: Heiligkeit als Eigenschaft Gottes, die dieser dem Menschen zueigne, und zwar in Christus, der alles Unheilige, alles Sündige am Kreuz tilge. Damit hat Heiligkeit nichts mehr mit primär menschlichem Handeln zu tun, denn Heiligkeit „ist nicht länger ein menschliches Streben und Sichstrecken hinauf zur göttlichen Höhe, – es ist das Eingehen Gottes in seiner Liebesfülle zu bleibender Lebensgemeinschaft mit dem Menschen“.57 So verstand Ströter Heiligkeit als etwas in und durch Christus dem Menschen durch Gottes Handeln Zugeeignetes. „Das Werk unsrer Durchheiligung ist Gottes, und nicht unser. [...] Nein, es bleibt dabei, es gilt jagen nach der Heiligung. Aber das ist nicht eigenes Mühen und Schaffen, sondern nur das tiefgläubige, gehorsame Eingehen des Herzens auf die köstliche geoffenbarte Wahrheit, daß Christus, wie unsre Gerechtigkeit, so auch unsre Heiligung ist, vom Vater.“58 Ströters Programm einer „Theologisierung der Theologie“ führt schließlich zu einem Punkt, der besonders in Ströters Auseinandersetzung mit Pfingst-, Allianz- und Gemeinschaftsbewegung deutlich wurde: der Bekämpfung eines christlichen Heilssubjektivismus. Ströter, „Gottes Gedanken mit Israel“, in: Das Prophetische Wort 17 (1923), 190-191. Ströter, „Heiligkeit“, in: Wegweiser zur Heiligung, Heft 9 (1893), 27. 58 Ströter, „Die Thessalonicherbriefe“, in: Das Prophetische Wort 5 (1911), 306. 56 57 37 Nicht das persönliche Heil – um nicht zu sagen: egoistisches Heilsstreben – soll nach Ströter im Vordergrund christlichen Lebenswandels stehen (und auch nicht die Unmündigkeit vieler Christen, die sich dann wieder an bestimmte Verkündiger als Autorität hängten), sondern der an der Schrift geschulte Blick für Gottes heilsgeschichtliches, universales Handeln, das die Erlösung der ganzen Schöpfung zum Ziel hat: Die „wahre, nüchterne Erkenntnis vom Leibe Christi hebt aus der ganzen subjektivistischen Gebundenheit und Befangenheit heraus. Man hört dann auf, sich und die ganze Gottesoffenbarung nur um das eigene gerettete Ich drehen zu lassen. Man bekommt zentralen Blick dafür, daß es sich bei dem ‚Gott war in Christo’ um mehr handelt, als darum, daß wir gerettet werden. Sünde, Gnade und Rechtfertigung kommen durchaus zu ihrem Recht, können aber nicht mehr das ganze Gesichtsfeld beanspruchen. Israel bekommt seinen Platz, die Gemeine den ihrigen. Die Heiligung wird gesund erfaßt und hört auf fromme Spezialität zu sein. Wert und Bedeutung der Geistesgaben bekommen ihre entsprechende Beleuchtung vom Zentrum aus: Gott in Christo; Christus in uns, die Hoffnung der Herrlichkeit; wir ein Leib mit ihm.“59 5. Zurück in Europa Mit diesem theologischen Programm – das Ströter in seinen letzten Lebensjahren noch weiter verfeinerte – kehrte er zuerst 1897 und endgültig 1899 nach Europa zurück. In Deutschland lebte er an verschiedenen Wohnorten – im Rheinland, in Berlin, im Harz – und unternahm zahlreiche Reisen besonders nach Russland. 1912 zog Ströter mit seiner Frau aus familiären Gründen in die Schweiz, nahm 1919 die Schweizer Staatsbürgerschaft an und verstarb 1922 in Zürich. Ströter arbeitete als freier Reiseprediger und Judenmissionar überdenominationell. Er war an keine Ortsgemeinde gebunden, sondern erreichte sein Publikum auf Konferenzen, bei Versammlungen und über seine Veröffentlichungen – durch seine eigene Zeitschrift Das Prophetische Wort, Artikel in anderen Zeitschriften, Monografien, Kleinschriften, einen eigenen Verlag und nicht zuletzt durch seine judenchristliche Ammiel-Gesellschaft. Eine hohe Präsenz zeigte Ströter besonders auf Konferenzen auf dem Boden der Allianzbewegung – der Blankenburger Allianzkonferenz, der Tersteegensruhkonferenz, der Harz-Konferenz und weiteren –, auf lokalen und (über)regionalen Gemeinschaftskonferenzen wie der Gnadauer Pfingstkonferenz, in methodistischen Gemeinden, aber auch in CVJMs, Freien evangelischen Gemeinden und vielen mehr. Oft sprach er, besonders in Blankenburg und auf der Tersteegensruhkonferenz, als Hauptreferent. Damit darf Ströter im Zeitraum 1898-1908 als der profilierteste und vehementeste Vertreter des dispensationalistischen Prämillenniarismus in Deutschland und der Schweiz gelten. Hier versuchte Ströter mit Nachdruck, seiner Zuhörer- und Leserschaft für seine Theologie zu gewinnen. Seine Verkündigung widmete sich speziell der besonderen heilsgeschichtlichen Rolle Israels mit ihrer real-politischen Relevanz, der Sammlung und Zubereitung der Gemeinde als heilsgeschichtlichem Proprium des gegenwärtigen Zeitlaufs, der Erwartung der Wiederkunft Christi zur Entrückung seiner Gemeinde und nicht zuletzt immer wieder der zeitgeschichtlichen Analyse unter prämilleniaristischem Blickwinkel. Besonders beim letztgenannten Punkt nahm Ströter Kirchen, aber auch besonders die Gemeinschafts- und die Pfingstbewegung wegen ihrer letztlich subjektivistischen Theologie – wie er es empfand – in die Kritik. 6. Ströter verliert seinen Einfluss Nach anfänglich größerem Interesse wurde Ströters Theologie unter die der damaligen Pfingstbewegung subsumiert, obwohl Ströter selbst ein deutlicher Kritiker der Pfingstbewegung war. Diese Vermischung war nicht sachlich, doch ergab sie sich aus gewissen thematischen Überschneidungen zwischen Ströter und der damaligen Pfingstbewegung, besonders hinsichtlich einer ausgeprägten Naherwartung, Hoffnung auf die baldige Entrückung, Kritik an der etablierten Kirche und dem Gemeindeverständnis allgemein. 1908 wurde auf der Gnadauer Pfingstkonferenz Ströters Gemeindeverständnis verworfen. Kernpunkt war das Missverständnis, Ströter vertrete ein soteriologisch exklusives Gemeindeverständnis. Damit verlor auch der von Ströter vertretene Prämillenniarismus an 59 Ströter, Auf hoher Warte, in: Das Prophetische Wort 4 (1910), 380. 38 Schlagkraft. Innerhalb der neueren deutschen Erweckungsbewegung wurde zwar allgemein an einer Wiederkunftserwartung festgehalten, doch nicht in der von Darby und Ströter bekannten differenzierten Form mit ihren gemeindetheologischen Ableitungen. Damit fand seit 1908 die kirchenkritische, heilsgeschichtliche Theologie Ströters besonders bei der Gemeinschaftsbewegung kein Gehör mehr. Auch die Allianzbewegung trennte sich von Ströter. Dieser Sachverhalt wurde noch einmal gestützt durch eine spezifische theologische Weiterentwicklung Ströters, die allerdings nicht Ursache, sondern lediglich Zementierung des Bruches von 1908 war: Denn ab 1909 vertrat Ströter die Lehre von der Allversöhnung, die er eigenständig aus seinen bisherigen theologischen Positionen gewonnen hatte und als die Summe des Evangeliums verstand. Das war – gemessen an seinem theologischen Programm einer „Theologisierung der Theologie“ – konsequent, denn nur mit Hilfe der Allversöhnungslehre konnte Ströter am Grundparadigma seiner Theologie festhalten: Gott als der siegreiche Vollender der Heilsgeschichte. Ströter ist als exponierter Vertreter eines bestimmten Aspektes angloamerikanischer Theologie – des dispensationalistischen Prämillenniarismus – im Raum der damaligen neueren deutschen Erweckungsbewegung zu würdigen, dessen Theologie aber weit weniger rezipiert worden ist, als seine Rolle in den ersten beiden Jahrzehnten des vergangenen Jahrhunderts vermuten lässt. 39 Nicholas Michael Railton Die Mildmay-Konferenz und britische judenmissionarische Impulse für die deutsche Heiligungsbewegung Die Heiligungsbewegung war im Grunde, so Karl Kupisch, „ein echt deutscher Vorgang“. Er konstatierte „ein echt pietistisches Motiv“ und „eine charakteristische Abwandlung angelsächsischer Methoden“.60 Damit meinte er das Bemühen, nicht die evangelistische Großveranstaltung dominieren zu lassen, sondern das Schwergewicht auf die Gewinnung des Einzelnen zu legen und sein geistliches Wachstum nicht zuletzt durch die Pflege brüderlicher Gemeinschaft zu fördern. Anders urteilte Otto Baumgarten: „Wie tief diese angelsächsischen Einflüsse auf die Entwicklung des Gemeinschaftschristentums eingewirkt haben, kann keinem ruhigen Beobachter verborgen sein.“61 Gegen die so genannte „Engländerei“ schlugen nicht wenige Lutheraner Alarm. Paul Fleisch, der erste Historiker der Gemeinschaftsbewegung, sprach allgemein von der „Ausländerei“, die dem deutschen Gemeinschaftsmann im Blute steckte.62 Für ihn waren der Stil, die Methoden, die Lieder und die theologischen Schwerpunkte der Heiligungsbewegung importierte Pflanzen, die in den fruchtbaren deutschen Boden nicht hineingehörten. Das eingeführte Gedankengut würde leider das deutsch-evangelische Christentum „verengländern“.63 Aus dem englischsprachigen Ausland kamen aus lutherischer Sicht anstößige Neuheiten, die, wie man meinte, die eigenen kirchlichen Traditionen in Frage stellten. In einem Zeitalter des ausgeprägten Nationalbewusstseins und des imperialen Gehabes musste es zwangsläufig zu Irritationen kommen. Einem befürchteten Einströmen fremder Praktiken sah man mit höchster Skepsis entgegen: „Wir stehen also geradezu einer englischamerikanischen Invasion gegenüber“, notierte die Neue Evangelische Kirchenzeitung voller Zukunftsangst, „gegen welche unsere Gemeinden nicht hinlänglich gerüstet sind“.64 Gemeint war der Besuch von Lord Radstock in den Jahren 1874/1875, dem man darbystische Neigungen ankreidete.65 Man betrachtete solche Neuerungen fast wie Krankheitserreger, die es zu bekämpfen galt. Eine dieser neuen theologischen Ideen, die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts von England aus Eingang in die deutsche Heiligungsbewegung fand, war das Thema der Judenmission, das in diesem Aufsatz im Mittelpunkt stehen soll. Dabei muss man beachten, dass die Frage der Judenmission zwar schon seit dem Anfängen des Pietismus bei Philipp Jakob 60 Karl Kupisch, Der deutsche CVJM. Aus der Geschichte der Christlichen Vereine Junger Männer Deutschlands, Kassel 1958, 39f. Ich danke Werner Beyer für die Unterstützung bei der formalen Gestaltung dieses Aufsatzes 61 Otto Baumgarten, Engländerei im kirchlichen Leben, in: RGG 1 2, Sp. 337. 62 Paul Fleisch, Die moderne Gemeinschaftsbewegung in Deutschland. Erster Band: Die Geschichte der deutschen Gemeinschaftsbewegung bis zum Auftreten des Zungenredens (1875-1907), Leipzig 1912, 30, 81, 285. Fleisch behauptet, dass allein Eduard von Pückler (Vorsitzender des Gnadauer Verbandes zwischen 1895 und 1906) wünschte, dass die Gemeinschaftsbewegung „deutsch“ bleiben sollte. Vgl. a.a.O., 125, 366, 428, 469, 483. Aus Sicht von Arno Pagel war von Pückler „ein sehr deutsch empfindender Mann. Er war es fast zu sehr in seiner oft stark negativen Beurteilung des angelsächsischen Christentums, wovon allerdings die sogenannten ‚englischen Lieder‘ ausgenommen waren. Die zu singen wurde er nicht müde. […] Auch die große Erweckung in Wales hat er erst mit Zurückhaltung betrachtet.“ Arno Pagel, Eduard von Pückler, Offenbach o.J., 26. 63 Eine Wortschöpfung der Zeitschrift Reformation, zit. nach Paul Fleisch, Die moderne Gemeinschaftsbewegung in Deutschland, 486 (Anmerkung). 64 Zitiert nach Karl Heinz Voigt, Die Heiligungsbewegung zwischen Methodistischer Kirche und Landeskirchlicher Gemeinschaft. Die „Triumphreise“ von Robert Pearsall Smith im Jahre 1875 und ihre Auswirkungen auf die zwischenkirchlichen Beziehungen, Wuppertal 1996, 45-46, 76. 65 Radstock (1833-1913) war ein reicher Anglikaner, nichtordinierter Laienprediger und Evangelist. Vgl. Karl Heinz Voigt, Radstock, Lord, in: BBKL 7 (1994), Sp. 1229-1231. Lord Radstock unterstützte die Versammlungen von Robert Pearsall Smith. Er war Berater des Vorstands, dem die Organisation der Heiligungskonferenz in Brighton oblag. Vgl. Record of the Convention for the Promotion of Scriptural Holiness held at Brighton, May 29 th to June 7th, 1875, Brighton & London 1875 [Reprint New York/London], 7. Radstock war Mitglied der anglikanischen Kirche, fühlte sich aber unter den Brüdergemeinden am wohlsten. Ihre Katholizität und der bibeltreue Charakter ihrer Prinzipien überzeugten ihn. Später trennte er sich von der Brüdergemeinde, nachdem er mit Geschwistern in vielen Weltteilen und Konfessionen zusammengearbeitet hatte. Vgl. Mrs. Edward Trotter, Lord Radstock. An Interpretation and a Record, London/New York/Toronto o.J., 22. 40 Spener thematisiert wurde, im 19. Jahrhundert aber bei der großen Mehrheit der deutschen Protestanten nur Verwunderung oder sogar Ärger auslöste. Dass die Frage der Judenmission gerade in der Heiligungsbewegung neu aufgenommen wurde, lag ausnahmsweise nicht an den Versammlungen des Amerikaners Pearsall Smith. In dieser Thematik kamen die Anstöße eher aus britischen und irischen Vorläuferkonferenzen. Im Folgenden soll daher speziell die in der kirchengeschichtlichen Forschung fast unbekannte Mildmay-Konferenz untersucht werden, und zwar vor allem unter dem Gesichtspunkt der dort unterstützten Judenmission und der damit zusammenhängenden Endzeitlehre. 1. Die Mildmay-Konferenz Lange bevor Robert Pearsall Smith englischen Boden betrat, entstand eine Konferenz zur Vertiefung des Glaubenslebens in der britischen Hauptstadt. In Mildmay, im Norden Londons, kam es 1856 zu einer Zusammenkunft von Christen aller konfessionellen Richtungen, die an einen Zusammenhang zwischen geistlicher Einheit und einer wahren Erweckung glaubten. „Mildmay“ wurde geradezu als Schwesterorganisation der Evangelischen Allianz betrachtet. Beispielsweise fanden 1896 Versammlungen der Jubiläumskonferenz der Allianz in der Mildmay Conference Hall statt.66 Die Mildmay-Konferenzen waren überkonfessionell, sogar Quäker und Mitglieder von Brüdergemeinden waren oft in Mildmay zu sehen.67 So wurde die MildmayKonferenz ein wichtiges Element für die Erweckung von 1859/60.68 Interessant ist, dass in Mildmay im Gegensatz zu den Versammlungen in Oxford und Brighton, wo das Thema der Juden- und Heidenmission gar nicht zur Sprache kam, nie das missionarische Element fehlte.69 Die Mildmay-Konferenzen waren eine Sammelstelle für erweckte Christen aus allen Konfessionen, die ihr Interesse an Heiligung, Mission, der Betonung von grundlegenden Wahrheiten des Christentums und an der Wiederkunft Jesu bekunden wollten.70 1.1 William Pennefather als Schlüsselfigur Am Anfang der Heiligungsbewegung in England stand der irischstämmige anglikanische Pfarrer William Pennefather (1816-1873) Er rief die Mildmay-Konferenz ins Leben und war zeitweilig auch Mitglied des Exekutiv-Rats der Evangelischen Allianz.71 Im Jahr 1859 wirkte er als Wanderprediger im Süden Englands und unterstützte die Arbeit der Church of England Home Mission Society, die mit Unterstützung der Ortsgeistlichen gläubige Männer zur Evangelisation in die Pfarrbezirke aussandte. Die Evangelisation war ihm eine Herzensangelegenheit, sie sollte bei den Konferenzen in Mildmay und Keswick eine wichtige Rolle spielen. Missiologisch und theologisch wurden die späteren Keswick-Konferenzen also entscheidend von Mildmay geprägt, 66 A. J. Arnold, Jubilee of the Evangelical Alliance. Proceedings of the Tenth International Conference held in London, June-July 1896, London 1897, 65. Es sprachen auf dieser Konferenz namhafte Vertreter der Heiligungsbewegung wie z.B. F.B. Meyer (99ff.), Lord Radstock (105ff.), J. Hudson Taylor (118ff.), Hanmer Webb-Peploe (115ff.), Friedrich Baedecker (307ff.), James Elder Cumming (379ff.) und Herbert Brooke (468ff.). Die Christen aus Deutschland, die an dieser Londoner Konferenz teilnahmen, bildeten bei weitem die größte ausländische Gruppierung. Unter anderem waren Graf von Bernstorff, Curt von Knobelsdorff, Toni von Blücher, Theodor Jellinghaus und Anna von Weling anwesend. 67 George Müller (1806-1898), der zu den Offenen Brüdern gehörte, sprach regelmäßig auf Konferenzen in Mildmay. Vgl. William Henry Harding, The Life of George Müller. A Record of Faith Triumphant, London/Edinburgh o.J., 239, 248, 253, 263, 265, 297f., 300, 303-313. Die Quäker- und Brüderversammlungen im Norden Londons haben wahrscheinlich den Boden für die Mildmay-Versammlungen vorbereitet. Vgl. Dr. Theodore and Mrs. Howard Taylor, Hudson Taylor in Early Years. The Growth of a Soul, New York & Philadelphia 1912, 171 (Anm.). 68 Vgl. Barnet and Mildmay Conferences, in: The Christian vom 3.11.1870, 11-13, sowie: A Pennefather Memorial, in: The Christian vom 12.7.1906, 15. 69 Vgl. Charles F. Harford (Hg.), The Keswick Convention. Its Message, Its Method and Its Men, London 1907, 133. 70 Vgl. William Henry Harding, The Life of George Müller, 298. 71 Vgl. Robert Braithwaite, The Life and Letters of Rev. William Pennefather, London 1878, 284; J. W. Ewing, Goodly Fellowship. A Centenary Tribute to the Life and Work of the World’s Evangelical Alliance 1846-1946, London 1946, 35; Charles Price and Ian Randall, Transforming Keswick. The Keswick Convention: Past, Present and Future, Carlisle 2000, 39-40, 45, 88. 41 wo die Lehre des innewohnenden Heiligen Geistes selbstverständlich eine bestimmende Rolle spielte. Pennefathers Frömmigkeit wirkte tief auf Evangelisten wie Reginald Radcliffe72 und Dwight L. Moody73, die er unterstützte, obwohl manche Amtskollegen sie wegen ihrer fehlenden Ordination als unwillkommene Eindringlinge ablehnten. Mit beiden Evangelisten verband ihn ein Interesse am jüdischen Volk.74 Pennefather schätzte ihre Gaben, ihre konfessionelle Bindung war ihm von zweitrangiger Bedeutung. Seit 1853 war es ihm ein Bedürfnis, Mitglieder der verschiedenen Kirchen und Gemeinden – alle, die den Namen des Herrn nennen und von Ungerechtigkeit ablassen, wie er sagte – zusammenzubringen.75 Ab 1856 kamen zunächst in der Christ Church von Barnet76 und ab 1864 dann in St. Jude’s im Londoner Stadtteil Mildmay viele Vertreter der späteren Heiligungsbewegung zusammen. Für die Versammlungen wurde 1860 auf einem Feld eine bewegliche, aus Eisen gemachte Halle (der so genannte iron room) mit 1800 Sitzplätzen gebaut, die er später nach Mildmay mitnahm.77 Diese Erfindung kann man als Vorläufer der Zeltmission betrachten. In seinem Einladungsschreiben vom Juni 1856 wurden schon alle zentralen Themenbereiche und Ziele der späteren Heiligungskonferenzen in Großbritannien dargelegt: Austausch und Besprechungen über bzw. das Streben nach einem geheiligten Leben, die Pflege liebevoller Gemeinschaft unter Geschwistern, die Weckung von Interesse an Reichsgottesarbeiten, Lobpreis- und Fürbitteversammlungen, Ansprachen über die Missionsarbeit und schließlich Betrachtungen über die Hoffnung der Kirche, nämlich die Wiederkunft Jesu und die Rettung ganz Israels.78 Pennefathers Mildmay-Konferenzen inspirierten nach 1870 viele andere Treffen in England. W. Bradbury führte Heiligungsversammlungen in Skerrton Village/Lancaster, und in Morecambe durch. Er rief im September 1870 dazu auf, so etwas überall im Land zu organisieren, um das Ziel einer geheiligten Brautgemeinde hervorzubringen.79 Bradbury berief sich auf 1Thess 4,3 („Denn dies ist Gottes Wille: eure Heiligung.“) und behauptete, es sei „wunderbar und möglich“, dass „unser ganzer Geist samt Seele und Leib untadelig (sündlos) bewahrt werde bei der Ankunft unseres Herrn Jesus Christus“ (1Thess 5,23). Ein anderer, den die Mildmay-Konferenz prägte, war Canon Alfred M. W. Christopher (1820-1913), Geistlicher an der St. Aldate’s Church in Oxford.80 1868 predigte Pennefather dort und einige Jahre später war Christopher Redner in Mildmay. In St. Aldate’s fand dann die erste Versammlung der Oxforder Konferenz (29. August – 7. September 1874) statt.81 Christopher, der anglikanische Staatskirchler, plädierte am Ende der Konferenz dafür, dass die konfessionellen, ja alle Barrieren zwischen wahren Christen in Gemeinschaftsversammlungen aufgelöst werden sollten, auch wenn er akzeptierte, dass die 72 Vgl. Jane Radcliffe, Recollections of Reginald Radcliffe, London o.J., 11, 22, 160f. Radcliffes Frau berichtete, dass sie Pennefathers Gesicht oft mit einer Art himmlischem Licht umstrahlt sah. 73 Auf der Mildmay-Konferenz 1872 wurde Moody von Pennefathers Wesen stark beeindruckt. Er sagte: „Alles an dem Mann [Pennefather] zeugte von einem geheiligten Menschen. Ich habe von ihm einen neuen Schwung (lift and impetus) für mein christliches Leben bekommen, den ich nie verloren habe. Niemand konnte ihn anblicken, ohne zu merken, dass er in der Gegenwart Gottes lebte“. Es war Pennefather, der Moody schriftlich bat, nach England zurückzukommen, um dort zu evangelisieren. Vgl, Robert Braithwaite, The Life and Letters of Rev. William Pennefather, 489f.; Will R. Moody, The Life of Dwight L. Moody. The Official Authorised Edition, London o.J., 140. 74 D. L. Moody traf in den 1870er Jahren mehrmals John Nelson Darby und übernahm dessen prämillenniaristische Eschatologie mit der besonderen Betonung eines eigenen Heilswegs für das Judentum. 75 Vgl. Robert Braithwaite, The Life and Letters of Rev. William Pennefather, 304f. 76 Pennefather überraschte es sehr, dass genau 120 Menschen aus 12 verschiedenen Konfessionen am allerersten Abendmahl in seiner Kirche in Barnet teilnahmen. Er interpretierte das als himmlisches Zeichen für den Beginn eines neuen Werkes Gottes. Vgl. The Christian vom 3.11.1870, 11. Ein zeitgenössischer Beobachter der zweiten Gnadauer Konferenz bemerkte schon 1890, dass sie „einen an die Barnet, heute die Mildmay-Konferenz in den Anfangsjahren erinnert“. Er fügte hinzu: „Der Herr bereitet ein großes Werk in Deutschland vor“, in: Evangelical Christendom vom 1.7.1890, 206. 77 In der allerersten Gebetsversammlung in dem noch nicht fertigen Gebäude wurde für die Heilung eines Mädchens gebetet, die tatsächlich erfolgte. Vgl. Robert Braithwaite, The Life and Letters of Rev. William Pennefather, B.A., 340 (Fußnote). 78 Vgl. Robert Braithwaite, The Life and Letters of Rev. William Pennefather, 297-98, 305. 79 Vgl. Meetings for Sanctification, in: The Christian vom 22.9.1870, 14. 80 Vgl. J. S. Reynolds, Canon Christopher of St. Aldate’s, Oxford, Abingdon 1967, 131f. 81 Vgl. a.a.O., 181. 42 Organisationen – genannt Kirchen – erst dann verschwinden würden, wenn der Herr zurückkommt.82 Eine weitere Verknüpfung zwischen Mildmay und der Heiligungsbewegung in Großbritannien bildeten die Gebetsfrühstücke und Konferenzen mit William E. Boardman, die 1873 in der Mildmay Park Conference Hall stattfanden.83 Boardman und Pearsall Smith hielten hier Ansprachen vor einer Versammlung von methodistischen Predigern. Admiral E. G. Fishbourne, im Jahre 1875 Mitarbeiter von Pearsall Smith, war Freund und Berater von Pennefather und hatte mit ihm seit 1855 bei einem Projekt zur Behausung und Versorgung von Waisenkindern zusammengearbeitet.84 Auch mit dem Gründer der Keswick-Konferenz, Thomas Dundas Harford-Battersby, war Pennefather befreundet.85 1.2 Eschatologie und Israeltheologie Das eschatologische Motiv wirkte bei Pennefather als Katalysator und gab auch der Heiligungsbewegung seine Richtung.86 Zeitlebens beschäftigte sich Pennefather mit den prophetischen Aussagen über die Zukunft Israels. Er war mit John Nelson Darby verwandt und musste sich deshalb allein schon aus familiären Gründen mit den Lehren von Darby beschäftigen.87 Die beiden nahmen zusammen an den berühmten interkonfessionellen Prophecy Conferences (1831-1836) in Powerscourt Castle (County Wicklow) und später in Dublin teil.88 Darbys Eschatologie beeinflusste ihn maßgeblich. Viele Jahre lang war Pennefather Mitglied der Prophecy Investigation Society, die zweimal im Jahr Konferenzen in St. George’s Anglican Church (Bloomsbury, London) organisierte.89 Redner waren durchgängig Geistliche der Staatskirche.90 Während seiner Zeit in Barnet organisierte er zusammen mit Gleichgesinnten eine so genannte Prophetical Alliance, die Jahr für Jahr dreitägige Konferenzen veranstaltete, die aber nicht öffentlich waren.91 Die Mildmay Mission to the Jews war seit 1876 Teil der vielfältigen Arbeiten im Mildmay Park. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts wirkte außerdem ein Schüler des Hamburger Judenmissionars Arnold Frank, der Schlesier F. J. Carlton, als Hilfsgeistlicher an der St. Jude’s Church in Mildmay.92 Carlton hat den judenmissionarischen Impuls der Konferenz verstärkt. 82 Vgl. E. J. Poole-Connor, Evangelical Unity, London 1941, 117. Vgl. Mrs. Boardman, Life and Labours of the Rev. W. E. Boardman, London 1886, 158f. 84 Der reiche Anglikaner Edmund Gardiner Fishbourne (1811-1887) evangelisierte – wie Radstock, Captain Trotter und andere – unter den adligen und reichen Kreisen Englands. 1873 unterstützte er tatkräftig die Versammlungen von Robert Pearsall Smith. Auch zur Oxforder Konferenz trug er bei. Vgl. Account of the Union Meeting for the Promotion of Scriptural Holiness held at Oxford August 29 to September 7, 1874, London o.J. [Nachdruck New York/London 1985], 241. Er war auch Mitglied des Vorstands, der die Heiligungskonferenz in Brighton organisierte. Vgl. Record of the Convention for the Promotion of Scriptural Holiness held at Brighton, 7. 85 Vgl. Robert Braithwaite, The Life and Letters of Rev. William Pennefather, 431. Vgl. Memoir of T. D. HarfordBattersby, late Vicar of St. John’s, Keswick, and Honorary Canon of Carlisle, together with some account of the Keswick Convention, London 1890, 75f. Thomas Dundas Harford-Battersby lehnte Bezeichnungen wie „Sektierer“ für Methodisten, Darbysten und andere Freikirchler ab, da er sie für echte Kinder Gottes hielt. 86 Braithwaite schreibt: „ ‚The blessed hope’ became an integral part of his spiritual life, and permeated his whole ministry”, Robert Braithwaite, The Life and Letters of Rev. William Pennefather, 253, 379. Zu Keswicks Eschatologie vgl. David D. Bundy, Keswick: A Bibliographical Introduction to the Higher Life Movement, Wilmore, KY 1975, 174-179. 87 Pennefathers Onkel, Edward Pennefather, war mit Darbys Schwester Susannah verheiratet. 88 Zu den Konferenzen bei Lady Powerscourt vgl. Robert Braithwaite, The Life and Letters of Rev. William Pennefather, 23-25, 253-256; Peter L. Embley, The Origins and Early Development of the Plymouth Brethren, Dissertation St. Paul’s College Cheltenham 1966, 86-94. George Müller besuchte die dritte Konferenz. Embley spricht von einem „extrem emotionalen Pietismus“ der Lady Powerscourt. 89 Vgl. Colin Le Noury, In the Steps of F.B. Meyer. 90 Years of Prophetic Witness, Belfast 2007, 18f. Die erste Konferenz fand am 24.5.1842 statt. 90 1846 beschäftigte sich die Gesellschaft speziell mit Israel: Israel’s Sins and Israel’s Hopes. Being Lectures delivered during Lent, 1846, at St. George’s, Bloomsbury by Twelve Clergymen of the Church of England, London 1846. 91 Vgl. Robert Braithwaite, The Life and Letters of Rev. William Pennefather, 321f. 92 Vgl. Arnold Frank, Die Hamburger Judenmission in Wort und Bild, Hamburg.1913, 16; A. Bernstein, Jewish Witnesses for Christ, Jerusalem. 1999, 152. Carlton war Hilfsgeistlicher in Mildmay zwischen 1901 und 1904. 43 83 In Mildmay kamen also drei Hauptströme der britischen Frömmigkeit zusammen: die Betonung eines geheiligten Lebenswandels, der missionarische Impuls und die erwartete baldige Wiederkunft Jesu in Zusammenhang mit der Erlösung der jüdischen Nation.93 Neben den Allianzversammlungen auf nationaler wie auf internationaler Ebene wurde die jährlich stattfindende Mildmay-Konferenz schon von Zeitgenossen als „der Vater von vielen Konferenzen und Kongressen“ gewürdigt, die im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts überall in Europa organisiert wurden.94 Indirekt hatte William Pennefather demnach auch einen nachhaltigen Einfluss auf die Heiligungsbewegung in Deutschland.95 1.3 The Christian Nicht zu unterschätzen ist die Bedeutung der publizistischen Arbeit für die entstehende englische Heiligungsbewegung. Die Zeitschrift The Revival wurde während der Erweckungszeit im Jahr 1859 ins Leben gerufen und 1870 unter dem neuen Titel The Christian fortgeführt. Sie berichtete regelmäßig und ausführlich über die Arbeit in Mildmay und wurde als wichtiger Faktor für die Erneuerungsbewegung angesehen.96 Der erste Aufsatz in dem umbenannten Blatt stammte von dem Judenchristen Adolph Saphir, der in der Hamburger Judenmission gearbeitet hatte. Regelmäßig beschäftigte sich ein Artikel mit der Endzeit. Im ersten Jahrgang erschienen Aufsätze von Robert Pearsall Smith, u.a. über die wöchentlichen Heiligungsversammlungen im Hause von Dr. Cullis in Boston.97 Nach der Gründung der Keswick-Konferenzen im Nordosten Englands haben die Herausgeber die dortigen Reden abgedruckt, die nicht nur in England ein breites Echo fanden. So wurde die Keswick-Lehre weiter verbreitet. 1.4 Keswick und die Judenmission Es war Reginald Radcliffe, der 1887 den Keswick-Vorsitzenden Henry F. Bowker schließlich überredete, das Konferenz-Zelt auch für missionarische Veranstaltungen zu nutzen.98 Bowker war zu der Überzeugung gekommmen, dass christliche Heiligung in der Evangelisierung der Welt konkreten Ausdruck finden muss. Seitdem waren die Themen Juden- und Heidenmission in Keswick nicht mehr wegzudenken. 1889 begann Rev. John Wilkinson von der Mildmay Mission to the Jews diese Tradition.99 Keswick vertrat keine spezifische Endzeitlehre. Prämillenniaristische Anschauungen waren zwar vorherrschend, aber weniger im Sinne eines darbystischem Dispensationalismus, sondern eher beeinflusst von reformiert-puritanischen Wurzeln.100 Hudson Taylor (1832-1905) bezeugte z.B. auf der Konferenz 1893, dass es für ihn nichts gab, was ihn mehr angespornt habe, Mission zu treiben, als die prämillenniaristische Hoffnung. Jeder müsse dem Herrn mit ganzem Herzen die Treue halten, wenn man entrückt werden wolle, um allezeit bei dem Herrn zu sein.101 Wesensmäßig eng verbunden mit seinem Glauben an die persönliche Wiederkunft war seine 93 Vgl. David W. Bebbington, Evangelicalism in Modern Britain, 159. Vgl. Evangelical Christendom 1 (August 1891), 244; Henry Martyn Gooch, William Fuller Gooch. A Tribute and a Testimony, London 1929, 117. 95 Pennefather hat Deutschland mindestens dreimal besucht: 1846 und 1872 verbrachte er Zeit in Langen Schwalbach und Rippoldsau, 1871 besuchte er Bad Homburg und Kaiserswerth. Vgl. Robert Braithwaite, The Life and Letters of Rev. William Pennefather, 193, 292, 477-479, 491f. Pennefather kannte auch Professor Pfleiderer und empfahl die Deutschkurse, die letzterer in Korntal abhielt. Vgl. The Christian vom 10.2.1870, 14. 96 Der volle Titel der ersten umbenannten Ausgabe vom 3.2.1870 lautete: The Christian: A Weekly Record of Christian Life, Christian Testimony, and Christian Work, with which is incorporated “The Revival”. 97 Vgl. R. Pearsall Smith, Dwelling in Love, in: The Christian vom 19.5.1870, 3-4; “R.P.S.”, The Voice of the Beloved, in: The Christian vom 3.11.1870, 3-4. 98 Vgl. Eugene Stock, Keswick and Foreign Missions, in: The Christian vom 23.7.1925, 6. 99 Vgl. Walter B. Sloan, These Sixty Years, 37; Samuel Hinds Wilkinson, The Life of John Wilkinson, the Jewish Missionary, 248-250. Wilkinson legte Römer 11 aus und sprach über die Wiederkunft Christi. Reginald Radcliffe nahm an dieser ersten judenmissionarischen Versammlung in Keswick teil. 100 Vgl. Charles Price and Ian Randall, Transforming Keswick, 132ff. 101 Vgl. Walter B. Sloan, These Sixty Years, 41. 44 94 praktische Unterstützung der Judenmission. Jahr für Jahr gab Hudson Taylor seinen allerersten Zehnten an die Mildmay Mission to the Jews.102 Die Konferenzen in Keswick nannten sich Union Meetings for the Promotion of Practical Holiness und setzten dieselben Schwerpunkte wie in Oxford und Mildmay. Das siebte und achte Kapitel des Römerbriefes, die z. B. bei Evan H. Hopkins (1837-1918), einem der wichtigsten Lehrer in der Heiligungsbewegung in Großbritannien, eine zentrale Rolle spielten103, konnten und sollten nicht von den Kapiteln 9 bis 11 getrennt werden, in denen die Bedeutung der Judenmission für die Heidenmission, ja für das Heil der Welt ausführlich dargelegt wird. „Dem Juden zuerst“ war das Motto der missionarischen Veranstaltungen in Keswick, die traditionsgemäß am Schabbat stattfanden. Mindestens ein Vertreter einer Judenmissionsgesellschaft – es gab in London allein zwanzig Gesellschaften und einige unabhängige Missionare, die Mission auf Glaubensbasis betrieben104 – sprach alljährlich in Keswick.105 Ein weiteres Indiz für die Bedeutung der Frage der Judenmission für die englische Heiligungsbewegung war die Tatsache, dass die erste „Keswick-Missionarin“ – Louisa Townsend –nach Palästina ausgesandt wurde.106 Immer durften Vertreter der Judenmission als erste in den missionarischen Versammlungen sprechen. So hat 1928 Hugh Orr-Ewing, der in Jerusalem als Arzt tätig war, über Entwicklungen im Judentum gesprochen. Es sei nicht so, meinte er, dass viele Juden eine Liebe zur christlichen Religion entwickelten. Wahr sei aber, dass nicht wenige nun bereit seien, Gespräche über die Messiasfrage zu führen.107 Bis in die späten dreißiger Jahre hinein sprachen Judenmissionare über ihre Erfahrungen und die Situation der Juden in den verschiedenen Ländern, 1933 kam der Judenchrist Mirza Jollynoos Hakim aus Teheran, um für die Unterstützung seiner Arbeit zu werben.108 Zentrale und bekannte Keswick-Redner wie z.B. W. Graham Scroggie, Duncan Main und John MacBeath hatten enge Kontakte zu judenchristlichen Kreisen in Großbritannien.109 1.5 Advent Testimony and Preparation Movement In Keswick war die Naherwartung des Herrn als Ansporn für die Heiligung der Gläubigen allgegenwärtig.110 Auf die Wiederkunft Christi sollte die Gemeinde durch praktische Heiligung des ganzen Menschen zubereitet werden. F.B. Meyer, H.W. Webb-Peploe111, George Campbell Morgan, W. Fuller Gooch, John Stuart Holden, Francis S. Webster und E.L. Langston 112 waren alle bekannte Keswick-Redner, die sich für die Eschatologie sehr interessierten und die Judenmission tatkräftig unterstützten.113 Diese Männer waren der Überzeugung, dass die Zeiten der Heiden, d.h. der Nicht-Juden, bald zu Ende gehen würden. Am 15. Oktober 1917 formulierten zehn führende christliche Persönlichkeiten eine Resolution, in der sie die Kirchen und Gemeinden aufforderten, die Schriften der jüdischen Propheten gründlich zu studieren.114 102 Vgl. Samuel Hinds Wilkinson, The Life of John Wilkinson, the Jewish Missionary, London 1908, 309. Vgl. Evan H. Hopkins, The Law of Liberty in the Spiritual Life, London 1974. 104 Vgl. A. E. Thompson, A Century of Jewish Missions, Chicago-New York-Toronto 1902, 279-280. 105 Vgl. The Christian vom 3.8.1893, 24. 106 Vgl. Charles Price and Ian Randall, Transforming Keswick, 107, 110; Walter B. Sloan, These Sixty Years, 40. 107 Vgl. Walter B. Sloan, These Sixty Years, 96. 108 Vgl. Walter B. Sloan, These Sixty Years, 104; Vgl. The Keswick Convention, in: The Christian vom 27.7.1933, 27. 109 Vgl. Frederick Levison, Christian and Jew. The Life of Leon Levison 1881-1936, Edinburgh 1989, 230, 287. 110 Vgl. Walter B. Sloan, These Sixty Years, 25, 26, 41, 104. 111 Während seines langjährigen Aufenthaltes in London besuchte Graf Andreas von Bernstorff besonders gern den Gottesdienst in der anglikanischen Kirche am Onslow Square, wo Webb-Peploe, einer der einflussreichsten Redner an der Keswick-Konferenz, als Pfarrer wirkte. Webb-Peploe war 25 Jahre lang Präsident der Barbican Mission to the Jews und Sekretär der Evangelischen Allianz. Vgl. Hedwig von Redern, Andreas Graf von Bernstorff. Ein Lebensbild nach seinen Briefen und persönlichen Aufzeichnungen, Schwerin 1909, 104. 112 Langston war Sekretär der Londoner Gesellschaft zur Verbreitung des Christentums unter den Juden. 113 Vgl. Charles Price and Ian Randall, Transforming Keswick, 133. 114 Vgl. Keith L. Roberts, The Jews and the Passion for Palestine in the Light of Prophecy, Los Angeles, 1937, 25f. 45 103 Unter den Unterzeichnern waren sieben namhafte Keswick-Redner, fünf davon waren Mitglieder der Prophecy Investigation Society.115 Diese Organisation erhielt einen großen Auftrieb, als der britische Außenminister Arthur James Balfour am 2.11.1917 seinen berühmten Brief an Lord Rothschild schrieb und Jerusalem am 9.12.1917 von der Macht des islamischen Osmanenreiches befreit wurde.116 Das, worüber viele britische Christen seit dem 17. Jahrhundert geschrieben hatten, schien langsam Wirklichkeit zu werden: die Rückkehr des jüdischen Volkes in das verheißene Land. Am 13.12.1917 fand eine große Konferenz in der Queen’s Hall statt, um die prophetische Bedeutung dieser Ereignisse zu besprechen. Daraus entstand die prämillenniaristisch geprägte Advent Testimony and Preparation Movement (ATPM), die nicht nur in England, sondern in ganz Europa und den USA einflussreich wurde.117 2. Judenmissionarische Impulse für die deutsche Heiligungsbewegung Auch in Deutschland war das Interesse an den prophetischen Schriften und an Endzeitfragen zwischen 1875 und 1935 sehr groß. Dabei spielten gerade britische Judenmissionare an verschiedenen Orten eine einflussreiche Rolle. 2.1 Bad Blankenburg Schon das 1890 zum ersten Mal in Bad Blankenburg erscheinende Evangelische Allianzblatt hatte starke eschatologische Akzente. Das Blatt erstrebte die wahre innere Vereinigung aller Gläubigen im In- und Ausland, die von ganzem Herzen nach Heiligung strebten und auf die Wiederkunft Jesu warteten.118 Gleichzeitig erinnerten die Herausgeber und der Verleger des Blattes, das außerdem viele Leser in England, Schottland und Irland fand119, ihre Leser daran, dass, je mehr die Zeit „ihren fortgeschrittenen Charakter enthüllt, je deutlicher die ‚Zeichen‘ auf das ‚anbrechende Ende‘ dieses Äons hinweisen, und je mehr die großen zur ‚Welt‘ gewordenen Nationalkirchen die ‚Aus Gott Geborenen‘ verdächtigen, drängen und verfolgen; um so ernster dringt an alle Gläubigen die Pflicht heran, ungeachtet der sie jetzt noch äußerlich trennenden Kirchenmauern, sich im Geiste ‚Eins‘ zu wissen und dies auch thatkräftig und bekenntnisfreudig vor der Welt zu bezeugen“.120 Wie in Mildmay sah man auch in Blankenburg einen direkten Zusammenhang zwischen der Weltlichkeit der Namenschristen und der Kirchen und der anbrechenden Endzeit, auf die sich die echten Gläubigen durch ihre gemeinsame Heiligung einstellen sollten. So haben auf der Blankenburger Konferenz 1898 Baedecker121, Ströter und Stockmayer über die Wiederkunft Christi geredet, Ströter sogar im Zusammenhang mit der Bekehrung Israels. Stockmayer betonte, dass diejenigen die diese Hoffnung hätten, sich heiligen würden, sie würden „sich reinigen, indem sie die Heiligkeit vollenden in der Furcht Gottes“ (2Kor 7,1). In Blankenburg durchdrang also das eschatologische Motiv der Evangelisation und der Heiligung die Ansprachen und Gebete. 1912 war „die glückselige Hoffnung der Kinder Gottes“ (2Petr 3) der Fokus aller Versammlungen. Durch heiligen Wandel und gottseliges 115 Die Resolution verband ausdrücklich eine prämillenniaristische Eschatologie mit der Theologie der Heiligungsbewegung. In Punkt 4 der Resultion hieß es: „That Israel will be restored to its land in unbelief, and be afterwards converted by the Appearance of Christ on its behalf“. Punkt 7 unterstrich, dass die eschatologischen Wahrheiten, die in der Resolution ausgedrückt wurden, „von größtmöglicher praktischer Bedeutung für die Bildung eines christlichen Charakters und die Vollbringung christlicher Werke“ seien. 116 Zur Balfour-Deklaration vgl. Ronald Sanders, The High Walls of Jerusalem. A History of the Balfour Declaration and the Birth of the British Mandate for Palestine, New York 1983. 117 Vgl. H. M. Brown, Preparing the Way of the Lord. Twenty-one years of Advent Testimony, in: The Christian vom 2.2.1939, 7-8. 118 Vgl. Werner Beyer, Ein Leib sind wir in Christus – 100 Jahre Blankenburger Allianzarbeit, in: Ein Leib sind wir in Christus. 100 Jahre Evangelisches Allianzwerk Bad Blankenburg 1886–1986, 22. 119 Vgl. The Christian vom 8.10.1891, 28. 120 Evangelisches Allianzblatt vom 15.9.1891, 187. 121 Baedeckers Haus in Weston-super-Mare hieß „Wart-Eck“. Wie bei anderen Offenen Brüdern bedeutete für Baedecker das Warten auf die Wiederkunft des Herrn keine passive quietistische Zurückgezogenheit. 46 Verhalten wollte man auf den Blankenburger Allianz-Konferenzen, ähnlich wie in Mildmay und Keswick, die Ankunft Christi erwarten und beschleunigen. Von Anfang an waren die Männer und Frauen, die sich in Blankenburg zusammenfanden, dabei auch sehr empfänglich für Nachrichten aus der Judenmission. Anna von Weling betonte, die Judenmission dürfte „gewiß bei keinem Reichsgotteswerk fehlen“.122 Die apostolische Strategie, den Juden zuerst das Evangelium zu predigen, nahm sie ernst. Hunderte hebräische Neue Testamente (eine Gabe aus England) wurden von ihr und Gustav Kaiser unter den Juden Thüringens verteilt. 1899 war die Mission, auch unter Juden, im Zentrum des Interesses der Blankenburger Konferenz, die unter dem Thema „Die Evangelisation der Welt“ stand.123 Blankenburg folgte dem Vorbild Keswicks, indem Judenmissionare begehrte Redner waren. Mindestens acht Judenmissionare hielten Ansprachen im untersuchten Zeitraum. Am häufigsten dabei waren Ernst Ströter, der von 1898-1908 achtmal in Blankenburg sprach, Dirk Hermanis Dolman sprach von 1899-1911 neunmal, Arnold Frank von 1903-1926 zehnmal und Samuel Hinds Wilkinson von der Mildmay Mission von 1905-1935 auch zehnmal. Dabei fällt auf, dass Judenmissionare generell die einzigen Vertreter der britischen Heiligungsbewegung waren, die im Zeitraum 1911 bis 1935 eingeladen wurden bzw. sich die Mühe machten, nach Bad Blankenburg zu fahren. 2.2 Bonn 1879 berichtete der irische Judenmissionar William Graham über eine „bemerkenswerte“ Erweckung in der Region um Bonn.124 Nie hatte Graham so viele suchende Menschen in seinem Haus gehabt. Sie fand zu einer Zeit statt, als die Zahl der Briten und Amerikaner in seiner Gemeinde gering war. Er hatte viele Briefe von Augenzeugen dieser Erweckung erhalten. Ein Kaufmann aus Düsseldorf namens Wilms125, der eine prominente Rolle in den erwecklichen Veranstaltungen gespielt hatte, berichtete darüber persönlich vor den Versammelten an einem Freitagabend in Grahams Missionskapelle. In einem Gebetstreffen in Düsseldorf nahm die Erweckung ihren Anfang. Laien aus Düsseldorf, Elberfeld und Barmen legten das Wort Gottes aus und leiteten die Versammlungen. Trotz der Zurückhaltung der Pastoren breitete sich die Bewegung langsam von Köln bis Düsseldorf aus. Überall mussten Gruppen gebildet werden, die in verschiedenen Räumen zusammenkamen: die eine bestand aus Menschen, die Buße tun wollten, eine zweite aus denjenigen, die diesen Schritt schon getan hatten und nun eine Begleitung suchten. Pfarrer waren zumindest am Anfang selten dabei. Für sie glichen diese Gebetstreffen den ihnen äußerst suspekten methodistischen Versammlungen, wo Tränen der Freude und der Buße flossen. Die ganze Aufregung und die offen zur Schau getragenen Emotionen waren in klerikalen Augen nur eine oberflächliche, gefühlsbetonte Reaktion auf eine Bibelauslegung, die eher von krankhaften Gefühlen in labilen Menschen zeugten als vom Wirken des heiligen Geistes. Manche warnten vor der Teilnahme, andere verurteilten die Treffen. Die Anwesenheit von immer mehr „Separatisten“ (d.h. Anhänger Darbys, Irvingianer, Methodisten, Kongregationalisten usw.) führte aber dazu, dass lutherische und reformierte Pastoren oft unwillig waren, diese von Laien getragenen Versammlungen mit ihrer eigenen Gegenwart zu unterstützen.126 Dennoch breitete sich die Bewegung weiter aus. Graham berichtete, Trinker hätten mit ihren Trinkgewohnheiten gebrochen. Insgesamt hätten sich über zweihundert Menschen, darunter neunzehn Katholiken, bekehrt. Bei einem einzigen „Liebesmahl“ kamen über vierzig Menschen zum Glauben. Graham suchte Gleichgesinnte in Gebetsversammlungen auf. Die jedes Jahr im Januar stattfindende Gebetswoche, die die 1846 in London gegründete Evangelische Allianz 122 Chronik des Vereins- und Allianzhauses, in: Evangelisches Allianzblatt vom 15.11.1890, 34. Vgl. Werner Beyer, Ein Leib sind wir in Christus – 100 Jahre Blankenburger Allianzarbeit, 26. 124 Vgl. The Missionary Herald of the Presbyterian Church in Ireland [MH] 1. April 1879, 1044-1047; Juli & August 1879, 1124-1126; 1. Januar 1880, 3-4. 125 Wohl der „selige Theophil Wilms“, bei dem Privatversammlungen stattfanden. Wilms wurde Vorstandsmitglied des am 6. Oktober 1880 in Barmen gegründeten Westdeutschen Komitees der Evangelischen Allianz, als dessen Vorsitzender bis 1887 Theodor Christlieb fungierte. Vgl. Erich Beyreuther, Der Weg der Evangelischen Allianz in Deutschland, Wuppertal 1969, 54. 126 Vgl. MH, 1. Januar 1880, 4. 47 123 eingeführt hatte, bot eine gute Möglichkeit, mit anderen Christen in Bonn zusammenzukommen.127 Im Januar 1869 wurden die Gebetsversammlungen in Bonn zum Beispiel ebenso von Deutschen wie Theodor Christlieb und August Rauschenbusch128 als auch von Briten wie Captain Cubitt, Captain Johnson, den schottischen Brüdern Mitchel und einem Mr. Owen (Sohn eines amerikanischen Indien-Missionars) geleitet. 1873 durfte Graham an der Weltkonferenz der Evangelischen Allianz in New York teilnehmen.129 Er wurde begleitet vom Bonner Theologieprofessor Theodor Christlieb, der einen Vortrag über den modernen Skeptizismus hielt.130 In den Vereinigten Staaten und Kanada hielt Graham über fünfzig Vorträge und Ansprachen in den verschiedensten Kirchen und Sälen über Palästina, Jerusalem, Damaskus und natürlich über die Judenmission in Deutschland. Mit Christlieb, der in seiner Londoner Zeit evangelistische Veranstaltungen ein- und durchgeführt hatte131, pflegte Graham auch danach intensive Kontakte und unterstützte ihn z.B. bei einer Evangelisation in Bonn im Januar 1876.132 Der berühmte Gründer des Waisenhauses in Bristol, der Darbyst Georg Müller (1806-1898), belieferte schon 1859 Graham mit einigen Tausenden englischer und deutscher Traktate und Bücher.133 Müller machte wahrscheinlich Werbung für die irische Mission in Bonn und ermutigte andere in Bristol, Hilfe zu leisten. 1876/77 leitete Georg Müller selbst vier Veranstaltungen in der Bonner Missionskapelle134. Viele Gebetskreise wurden durch Graham bzw. seine irischen Stellvertreter gegründet. Es wurde berichtet, dass Graham im Dezember 1880 für eine kranke Frau nach Jak 5,13-15 gebetet hat, die dann von ihrem Bett in perfekter Gesundheit aufgestanden sein soll.135 Nicht nur das Seelenheil der Menschen, sondern auch deren körperliche Heilung war Graham also ein Herzensanliegen. Am 27.9.1881 berichtete Graham nach Belfast, dass eine gottesfürchtige Frau mit großem Erfolg vierzehn Ansprachen vor deutschen Frauen gehalten hatte. Obwohl im Bericht der Name dieser Frau nicht genannt wird, handelt es sich mit Sicherheit um Elizabeth Baxter.136 Sie wirkte drei Jahre lang im Rheinland, in Baden und in Württemberg. Baxter war von 1877-1883 eine wichtige Rednerin in Keswick.137 1880 kamen endlich Einladungen von anderen Bonner Pastoren, dass Graham seine AllianzGebetstreffen in ihren Kirchen veranstalten möge.138 Die Allianz-Gebetstreffen in Bonn hatten in jenen Jahren einen ausgeprägt internationalen, interkonfessionellen Charakter gehabt. Im September 1881 konnte Graham seinen Auftraggebern in Belfast mitteilen, dass die irische Mission in Bonn eine Inkarnation der Grundsätze der Evangelischen Allianz sei.139 Von Sympathisanten wie dem Baron Julius von Gemmingen140 und der Gräfin von Volmerstein hat Graham finanzielle und andere Unterstützung bekommen.141 127 Vgl. MH 1. Februar 1869, 262. Zu August Rauschenbusch (1816-1899), dem Vater des berühmten Theologen Walter Rauschenbusch, vgl. den Tagungsbeitrag von Hans-Martin Thimme in diesem Band, sowie Christoph Bresina, August Rauschenbusch, ein Wanderer zwischen zwei Kontinenten, in: Freikirchen Forschung 5 (1995), 66-75. 129 Vgl. MH 2. Februar 1874, 285-286; Thirty-Second Annual Report of the General Assembly’s Jewish Mission, in: MH Juli & August 1874, 376. 130 Vgl. Theodore Christlieb, Modern Infidelity and the Best Methods of Counteracting it. A Paper read at the New York Conference of the Evangelical Alliance (London 1877). 131 Vgl. Neue evangelische Kirchenzeitung, 19. Dezember 1863, 814ff.; 6. Juni 1863, 366f. 132 Vgl. MH März 1876, 48. 133 Vgl. MH 1. Mai 1859, 301 134 Vgl. MH Juli & August 1877, 464. 135 Vgl. MH 1. Februar 1881, 391. 136 Vgl. MH 1. November 1881, 684. 137 Vgl. Charles F. Harford (Hg.), The Keswick Convention. Its Message, Its Method and Its Men, London: Marshall Brothers 1907, 197-199; Nathaniel Wiseman, Elizabeth Baxter. Saint, Evangelist, Preacher, Teacher, and Expositor, London 1928, 62f., 72, 74. 138 Vgl. MH 1. Januar 1880, 4. 139 Vgl. MH 1.November 1881, 684. 140 Seit dem Deutschland-Besuch des Amerikaners Pearsall Smith organisierte Baron Julius von Gemmingen (18381912) Heiligungsveranstaltungen in Gernsbach (1875) und anderswo. Vgl. Karl Heinz Voigt, Die Heiligungsbewegung zwischen Methodistischer Kirche und Landeskirchlicher Gemeinschaft. Die „Triumphreise“ 48 128 1883 bot die irische Judenmissionsgesellschaft Theodor Christlieb, Grahams langjährigem Freund, das ganze Anwesen zum Kauf an. Auf der Gnadauer Pfingstkonferenz 1888 erzählte Christlieb den Hergang: „Es sind jetzt fünf Jahre her, dass ich mit einigen gleichgesinnten Brüdern, darunter Pastor v. Schlümbach, ernste und betende Beratungen über die Notwendigkeit einer Evangelistenschule zum Zweck energischer Evangelisationsarbeit in West- und Norddeutschland führte. Da kam eine Abordnung der irisch-presbyterianischen Missionsgesellschaft in Belfast, welche eine Station in Bonn für Judenmission hatte, mit der Bitte, das ihr angebotene Missionshaus zu übernehmen. Die günstige Lage des Hauses mit einer 200 Personen fassenden Kapelle, das anstoßende Schulzimmer, das schon seit 25 Jahren Versammlungslokal der wöchentlichen Erbauungsstunden war, fern abliegend vom Geräusch der Straße, die für eine kleine Familie genügende Inspektorenwohnung, die zehn Einzelzimmer für ebenso viele Zöglinge, der sehr große, zu einer etwas später notwendig werdenden Erweiterung der Anstalt den Baugrund gewährende Garten hinter dem Haus, die Nähe der Universität für zum Besuch der Kollegien berechtigte Jünglinge, endlich der billige Preis (während allerdings auf gründliche Reparatur und zur Anschaffung des Mobiliars ca. 20 000 Mark aufgewendet werden mußten) – alle diese Umstände zusammen ließen in dem Anerbieten einen göttlichen Wink erkennen.“142 Im Juli 1883 wurde es zum Preis von 80.000 Mark verkauft und am 26.10.1883 seiner neuen Bestimmung feierlich übergeben. Unter dem Namen Johanneum sollte es ganz im Sinne Grahams nun Zwecken der Evangelischen Allianz, erbaulicher Versammlungen aller Art und der weiteren Ausbildung von Evangelisten dienen.143 Lange hat Graham den Verkauf des Hauses nicht überlebt. Im Jahresbericht 1884 wird der Tod von William Graham bekannt gegeben. Er starb am 13. Dezember 1883 in Belfast.144 William Graham hat vielfältige Brücken von Deutschland nach Nordamerika, Irland, England, Schottland und den Niederlanden gebildet. Er verband die Allianzbewegung mit der langsam entstehenden Gemeinschaftsbewegung. Er war ein Bindeglied zwischen Vertretern der Heiligungsbewegung und Gemeinschaftskreisen. Mit Traktatgesellschaften in aller Welt, die fast immer überkonfessionellen Charakter hatten, unterhielt er enge Kontakte. Er machte seine Missionskapelle zu einer evangelistischen Plattform für Laien und Pastoren – und bereitete damit den Boden für die dort einziehende Evangelistenschule Johanneum. William Graham war ein hervorragender Vertreter eines überkonfessionellen, internationalen Allianz-Christentums in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. 2.3 Berlin Sieben Jahre lang diente Karl Mascher der Baptistengemeinde in Dresden. Dann ging er nach Berlin, wo er sich bis zu seinem Tod im Jahr 1922 in der Allianz- und der Heiligungsbewegung engagierte. In Blankenburg erschien Mascher jedes Jahr zwischen 1893 und 1920.145 Karl Mascher vertrat auf der Blankenburger Konferenz die baptistische Kamerun-Mission, deren Direktor er war. Gemeinschaftspflege und Evangelisation, Juden- und Heidenmission – das waren die zentralen Anliegen des Kreises um Karl Mascher in Berlin. Seine Frau, Rachel Fuller Gooch, die er in den Räumen der Mildmay Mission to the Jews kennen gelernt hatte, war die von Robert Pearsall Smith im Jahre 1875 und ihre Auswirkungen auf die zwischenkirchlichen Beziehungen, Wuppertal 1996, 101, 125, 152. 141 Vgl. MH 1. Februar 1881, 392; Juli & August 1882, 905; Juli & August 1883, 168. 142 J. G. Pfleiderer, Gnadauer Pfingstkonferenz 1888. Verhandlungen der Gnadauer Pfingstkonferenz (22.-24. Mai 1888) über das Recht gemeinschaftlicher Privaterbauung, Gemeinschaftspflege, Evangelisation und Laientätigkeit im Verhältnis zum pastoralen Amt, über Heiligung, Bibel- und Gebetsstunden u.a. Neubearbeitung von Johannes Dreßler, Berlin 1987, 100. 143 Vgl. Th. Haarbeck, Evangelistenschule Johanneum 1886-1911, Barmen 1911, 16; Wolfgang Eichner, Evangelische Sozialarbeit im Aufbruch – Aus der Geschichte der Kirchengemeinde in Bonn [Schriftenreihe des Vereins für Rheinische Kirchengeschichte, 88], Köln 1986, 290. 144 Vgl. MH Juli & August 1884, 145-146. 145 Vgl. 50 Jahre Blankenburger Konferenz. Festschrift herausgegeben im Auftrag und unter Mitarbeit des Vorstandes der Blankenburger Konferenz von Dr. F. H. Otto Melle, Bad Blankenburg o.J., 145. 49 Tochter des independenten Predigers William Fuller Gooch, für den die Unterstützung der Judenmission selbstverständlich war.146 Er war Mitglied des Vorstandes der British Society for the Propagation of Christianity amongst the Jews. Mascher selbst engagierte sich im Vorstand des Vereins der Freunde Israels in Berlin.147 Ebenfalls in Berlin wirkte Max Isaac Reich (18671945), ein deutscher Jude, der sich ca. 1885 in England bekehrt hatte.148 Er evangelisierte in Deutschland im Auftrag der britischen Brüdergemeinden eine Woche lang im Sommer 1896 in Moabit und Charlottenburg. 2.4 John Wilkinson und die Mildmay Mission to the Jews Seit 1846 war John Wilkinson, der von zu Hause aus vom Methodismus geprägt war, „mit ganzem Herzen und ganzer Seele den Prinzipien und Zielen“ der Evangelischen Allianz treu. 149 Wilkinson arbeitete 25 Jahre lang für die freikirchlich-überkonfessionelle British Society for the Propagation of the Gospel amongst the Jews, bevor er am 1. Juni 1876 die Mildmay Mission to the Jews gründete, die mit den Verantwortlichen der Mildmay Conference Hall zusammenarbeitete.150 Seit 1868 war er mit Pennefather befreundet. Pennefather unterstützte ihn finanziell und trug einen Anteil der Kosten des Cottage Home for Aged Christian Israelites. Sie waren auch Nachbarn. Am 30. September 1890 begannen die in Mildmay stattfindenden ganztägigen Gebetsversammlungen für Israel, an denen u.a. Reginald Radcliffe und Willliam Fuller Gooch teilnahmen. Es war der freie Evangelist Radcliffe, der Wilkinson den Vorschlag machte, diese Versammlungen einzuberufen. Man müsste mehr beten, meinte er, nicht nur für die Juden, sondern auch für die Kirchen, die noch zu wenig Interesse an Israel hätten.151 Bis 1895 fanden diese Versammlungen in der Mildmay Conference Hall statt. Auch in Keswick war Wilkinson ein regelmäßiger Gast.152 Er war nicht nur als Redner, sondern auch schriftstellerisch tätig. Wilkinsons Hauptwerk – Israel meine Herrlichkeit! Oder: Israels Mission und Missionen für Israel – hat die Deutsche Evangelische Buch- und Tractat-Gesellschaft 1892 veröffentlicht. In Deutschland waren außer I. P. Werner vom CVJM die Gräfinnen Elisabeth und Lydia von Groeben und die Gräfin von Hagen mit ihm bekannt und unterstützten seine Arbeit.153 In Mildmay arbeitete Wilhelm Faber aus Melsungen mit Wilkinson zusammen. Als Student in Leipzig lernte er Professor Franz Delitzsch kennen, dessen „brennende Liebe zu den Juden“ er bewunderte. Delitzsch’ Standpunkt, es gebe keine höhere Berufung in diesem Leben, als den Juden das Evangelium zu predigen, prägte zeitlebens seinen Schüler.154 Ab September 1892 war das Missionszentrum Central Hall in Philpot Street der Veranstaltungsort von judenmissionarischen Versammlungen. Unter anderem predigten dort F. B. Meyer, W. R. Lane, Dr. Harry Guinness, William Fuller Gooch und Albert Day, die alle auch Blankenburger Versammlungen besuchten.155 Deutsche Teilnehmer wie z.B. die Pastoren 146 Vgl. Henry Martyn Gooch, William Fuller Gooch, 123, 126-30. Vgl. Ronald Hentschel, Naphtali Rudnitzky (1869-1940). Leben und Wirken eines Judenmissionars, Unveröffentliche Abschlussarbeit am Theologischen Seminar des Bundes Evangelisch-Freikirchlicher Gemeinden in Deutschland, Hamburg 1994, 15. 148 Reich wurde 1905 Direktor des Heilungszentrums Bethshan im Norden Londons. 1906 sprach er auf der Mildmay-Konferenz. 1915 ging er nach Amerika, um fünfzehn Jahre lang unter Cowboys und Indianern zu evangelisieren. In den USA wirkte er 1921-1926 und 1935-1945 als Präsident der Hebrew Christian Alliance of America. Diese Allianz arbeitete mit dem Moody Bible Institute zusammen und finanzierte dort einen Lehrstuhl für Judaistik. Der Nachlass von Max Isaac Tugendreich liegt heute im Archiv des Wheaton College, Illinois. 149 Vgl. Evangelical Christendom, März-April 1907, 41. 150 Vgl. den Nachruf Wilkinsons auf Pennefather: Robert Braithwaite, The Life and Letters of Rev. William Pennefather, 517f. 151 Vgl. Trusting and Toiling on Israel’s Behalf 10 vom 15.10.1898, 148-50. 152 Vgl. Trusting and Toiling on Israel’s Behalf vom 15. Juli 1898, 99. 153 Samuel Hinds Wilkinson, The Life of John Wilkinson, the Jewish Missionary, 326, 334. 154 Vgl. W. Faber, How I became a Missionary to the Jews, in: Trusting and Toiling on Israel’s Behalf. Organ of the Mildmay Mission to the Jews 12 vom 15.12.1896, 185; Vgl. auch Siegfried Wagner, Franz Delitzsch. Leben und Werk, München 1978, 155, 158. 155 Albert Day wurde zeitweilig Missionar in Südafrika, W. R. Lane war freier Evangelist. Vgl. Samuel Hinds Wilkinson, The Life of John Wilkinson, the Jewish Missionary, 266, 267. 50 147 Gurland156 und R. Bieling (Berlin) fehlten selten. Viele Judenchristen legten dort Zeugnis ab und predigten wie z.B. die ehemaligen Rabbiner Joseph Rabinowitz (1837-1899) und Ignatz Lichtenstein (1824-1909), David Baron (1857-1926) und Carl Schönberger, Louis Meyer und Hermann Warszawiak, John Goldstein und Max Reich. Das Vorbild ihres missionarischen Einsatzes sowie der Einfluss ihrer schriftstellerischen Tätigkeit haben in der Heiligungsbewegung einen wichtigen Platz. Ermutigt durch Charles Haddon Spurgeon brachte John Wilkinson viele Judenchristen – darunter John Goldstein, Henry Goodmann, Solomon Ginsburg157, David Baron und Henry Barnett – in der Missionary Training School (Harley House) in Bow unter. Wilkinson hielt in dem von Grattan Guinness gegründeten Missionsinstitut viele Vorlesungen und Seminare über Gottes Heilsplan für Israel. Andere potenzielle Missionare wurden an das Bible Training Institute in Glasgow158 und die Allianz-Bibelschule in Berlin weitergeleitet.159 In den Fußstapfen des Vaters folgte der Sohn, Samuel Hinds Wilkinson, der seit 1882 im Dienst der Mission stand.160 S.H. Wilkinson war zehnmal in Blankenburg, 1935 sprach er dort zum letzten Mal. Auf seine damalige Rede werden wir später zurückkommen. Um die Person des russischen Judenchristen Joseph Rabinowitz (1837-1899) kam es zu einer engen Zusammenarbeit zwischen Kreisen in Deutschland und Großbritannien.161 Überall in Europa gab es ein sehr großes Interesse an der messianischen Bewegung in Kishinev. Rabinowitz wurde am 24. März 1885 in einem interkonfessionellen Gottesdienst in der Bethlehemkirche in Berlin von dem Amerikaner C. A. Mead (Andover) in Anwesenheit des Ortspfarrers Johannes Knak (1842-1899) getauft. 2.5 Die Pfingst-Konferenz in Wandsbek Von Keswick aus wurden viele Missionare ausgesandt. Auch der naturalisierte Brite Dirk Hermanis Dolman wurde vom Keswicker Mission Council finanziell unterstützt.162 Nach seinem Studium in England wurde Dolman Hilfsgeistlicher an der Christ Church in Dover, Kent, bevor die Londoner Gesellschaft zur Beförderung des Christentums unter den Juden ihn 1896 zum Missionar in Norddeutschland ernannte.163 In der Bärenallee in Wandsbek hatte die Gesellschaft 1884 ein Missionshaus gebaut, in dem regelmäßig Gemeinschaftsstunden, Jugendbundversammlungen, Konferenzen und Evangelisationsversammlungen stattfanden.164 In Hamburg-Wandsbek eröffnete Dolman auf Initiative der Judenmissionsgesellschaft der Church of Ireland ein Wohnheim für Juden aus aller Welt wieder, die sich für das Christentum interessierten.165 Ab 1902 erschien Israels Hoffnung, eine eigene Zeitschrift , die in landeskirchlichen Kreisen viel Interesse für die Judenmission weckte.166 1906 wurde sie an 156 Vgl. In zwei Welten. Rudolf Hermann Gurland. Ein Lebensbild, Dresden 1911. Gurland arbeitete zeitweilig zusammen mit der freikirchlichen British Jews Society sowie für die Mildmay Mission to the Jews. Gurland ließ viele Tausende hebräische Neue Testamente unter Juden in Wilna und Minsk verteilen. Vgl. Samuel Hinds Wilkinson, The Life of John Wilkinson, the Jewish Missionary, 236f. 157 Geboren in Suwalki, Polen, hat Ginsburg Schulen in Königsberg besucht. Ab 1882 war er in London, wo er durch die Arbeit der Mildmay Mission to the Jews Christ wurde. Vgl. Solomon L. Ginsburg, A Wandering Jew in Brazil. An Autobiography of Solomon L. Ginsburg, Nashville, Tenn. 1921. 158 Diese Bibelschule war ein Arbeitszweig der Glasgow United Evangelistic Association und war ein Produkt der Keswicker Heiligungsbewegung. Vgl. Edward Royle, Evangelicals and Education, in: John Wolffe (Hg.), Evangelical Faith and Public Zeal. Evangelicals and Society in Britain 1780-1980, London 1995, 132. 159 Vgl. Samuel Hinds Wilkinson, The Life of John Wilkinson, the Jewish Missionary, 190. 160 Zwei Blankenburger Konferenzredner, William Fuller Gooch und Dr John Gritton, haben bei Wilkinsons Ordinationsfeier mitgewirkt. 161 Vgl. Kai Kjær-Hansen, Joseph Rabinowitz and the Messianic Movement, Edinburg/Michigan 1995. 162 Vgl. A. E. Thompson, A Century of Jewish Missions, 137, sowie Walter B. Sloan, These Sixty Years, 64. 163 Vgl. Jewish Missionary Intelligence, March 1896, 37; Vgl. W. T. Gidney, The History of the London Society for Promoting Christianity amongst the Jews from 1809 to 1908, London 1908, 599. 164 Vgl. Christian Dietrich und Ferdinand Brockes, Die Privat-Erbauungsgemeinschaften innerhalb der evangelischen Kirchen Deutschlands, Stuttgart 1903, 67. 165 Bis 1907 wurden 699 Juden in das Heim aufgenommen. Es fanden 72 Taufen statt. 166 Vgl. Christian Dietrich und Ferdinand Brockes, Die Privat-Erbauungsgemeinschaften innerhalb der evangelischen Kirchen Deutschlands, Stuttgart 1903, 67f. 51 31.000 Leser kostenlos verschickt.167 Auf einer Versammlung 1908 in Keswick sagte Dolman, es gebe „eine offene Tür“ zu jüdischen Herzen in Europa, das sei ein klares Zeichen, dass der Herr seine Wiederkunft vorbereite.168 Er hob immer wieder den Zusammenhang zwischen Israel, dem Heil der Welt und dem Kommen des Gottesreiches hervor. „Schaut auf die Juden! Hört ihr das Herannahen des Meisters?“, sagte er 1925 in Keswick. „Der Herr Jesus kommt bald.“169 Durch den Mildmay-Judenmissionar John Wilkinson (1824- 1907) war Dolman die heilsgeschichtliche Bedeutung der Judenmission klar geworden, Wilkinsons kindlicher Glaube blieb Dolman lebenslang eine Inspiration für seine eigene Arbeit in Wandsbek.170 Dolman war bei der Entwicklung der norddeutschen Gemeinschaftsbewegung um die Jahrhundertwende von großer Bedeutung. In Wandsbek warb er für die Keswick-Lehre, in Keswick machte er auf die Situation in Deutschland aufmerksam. Er hielt Ansprachen auf Heiligungskonferenzen in Blankenburg, Wiesbaden, Mülheim an der Ruhr und Tersteegensruh sowie auf der 1900 von ihm selbst initiierten Wandsbeker Konferenz.171 Nach der Konferenz gab es gewöhnlich eine Woche mit Bibellesungen und evangelistischen Versammlungen. In der Missionskapelle wurden jeden Sonntag anglikanische Gottesdienste auf Deutsch gefeiert. Zentrale Themen seiner schriftstellerischen Tätigkeit und Verkündigung waren die Stiftshütte und der Heilige Geist. Der Anglikaner Francis Scott Webster, Pfarrer an derLondoner All Souls Church in Langham Place zwischen 1898 und 1920, vertrat zusammen mit William B. Sloan die Keswick-Konferenz im Ausland, so z.B. auch in China und Deutschland.172 1901 sprach er an drei Abenden in Wandsbek und konnte dort auch 1905 Impulse aus der walisischen Erweckung weitergeben. Die Versammlungen seien „reich gesegnet“ worden. Der Heilige Geist habe Menschen ergriffen, es sei zu einer Erweckung (revival outbreak) gekommen, sodass der Heilige Geist frei wirken konnte.173 Die Morgenversammlungen in Wandsbek dauerten drei bis vier Stunden. Die Fenster des Gebäudes blieben die ganze Zeit offen, da viele Menschen keinen Platz mehr fanden. 1910 gab Webster in Keswick einen höchst ermutigenden Bericht über die zu Ende gegangene Konferenz in Wandsbek, die als wichtiges Bindeglied für die Verbreitung der Keswick-Lehre betrachtet wurde.174 2.6 Die Jerusalemkirche in Hamburg Die vom irischen Judenmissionar James Craig gegründete Jerusalemkirche in Hamburg spielte eine außerordentlich wichtige Rolle in der Gemeinschaftsbewegung in Hamburg und SchleswigHolstein.175 Dort predigten Männer wie Hudson Taylor176, Rabbi Lichtenstein, Professor Selig Paulus Cassel177, F. B. Meyer, der Gründer der EC-Jugendbünde Francis Edward Clark, Inspektor Carl Heinrich Rappard aus St. Chrischona und Professor Ströter. Ernst Modersohn evangelisiert dort dreimal.178 Die Einladung an Hudson Taylor und Meyer kam vom Präsidenten 167 Vgl. Nora C. Usher, Among the Jews of Hamburg, in: The Christian vom 4.10.1906, 16. Walter B. Sloan, These Sixty Years, 64. 169 The Christian vom 6.8.1925, 6. 170 Vgl. Samuel Hinds Wilkinson, The Life of John Wilkinson, the Jewish Missionary, 335. 171 Vgl. Jörg Ohlemacher, Das Reich Gottes in Deutschland bauen, 275, 279. 172 Francis Scott Webster (1859-1920) war Mitglied des Exekutiv-Rats der britischen Evangelischen Allianz. Mit der Hebrew Christian Prayer Union arbeitete er anlässlich des Vierten Zionistenkongresses zusammen. Vgl. The Christian vom 9.8.1900, 24f. 173 „For half an hour the morning meeting was out of the hands of the platform, but not out of the control of God. People were sobbing, praying, and confessing”, The Christian vom 2.8.1906, 21. 174 Vgl. The Christian vom 28. Juli 1910, 21. Zu Ainley: Walter B. Sloan, These Sixty Years, 50, 57, 69, 76, 82, 92. 175 Vgl. Nicholas M. Railton, Der irische Judenmissionar James Craig und die Erweckungsbewegung in Norddeutschland, in: PuN 30 (2004), 140-154; Helmut Weber, Fünfzig Jahre Diakonissenanstalt Jerusalem 19131963, Hamburg 1963, 52; Christian Dietrich und Ferdinand Brockes, Die Privat-Erbauungsgemeinschaften, 172. 176 Vgl. Arnold Frank, What about the Jews?, 26-27, 75, 88. 177 Selig Paulus Cassel arbeitete ab 1864 für die Londoner Judenmissionsgesellschaft in Berlin. Vgl. Arnold Frank, What about the Jews?, 31. Zu Cassel vgl. A. Bernstein, Jewish Witnesses for Christ, 157-166. 178 Vgl. Arnold Frank, What about the Jews?, 75, 88; Helmut Weber, Fünfzig Jahre Diakonissenanstalt Jerusalem 1913-1963, 19. 52 168 des CVJM in Hamburg, Emil Köhn, der Mitglied in der Hamburger Abteilung der Evangelischen Allianz war und dessen Frau in England erzogen worden war.179 Im Saal des CVJM am Pferdemarkt fand all zwei Jahre eine große Gemeinschaftskonferenz – die Hamburger Osterkonferenz – statt. Auch diese wurde maßgeblich von Köhn organisiert. Gewöhnlich leitete der Präses des Schleswig-Holsteinischen Gemeinschaftsvereins, Andreas Graf Bernstorff, diese Konferenz. Die Jerusalemkirche – genauso wie die Missionskapelle in Wandsbek, wo Dolman predigte – war zwar ein Fremdkörper im lutherischen Hamburg, sie wirkte aber „in durchaus landeskirchlichem Sinne“, so Dietrich und Brockes.180 Die neue Jerusalemkirche wurde am 7. April 1912 eingeweiht. Das Gebäude erlebte die Blütezeit der Judenmission. Im Juni 1914 fand die 9. Internationale Judenmissionskonferenz unter dem Vorsitz von Professor Hermann L. Strack (Berlin) statt. 26 Missionen waren vertreten. Dolman hielt eine Andacht, drei Missionssekretäre aus London (F. L. Denman, Samuel Hinds Wilkinson und Isaac Levison) hielten Referate.181 1928 fand die zweite Internationale Tagung der Judenchristlichen Allianz in der Kirche statt.182 Aus aller Welt kamen 130 Judenchristen zusammen. Die in Zusammenhang mit der Jerusalemkirche arbeitenden Schwestern brachten Impulse aus der Gemeinschaftsbewegung nach Hamburg. 1902 kam Schwester Ebbina Everts aus dem Gemeinschaftsschwesternhaus Vandsburg in Westpreußen in die Jerusalemkirche, wo sie sich in der Gemeindepflege und der Judenmission engagierte.183 Im April 1920 wurde als Oberin des Diakonissenhauses Schwester Albertine von Cölln berufen. Seit 1905 stand sie mit Arnold Frank in Verbindung, seit 1907 abonnierte sie Zions Freund, ein Blatt, das in deutschen Gemeinschaftskreisen gern gelesen wurde.184 Sie hatte schon mehrere Monate in England in einem Pfarrhaus verbracht, um die englische Sprache zu erlernen. Dort, in der britischen Hauptstadt, „entzündete der Herr ihre Liebe zu Israel“, so Pastor Frank.185 Die Beziehungen zwischen Hamburg und London rissen nie ab. Es entstanden aber auch rege Kontakte mit dem Heiligen Land. Zwischen 1923 und 1926 waren drei Schwestern in einer Klinik in Jerusalem tätig, 1929 gingen zwei Schwestern nach Haifa in die Missionsarbeit des Judenchristen Pastor Rohold, der im Jahr zuvor auf der Tagung in Hamburg anwesend war.186 Die Zahl der Schwestern wuchs von 22 (1917) auf 64 (1933). Ihr Einsatz wurde getragen und inspiriert durch die Judenmission. Aus dem Missionshaus Jerusalem in Hamburg gingen nicht nur Diakonissen, sondern auch Dutzende Judenchristen als Missionare, Evangelisten und Pastoren in alle Welt hinaus.187 Zwei Beispiele seien hier genannt. Leon Rosenberg arbeitete für die Mildmay Mission in Odessa. Seine Schwägerin, Helene Weinmann, auch eine Schülerin von Arnold Frank, arbeitete für Mildmay unter Frauen in derselben Stadt und später für die Barbican Jewish Mission (London) in Jugoslawien. 179 Zu Köhn: Christian Dietrich und Ferdinand Brockes, Die Privat-Erbauungsgemeinschaften, 65; Ulrich von Hasell, Eberhard von Rothkirch und Panthen. Ein Lebensbild nach Briefen und Aufzeichnungen, Berlin 1912, 109; Wilhelm Nitsch, 75 Jahre Westdeutsche Evangelische Allianz, Witten 1955, 19. Er gründete die Christliche Gemeinschaft am Pferdemarkt nach einer Evangelisation von Jonathan Paul im Jahr 1896. 180 Christian Dietrich und Ferdinand Brockes, Die Privat-Erbauungsgemeinschaften, 67. 181 Vgl. Harald Jenner, 150 Jahre Jerusalem-Arbeit in Hamburg, Hamburg 2003, 60f. 182 Vgl. Helmut Weber, Fünfzig Jahre Diakonissenanstalt Jerusalem 1913-1963, 35. 183 Vgl. a.a.O., 15 und Harald Jenner, 150 Jahre Jerusalem-Arbeit in Hamburg, 62f. 184 Vgl. Christian Dietrich und Ferdinand Brockes, Die Privat-Erbauungsgemeinschaften, 67. 185 Helmut Weber, Fünfzig Jahre Diakonissenanstalt Jerusalem 1913-1963, 18, 31. 186 Vgl. a.a.O., 35. 187 Vgl. Arnold Frank, Die Hamburger Judenmission in Wort und Bild, Hamburg 1913, 32. Einer seiner interessantesten Schüler war Ignatius Timothy Tribich Lincoln (1879-1943), der mit der Hamburgerin Margarethe Kahlor verheiratet war. Nach seiner Ordination als Vikar in der anglikanischen Kirche wurde er 1910 Mitglied des britischen Parlaments. Ihm wurde aber 1919 seine britische Staatsbürgerschaft entzogen. Er musste nach Deutschland zurückgehen, wo er im März 1920 am Kapp-Putsch teilnahm. Den Rest seines Lebens verbrachte er in China und Japan. Dem chinesischen General Yang Sen diente er als politischer Berater, den Japanern half er bei der Besetzung von Shanghai im Zweiten Weltkrieg. Vgl. Who’s Who of British Members of Parliament. Volume II: 1886-1918, Hassocks 1978, 219. 53 3. Der Entfremdungsprozess Lange vor dem Ersten Weltkrieg drückten britische Judenmissionare Unverständnis für die Ablehnung der Judenmission durch deutsche Christen aus. In einem Bericht über den Widerstand gegen die Arbeit des Pfarrers C. Wagner für den Rheinisch-Westphälischen Verein für Israel in Hessen bemängelte 1893 ein Vertreter der Barbican Mission to the Jews „den vorherrschenden antisemitischen Geist“ in Kirchenkreisen.188 Direktor dieser Missionsgesellschaft war Christlieb Lipshytz. Er arbeitete in der Calwer Heidenmission und als Evangelist für die Rettungsanstalt Großefehn in Ostfriesland, anschließend (1884) als Evangelist für den Kölner Verein für Israel, bevor er nach England ging.189 Im amtlichen Organ der Heilsarmee kam 1891 George Scott Railtons Verehrung des jüdischen Volks zum Ausdruck. Im selben Atemzug kritisierte der Kommandeur der Armee die deutsche Christenheit: „Ich sehe mehr und mehr, daß die Blindheit, Härte und Weltlichkeit mancher Christen an dem heutigen Zustand vieler Glieder dieses lieben Volkes schuld sind.“190 Diese Sicht wurde durchaus von einzelnen erweckten Christen in Deutschland geteilt, so z.B. dem Agenten des Westdeutschen Vereins für Israel, Pfarrer J. Bonnet. „Mit Verwunderung“, schrieb er 1877, „nehmen wir wahr, daß auch die kirchlichen Kreise sich gegen die Judenmission fremd, oftmals fast feindlich verhalten, obgleich sie doch auf der Heilsmittlerschaft Jesu Christi ruht, auf die sich auch die Kirche gründet. Nur ein kleiner Bruchtheil wirklich lebendiger und gläubig thätiger Christen bleibt übrig, der der Judenmission in der Reihe der christlichen Reichsarbeiten eine vollberechtigte Stelle einräumt.“191 Wer aber zwischen der Heiden- und der Judenmission einen Unterschied mache, der habe die Heilige Schrift nicht für sich. Die schottische Freikirche sei der Beweis, dass die Judenmission eine Sache der Kirche und nicht bloß von Privatkreisen sein könne.192 So freute sich England – er meinte wohl Großbritannien – wirklich des Wohlergehens und des göttlichen Segens, der denen zufließe, die Israel segneten und Jerusalem liebten. Er fragte seine Pfarrerkollegen: „Will nicht auch die deutsche Kirche dem deutschen Volk einen großen Segensstrom öffnen?“193 In Großbritannien wurde unter anderem auch Kritik an den Entwicklungen in der deutschen akademischen Theologie geäußert, der man einen Teil der Schuld an diesem mangelnden Interesse an der Judenmission und am Antisemitismus gab. Wichtige Vertreter Keswicks und der Evangelischen Allianz veröffentlichten Schriften gegen die so genannte „neue Theologie“ und die Angriffe auf die jüdische Bibel.194 In einer Zeit, in der Theologen ihrer Meinung nach „die Brunnen der Wahrheit“ mit ihren Spekulationen vergifteten, versuchten Judenchristen wie Adolph Saphir, ehemaliger Judenmissionar in Hamburg, publizistisch dagegen vorzugehen.195 Wie alle Judenchristen in der Heiligungsbewegung vertrat Saphir die Ansicht, dass sich die Kirchen, indem sie die Mission an Juden aufgäben, immer weiter vom biblischen Standpunkt entfernten, um schließlich jeglichen Glauben an die Bibel und an deren Botschaft des sich selbst offenbarenden Gottes Israels aufzugeben.196 Diesen Verfall der Kirche meinte er vor allem in Deutschland, aber auch in England zu erkennen. Sir Andrew Wingate deutete die theologische 188 The Christian vom 7.12.1893, 16. Die Barbican Mission to the Jews wurde 1879 in London gegründet. Diese Gesellschaft hat wie die Hebrew Christian Testimony to Israel (gegr. 1886) nur Judenchristen beschäftigt. 190 G. S. Railton, Gedenktag des Todes des Königs der Juden. Warum ich die Juden liebe, in: Kriegsruf Nr. 12 vom 21.3.1891, 1-2; Vgl. auch G. S. Railton, Das gute, alte Worms, in: Der Kriegsruf Nr. 14 vom 4.4.1891, 3. 191 J. Bonnet, Die Stellung der Judenmission in der Reihe der christlichen Reichsarbeiten, Norden 1877, 5. 192 Vgl. a.a.O., 20. 193 A.a.O., 28. 194 Vgl. The “New Theology”. The Alliance Campaign against it, in: Evangelical Christendom, März-April 1908, 49; Theology in Germany, in: Evangelical Chistendom, Juli-August 1911, 144; The Untruth of German New Testament Criticism, in: Evangelical Christendom, Mai-Juni 1913, 106; W. H. Griffith Thomas, Germany and the Bible, in: Bibliotheca Sacra 72 (1915) No. 285 (Januar), 49-66. 195 So James E. Mathieson in einem Vorwort zu einem Sammelband von Saphirs Vorträgen. Adolph Saphir, Christ and Israel. Lectures on the Jews, London 1911, vi. Mathieson war eine zentrale Figur im judenmissionarischen Netzwerk in London. Er war im Vorstand der Hebrew Christian Testimony to Israel. 196 So z.B. David Baron, Direktor der Glaubensmission Hebrew Christian Testimony to Israel, in seiner Einführung zu Adolph Saphir, Christ and Israel. Lectures on the Jews, London 1911, xi-xii, 88. 54 189 Kritik an der jüdischen Bibel eschatologisch. Er sah die Abkehr der organisierten Heidenchristenheit von der Bibel im Zusammenhang mit der Bekehrung der Juden zu ihrem Messias. Allein die Juden könnten einer sterbenden Christenheit neues Leben einhauchen und sie an ihre jüdischen Wurzeln erinnern. Den Weltkrieg würde Gott der Herr der Geschichte benutzen, um den Juden den Weg zurück ins Heilige Land zu ebnen, und diese geschichtliche Entwicklung würde die Wahrheit der alttestamentlichen Schriften unter Beweis stellen.197 Von England lernen, so dachte man in England, hieße siegreiches Missionieren lernen. In Deutschland begann sich allerdings Widerstand zu regen. In der vom Evangelisch-lutherischen Zentralverein für Mission unter Israel herausgegebenen Zeitschrift Friede über Israel zitiert Otto von Harling einen Bericht, der zuerst am 31. Januar 1915 in Auf der Warte erschien:198 „Wundern muß es uns, daß sich unter diesen Umständen – nämlich bei der Verunglimpfung Deutschlands von seiten christlicher Kreise in England – die Keswick-Konferenz nicht aus Deutschland zurückzieht und noch hier mit deutschen [sic!] Gelde Judenmission treibt. Pastor Dolman (Wandsbek) ist der Angestellte der Keswick-Konferenz. Die Kontrolle über alle Liebesgaben für das Missionshaus Bethel (in Wandsbek) übt allein die englische Gesellschaft aus. Den deutschen Freunden des Werkes ist unsers Wissens noch nie eine Abrechnung über den finanziellen Stand des Werkes wie über die Verwendung der jedes Jahr in hoher Summe einlaufenden Gelder vorgelegt worden, wie es sich von jeder Arbeit ziemt, die von der öffentlichen Mildtätigkeit lebt.“ Glücklicherweise würden endlich Proteste in Gemeinschaftskreisen gegen solche Missstände laut. Man dürfe hoffen, dass Gottes Kinder „nicht mehr wie bisher mit blindem Vertrauen einer Mission folgen werden, der – wie ihr Blatt Israels Hoffnung zeigt – weniger die Bekehrung der Juden als die Beeinflußung unserer Gemeinschaften durch englischen Geist am Herzen liegt.“ Friede über Israel wurde 1903 als Massenblatt konzipiert, das eine innerkirchliche Breitenwirkung haben sollte. 1906 wurden 100.000 Exemplare verschickt.199 Ab 1914 begann man sich immer mehr vom englischen Mutterboden der modernen Judenmission abzuschotten. Gleichzeitig wurde das lutherische Angebot für missionarisch gesinnte Christen erweitert. Seit Februar 1914 bestand in Hamburg ein Konkurrenzunternehmen, nämlich der Verein für evangelisch-lutherische Judenmission.200 Sehr zwiespältig wirkt dieser Bericht, wenn man bedenkt, dass Dolman während des Krieges in Mecklenburg interniert war und für seine eigene Versorgung im Lager aufkommen musste.201 Sein eigener Sohn Willi fiel später für Deutschland.202 Ähnlich berichteten christliche Blätter über das Missionshaus Jerusalem in Hamburg. Arnold Frank erlebte die „außerordentlich feindselige Haltung auch unter Christen“ hautnah. Für nicht wenige sei der deutsche Kampf gegen England eine gerechte, heilige Sache.203 Im Februar 1917 schrieb er nach Belfast: „[E]inige ‚christliche‘ [Anführungszeichen im Original] Publizisten haben ihre Leser informiert, dass ich Engländer, dass unsere Mission englisch sei und deswegen nicht von deutschen Christen unterstützt werden sollten.“ Er war aber dafür dankbar, dass es immer noch Einzelne gebe, die in der Lage seien, zwischen dem Reich Gottes und den Reichen dieser Welt zu unterscheiden.204 Es gibt weitere Belege für die kriegsbedingte Entfremdung zwischen judenmissionarischen Kreisen in England und Deutschland. Otto von Harling kritisierte zwei Jahre später einen Bericht 197 Vgl. Andrew Wingate, Modern Unrest and the Bible, in: Evangelical Christendom, Juli-August 1912, 132; Andrew Wingate, Palestine and the Future, in: Evangelical Christendom, Oktober-November 1918, 112-113; Andrew Wingate, The Significance of Jewish National Aspirations, in: Evangelical Christendom, März-April 1921, 51-52. 198 Friede über Israel, Nr. 2, Mai 1916, 16. 199 Thomas Küttler, Umstrittene Judenmission. Der Leipziger Zentralverein für Mission unter Israel von Franz Delitzsch bis Otto von Harling, Leipzig 2009, 61. 200 Friede über Israel, Nr. 2, Mai 1914, 6-7; Nr. 1, April 1915, 15; Nr. 1, Februar 1916, 7f. 201 Brief vom 29. April 1919, in: Archive of the Church’s Mission to the Jews (Bodleian Library, Oxford), Dep. CMJ d.69/1-9 Staff Files 1885-1895. Der Krieg hat so die finanzielle Grundlage der Wandsbeker Judenmission zerstört und Dolmans Familie in große Not gebracht. 202 Todesanzeige, Israels Hoffnung, Mai 1917, 60. 203 Arnold Frank, Jewish Mission. Hamburg, in: The Missionary Herald of the Prebyterian Church in Ireland, 1. Dezember 1914, 301. 204 In: Jewish Mission, The Missionary Herald of the Prebyterian Church in Ireland, 1. Februar 1917, 40. 55 in Trusting and Toiling, der Zeitschrift der Mildmay Mission to the Jews. Es handelte sich um den neuerlichen Besuch von Samuel Hinds Wilkinson bei russischen Juden, auf deren Schicksal dieser immer wieder und seit vielen Jahren hingewiesen hatte. Seit der Mitte des 19. Jahrhunderts zeigten britische Evangelikale nicht nur großes Interesse an der sozialwirtschaftlichen Situation von Juden in Europa, sie engagierten sich auch für ein Ende deren rechtlicher Diskriminierung.205 Das wurde von Vertretern der jüdischen Gemeinde in Großbritannien dankbar zur Kenntnis genommen.206 1882 drückte der Exekutivrat der Allianz „sein Entsetzen und seine Entrüstung“ über die Pogrome in Russland aus und merkte gleichzeitig an, dass die Unterdrückung und Verfolgung von Juden unweigerlich den Zorn Gottes erregen würde. Gerade Christen sollten sich ihres besonderen Verhältnisses zum jüdischen Volk bewusst sein.207 Die publizistische Arbeit von Wilkinson in diesem Sinne war alles andere als opportunistisch. Von Harling kannte den Charakter der Pogrome, seine Zeitschrift berichtete selbst schon 1905 über die furchtbare Verfolgung und Tötung von Juden im Zarenreich. Damals nutzte er sein Presseorgan, um den geistlichen Zustand seiner eigenen Landsleute zu kritisieren: „Der Herausgeber hat Zeugnisse dafür in Händen, dass Diener und Bekenner des Evangeliums der Judenmission ihre Freundschaft gekündigt haben, weil sie für die Opfer der Judenmetzelei bat. Unterstützen wir denn die Revolution, wenn wir uns der Hungernden und Obdachlosen erbarmen? Oder hört etwa vor Juden die christliche Nächstenliebe und Barmherzigkeit auf?“208 Die Bereitschaft, konkret und praktisch zu helfen, war anscheinend sogar in deutschen Gemeinschaftskreisen nicht gerade stark ausgeprägt. Wilkinson wollte helfen, aber er habe, so von Harling, sicherlich aus Rücksicht auf das verbündete Russland die Verhältnisse in möglichst wenig grellen Farben geschildert. Belege liefert er nicht für seinen Vorwurf, die judenmissionarische Berichterstattung richtete sich nach den politischen Begebenheiten. Der Lutheraner konnte aber mitten im Ersten Weltkrieg durchaus ausmalen, was im tiefsten Osten mit Juden passieren könnte: „[W]as mag diesen unglücklichen Juden, die ins Innere Rußlands verschleppt sind, noch an Gräueln bevorstehen [...].“209 Aus politischen Gründen verschwiegen britische Christen das Ausmaß des Judenmords, das wollte von Harling zumindest suggerieren. Ironischerweise war es derselbe Samuel Wilkinson, der die Teilnehmer der Blankenburger Konferenz daran erinnern musste, dass sie unter den Bedingungen des Dritten Reichs ihre besondere Verantwortung für das jüdische Volk wahrnehmen sollten. Im Jahr der Machtergreifung Hitlers schärfte er ihnen ihre Pflicht ein, den Juden gegenüber eine liebevolle christusähnliche Einstellung zu bewahren.210 1934 betonte er, dass die Judenmission ein Glaubenswerk sei und dass der Befehl Jesu allen Kindern Gottes gelte.211 Das Allianzblatt druckte Teile seiner Rede ab: „Die Aufgabe ist, das Evangelium zu verkündigen, wie Paulus sagt, als Gotteskraft – vornehmlich für die Juden [gesperrt im Original]. Wir müssen nach Gottes Ordnung handeln. Israel liegt noch schwer auf Gottes Herz. Aber Gott vergißt sein Volk nicht. ‘Kann auch ein Weib ihres Kindlein vergessen?’ – – [sic!] Wir haben Israel vergessen. Man hört in unseren Gebeten nichts von Israel. Laßt uns das Volk Israel um Gottes [gesperrt im Original] willen lieben. Es ist der Probierstein der Treue und Liebe zu unserem Gott und Heiland.“212 Die Konferenzteilnehmer mussten diese Botschaft verstanden haben. Tatsächlich war die Judenmission als besonderer Gegenstand des Gebets aus dem Gebetsprogramm für die zweite Woche im Januar 1934 weggefallen. Für Heiden, Muslime und Juden wurde – anders als bisher – an einem einzigen Abend gebetet. Das hatte der Vorstand des Deutschen Zweigs der 205 Todd Thompson, The Evangelical Alliance, Religious Liberty, and the Evangelical Conscience in NineteenthCentury Britain, in: Journal of Religious History 33 (2009), no. 1 (März), 49-65. 206 A. J. Arnold, Jubilee of the Evangelical Alliance, 56. 207 Ian Randall and David Hilborn, One Body in Christ. The History and Significance of the Evangelical Alliance, Carlisle 2001, 99f. 208 Zitiert nach: Thomas Küttler, Umstrittene Judenmission, 103. 209 Friede über Israel, Nr. 3-4, Oktober 1916, 11-13. 210 Trusting and Toiling on Israel’s Behalf, 15.8.1933, 100; 15.11.1933, 133. 211 Trusting and Toiling on Israel’s Behalf, 15.8.1934, 98; 15.12.1934, 138; Erich Beyreuther, Der Weg der Evangelischen Allianz in Deutschland, Wuppertal 1969, 109. 212 Evangelisches Allianzblatt 15./30.9.1934, 283f. 56 Evangelischen Allianz beschlossen. Der besonderen Lage des deutschen Volkes und Vaterlandes wurde so, wie der Vorstand mitteilte, gebührend Rechnung getragen.213 In einer Fußnote wies man darauf hin, dass es der Hauptvorstand der britischen Allianz war, der diese Änderung vorgeschlagen hatte. Der Vorstand wollte Rückfragen von besorgten Christen vermeiden. Der Gnadauer Präses Walter Michaelis antwortete am 1. August 1933 auf einen Brief von Prediger Gustav Nagel214: „Das ist für uns Verantwortliche natürlich angenehm, die Verantwortung dafür [d.h. für die Verlegung der Fürbitte für die Juden] auf die Engländer schieben [zu] können, damit wir [Unterstreichung im Original] nicht als solche erscheinen, die da weichen.“ Am 21. September 1933 lautete dieses Manöver so: „[F]ür uns ist wichtig, darauf hinzuweisen, dass der eher philosemitische Weltvorstand [Unterstreichung im Original] diese Neuerung beschlossen hat.“215 Als Samuel Wilkinson 1935 aus Bad Blankenburg nach London zurückfuhr, berichtete er, dass er in Thüringen „vom göttlichen Standpunkt her“ die Sache Israels verfochten habe. „Meine Aufgabe, obwohl ich am Anfang manch Widriges zu überwinden hatte, wurde anscheinend gesegnet und erhielt Resonanz“.216 Das war sicherlich zum Teil Wunschdenken. Die Arbeit des Anglikaners Dolman sowie der Mildmay-Missionare in Berlin ging nicht ein, sie blühte im Gegenteil auf – bis in das Dritte Reich hinein, als andere evangelische Christen versuchten, sein Werk zu torpedieren. Die Wandsbeker Konferenz wurde während der Weimarer Republik von einer großen Anzahl von Menschen besucht, obwohl der Zusammenhang mit der Londoner Judenmission bekannt war. 1931 beschwerte sich Dolman, dass „sogar in christlichen Kreisen“ der Antisemitismus stark anwachse. Im folgenden Jahr (1932) kritisierte er die Feindschaft, die ein von ihm getaufter Judenchrist unter christlichen Studenten erlebt hatte. „Es ist leider die Wahrheit, dass es diejenigen gibt, die den Namen Jesu bekennen und behaupten, sie würden ihm – der Zierde der jüdischen Rasse – dienen, die aber doch seinen jüdischen Geschwistern feindlich gesinnt sind, auch wenn diese Christen sind.“217 Er verzweifelte an dem geistlichen Zustand seiner deutschen Mitchristen. Friedrich Heitmüllers Veröffentlichung seiner Sieben Reden eines Christen und Nationalsozialisten haben da seine Zweifel sicherlich nicht zerstreut.218 In der Tat war die antisemitische Grundstimmung in Preußen schon längst maßgebend. Gleichzeitig verschloss man sich fremden Missionseinflüssen. Kirchliche Bürokraten hatten die Zeichen der Zeit erkannt, am 12. März 1930 strich die preußische Generalsynode die Kollekte für die Judenmission. Daraufhin erging am 5. Dezember 1932 ein Unterstützungsgesuch an den Oberkirchenrat in Berlin. Mit dem Aufhören der landeskirchlichen Missionsarbeit würde, so argumentierte der Direktor der Berliner Judenmissionsgesellschaft, kein erfreulicher Zustand eintreten. Allerdings würde die Mission an den Juden auch nach dem eigenen Ausscheiden in Deutschland weitergetan werden; sie würde nur in andere Hände übergehen: „Ausländische Missionsgesellschaften, obenan englische, stehen schon jetzt wartend vor der Tür, um im gegebenen Augenblick das freigewordene Arbeitsfeld zu besetzen. Unsere Landeskirche 213 Evangelisches Allianzblatt, 17.12.1933, 807, 810; Friedrich Heitmüller, Aus vierzig Jahren Dienst am Evangelium, Witten o.J., 129. Zwischen 1935 und 1938 wurde wieder an einem besonderen Abend Fürbitte für Israel getan, sie fiel aber 1939 endgültig weg. Auch diesmal verwiesen die Blankenburger auf den Hauptvorstand der Allianz in London und fügten hinzu: „Nur einige Anmerkungen, besonders in der Mi s sio n [sic!], wollen in etwa die deutsche Lage berücksichtigen“, in: Evangelisches Allianzblatt, 30.12.1937, 347. 214 Zu Nagel: Wilhelm Wöhrle (Witten), Gustav Nagel (1868-1944), ein Vorkämpfer der Evangelischen Allianz, in: Evangelisches Allianzblatt, Nr. 3, März 1968, 48-50. 215 In Kopien von Briefen von Walter Michaelis vom 1. August 1933 an Gustav Nagel und vom 31. Juli 1937 an Otto Dreibholz (im Besitz des Autors). Michael Diener zitiert aus dem zweiten Brief, Kurshalten in stürmischer Zeit. Walter Michaelis (1866-1953) – Ein Leben für Kirche und Gemeinschaftsbewegung, Gießen-Basel 1998, 513f. 216 Trusting and Toiling on Israel’s Behalf, 15.8.1935, 97; 16.12.1935, 138f. 217 Bread Cast Upon the Waters. Being the 125th Missionary Report of the London Society for Promoting Christianity among the Jews 1932-1933, 32-34. Denselben Eindruck gewann 1913 Dolmans Reiseprediger D. A. Löwy: „Leider kann ich aus Erfahrung bezeugen, daß es viele wahre Kinder Gottes gibt, die nicht nur das Volk Israel nicht lieb haben, sondern es hassen“, D. A. Löwy, Er liebt unser Volk. Nach einem Konferenzvortrag, in: Israels Hoffnung, Januar 1913, 4-5. 218 In seinen Lebenserinnerungen wird der Titel dieses Werkes entweder nicht genannt oder verkürzt als Sieben Reden wiedergegeben, Friedrich Heitmüller, Aus vierzig Jahren Dienst am Evangelium, Witten 1950, 138, 237. 57 würde alsdann in ihrer Mitte Hauptquartiere des Methodismus, Baptismus und des englischen Episkopalismus erstehen sehen, deren auflösendes Wirken auf den inneren Zusammenhalt unserer landeskirchlichen Gemeinden recht bald schmerzlich fühlbar werden müßte“.219 Die ausländische Judenmission wurde also, wie die inländischen Juden selbst, als eine Gefahr gesehen und behandelt. Anti-britische Töne waren auch auf der Konferenz der deutschen und Schweizer Judenmissionsgesellschaften zu hören, die am 21. Oktober 1932 in Wittenberg stattfand. Die Missionsgesellschaften in Köln, Berlin, Leipzig und Basel baten die Kirchenregierungen, die Judenmission allen Angriffen zum Trotz durch ihre Billigung und Unterstützung als eine kirchliche Aufgabe zu legitimieren. Denn in demselben Maße, wie die Kirche diese ihre Aufgabe vernachlässige, entstünden Missionsunternehmungen privater und sektiererischer Art, die vielfach in Proselytenmacherei und in einen „Betrieb“ ausarteten, der für Christen wie für Juden gleich abstoßend sei. Außerdem wartete die Judenmission englischer Zunge [unterstrichen im Original] (England und Nordamerika) nur darauf, Mitteleuropa mit ihren Sendboten ausgiebig zu besetzen, welche ihrerseits in Deutschland unvermeidlich Stützpunkte des Methodismus, Baptismus, usw. werden würden. Derartiges könne und müsse aus deutscher Sicht vermieden werden.220 Die größte britische judenmissionarische Gesellschaft, die so genannte Londoner, die mit der reformierten Staatskirche in England assoziiert und nicht zuletzt die Muttergesellschaft der Berliner war, wurde dabei von Professor Alfred Jeremias nicht erwähnt. Solch allzu menschliches Taktieren zu Ungunsten britischer Missionen ist ein beredtes Zeugnis für einen Entfremdungsprozess, der schon vor dem Ersten Weltkrieg begann und dann in der NS-Diktatur beschleunigt wurde. 4. Zusammenfassung Die christlichen britisch-deutschen Beziehungen wurden seit dem Ende des 19. Jahrhunderts vor allem durch große interkonfessionelle Konferenzen und Organisationen wie z.B. den CVJM geknüpft. Hier konnten vielfältige Impulse aus Irland und Großbritannien weitergegeben werden. Das judenmissionarische Netzwerk verband Gemeinschaftskreise im Vereinigten Königreich mit ähnlich orientierten Gruppen in Deutschland. In Bonn und Hamburg entstanden sogar neue Gemeinden, die direkt mit der irischen Judenmission in Verbindung standen und zu Zentren der Gemeinschaftsbewegung im Norden und Westen Deutschlands wurden. Als wichtiger Bereich der gesamten Gemeinschaftsbewegung trug die Judenmission vielfältige Früchte. Je mehr aber deutsche kirchliche Vertreter mit der Zeit versuchten, fremde religiöse Einflüsse auf das eigene Volk abzuwehren und die eigene Kirche rein zu halten, wertete man andersartige Kirchengebilde ab. Die Kräfte, die seit Jahrzehnten gegen die „Engländerei“ polemisiert hatten, beherrschten am Ende der Weimarer Republik das Feld. Die Sprache des Krieges charakterisierte deren Einstellung zu freikirchlichen Bestrebungen im eigenen Machtbereich. Die Lehren über die Wiederkunft Christi und die endgültige Erlösung Israels waren Bestandteile des Mutterbodens der Heiligungsbewegung. Das war nicht zufällig, wie Johannes Wallmann hervorgehoben hat. „Es gibt keinen Pietismus“, schreibt Wallmann, „für den die Hoffnung auf die Rettung Israels keine Rolle spielt […].“221 Das gilt auch für den Neupietismus. Auf den Konferenzen in Mildmay, Keswick und Bad Blankenburg wurde ganz auf der Linie dieser eschatologischen Erkenntnisse gelehrt und gepredigt. Sehr viele Vertreter der britischen Heiligungsbewegung waren Prämillenniaristen. Sie glaubten, dass die Zeit der Heiden und der 219 Evangelisches Zentralarchiv Berlin. Best. 7, Nr. 3648: Akten betreffend: die Gesellschaft zur Beförderung des Christentums unter den Juden vom Januar 1930 bis August 1963. Unterstützungsgesuch an den Oberkirchenrat, Berlin, vom 5. Dezember 1932. 220 Evangelisches Zentralarchiv Berlin, Best. 7, Nr. 3648: Akten betreffend: die Gesellschaft zur Beförderung des Christentums unter den Juden vom Januar 1930 bis August 1963. Brief an den Evangelischen Oberkirchenrat, Berlin-Charlottenburg, 9. Februar 1933. Der Brief ist von Professor Dr. Alfred Jeremias, dem Vorsitzenden des Evangelisch-lutherischen Zentralvereins für Mission unter Israel unterzeichnet. Siehe auch Bestand C3 / 170 / 2 (Februar 1933 bis Dezember 1933), Bl. 3. 221 Johannes Wallmann, Der alte und der neue Bund. Zur Haltung des Pietismus gegenüber den Juden, in: Ders., Pietismus-Studien. Gesammelte Aufsätze II, Tübingen 2008, 259. 58 heidenchristlich geprägten Kirchen bald zu Ende gehen würden, so dass Israel dann wieder im Mittelpunkt der Weltpolitik stünde. Für diese Männer und Frauen war das Engagement für die Judenmission Glaubenssache. Gleichzeitig begaben sich nicht wenige britische Evangelikale – im Gegensatz zu ihren deutschen Geschwistern – auf das politische Feld, um sich für die rechtliche Gleichstellung und -behandlung von Juden im In- und Ausland zu engagieren. Die Zusammenarbeit in der internationalen Heiligungsbewegung wurde Anfang des 20. Jahrhunderts durch die Einwirkung der Politik und vor allem des Ersten Weltkrieges erheblich gestört. Auch wenn von britischer Seite versucht wurde, auf deutsche Allianzkreise einzuwirken, wurde der Sog des deutschen Nationalismus am Ende zu stark. Die britisch-deutsche judenmissionarische Zusammenarbeit fiel letztlich dem Zeitalter des Imperialismus zum Opfer. 59 Karl Heinz Voigt Methodistische Einflüsse auf die Gemeinschaftsbewegung im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts Die erste Geschichte der modernen Gemeinschaftsbewegung veröffentlichte der konfessionsbewusste Lutheraner Paul Fleisch (1878-1962) im Jahr 1903. Er skizzierte in einer kurzen Einleitung einen historischen „Überblick“ über die Geschichte der Gemeinschaften in den vier Epochen (1) Reformation, (2) Pietismus, (3) Erweckungsbewegung und schließlich (4) „kam ein neuer Anstoß […] von England her durch die sogenannte Oxford Bewegung“222. Diese Linienführung wurde von fast allen Historikern der Gemeinschaftsbewegung verinnerlicht. Noch 1984 übernahm Joachim Cochlovius sie in der Theologischen Realenzyklopädie.223 Hatte Paul Fleisch die Gründungsphase der organisierten Gemeinschaftsbewegung noch mit dem Hinweis auf die „Oxford Bewegung“ zusammengefügt, so schrieb Cochlovius diesen Einfluss der „angelsächsische[n] Evangelisations- und Heiligungsbewegung in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts“ zu. Das bleibt so verschwommen, wie es schon bei Fleisch unpräzise war. Zuletzt verzichtete Jörg Ohlemacher in seinem im Jahr 2000 erschienenen Beitrag in der Geschichte des Pietismus auf den Hinweis einer selbstverständlichen Verwurzelung in der Reformation und auf die Vorgeschichte von Pietismus und Erweckungsbewegung und machte schwerpunktmäßig darauf aufmerksam, „wie sehr sich diese Bewegung Anstößen besonders aus dem angelsächsischen Raum verdankt und wie eng sie in internationale Zusammenhänge sowohl hinsichtlich ihrer Lehranschauungen wie Organisationsformen verwoben blieb“.224 Alle drei genannten Autoren haben weder die Rolle der Herrnhuter Brüdergemeine gesehen225 – warum eigentlich nicht? –, noch haben sie „angelsächsische Beziehungen“ genauer lokalisiert. Die Blickrichtung der Leser wurde auf die angelsächsischen Länder, vorwiegend England, aber auch Amerika gerichtet. Bisher ist noch nicht die Frage gestellt und daher auch nicht untersucht worden, ob es auch Einflüsse der in jener Zeit in Deutschland wirkenden Kirchen angelsächsischen Ursprungs gab, zu denen damals vier methodistische Kirchen gehörten.226 Dieser Frage nach dem „angelsächsischen Einfluss“ durch die in Deutschland wirkenden 222 Paul Fleisch, Die moderne Gemeinschaftsbewegung in Deutschland. Ein Versuch, dieselbe nach ihren Ursprüngen darzustellen und zu würdigen, Leipzig 1903, 7. 223 Joachim Cochlovius, Gemeinschaftsbewegung, in: TRE 12 (1984), 356. 224 Jörg Ohlemacher, Gemeinschaftschristentum in Deutschland im 19. und 20. Jahrhundert, in: GdP 3, Göttingen 2000, 394. Etwa zur gleichen Zeit benannte Christoph Morgner nach Reformation, Pietismus und Erweckungsbewegungen auch die Erweckungs- und Heiligungsbewegungen „aus dem angelsächsischen Raum“ und die „Evangelisationsbewegung aus Amerika“. Vgl. Christoph Morgner, Geistliche Leitung als theologische Aufgabe. Kirche – Pietismus – Gemeinschaftsbewegung, Stuttgart 2000, 5. 225 Im 19. Jahrhundert gestaltete die Herrnhuter Brüdergemeine durch ihre Reiseprediger eine äußerst wirksame und einflussreiche „Diasporaarbeit“. Die bescheidenen Prediger repräsentierten eine autonome, weiträumige und internationale Kirche, wie es für in Deutschland beheimatete Konfessionen einmalig war. Sie finanzierte als kleine kirchliche Gemeinschaft ihre enorme globale Missionsarbeit auch aus den Gaben, die ihre Reiseprediger sammelten, wenn sie von Ort zu Ort zogen, über die Mission berichteten und große Zuhörerkreise fanden. Die sich formierenden Gemeinschaftskreise boten diesen vorhandenen erwecklichen Brüdergemeinkreisen eine neue Möglichkeit der ortsnahen Organisation und einer damit verbundenen geregelten Betreuung mit planmäßigen Zusammenkünften. Das wurde für die Herrnhuter zu einer Existenzbedrohung, auch weil der finanzielle Zustrom für die weltweite Mission ausblieb. Horst Weigelt schreibt: Es geschah, „dass sich die Gemeinschaftsbewegung mehr oder weniger an die Stelle der Diasporaarbeit der Brüdergemeine schob.“ 1901 befasste sich die Unitäts-Ältesten-Konferenz, also deren Synode, mit dieser Entwicklung. Sie formulierte: Die Gnadauer Pfingstkonferenz „zielte auf Evangelisation sowie Erbauung und stellte damit die Diasporaarbeit der Herrnhuter Brüdergemeine in gewissem Sinn vor die Existenzfrage. Nahm sie sich doch mancherorts auch der frommen Kreise an, die bislang von der Diasporaarbeit der Brüdergemeine erfasst wurden.“ Die Unitäts-Ältesten-Konferenz von 1901 diskutierte dieses Problem und sah: „Unsere Diasporagemeinschaften werden mehr und mehr aufgesaugt durch die Gemeinschaftsbewegung unserer Tage. Die Bewegung klopft an unsere Thore und begehrt Einlaß. Sie klopft oft ungestüm und dies wohl darum, weil sie fühlt, daß sie etwas hat, was wir nicht mehr haben. Und man thut ihr vielfach die Thore auf, weil man fühlt, daß das, was bei uns da sein sollte, nicht so da ist, wie wir es begehren.“ (Zitate nach Horst Weigelt, Die Diasporaarbeit der Herrnhuter Brüdergemeine, in: GdP 3, Göttingen 2000, 112-149, hier: 124f.) 226 Es waren dies die heute in der Evangelisch-methodistischen Kirche vereinigte Wesleyanische Methodistengemeinschaft, die Bischöfliche Methodistenkirche, die Evangelische Gemeinschaft und die Kirche der Vereinigten Brüder. 60 methodistischen Kirchen, der freilich nicht von den internationalen Linien zu lösen ist, soll dieser Beitrag gewidmet sein. Dabei ist es nicht möglich, deren Einfluss umfassend auf alle unterschiedlichen Frömmigkeitsbewegungen am Ende des 19. Jahrhunderts darzustellen. Die Überlegungen konzentrieren sich deshalb auf die Entstehung und Frühgeschichte der Deutschen Gemeinschaftsbewegung. 1. Die methodistischen Kirchen in Deutschland und der Schweiz zwischen 1850 und 1875 Eine kurze Übersicht soll helfen, theologische Akzente und Strukturen der methodistischen Kirchen in der Zeit vor dem Kommen von Robert Pearsall Smith (1827-1898) zu skizzieren. Die methodistischen Kirchen und der Heiligungsprediger Smith kamen aus demselben Frömmigkeitsfeld in Amerika, das zu dieser Zeit unter starkem methodistischen Einfluss stand. Die methodistischen Kirchen kamen ab 1849 als Missionsbewegungen nach Deutschland mit dem Ziel, bereits Getaufte durch Wiedergeburt und Bekehrung in eine aktive Nachfolge Christi zu rufen. Die Bekehrten wurden unterwiesen, ihren Glauben in einem Leben der Heiligung, das zentral von der Liebe bestimmt war, zu gestalten. Die Gläubiggewordenen wurden dahin geführt, zuletzt selbst missionarisch aktiv zu werden. Dafür gab es entsprechende Strukturen: Das freie Gebet – in von Laien (Männern und teilweise Frauen) geleiteten Gebetsversammlungen. Das Bekennen von Glaubenserfahrungen – in wöchentlichen Kleingruppen („Klassen“). Die biblische Unterweisung von Kindern – in Sonntagsschulen durch Männer und Frauen. Das zeugnishafte Berichten von Glaubenserlebnissen nach der Predigt – durch beauftragte „Ermahner“. Die zeugnishafte, volkstümliche Predigt auch durch Laien – in den Gottesdiensten. Die Integration in eine verbindliche Gemeinschaft. Das Verteilen von Traktaten, Zeitschriften und Bibeln – auch durch angestellte Kolporteure, gedruckt im eigenen Verlag. Das System der Reiseprediger – das für eine einheitliche, überregionale Prägung sorgte Fromme Kirchenchristen sollten durch diese Strukturen zu aktiven Teilnehmern an der Mission erweckt werden. Erreicht wurden besonders Menschen, die in Bezug auf Sakramente und Amtshandlungen kirchlich versorgt waren, aber wegen rationalistischer oder liberaler Prediger einen geistlichen Mangel empfanden. Die christozentrische Evangelisationspredigt und die geistliche Gemeinschaft mit Gebet und Seelsorge zogen sie an. Ihr Glück über das empfangene Heil war ansteckend und ließ ihre neue Gemeinschaft zu einem Ort der Umkehr für Suchende werden. Da sie keine eigenen Räume hatten, luden sie in Gasthaussäle, Bauerndielen, Theaterräume, Werkstätten, Lagerräume und andere säkulare Stätten ein, oft auch in Stuben und private Räume. Sie wandten sich immer an die Öffentlichkeit und versuchten „Massen“ zu bewegen. Sie wussten um die Bedeutung von Versammlungszyklen über längere Zeiträume, die sie zunächst „verlängerte Versammlungen“ und später „Evangelisationen“ nannten. Ein Denken in territorialen Einschränkungen, parochialen Grenzen und konfessionellen Abgrenzungen war durch ihre Amerika-Erfahrungen überwunden. Die Ekklesiologie war ihnen sowieso zunächst zweitrangig, die methodistische Theologie war im Kern soteriologisch bestimmt. Schlüsselfiguren für die Ausbreitung des Methodismus waren die Reiseprediger und die wandernden Kolporteure. Der Stellenwert der Organisation wurde sehr bewusst wahrgenommen. 2. Die „Triumphreise“ von Robert Pearsall Smith Der Deutschland-Reise von Robert Pearsall Smith im Frühjahr 1875 wird als ein wichtiger Ausgangspunkt für die Entstehung der Gemeinschaftsbewegung angesehen.227 Durch Smith 227 Vgl. Karl Heinz Voigt, Die Heiligungsbewegung zwischen Methodistischer Kirche und Landeskirchlicher Gemeinschaft. Die „Triumphreise“ von Robert Pearsall Smith im Jahre 1875 und ihre Auswirkungen auf die 61 gewann die im Kleinen praktizierte methodistische Praxis der Mission eine breite Öffentlichkeit. Er machte die in den angelsächsischen Ländern praktizierten Methoden in Deutschland bekannt. Sie gingen zurück auf Charles G. Finney (1792-1875) und wurden weiter entwickelt von Dwight L. Moody (1837-1899). In Amerika fanden sie auch Aufnahme im deutschsprachigen Zweig der Methodistenkirche.228 Es ist daher nicht zufällig, dass Smith in der deutschen kirchlichen Presse vielfach als „Methodist“ bezeichnet wurde, obwohl er von Haus aus Quäker war und seine kirchliche Zugehörigkeit ihm selbst ziemlich belanglos zu sein schien. In Amerika hatte er lebhafte Kontakte zu den methodistischen Kirchen.229 Die auffälligsten Merkmale des Wirkens von Smith in Deutschland waren: Smith wandte sich als evangelistischer Heiligungsprediger an „die Massen“. Er führte ganz im Sinne der amerikanischen Convention-Kultur einen ganzen Veranstaltungszyklus, fast eine Art Klausur durch (Heiligungkonferenzen), woraus die „Kampagnen“ erwuchsen. Smith überschritt Konfessionsgrenzen, Parochialgrenzen und Landeskirchengrenzen. Er legte Wert darauf, dass die Arbeit „undenominationell“ war. Ekklesiologischen Fragen wich er aus. Er benutzte neben den Kirchen auch öffentliche Säle. Er war ein volkstümlicher Laienprediger. Er führte das neue angelsächsische Liedgut ein, wie es Ira D.Sankey (1840-1908) aus seinen „Sacred Songs and Solos“ sang. Nicht zufällig wurde das Lied des Methodistenpredigers Ernst Gebhardts „Jesus errettet dich jetzt…“, das ganz in dieser Tradition stand und sie sogar noch etwas weiter führte, zum internationalen Lied der weltweiten Heiligungsbewegung. Alle diese Aspekte finden sich später in Struktur, Frömmigkeit und Theologie der Gemeinschaftsbewegung wieder. Sie leiteten einen Wandel im Selbstverständnis der regionalen Gemeinschaften ein. Exkurs 1: Methodismus, Methodisten und methodistische Kirche Leider wird in fast allen historischen Studien übersehen, dass der Methodismus-Begriff im 19. Jahrhundert anders gefüllt war als heute. Ich will versuchen, in aller Kürze das Ergebnis meiner umfangreicheren Studien zu dieser Frage zu benennen: Mit dem Terminus „Methodismus“ wurde in Deutschland, allerdings nur hier, eine überdenominationelle, konfessionsfreie Frömmigkeitsbewegung beschrieben, die als solche deutliche Parallelen zum ebenfalls kirchenlosen, überkonfessionellen „Pietismus“ aufweist. Sehr schön hat in seiner großen Schlümbach-Studie Thomas Hahn-Bruckart in äußerster Knappheit diesen Begriff „Methodismus“ definiert als „Chiffre für erwecklichen Protestantismus angelsächsischer Prägung“ und ihn in diesem Sinne vielfach differenziert verwendet und selbst im Register besonders ausgewiesen.230 Entsprechend wurden Personen dieses Frömmigkeitstyps, den ich zusätzlich als evangelistisch, verbunden mit dem Dienst von charismatisch begabten Predigern und Laienpredigern charakterisieren würde, als „Methodisten“ bezeichnet, selbst wenn sie ausgewiesenermaßen keiner Kirche methodistischer Tradition angehörten. Ich nenne zuerst: Robert Pearsall Smith, der aus der Tradition des Quäkertums kam und kein Glied einer methodistischen Kirche war; weiter Johannes Evangelista Goßner (1773-1858), auch Theodor Christlieb (1833-1889), Elias Schrenk (1831-1913) und andere durch Evangelisation zur Bekehrung rufende Verkündiger, die – in der Regel mit polemischer Absicht – als Methodisten bezeichnet wurden. zwischenkirchlichen Beziehungen, Wuppertal 1996. Auch: ders., Robert Pearsall Smith, in: BBKL 10 (1995), 696704. 228 Vgl. Christoph Raedel, Methodistische Theologie im 19. Jahrhundert. Der deutschsprachige Zweig der Bischöflichen Methodistenkirche, KKR 47, Göttingen 2004. 229 Vgl. Voigt, Heiligungsbewegung, 160f. 230 Vgl. Thomas Hahn-Bruckart, Friedrich von Schlümbach (Göttingen 2011), 518 mit 24 teils umfangreichen Verweisen. 62 Ich persönlich habe mich seit Jahrzehnten bemüht, in meinen Formulierungen bewusst zwischen der nichtkirchlichen Frömmigkeitsbewegung des „Methodismus“ und dem bedeutend geringeren Teil desselben, der zur „methodistischen Kirche“ geworden ist, zu unterscheiden. 3. Der Einfluss von Theodor Christlieb Die Einberufung und Durchführung der Gnadauer Pfingstkonferenz 1888 markiert einen zentralen Punkt im Zuge der Organisation der Gemeinschaftsbewegung. Die Hauptakteure, der Hamburger Laie Jasper von Oertzen (1833-1893) und vor allem der Bonner Theologieprofessor Theodor Christlieb (1833-1889) hatten Erfahrungen mit der angelsächsischen Erweckungsbewegung gemacht. Von Oertzen hatte in Hamburg und Schleswig-Holstein einige Mühe aufzuwenden, um die Aktivitäten des irischen Judenmissionars James Craig231 (18181899) wieder in die heimatliche Innere Mission zu integrieren. Für von Oertzen muss die autonome Gemeinschaftsbildung des Iren und die breite missionarische Aktivität in Hamburgs Stadtteilen und Vororten eine aufrüttelnde Erfahrung gewesen sein.232 3.1 Christliebs theologisches Profil und sein Lehrauftrag Der schwäbische Pietist Theodor Christlieb (1833-1889) hatte in seinen Londoner Jahren von 1858 bis 1865 die missionarische Kraft der methodistischen Kirche erlebt. Er war beeindruckt von der Heiligung des Herzens und des Lebens, die zu sozialem Handeln führt, von der Verkündigung durch Laien, dem Wirken in ökumenischer Gemeinschaft, dem Missionsverständnis als bewusster Evangelisation an Getauften und dem Gemeindeaufbau ohne staatliche Beeinflussung Der Aufbau seiner eigenen Gemeinde im Londoner Stadtteil Islington war diesen Grundsätzen gefolgt. Als Bonner Professor hatte er internationale Erfahrungen in die Praktische Theologie einzubringen. Kein anderer Hochschullehrer in Deutschland hatte zu jener Zeit einen solchen ökumenischen Weitblick wie er, ausgenommen Friedrich August Gottreu Tholuck (1799-1877) in Halle. Die London-Erfahrungen prägten Christliebs Lehrtätigkeit, die verbunden war mit persönlichem evangelistischem Engagement. Er suchte nach einem Weg, die Erfahrungen aus London auf die kirchliche Arbeit in Deutschland zu übertragen. 3.2 „Zur methodistischen Frage in Deutschland“ Man kann Theodor Christliebs 1882 veröffentlichten Aufsatz „Zur methodistischen Frage in Deutschland“, der danach als selbständige Broschüre erschien, als eine Grundschrift interpretieren, in der er einen Weg der Auseinandersetzung mit den in Deutschland zu jener Zeit in starker Ausbreitung befindlichen methodistischen Kirchen vorschlug und zugleich Ansätze für die kommende Gemeinschaftsbewegung skizzierte. Christlieb gehörte nicht zu denen, die gegen den Methodismus polemisierten und seine Wirkung dadurch einzuschränken versuchten, dass sie ihn diskreditierten, wie es viele andere Theologen – übrigens oft ohne eine wirkliche Kenntnis – taten. Er respektierte die evangelistische Wirksamkeit der Methodisten und war gleichzeitig daran interessiert, sie einzuschränken.233 Die 231 Vgl. Karl Heinz Voigt, James Craig, BBKL 15 (1999), 435-443. Vgl. Karl Heinz Voigt, Theodor Christlieb (1833-1899). Die Methodisten, die Gemeinschaftsbewegung und die Evangelische Allianz, Göttingen 2008 (Aufsatzsammlung). Auch: ders., Theodor Christlieb, BBKL 25 (2005), 144170. 233 Stephan Holthaus, Heil – Heilung – Heiligung. Die Geschichte der deutschen Heiligungs- und Evangelisationsbewegung (1874-1909), Gießen 2005, 271 kommt zu einer Fehlinterpretation der Haltung Christliebs und formuliert, er sei „ein vehementer Gegner des Methodismus [gewesen, der] vor den Erfolgen ihrer Missionsarbeit warnte.“ Zwar verfolgte er kirchenpolitisch das völlig legitime Ziel, die Kirchenbildung der Methodisten einzuschränken. Aber er gestand ihnen – vermutlich als einziger Hochschullehrer – zugleich da ein Recht zur Evangelisation zu, wo landeskirchliche Pastoren und ihre Gemeinden selbstzufrieden lebten. Diese sonst nicht anzutreffende offene Haltung veranlasste seinen Bonner Universitätskollegen Professor Johann Peter Lange (1802-1884), mit dem er viele Jahre freundschaftlich zusammengearbeitet hatte, zu einer polemischen Gegenschrift, die er 1883 in Bonn unter dem Titel „Gegen die Erklärung des Organs für positive Union zu Gunsten einer bedingten Anerkennung des Missionirens der Methodisten in der Evangelischen Kirche Deutschlands“ 63 232 Methode, die er zur Überwindung der methodistischen Kirchenbildung vorschlug, war denkbar einfach und äußerst erfolgreich. Er regte an, die Methodisten dadurch „überflüssig“ zu machen, dass ihre Praxis übernommen und innerhalb der Landeskirchen selbst praktiziert wurde. Nacheinander nannte er die methodistische Predigt, die volkstümlich und erwecklich statt nur erbaulich sei die organisierte Seelsorge durch Kleingruppen, die sog. „Klassen“ die Sonntagsschule als Feld der Laientätigkeit die Jünglingsvereine, die durch die Prediger zu unterstützen seien die überschaubaren Gemeinden und ihre Opferwilligkeit den Gehilfendienst von Laienkräften in der Verkündigung – für ihre Heranbildung sei ein innerkirchliches „Evangelisteninstitut“ ein dringendes Bedürfnis.234 3.3 Christlieb und der deutsch-amerikanische Methodistenprediger Friedrich von Schlümbach (1842-1901). Mit Friedrich von Schlümbach begann Christlieb, seinen Ansatz überregional in die Praxis umzusetzen.235 Er hatte ihn für eine Reihe aufsehenerregender Evangelisationen mit den Schwerpunkten in Berlin und Schleswig-Holstein gewonnen.236 Besonders die Berliner Kampagne in Verbindung mit den Freunden der Positiven Union erhielt viel Zustimmung und ebenso massive Kritik, die besonders aus dem Bereich der lutherischen Konfessionalisten kam. Sie standen sowohl jeglicher Form der Union wie auch der Evangelisation als Mission an Getauften ablehnend gegenüber. Die Kritik am Einsatz eines amerikanischen Methodisten auf landeskirchlichen Kanzeln, durch den Christlieb methodistische Praxis in die Landeskirche zu integrieren versuchte, war so scharf, dass Christliebs Kernanliegen, „die Neuevangelisierung der längst Entchristlichten“237 gefährdet war. Als Schlümbach aufgrund der Einladung Jasper von Oertzens (1833-1893) nach Hamburg kam, wurde er dort dadurch ausgebootet, dass lutherische Pastoren selbst Versammlungen durchführten, wie es Schlümbach in Berlin in Verbindung mit landeskirchlichen Pfarrern getan hatte. Praktisch war das bereits ein Erfolg für Christlieb, denn es war genau das geschehen, was er eigentlich wollte. Schlümbach reiste nach SchleswigHolstein weiter.238 3.4 Zeit der Abgrenzung Durch Christliebs Initiative war inzwischen ein Haus für die Einrichtung des von ihm geforderten „Evangelisteninstituts“ erworben worden.239 In diesem Bonner Haus der früheren irischen Judenmission tagte im März 1884 das für die Schlümbach´schen Evangelisationen verantwortliche Komitee. Christlieb hielt einen Vortrag, in dem er Konsequenzen aus den jüngst gemachten Erfahrungen zog und die Weichen für die Zukunft stellte. Daraufhin wurde der veröffentlichte. Das Organ der „positiven Union“ war die Kirchliche Monatsschrift, in der Christlieb seinen Aufsatz „Zur methodistischen Frage …“ (vgl. folgende Fußnote) veröffentlicht hatte. Christlieb war also kein „vehementer Gegner des Methodismus“, sondern eher ein Sympathisant. 234 Vgl. Theodor Christlieb, Zur methodistischen Frage in Deutschland. In: Kirchliche Monatsschrift 1. Jg. (1882), 583-628. Auch: Separatdruck, Bonn/Gernsbach 21882, 52ff. 235 Vgl. Thomas Hahn-Bruckart, Friedrich von Schlümbach. Erweckungsprediger zwischen Deutschland und Amerika. AGP 56, Göttingen 2011. Auch: Karl Heinz Voigt, Friedrich von Schlümbach, BBKL 9 (1995), 306-314. 236 Vgl. Hahn-Bruckart, Schlümbach, 275-337. 237 Vgl. Karl Heinz Voigt, „Die Neuevangelisierung der längst Entchristlichten“ – ein Ziel Christliebs von 1888. In. Ders., Theodor Christlieb (1833-1889), Die Methodisten, die Gemeinschaftsbewegung und die Evangelische Allianz, Göttingen 2008, 57-82. 238 Martin H. Jung, Der Protestantismus in Deutschland von 1870 bis 1945, Leipzig 2002, widmet der Gemeinschaftsbewegung einen längeren Abschnitt. Er charakterisiert sie in einer Weise, die zeigt, wie dringend nötig eine neue Darstellung der Bewegung ist. Jung schreibt (S. 78): „Während die Erweckungen integrale, die geistliche und diakonische Erneuerung umfassende und nach außen gerichtete Bewegungen gewesen waren und religiös gleichgültig gewordene Menschen zu gewinnen suchten, zielte die Gemeinschaftsbewegung – wie der frühe Pietismus – wieder primär auf die Sammlung Gleichgesinnter und die Pflege der intimen erbaulichen Gemeinschaft unter Konzentration auf das innere Leben.“ 239 Man kann in dem Evangelisteninstitut eine Parallele zu den methodistischen Seminaren in Frankfurt/Main (gegründet 1858 in Bremen, 1869 nach Frankfurt/M. verlegt), in Waiblingen (gegründet 1873) und in Reutlingen (gegründet 1877) sehen. 64 Deutsche Evangelisationsverein gegründet. Als er sich 1886 eine Satzung gab, wurden die neuen Grundsätze festgeschrieben. Die Verantwortlichen rückten von ihrer früheren internationalen Offenheit ab, wie sie nicht nur in Schlümbachs Evangelisationen praktiziert wurde. Christlieb argumentierte: „Der unbillige Aufschrei der Lutheraner gegen Schlümbach, […] der Widerstand der Geistlichkeit Hamburgs gegen ihn u.s.w. haben uns klar gezeigt, daß der von uns beabsichtigte undenominationelle Charakter des Werks ein Ding der Unmöglichkeit ist, wenn das Werk sich ausbreiten und selbst erhaltend werden soll.“240 Mit seiner Satzung grenzte sich der Deutsche (!) Evangelisationsverein konfessionell und national ab und stellte ausdrücklich den „Evangelisch-kirchlichen Charakter“ fest. Der Verein arbeitete nur noch mit Evangelisten zusammen, die einer Landeskirche angehörten. Diese sollten zukünftig ihre Evangelisationen ausschließlich in Verbindung mit einem Pfarramt halten. Evangelisten wie Schlümbach und der damals in Verbindung mit dem Verein tätige Londoner Arzt Dr. Peter Ziemann241 sollten um des Vereins willen keine „außerkirchlichen“ Evangelisationen durchführen.242 Das führte bei beiden zu unterschiedlichen Reaktionen: Der Deutsch-Amerikaner Schlümbach trat aus der Methodistenkirche aus und kam zu weiteren Evangelisationen nach Deutschland. Dr. Ziemann, der selbst längere Zeit im Evangelisationskomitee aktiv mitgearbeitet hatte, kündigte die Zusammenarbeit auf, weil er weiter auch „außerkirchlich“243 evangelisieren wollte. Mit dieser Abgrenzung war eine völlig neue Tendenz eingeleitet. Als Beispiel greife ich auf die Vorgeschichte von Gnadau 1888 zurück. Die Vorarbeit für die erste Gnadauer Konferenz leistete der Deutsche Evangelisationsverein. Ursprünglich war bereits 1886 eine Konferenz in Berlin geplant. Dazu war eine „Einladung zu einer freien Conferenz christlicher Männer aus ganz Deutschland“ ergangen.244 Diese Konferenz fand nicht statt. Als man ein Jahr später ein neues, durch den Evangelisationsverein beratenes Einladungsschreiben aussandte, hatte sich die Adresse verändert. Nun wurde zu einer „Versammlung christlicher Männer aus den Landeskirchen Deutschlands“ eingeladen.245 Die Abgrenzung der Landeskirchlicher gegenüber den methodistischen Kirchen, die im Verein notwendig geworden war, kann man sogar einer Passage des Einladungsschreibens entnehmen. Es heißt dort: „Die Bedürfnisse drängen [… über die Frage nach der Heiligung und der Mitarbeit von Laien hinaus], noch einen Schritt weiter, und zwar vornehmlich in zwei Richtungen. Mehr und mehr erwacht das Verlangen nach einer Pflege der Gemeinschaft in den Kreisen der Gläubigen. In dieser Beziehung ist vor allem die lokale Organisation von Privaterbauungs-Versammlungen in möglichst weiten Kreisen vonnöten. Wäre eine solche in genügender Weise vorhanden, so würden viele Geistliche nicht über das Eindringen ausländischer Sendboten, die neben der Erbauung und Evangelisation separatistische Zwecke verfolgen, zu klagen haben.“246 Also: Es waren Gemeinschaften zu organisieren, die das evangelisierende „Eindringen ausländischer Sendboten“ unnötig machten. Dies war, im Einklang mit Christliebs Schrift Zur methodistischen Frage auch ein Aspekt, die Gnadauer Konferenz einzuberufen und die 240 Theodor Christlieb, zitiert von Karneades K. Münkel, Verein für Massenevangelisation, in: Neues Zeitblatt für die Angelegenheiten der lutherischen Kirche, Hannover 1883, 353. 241 Karl Heinz Voigt, Heinrich-Peter Ziemann, BBKL 14 (1998), 1585-1588. 242 „Außerkirchliche Evangelisationen“ waren solche, die unabhängig von einer landeskirchlichen Gemeinde stattfanden. Die nun kirchenpolitisch notwendig gewordene Einbindung in die landeskirchlichen Strukturen wollte der in London lebende deutsche Arzt mit seinen sozial-ethischen Evangelisationsthemen nicht auf sich nehmen. 243 Die Formulierung „außerkirchlich“ meinte tatsächlich „außer-landeskirchlich“. Weil die „Sekten“ nicht als „Kirchen“ akzeptiert waren – der Begriff „Kirche“ war den Staatskirchen vorbehalten –, wurde die theologisch nicht haltbare Formulierung „außerkirchlich“ zu jener Zeit permanent verwendet. 244 Erster Entwurf eines Einladungsschreibens von Graf Eduard von Pückler in: Jörg Ohlemacher, Die Gemeinschaftsbewegung in Deutschland. Quellen zu ihrer Geschichte 1887-1914, Gütersloh 1977, 24. 245 Protokoll des Deutschen Evangelisationsvereins vom 14.4.1887. Leider fehlt diese „Adresse“ in dem Quellenteil von Jörg Ohlemachers Studie Das Reich Gottes in Deutschland bauen. Ein Beitrag zur Vorgeschichte und Theologie der Deutschen Gemeinschaftsbewegung, Göttingen 1986, 232, über dem dort veröffentlichten Text. Sie ist aber mit einer vom Autor vorgenommenen Ergänzung im Blick auf die deutschsprachige Schweiz im Vorwort auf Seite 10 dokumentiert. 246 Jörg Ohlemacher, Das Reich Gottes in Deutschland bauen. Ein Beitrag zur Vorgeschichte und Theologie der Deutschen Gemeinschaftsbewegung, AGP 23, Göttingen 1986, 233. 65 Gemeinschaftsbewegung in dieser Hinsicht – erfolgreich, wie später zu zeigen sein wird – zu formieren. 3.5 Die Gnadauer Pfingstkonferenz 1888 Nach den Evangelisationen des Methodisten Friedrich von Schlümbach war zum Leidwesen Christliebs organisatorisch eine Abgrenzung vollzogen, die sich mit der überregionalen Formierung der Gemeinschaftsbewegung weiter verfestigte. Das Programm der Gnadauer Pfingstkonferenz zeigt allerdings, dass inhaltlich keine Abgrenzung möglich war, wenn das von Christlieb und seinem Evangelisationsverein formulierte Ziel der Evangelisierung von Ungläubigen nicht aufgegeben werden sollte. An der 1. Gnadauer Pfingstkonferenz 1888 wurden behandelt: (1) die Laientätigkeit, (2) die Evangelisation, (3) die Frage der Heiligung, (4) die Organisation der christlichen Gemeinschaften. Abschließend sprachen Elias Schrenk aus Marburg über Gebetsversammlungen und Gebetsgemeinschaften sowie Pastor Heinrich Coerper (1863-1936) aus Barmen über Bibelstunden und Bibelbesprechungen.247 Diese 1888 in Gnadau behandelten Themen hätten in jeder methodistischen Predigerkonferenz jener Zeit das Programm bilden können, allerdings nicht in Abgrenzung gegenüber anderen missionswilligen Kirchen oder Gemeinschaften. 3.6 Ein neues Selbstverständnis 1890 wurde zunächst das Deutsche Komitee für evangelische Gemeinschaftspflege gebildet, dessen Namen nur wenige Jahre später (1897) verändert wurde in Deutscher Verband für Gemeinschaftspflege und Evangelisation. Das war mehr als eine Namensänderung. Man hatte längst die Konventikelpraxis der erbaulichen Gemeinschaftspflege verlassen und sich auf das Feld der weltzugewandten Massen-Evangelisation mit angelsächsischer Kampagnen-Methodik begeben.248 Die Ergänzung des Namens mit „und Evangelisation“ war nicht nur der Herstellung einer Rechtsform geschuldet, sondern Ausdruck des gewandelten Selbstverständnisses. 3.7 Ein kirchenpolitischer Schachzug und die Konsequenzen Die Organisation der Gemeinschaftsbewegung war ein kluger kirchenpolitischer Schachzug Christliebs gewesen. Die organisierte Gemeinschaftsbewegung bot die geeignete Struktur für das Christliebsche Programm von 1882, die kirchenbildende Tätigkeit der Methodisten durch die Übernahme ihrer Arbeitsweise und der verstärkten Bildung von evangelisierenden Gemeinschaften innerhalb der Landeskirchen „überflüssig“ zu machen. Damit wurden methodistische Theologie, methodistische Frömmigkeitsformen und methodistische strukturelle Elemente auf dem Weg über die organisierte Gemeinschaftsbewegung in die Landeskirchen integriert oder wenigstens an deren Rand angesiedelt. Das Gnadauer Tagungsprogramm mit seinen Themen liegt genau auf dieser Linie. 3.8 Schlümbach und der Trend zum Nationalverband Es stellt sich hier die Frage, ob die Organisation der Gemeinschaftsbewegung in Schlümbachs Aktivitäten ein Vorbild hatte. Schlümbach hatte die territorial in den verschiedenen Landesteilen unabhängig voneinander entstandenen Jünglingsbünde im September 1882 am Hermannsdenkmal im Teutoburger Wald zusammenrufen lassen, um sie – wie den deutschen YMCA in Amerika – organisatorisch zu einen. Sie sollten ihr Wachstumspotenzial entfalten, 247 Vgl. hierzu: Johann Gottlob Pfleiderer (Hg.), Verhandlungen der Gnadauer Pfingstkonferenz (22.-24. Mai 1888), Neubearbeitung von Johannes Dreßler, Berlin 1987, 14f. Die Hauptreferate lauteten vollständig: „Die Berechtigung, die Notwendigkeit und die Grenzen der Laientätigkeit“, gehalten von Friedrich Fabri (1824-1891); „Die Notwendigkeit der organisierten Evangelisation neben dem pastoralen Amt und ihre Bedeutung für das kirchliche Leben“, gehalten von Jasper von Oertzen; „Was lehrt die Heilige Schrift über Heiligung?“, Generalsuperintendent Wolfgang Geß (1819-1891) aus Wernigerode. „Die Gemeinschaft der Heiligen und die notwendige Organisation der christlichen Gemeinschaften in Stadt und Land“, Superintendent Schmalenbach aus Mennighüffen. 248 Vgl. dazu Hermann Klemm, Elias Schrenk. Der Weg eines Evangelisten, Wuppertal 21986. Schrenk war vom Deutschen Evangelisationsverein angestellt und hatte Evangelisations-Methoden von D. L. Moody (1837-1899) übernommen. Die von Klemm zusammengestellte Liste der Evangelisationen Schrenks in Deutschland beginnt im Oktober 1884 und weist in der Anfangszeit Lokale, Gasthöfe und andere Säle auf. Später sind es mehr Kirchen und Gemeindehäuser (Klemm, 262f.). 66 indem Betreuungsvereine einen Impuls bekamen, Missionsvereine zu werden. An den Versammlungen am Hermannsdenkmal nahm Christlieb aktiv teil. Er hielt im großen Festgottesdienst bezeichnenderweise seine Predigt über „den herrlichen Beruf der Kinder Gottes, Salz der Erde und Licht der Welt“ zu sein. Die Zusammenführung der regionalen Jünglingsverbände zu einem deutschen Nationalverband liegt parallel zu der Bemühung, die ebenfalls regionalen Gemeinschaftsvereinigungen zu einem nationalen Organ zusammenzuführen. 3.9 Eine veränderte Landschaft Als es landauf landab zur Bildung neuer oder bereits bestehender, aber zur missionarischen Umgestaltung angeregter Gemeinschaften kam, eröffnete sich ein Weg, methodistische Frömmigkeit im Rahmen der Landeskirchen zu leben, ohne diskriminiert zu werden. Aus den jungen methodistischen Gemeinden kehrten zahlreiche Erweckte und Glaubende über die Gemeinschaften in die Landeskirchen zurück. Das war umso leichter, als besonders außerhalb Württembergs und Sachsens die Mehrzahl nicht formal aus ihrer Landeskirche ausgetreten war. Sie waren mittragende Freunde der methodistischen Gemeinden oder hatten vielfach eine Doppelmitgliedschaft angenommen, indem sie Mitglieder der Landeskirchen blieben und sich gleichzeitig den Methodisten anschlossen. Mit der Gründung von Gemeinschaften hatte der methodistische Frömmigkeitstyp den von Christlieb erhofften neuen Ort. Männer und Frauen konnten ohne Unterschied beten; die Predigten durch mit der Gemeinschaftsbewegung sympathisierende Pfarrer oder durch Laienprediger motivierten zu missionarischem Leben, die Laien fanden entsprechend ihren Begabungen auch Bereiche für die Mitarbeit in geistlichen Aufgaben und das Bedürfnis nach christlicher Gemeinschaft erfüllte sich. Das Christliebsche Konzept der Integration methodistischer Frömmigkeit und Arbeitsweise in die Landeskirchen zur Abwehr einer eigenständig methodistischen Kirche hatte sich im Ansatz als erfolgreich erwiesen. Das zeigt sich auch daran, dass die stürmische Ausbreitung der methodistischen Gemeinden und deren Wachstum seit dieser Zeit stagnierte. 3.10 Rückkehr aus den methodistischen Gemeinschaften in die Landeskirchen Dem Transfer aus den methodistischen Kirchen zurück in die Gemeinschaften wurde bisher noch keine Aufmerksamkeit geschenkt, aber er ist nachweisbar. In seiner Darstellung der „PrivatErbauungsgemeinschaften“ hat Ferdinand Brockes (1867-1927) über die Entwicklung der „außerkirchlichen Gemeinschaften“ in den verschiedenen Regionen Deutschlands berichtet. Darin kommt zum Ausdruck, wie um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert in Baden „die Gemeinschaften den stärksten Damm gegen die Einflüsse der Sekten bilden“.249 In Bayern heißt es zur Abgrenzung gegen Baptisten, Darbysten, Mennoniten und Methodisten: „Wenn in Bayern ein gesundes innerkirchliches Gemeinschaftsleben sich ausbreiten wird, werden suchende Seelen sich in der Regel mehr von diesem als von außerkirchlichen Gemeinschaften angezogen fühlen.“250 Zu Braunschweig wird kommentiert: „Wenn nicht bald das Land sich der neueren landeskirchlichen Gemeinschaftsbewegung mehr öffnet, werden die außerkirchlichen Gemeinschaften immer mehr Boden gewinnen.“251 Über Schlesien heißt es nach einem Überblick, man kann „auch hier sehen: wo lebendige landeskirchliche Gemeinschaften sind, haben die außerkirchlichen wenig Zuwachs, vielmehr kann man oft die Bemerkung [sic!]machen, daß die Aussaat des göttlichen Wortes durch außerlandeskirchliche Brüder in früherer Zeit in der Gegenwart an vielen Orten der landeskirchlichen Gemeinschaftsbewegung zu gute kommt, da der Boden dadurch zubereitet worden ist.“252 Es ist bezeichnend, dass Jasper von Oertzen schon in seinem Gnadauer Vortrag zum Thema Evangelisation bemerkte: „Es war mir in hohem Grad interessant, aus dem Bericht des königlich-sächsischen Landeskonsistoriums 249 Christian Dietrich und Ferdinand Brockes, Die Privat-Erbauungsgemeinschaften innerhalb der evangelischen Kirchen Deutschlands, Stuttgart 1903, 38. 250 A.a.O., 44. 251 A.a.O., 58. In der Tendenz ähnliche Kommentare finden sich auf den Seiten 79 (Hessen), 84 (Hessen-Nassau, den Baptismus betreffend), 86 (Hessen-Nassau, methodistische Ev. Gemeinschaft), 97 (Hessen-Nassau/Wiesbaden), 115 (Pommern), 122 (Posen), 151 (Sachsen), 169 (Schlesien), 175 (Schleswig-Holstein), 199 u. 203 (Westfalen). 252 A.a.O., 159. 67 zu ersehen, welche Fortschritte z.B. die Methodisten im vorigen Jahr in Sachsen gemacht haben, wo die Arbeit kirchlicher Evangelisten perhorresziert [also verabscheut] wird. In SchleswigHolstein dagegen beklagen es die freikirchlichen Brüder laut, daß sie dort keine erheblichen Fortschritte machen, seitdem die Sendboten des Vereins für Innere Mission werbend und Gemeinschaften sammelnd arbeiten.“ Allerdings weckt der bewertende Nachsatz „Gerade hierin liegt der Schwerpunkt und Haupterfolg aller Arbeit der Evangelisten“ die Frage, ob Evangelisation wirklich eine kirchenpolitische Angelegenheit ist.253 Es sei noch auf ein anderes Beispiel hingewiesen, das Frank Lüdke über die methodistische Mission im westpreußischen Vandsburg publiziert hat. 254 1890 kam die methodistische Evangelische Gemeinschaft nach Vandsburg. Hunderte geistlich „ungenügend“ Versorgte besuchten deren Versammlungen. 1895 wurde die methodistische Friedenskirche eingeweiht. Dann kam der in der Gemeinschaftsbewegung nicht unbekannte Theophil Krawielitzki (18661942) nach Vandsburg, der feststellte, dass 200 bis 250 Erwachsene sich der freikirchlichen Gemeinde „fest angeschlossen“ hatten. Nach fünf Jahren konnte Krawielitzki dem Oberkirchenrat berichten: „Seitdem ich ihnen christliche Geselligkeit und Gebetsgemeinschaft hier anziehender bot, hat die Zahl der Methodisten so abgenommen, dass ihre Kirche meist leer steht und sie bedauern, ihre Kirche nicht an einem andern Ort, wo sich die Gläubigen in der Landeskirche weniger wohlfühlen, gebaut zu haben.“ Es ist bezeichnend, dass das Konsistorium in Danzig feststellte, Krawielitzki sei „selbst einer gewissen einseitigen, methodistisch gefärbten Richtung nicht ganz fremd geblieben.“ Die Kollegen sahen in den von ihm ins Leben gerufenen Veranstaltungen ähnliche Züge wie in dem Treiben der methodistischen Gemeinschaft. Selbst wenn der einflussreiche Krawielitzki den Impuls zu solchem Handeln nicht auf Christlieb zurückführte, bestätigt die praktische Erfahrung mit ihren verschiedenen Aspekten doch die Richtigkeit von dessen Ansatz zur Überwindung methodistischer Kirchenbildung. In seiner Studie über den sächsischen Methodismus schrieb Rüdiger Minor: Zur Gemeinschaftsbewegung „steht die Methodistenkirche in vielfältigen Beziehungen. Viele, die in methodistischen Evangelisationen erweckt wurden, aber den Schritt aus der Landeskirche nicht taten, schlossen sich der Gemeinschaft an. Deshalb betrachten sich die Methodisten häufig als Urheber der Gemeinschaftsbewegung.“255 Exkurs 2: Pietismus und Methodismus Der rheinische Pfarrer Johannes Jüngst256 (1846-1932) hat in der Diskussion mit Christlieb die These aufgestellt, „die Mission des Methodismus sei bei uns im wesentlichen schon erfüllt von dem Pietismus.“ Darauf antwortete Christlieb – bezeichnenderweise in seiner programmatischen Schrift Zur Frage des Methodismus: „Welch ein Unterschied zwischen beiden! – Dort ein energisches Hinaustreten in die Welt, ein Predigen und Anhalten mit Predigen, ‚zu rechter Zeit oder zur Unzeit’, ein furchtloses, aggressives Seelenwerben mit eiliger Ausnützung jeder Stunde; hier ein weltflüchtiges Stilleben, das, an vielen Orten schon zu lang auf der Hefe gelegen, sich abgesehen von der traditionellen Beteiligung an der äußeren und einigen Zweigen der inneren Mission selten zu rettenden Thaten inmitten der weltlichten Christenheit aufschwingt und mit 253 Jasper von Oertzen, Über die Notwendigkeit der organisierten Evangelisation, in: Johann Gottlob Pfleiderer (Hg.), Verhandlungen der Gnadauer Pfingstkonferenz (22.-24. Mai 1888), Neubearbeitung von Johannes Dreßler, Berlin 1987, 73. 254 Vgl. Frank Lüdke, Diakonische Evangelisation. Die Anfänge des Deutschen Gemeinschafts-Diakonieverbandes 1899-1933, Stuttgart 2003, 66-68. 255 Rüdiger Minor, Die Bischöfliche Methodistenkirche in Sachsen. Ihre Geschichte und Gestalt im 19. Jahrhundert in den Beziehungen zur Umwelt, Leipzig o. J. [1968], 222f. u. 393 mit Verweisen auf Gemeindegeschichten. 256 Vgl. dazu Karl Heinz Voigt, Johannes Jüngst, in: BBKL 17 (2000), 718-724. Jüngst beobachtete als Pfarrer der Rheinischen Kirche die Integration methodistischer Frömmigkeit in die Landeskirche. In seinem 1906 erschienen Werk Der Methodismus in Deutschland. Ein Beitrag zur neuesten Kirchengeschichte, Gießen 1906, hat er in einem Kapitel über „Einwirkungen des Methodismus auf religiöse Erscheinungen in Deutschland, die nicht methodistischkirchlich sind“, folgende Phänomene erfasst: (1) Die deutsche Gemeinschaftsbewegung, (S. 87-99), (2) die „deutsche Allianz“ (S. 99), (3) die Heilsarmee (S. 102-105) und (4) die deutsche Zeltmission (S. 105f.). Keine zwei Jahrzehnte nach ihrer Organisation wird die Gemeinschaftsbewegung von dem Landeskirchler Jüngst – der selbst mit ihr sympathisierte – dem Methodismus zugeordnet. 68 dem bescheidenen Fortbestande der ‚Gemeinschaft’ sich zufrieden gibt; dort – vor raschem Ausnützen der Gegenwart fast keine Zeit für längeres Nachsinnen über prophetische Zukunftsgemälde, hier – wenigstens im Süden – die stete Betrachtung der Zeitereignisse im Lichte der Weissagungen Daniels und der Offenbarung; dort – vielgegliedertes, organisiertes Arbeiten auf baldige Erfolge, zum Theil in treiberischer Hast, hier – beschauliche Ruhe, dabei man nur sporadisch da und dort nach einzelnen angefaßten Seelen die Hand ausstreckt und dem Worte Gottes in ihnen gelassen Zeit läßt, damit die Glaubensknospe sich gesund entfalte.“257 Bei aller mitschwingenden Kritik des Methodismus ist Christliebs Urteil über den Pietismus in seinen unterschiedlichen Ausformungen im Vergleich doch deutlich kritischer. Er möchte den alten Pietismus überwinden und findet sein Vorbild dazu in einem damals missionarischen, nach außen gewandten, ungeduldigen Methodismus. Seine Londoner Jahre haben ihn missionstheologisch tief geprägt. Er hatte nicht nur Bücher über die methodistische Spiritualität und deren theologischen Ansatz gelesen, sondern bis in seine Gemeinde hinein die Kraft und Dynamik britischer Methodisten erlebt und deren Wirkungen bei seinem Aufenthalt auf der Insel gesehen. 4. Kirchliche und gesellschaftliche Bedingungen für eine Distanz zwischen Gemeinschaften und Methodisten Es gab für die Gemeinschaften Gründe genug, den methodistischen Einfluss im eigenen Selbstverständnis so wenig wie möglich in Erscheinung treten zu lassen. Dabei war nach dem frühen Tod Christliebs 1889 nicht mehr der Rückblick auf Schlümbach entscheidend. Gründe für eine Distanzierung der Gemeinschaften von den methodistischen Wurzeln bot das kirchliche und gesellschaftliche Umfeld reichlich. Dieser Aspekt verdient Beachtung, weil er das Selbstverständnis der frühen Bewegung mit prägte und sich längerfristig in den Selbstdarstellungen niederschlug, allerdings ohne in der Forschung bisher gebührend beachtet zu sein. (1) Von Landeskirche zu Landeskirche bestand eine andere Situation. Das konfessionelle Luthertum lehnte evangelistische Aktivitäten und die Predigt durch Laien zum Beispiel rundweg ab. In Württemberg sahen die verschiedenen pietistischen Kreise dagegen in den Methodisten unliebsame Konkurrenten, die auch literarisch bekämpft wurden.258 (2) In der wissenschaftlichen Theologie erschienen ausgerechnet in Bonn, dem Zentrum der sich organisierenden Gemeinschaften, zwischen 1880 und 1886 Albrechts Ritschls äußerst kritische Bände über die Geschichte des Pietismus, in denen er eine Schwächung der protestantischen Kirche durch die Erneuerung des Pietismus befürchtete und diesen Frömmigkeitstyp einer scharfen Kritik unterzog. (3) Auch auf der Ebene der Kirchenleitungen regte sich Unmut. Im Koblenzer Konsistorium wurden Theodor Christliebs Aktivitäten, u.a. die Einrichtung des unabhängigen Ausbildungsinstituts Johanneum, kritisch beobachtet. Als 1882 das „aggressive Verhalten der Sectirer“ auf der konsistorialen Tagesordnung stand, wurde Christlieb wegen seiner Mitarbeit als „Vorsitzender der westdeutschen Alliance [als] gemeinschädlich für die Kirche“ angesehen. Die „Stellung Christliebs [sei] höchst bedenklich, wenn man zu voraussetzen habe, daß er als Professor der praktischen Theologie und Universitätsprediger die Studierenden darauf hinleite, nur auf inneres evangelisches Leben Werth zu legen und die kirchliche Denomination für relativ gleichgültig zu achten.“259 (4) Einige Jahre nach der Organisation der Gemeinschaftsbewegung befasste sich 1903 die Deutsche Evangelische Kirchenkonferenz mit der Frage: „Welche Stellung hat die Kirche und das geistliche Amt zur Gemeinschaftsbewegung unserer Tage einzunehmen?“260 Es wurden u. a. 257 Theodor Christlieb, Zur methodistischen Frage in Deutschland, Bonn/Gernsbach 1882, 51f. Sowohl Christian Burks (1800-1880) „Christenbote“ als auch Johann Valentin Strebel (1801-1885) und Dekan Gottlob Nast (1802-1870) kann man hier beispielsweise nennen. 259 Protokoll-Auszug, Konsistorium Koblenz vom 18.10.1882. EZA Best. 7/8040. 260 Vorstand der Deutschen Evangelischen Kirchenkonferenz, Schreiben aus Dresden v. 6. Juli 1903, EZA Best. 1/A2/262. Die Verhandlungen und Quellen zeigen ohne direkte Bezugnahme zwischen den Zeilen, dass die Arbeit von Paul Fleisch über die moderne Gemeinschaftsbewegung von 1903 Beunruhigungen ausgelöst hatte. 69 258 die Einflüsse des Methodismus erhoben.261 Generalsuperintendent Moldenhauer aus Wolfenbüttel sprach in seinen Ausführungen von einem „Traditionsabbruch“262 und stellte u. a. fest: „Durch methodistische Einflüsse angeregt, sucht die Gemeinschaftsbewegung der Gegenwart, mannigfaltige Bestrebungen und verschiedene zum Teil noch unklare und unentwickelte Strömungen in sich fassend, die, welche mit Ernst Christen sein wollen, in organisierte Gemeinschaften zu sammeln und die einzelnen Kreise zu größeren Verbänden zusammenzuschließen, um nach innen zur Gemeinschaftspflege, nach außen zur Evangelisation der unbekehrten Volkskreise kraftvoll zu wirken.“ 263 Damit verbunden seien separatistische Neigungen. Als Ergebnis der Kirchenkonferenz wurde eine Thesenreihe formuliert, welche die Vielgestaltigkeit der neueren Gemeinschaftsbewegung betont, „je nachdem sie unter dem Einfluss des deutschen Pietismus an dem Charakter der deutsch-evangelischen Glaubens- und Frömmigkeitsweise festhält oder fremde, aus englischem und amerikanischem (Methodismus, Darbysmus) herstammende Motive in sich aufnimmt und zur Geltung bringt.“ Die neue Entwicklung sei „wesentlich durch den stärkeren Ausbreitungstrieb und durch die lebhaftere Organisationskraft“ bestimmt. Es werde die Frage sein, ob sich die „selbständigen Organisationen in oder neben den Landeskirchen oder auch gegen sie ausgestalten.“264 (5) Weitere Belastungen für die Gemeinschaftsbewegung ergaben sich aus den ersten geschichtlichen Übersichten über ihre Entstehungs- und Frühgeschichte. Paul Fleisch fasste 1903 zusammen: „Das Resultat ist […], daß gerade diese dreifache Eigentümlichkeit [als organisierte Gemeinschaftsbewegung, als Evangelisationsbewegung und als Heiligungsbewegung] aus dem Methodismus kommt, und von dort aus in die alten pietistischen Gemeinschaften eingetragen ist.“265 Johannes Jüngst, der die Entwicklung des Methodismus in Deutschland permanent beobachtete, wie es Paul Fleisch mit der Gemeinschaftsbewegung tat, knüpfte 1906 an den alten Pietismus an und führte weiter: „Allein im großen Unterschied von dessen aristokratischer Art ist sie [die moderne Evangelisations- und Gemeinschaftsbewegung] durchaus demokratisch. Dies hängt damit zusammen, daß sie dem amerikanischen Methodismus die Art ihrer Organisation und Werbetätigkeit entlehnt, die hauptsächlich auf die niederen sozialen Schichten gerichtet ist und sich manchmal zu einer lebhaften Wühlarbeit gestaltet. So sind die ehemaligen ‚Stillen im Lande’ allmählich zu den religiös Lautesten im Lande geworden.“266 Neben der Rückführung auf den amerikanischen Methodismus wirkte diese „demokratische“ Praxis in den Gemeinschaften im Kaiserreich zusätzlich für ihr Image bedenklich. (6) Zu den innerkirchlichen Problemen kamen für die Gemeinschaftsbewegung Belastungen durch gesellschaftliche Entwicklungen. Der Nationalismus entwickelte sich im Kaiserreich zu einer bedrohlichen Kraft. Dessen Einfluss auf das Selbstbewusstsein der Staatskirche war durchschlagend. Dazu hatte nach Siegen über Dänemark 1864 und erst recht über Frankreich 1870/71 vollends das Lutherjubiläum 1883 beigetragen. Das Nationalgefühl ergriff alle Schichten von den Professoren über die Pastoren mit ihren patriotischen Predigten und den Predigthörern in den Gemeinden. Diese Stimmung hatte für Kirchen angelsächsischen Ursprungs bittere Folgen. Sie wurden als „undeutsch“ bezeichnet und als „angelsächsisches Gewächs“, als Das Koblenzer Konsistorium antwortete darauf am 10.8.1903: „In Bonn, Essen, Lennep, Braunfels führen sich die Gemeinschaften auf Evangelisationsbestrebungen zurück, anderwärts auf eigentlich methodistische oder methodistisch gerichtete Bemühungen.“ Landeskirchen-Archiv Düsseldorf Best. (Gemeinschaftsbewegung) B XI 1 b (1905-1926). 262 Ein Traditionsabbruch wurde mehrfach erkannt. Das ist für die Diskussion um den Begriff „Neupietismus“, der eher ein neues Aufflammen assoziieren lässt, zu beachten. 263 Generalsuperintendent Moldenhauer, Leitsätze zur Frage: „Welche Stellung hat die Kirche und das geistliche Amt zur Gemeinschaftsbewegung unserer Tage einzunehmen?“, EZA Best. 1/A2/262. 264 Leitsätze für die 27. Deutsche Evangelische Kirchenkonferenz 1905, aufgestellt von Prälat Viktor von Sandberger (1835-1912) und Generalsuperintendent Moldenhauer, EZA Best. 1/A2/262. Die Unsicherheit in der Beurteilung zeigt sich auch bei Johannes Jüngst. Er schrieb 1906: Die Evangelisations- und Gemeinschaftsbewegung „ist übrigens in mehrere Richtungen zerspalten. Sie sind der Hauptsache nach in drei Gruppen, den sog. Eisenacher, Gnadauer und Blankenburger Gemeinschaftskonferenzen organisiert und unterscheiden sich […], hauptsächlich durch den Grad ihrer Abneigung, die sie aufgrund der ‚Bekehrung’ gegen das Landeskirchentum hegen.“ Johannes Jüngst, Pietisten, Tübingen 1906, 78. 265 Paul Fleisch, Die moderne Gemeinschaftsbewegung in Deutschland. Ein Versuch, dieselbe nach ihren Ursprüngen darzustellen und zu würdigen, Leipzig 1903, 153. 266 Johannes Jüngst, Pietismus, Tübingen 1906, 78. 70 261 „ausländische Sekte“, als „Gemeinschaft nichtdeutschen Ursprungs“, sogar als „Vaterlandsverräter“ diskriminiert. In den methodistischen Gemeinden selbst erfolgte unter diesem gesellschaftlichen Druck eine folgenschwere nationale Anpassung. Die Gemeinschaftsbewegung musste alles tun, um nicht wegen ihrer methodistischen Beziehungen mit in den Strudel der Diskriminierung zu geraten. Sie wollte doch die von nationalem Bewusstsein erfassten Bürger evangelisieren. Wie konnte sie das, wenn sie selbst ihren Hörern die nationale Solidarität verweigerte? Diese nationale Integration bedeutete zugleich die Verwerfung der „ausländischen“ Einflüsse, die sich im Selbstverständnis prägend auswirken musste. 5. Die organisatorische Ausdifferenzierung Die kirchliche und die gesellschaftliche Lage beeinflusste nicht nur das Selbstverständnis der Gemeinschaften nach innen. Es kam nach außen zu weiteren Abgrenzungen. Zuerst traten die Chöre der Gemeinschaftsbewegung aus dem anfangs gemeinsamen Christlichen Sängerbund aus, um einen eigenen Evangelischen Sängerbund zu bilden.267 Danach kam es in der Arbeit mit Alkoholkranken zur Trennung in ein Blaues Kreuzes und ein Freies Blaues Kreuz. Schließlich konnte in mehreren Städten sogar die Allianz-Gebetswoche wegen der freikirchlichen angelsächsischen Wurzeln nicht mehr in gemeinsamen Gebetsstunden begangen werden. Weil die Gemeinschaftsbewegung sich unter den aufgezeigten kirchlichen und gesellschaftlichen Entwicklungen von den methodistischen Kirchen absetzen musste, bildete sie eigenständige Organisationen, die sich also indirekt dem Einfluss der methodistischen Kirche verdanken. Die Tendenz der Abgrenzung wurde durch die Gebetserweckung im angelsächsischen Wales 1904/05 vertieft und durch die „Zungenbewegung“, wie man damals die aus Nordamerika herüberwirkende Pfingstbewegung bezeichnete, dramatisch auf die Spitze getrieben. Auf der Suche nach einem Selbstverständnis im Kontext von Kirche und Gesellschaft an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert wurden Grundlagen für eine Mentalität der Abgrenzung gelegt.268 6. Die verbliebene inhaltliche Ausrichtung: Singende „Unterwanderung“ Trotz der organisatorischen Brüche ist eine weitgehende inhaltliche Einheit singend bewahrt worden.269 Der Methodistenprediger Ernst Gebhardt (1832-1899) war ungewollt ein Vermittler methodistischer Theologie und Spiritualität für die Gemeinschaftsbewegung. Im wichtigsten Liederbuch der Gemeinschaftsbewegung, den Reichs-Liedern, wird Ernst Gebhardt sogar im Vorwort Dank für die Überlassung seiner Lieder ausgesprochen. Eine größere Zahl von seinen 129 eigenen Liedschöpfungen mit 108 Kompositionen und von den 368 Übersetzungen waren darin aufgenommen.270 Sie wurden in den Gemeinschaftsstunden und von den Chören gerne gesungen.271 Selbst die theologische Struktur des Reichs-Liederbuches lehnte sich mehr an methodistische Vorbilder als an die landeskirchliche Tradition an. Deren Gesangbücher beginnen 267 Die Entwicklung des Christlichen Sängerbundes deutscher Zunge in den ersten 25 Jahren seines Bestehens 18791904, Bonn 1904, 79f.; Martin Leuchtmann, Dem Volk ins Herz, 75 Jahre Evangelischer Sängerbund, Wuppertal, o.J., 9f. 268 Es ist noch zu untersuchen, ob spätere Abgrenzungen in Theologie und Ökumene hier ihre frühesten Wurzeln haben. 269 Gegensätzlich blieb die Entscheidung in der Frage der Kirchenbildung, der Ausgestaltung der sozialen Verantwortung und der ökumenischen Orientierung. 270 J.Steven O´Malley/Thomas Lessmann, Gesungenes Heil. Untersuchungen zum Einfluss der Heiligungsbewegung auf das methodistische Liedgut des 19. Jahrhunderts am Beispiel von Gottlieb Füßle und Ernst Gebhardt, Stuttgart 1994. 271 Ob dort auch die erstmals in Deutschland von ihm herausgegebenen „Spirituals“ gesungen wurden, wäre eine interessante Frage im Blick auf kulturelle Empfindungen. Dazu: Karl Heinz Voigt, So kamen die Spirituals nach Deutschland, in: Hartmut Handt (Hg.), „… im Liede geboren“. Beiträge zur Hymnologie im deutschsprachigen Methodismus, EmK-Geschichte Bd. 54, Frankfurt/M. 2010, 216-241. Vgl. dort auch: Karl Heinz Voigt, Ernst Gebhardt (1832-1899) – Sein Liedschaffen als Brückenbauen zwischen Kirchen, Kontinenten und Kulturen, 190215. 71 mit dem Kirchenjahr, methodistische immer mit „Lob und Dank“, ebenso die Reichs-Lieder, in denen nach „Eingang“sliedern die Abteilung „Lob und Dank“ folgt. Dem Singen kommt in Bewegungen unterer sozialer Schichten, wie Johannes Jüngst für die Frühzeit richtig bemerkt hat, eine zentrale Rolle bei der Aneignung und Verinnerlichung theologischer Grundkenntnisse zu. Liedverse wurden nicht nur gesungen, sondern in Gebetsgemeinschaften auch als Ausdruck eigener Empfindungen zum persönlichen Gebet. Diese Art „Theologie in Liedern“ hatte einen prägenden Charakter. Wie sehr diese Lieder vom „Methodismus“ geprägt waren, hat Walter Schulz, ein der Gemeinschaftsbewegung nahestehender Theologe, in einer Dissertation an Gebhardts Liedern nachgewiesen.272 Aufgrund des reichlich übernommenen Liedgutes kann man durchaus von einer „permanenten methodistischen Unterwanderung“ der Gemeinschaftsbewegung sprechen. 7. Schlussbemerkung Nach dem Jahrhundert der Abgrenzungen ist in einem ökumenischen Umfeld die Zeit gekommen, von neuen Leitbildern her die Geschichte neu zu betrachten und historische Entscheidungen neu zu bewerten. Die hier behandelten Themen sind dafür ein unübersehbares Signal des Aufbruchs. Wenn in Zukunft auch die Einflüsse des Barock-Pietismus und der Erweckungsbewegung auf die Gemeinschaftsbewegung genauso konkret in den Blick genommen werden, wie es hier im Blick auf den angelsächsischen Einfluss geschieht, dann wird das wesentlich dazu beitragen, den Begriff und die Rolle des sogenannten „Neupietismus“ zu klären. 272 Vgl. Walter Schulz, Die Bedeutung der vom angelsächsischen Methodismus beeinflussten Liederdichtung für unsere deutschen Kirchengesänge, illustriert an den Liedern von Ernst Gebhardt. Ein Beitrag zur Geschichte der Frömmigkeit, Greifswald 1934. 72 Markus Krause Robert Pearsall Smith als Impulsgeber für die deutsche Gemeinschaftsbewegung 1898 schrieb Theodor Jellinghaus in seinem Nachruf auf Robert Pearsall Smith über dessen Wirken: „In Deutschland ist der Segen so tiefgehend gewesen, daß das Jahr 1875 einen neuen Abschnitt in der Geschichte des inneren geistlichen Lebens bedeutet.”273 Smiths triumphale Deutschland-Reise 1875 und sein Engagement in der Higher-Life-Bewegung hatten in den Augen von Jellinghaus eine überragende Wirkung. So zog er folgendes Fazit über das Leben von Smith: „Darum wollen wir uns freuen, daß sowohl durch R. P. Smith’s hellleuchtendes Wirken als durch sein stilles, gottergebenes Leiden Jesu Name verherrlicht ist. Gott sei gepriesen für alles.”274 In diesem Nachruf verwehrte sich Jellinghaus allerdings auch dagegen, dass man „nun nachträglich noch gegen R. P. Smith verbreitet, daß er ungläubig und weltlich geworden sei.”275 Vielmehr berichtete er: „Ich habe von allen, die ihn gesprochen haben, das Gegenteil erfahren.”276 Jellinghaus stellte das Ende der Karriere von Smith allein als eine Folge seines Gehirnleidens und gewisser von Gegnern gestreuter Gerüchte dar. Trotz des positiven Grundtons zeigt dieser Nachruf, dass Smith in Deutschland nicht unumstritten war. In einer Beurteilung von Rappard zeigt sich dieser kritische Umgang mit ihm. Er schrieb in der Zeitschrift Des Christen Glaubensweg 1876 über Smiths Verhalten im Rahmen des Skandals von Brighton: „Smith hat seine Verirrungen erkannt und bereut; allerdings hätte es mich sehr gefreut, wenn in dieses Bekenntnis mehr Nachdruck gelegt worden wäre auf das Fleisch, in dem nichts Gutes wohnt und wenn die Verwirrung deutlich ‚Sünde’ genannt worden wäre.”277 Smiths plötzliche Abreise im Juli 1875 in die USA, die Beendigung seiner Predigttätigkeiten in der Higher-Life-Bewegung, Gerüchte über Irrlehre, moralische Verfehlungen und über die Erkrankung von Smith führten zu vielen offenen Fragen. Da jedoch die Hintergründe zum damaligen Zeitpunkt größtenteils unbekannt blieben, konnte nicht geklärt werden, was in Brighton vorgefallen war. Die daraus resultierenden Zweifel an der Person von Smith führten in Deutschland zu einer kritischen Auseinandersetzung mit ihm. Jedoch überwog schließlich eine positive Bewertung, was sich gerade in dem hier zitierten Nachruf von Jellinghaus zeigt. Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, ob die damalige Darstellung und Einschätzung des Lebens von Robert Pearsall Smith in Deutschland nicht zu einseitig war.278 Denn viele Details der Biografie von Smith blieben unbekannt. Erst Veröffentlichungen von Briefen und von Archivmaterial der Familie Smith in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts brachten neue Erkenntnisse.279 Im Folgenden wird die Biografie von Robert Pearsall Smith dargestellt mit einem besonderen Schwerpunkt auf der Analyse der amerikanischen Quellen, hier insbesondere den Briefen von Hannah Whitall Smith. 273 Vgl. Jellinghaus, Entschlafen, Evangelisches Allianzblatt 3 (1898), 23. Ebd. 275 Ebd. 276 Ebd. 277 Carl Heinrich Rappard, Jesus allein, Des Christen Glaubensweg 2 (1876), 43. 278 Vgl. besonders Max Möller, Robert Pearsall Smith, Ein Lebensbild (Wandsbek 1910), in demSmiths Leben zum Teil aus Konferenzberichten und anderen Quellen rekonstruiert wird. Jedoch wird hier z.B. kaum auf den Skandal von Brighton eingegangen und es fehlen gewisse Aspekte, die in den Briefen der Ehefrau Hannah Whitall Smith und in anderen anglo-amerikanischen Quellen zu finden sind. 279 Zum Beispiel wurden die Briefe von Hannah Whitall Smith erst 1949 von ihrem Sohn Logan Smith teilweise in dem Buch A Religious Rebel herausgegeben. Umfassendere biografische Arbeiten wurden erst ab 1980 veröffentlicht. Sie beschäftigen sich jedoch hauptsächlich mit Hannah Whitall Smith. Ein Beispiel dafür ist Remarkable Relations – The Story of the Pearsall Smith women (New York 1980) von Barbara Strachey. 73 274 1. Vom Kartenverleger zum Heiligungsprediger Robert Pearsall Smith wurde am 1. Februar 1827 in Philadelphia geboren. Seine Mutter, eine geborene Pearsall, kam aus Flushing in Long Island. Sie stammte aus einer alteingesessen Quäkerfamilie, die sich stark für die Verbreitung des Quäkertums einsetzte. Sein Vater John Jay Smith, Bibliothekar der Library Company in Philadelphia kam aus einer angesehenen Quäkerfamilie, zu deren Vorfahren James Logan (1674–1751), der Sekretär von William Penn, zählte.280 1846, nach einer Europareise mit seinem Vater, bei der man sich die Rechte für das anastatische Druckverfahren sicherte, eröffnete Smith eine kleine Druckerei und 1848 einen Kartenverlag. Smith blieb bis zum Sezessionskrieg als Kartenverleger in Philadelphia tätig.281 1851 heiratete er Hannah Whitall, die älteste Tochter von John Whitall, einem der Besitzer der Whitall Tatum Glass Company. In den folgenden Jahren wurden 1852 die Tochter Eleanor und 1854 der Sohn Franklin geboren. Die ersten Jahre der Ehe waren hauptsächlich von Smiths Tätigkeit in seinem Kartenverlag geprägt, die oft mit langen Geschäftsreisen verbunden war.282 1857 starb die Tochter Eleanor, was Smith psychisch aus dem Gleichgewicht brachte. Durch diesen Schicksalsschlag und eine Erweckung in den Jahren 1857/58, die in vielen Städten Neuenglands zu religiösen Umwälzungen führte, begann sich Smith gemeinsam mit seiner Frau für christliche Bewegungen außerhalb des Quäkertums zu interessieren. 1858 bekehrten sich beide und Smith schloss sich den Presbyterianern an.283 1861 kam der Kartenverlag von Smith durch den Sezessionskrieg in finanzielle Schwierigkeiten und wurde 1864 endgültig aufgegeben. Smith übernahm in Absprache mit seinem Schwiegervater den Posten als Manager einer Glasfabrik von Whitall Tatum in Milleville, um sich finanziell zu sanieren.284 Sein Sohn Logan zog später ein nüchternes Fazit hinsichtlich der frühen beruflichen Karriere seines Vaters: „My father after several unsuccessful business adventures had, owing to his marriage to my mother, been given a partnership”.285 1864 kam die zweite Tochter Mary auf die Welt. Bis 1868 blieb Smith mit seiner Familie in Milleville. In dieser Zeit wurden sein Sohn Logan 1865 und 1867 die dritte Tochter Alys geboren. Durch seine Tätigkeit in der Glasfabrik kam Smith in Kontakt mit der methodistisch geprägten Arbeiterschaft und begann sich für die Gedanken der Heiligungsbewegung zu interessieren. Neben den Treffen mit den Arbeitern brachte ein baptistischer Student, der als Tutor für den Sohn Franklin angestellt war, den Heiligungsgedanken in die Familie ein.286 Smith begann die Treffen der National Camp Meeting Association for the Promotion of Christian Holiness (NCMA) zu besuchen. 1867 hatte er bei dem ersten Camp Meeting Treffen in Vineland (New Jersey) ein Heiligungserlebnis, durch das er nach eigenen Angaben zur völligen Heiligung durchbrach und eine Geistestaufe erlebte.287 280 Vgl. Robert A. Parker, A family of friends, London und Colchester 1960, 2. Eine genaue Darstellung dieser verlegerischen Tätigkeit findet sich bei Walter W. Ristow, The map publishing career of Robert Pearsall Smith, in: The Quarterly Journal of the Library of Congress 16 (Washington 1969), 170196. 282 Vgl. Marie Henry, The secret life of Hannah Whitall Smith, Grand Rapids 1984, 26ff. 283 Vgl. Max Möller, Robert Pearsall Smith – Ein Lebensbild, Wandsbek 1910, 8f. Hannah schildert ihr Bekehrungserlebnis in ihrem Buch The Unselfishness of God (Princeton 1987), 152f. Von Robert gibt es einen Bericht aus einer Ansprache in Oxford: „I had been a ‘religious man’ for ten long and toilsome years, when one day, in the railway carriage, I for the first time saw in the Scripture what the blood of Christ had done for me.” vgl. Robert Pearsall Smith, Account of the Union Meeting for the Promotion of Scriptural Holiness, London 1874, 168. 284 Vgl. Barbara Strachey, Remarkable relations, New York 1980, 28f. 285 Vgl. Smith, Unforgotten years, 28. Er beschreibt ihn aber als sehr talentierten Verkäufer, der auf die Kunden sehr überzeugend gewirkt hat. Smiths Berufsleben als Kartenverleger vor seiner Tätigkeit in Milleville wird in vielen Biografien und auch von Smith selbst meistens verschwiegen. 286 Vgl. Hannah Withall Smith. The record of a happy life, Philadelphia 1873, 37. 287 Smiths Angaben hinsichtlich seiner Geistestaufe sind widersprüchlich, da er in seinem Buch Walk in the light diese eindeutig später als sein Heiligungserlebnis datiert. Zwar gibt es einen Brief seiner Frau an ihre Schwester Sally von 1867, in dem vermerkt ist, dass Smith eine Geistestaufe erlebt hat, vgl. Meg A. Meneghel, Becoming a "heretic": Hannah Whithall Smith, Quakerism and the nineteenth-century Holiness movement, Indiana University 2000, 175, aber da Smith von diversen Erlebnissen mit dem Heiligen Geist in seinen Leben berichtete, bleibt unklar, welches davon er als seine Geistestaufe ansah. 74 281 Smith engagierte sich darauf stärker im Holiness Movement. Er besuchte 1868 auch das zweite Camp Meeting der NCMA in Manheim (Pennsylvania) und das dritte in Round Lake (New York). Dort traf er auf William Boardman, der ihn als Laienprediger auf dem Treffen einführte.288 Smith fand Gefallen an seinen Predigtdiensten, denn er stellte sich als begabter Redner heraus, der sehr gut bei den Zuhörern ankam.289 1868 wurde Smith in das Hauptquartier von Whitall Tatum nach Philadelphia zurückversetzt. Jedoch beschränkte er nun seine Tätigkeiten für die Firma und setzte sich immer mehr für die Heiligungsbewegung ein. 1870 bringt er sein Buch Holiness through faith heraus und gemeinsam mit Boardman wird Smith zu einem der führenden Köpfe des Holiness Movement in den USA.290 Im August 1872 starb sein Sohn Franklin an Typhus.291 Dieses tragische Ereignis und der enthusiastische kräfteraubende Einsatz für das Holiness Movement führten bei Smith zu einem nervösen Zusammenbruch. Aufgrund einer folgenden schweren depressiven Phase beschloss die Familie gemeinsam nach einer Erholungsreise das Sanatorium von Dr. Henry Forster292 in Clifton Springs, New York aufzusuchen. Entscheidend an dem dortigen Aufenthalt war eine Sonderlehre über die Verlobung mit Christus, die Smith und seine Frau von Henry Forster vermittelt bekamen. Forster lehrte eine bewusste Vereinigung des Gläubigen mit dem Bräutigam Christus. Diese tiefe Vereinigung mit Gott sollte mit körperlichen und auch sexuellen Empfindungen einhergehen. Er verstand dieses Phänomen als eine Art Taufe mit dem Heiligen Geist, die wiederholt bei Gläubigen eintreten könne.293 Im Kern ging es darum, dass durch körperliche Berührungen, wie zum Beispiel Umarmungen, Emotionen ausgelöst wurden, die zu einem geistlichen Erleben führen sollten.294 Es scheint so, dass Forster diese Sonderlehre besonders an Alleinstehende oder Verwitwete vermittelte, die durch diese Verlobung mit Christus Trost finden sollten.295 2. Erfolge in Großbritannien und Europa Der Aufenthalt in Clifton Springs brachte kaum etwas für die Gesundheit von Smith. Sie stabilisierte sich etwas, aber Anfang 1873 hatte er einen weiteren Rückfall. So wurde beschlossen Smith auf eine Erholungsreise nach Ägypten zu schicken, mit einem Zwischenstopp in Dorothea Trudels Erholungsheim in Männedorf in der Schweiz.296 Im Februar 1873 brach Smith zu seiner Reise auf, bei der zunächst ein kurzer Zwischenstopp in London geplant war. Smith hatte durch sein Engagement im Holiness Movement in den USA bereits Kontakte nach Großbritannien aufgebaut und traf sich während seines Aufenthalts mit Geistlichen, Politikern und Adligen.297 Da in Großbritannien eine große Offenheit hinsichtlich des Heiligungsgedankens vorhanden war, legte Smith die Pläne für seine Erholungsreise zunächst auf Eis und begann in diversen Meetings und kleinen Konferenzen zu sprechen. Während dieser Zeit baute er Kontakte zu führenden Personen der späteren Keswick-Bewegung auf, mit denen er im September 1873 eine Reise nach Chamonix mit gemeinsamen Bergtouren und Bibelstunden durchführte.298 Bei der Gelegenheit unternahm er auch den geplanten 288 Vgl. a.a.O., 174. Vgl. Robert Allerton Parker, A family of friends, London und Colchester 1960. 33. 290 Vgl. Melvin Easterday Dieter, The Smiths – a biographical sketch with selected items from the collection, in: The Asbury Seminarian 38/2, Wilmore (1983), 16. 291 Das kurze Leben von Franklin Smith verarbeitet seine Mutter in dem Buch Record of a happy life. 292 Henry Forster war selbst stark von der Heiligungsbewegung beeinflusst und hatte eine Geistestaufe erlebt. Als Arzt legte er seinen Schwerpunkt auf Wasserheilkunde, wobei er sich auf das geistliche Wohl seiner Patienten konzentrierte. Deswegen gab es in Clifton Springs eine Kapelle mit eigenem Pastor und Forster selbst betete häufig mit seinen Patienten. Zu seiner Biografie vgl. Samuel Hawley Adams, Life of Henry Foster, Clifton Springs 1921. 293 Vgl. Ray Strachey (Hg.), Hannah Whitall Smith, Religious fanaticism, London 1928, 167f. 294 Vgl. Meneghel, Becoming a "heretic", 200f. 295 Vgl. Theodor Jellinghaus, Das völlige, gegenwärtige Heil durch Christum, Berlin 1880, 40. 296 Vgl. Marie Henry, The secret life of Hannah Whitall Smith, 62. 297 Vgl. J. C. Pollock, The Keswick Story, Liverpool u. a. 1964, 14. 298 Vgl. a.a.O., 16. 75 289 Abstecher nach Männedorf, wo ihm Samuel Zeller die Hände auflegte und für seine Gesundung betete.299 Im September traf auch Boardman in London ein und gemeinsam mit diesem begann Smith die Verkündigung des Higher-Life-Gedankens auszuweiten. Auch Asa Mahan, Charles Cullis300 und Henry Varley301 beteiligten sich an diesen Treffen im Herbst. Diese Kombination von Verkündigern, die teils aus den USA und aus verschiedenen nichtmethodistischen Denominationen kamen, half, die Botschaft der Heiligung in Kreise zu bringen, in denen diese sonst abgelehnt worden wäre. 1874 folgte auch Hannah Whitall Smith, nach der Totgeburt der vierten Tochter Rachel, mit ihren Kindern ihrem Mann nach England. Smith gab ab Februar 1874 zusammen mit Boardman die Zeitschrift The Christian Pathway to Power heraus und es zeichneten sich immer mehr Möglichkeiten ab, die Higher-Life-Theologie zu verbreiten.302 Als im Mai bei einem Treffen mit Studenten aus Cambridge der Wunsch nach einer Veranstaltung, die den Camp Meetings ähnelte, aufkam, beschloss man mit Unterstützung von Lord CowperTemple vom 17.-23. Juli die Broadlands-Konferenz auf dessen Anwesen durchzuführen.303 Diese Konferenz war vom Ehepaar Smith und dem amerikanischen Camp-Meeting-Gedanken geprägt. Etwa 100 Personen trafen sich zu gemeinsamem Gebet, Bibelarbeiten und persönlicher Stille.304 Aufgrund des Erfolgs der Broadlands-Konferenz fand vom 29. August bis zum 7. September das Union Meeting for the Promotion of Scriptual Holiness in Oxford statt. Smith war einer der Hauptorganisatoren und gehörte zu den Hauptrednern. Die zehntägige Konferenz orientierte sich wieder am Camp-Meeting-Modell und wurde von 800-1.000 Personen besucht.305 Andere Angaben sprechen sogar von 1.200 oder 1.500 Teilnehmern bei den öffentlichen Veranstaltungen. Zwar stammten die meisten Teilnehmer aus der Oberschicht oder aus methodistisch geprägten Kreisen, aber alleine die Berichterstattung und die Multiplikationswirkung durch die Teilnehmer führten zu einer starken Verbreitung des Heiligungsgedankens.306 Die Oxford-Konferenz war ein großartiger Erfolg.307 Anschließend brach sich allmählich eine überdenominationelle Bewegung Bahn, die viele kirchliche Kreise in Großbritannien erreichte. Broadlands und Oxford legten das Fundament für die spätere Keswick-Bewegung, die in den nächsten Jahrzehnten einen großen Einfluss auf das kirchliche Leben in Großbritannien und auch Europa haben sollte. Oxford markiert auch den Startschuss für die weitere Verbreitung der Higher-Life-Theologie in Kontinentaleuropa. Die aus Deutschland gekommenen Teilnehmer waren begeistert vom Thema Heiligung und luden Smith zu einer Vortragsreise durch Deutschland ein.308 Zudem wurde aufgrund des Erfolgs vereinbart, eine Nachfolgekonferenz 1875 in Brighton zu organisieren. Vgl. Stephan Holthaus, Heil – Heilung – Heiligung, Gießen und Basel 2005, 39. Charles Cullis (1833-1892) war Arzt und gründete aufgrund einer eigenen Heilungserfahrung nach einem Gebet ein Heilungsheim für Kranke, um diese geistlich und körperlich zu versorgen. Er gilt als einer der wichtigsten Vertreter der frühen amerikanischen Heilungsbewegung, war zusätzlich stark vom Heiligungsgedanken beeinflusst und hatte eine Geistestaufe erlebt, vgl. Urs Schmid, Amerikanische Heiligungsbewegung und Gemeinschaftsbewegung in Deutschland, Basel 2002, 109. 301 Varly (1835-1912) wurde einer der bekanntesten Prediger Englands. Vor seiner Bekanntschaft mit Smith war er schon in Heiligungskreisen aktiv und hatte z.B. auf den Konferenzen in Mildmay gepredigt. 302 Vgl. Melvin Easterday Dieter, The holiness revival of the nineteenth century, Studies in Evangelicalism 1, Manham und London 21996, 136f. 303 Teilnehmer dieser Konferenz waren z.B. Boardman, Douglas, Wilberforce, Hopkins, Thornton, W. Arthur, Fox the Earl of Chichester, Samuel Morley, S. A. Blackwood und aus Frankreich Théodore Monod, Baron Hart, Rivier und M. St. Hilaire. Vgl. Robert Pearsall Smith, Account of the Union Meeting, 20. 304 Vgl. ebd. 305 Die zehn Tage waren mit Bedacht gewählt und symbolisierten das Warten der Jünger auf die Ausschüttung des Heiligen Geistes nach der Himmelfahrt Jesu. 306 Vgl. Melvin Easterday Dieter, The holiness revival of the nineteenth century, 140. 307 Vgl. Robert Pearsall Smith Smith, Account of the Union Meeting, 95. 308 Vgl. Karl Heinz Voigt, Die Heiligungsbewegung zwischen Methodistischer Kirche und Landeskirchlicher Gemeinschaft, Wuppertal 1996, 20. Auf der Tagung waren C. H. Rappard, sein Schwager Paul Kober-Gobat, Otto Stockmayer, Theodor Jellinghaus, Arnold Bovet, Christoph Johann Riggenbach, Oskar Pank, O. Müller, Dettloff Prochnow, Friedrich Fabri, J. de le Roi und Julius von Gemmingen. 76 299 300 Ende September 1874 verließ Smith zusammen mit seiner Familie England, um den Winter in den USA in Philadelphia zu verbringen.309 Diese Zeit in den USA nutzte er hauptsächlich für verlegerische Tätigkeiten.310 Im Februar 1875 kam Smith wieder nach Europa, zuerst kurz nach England, um weitere Details für die Konferenz in Brighton Ende Mai abzuklären. Danach reiste er über Belgien und Holland, wo er Vorträge hielt, nach Deutschland um seiner Einladung nachzukommen. Diese Reise, die damals in der Presse als „Triumphreise” bezeichnet wurde, war ein großartiger Erfolg, mit dem niemand, auch Smith selbst nicht, gerechnet hatte. Auf den Stationen seiner „Triumphreise” kamen teilweise bis zu 6.000 Personen zu den Veranstaltungen und es gab eine rege Berichterstattung.311 Bei Smith entstand der Eindruck, dass Deutschland gegenüber den Gedanken der Higher-Life-Bewegung offen war und es gab bei ihm sogar Überlegungen, nach Deutschland zu ziehen. Die Brighton-Konferenz vom 29. Mai bis zum 7. Juni 1875 markierte einen Wendepunkt im Leben von Smith. Im Vorfeld war es bereits zu Differenzen mit einem der Mitorganisatoren gekommen, bei denen die allversöhnerischen Tendenzen von Hannah Whitall Smith und ihre Lehrtätigkeit als Frau diskutiert wurden.312 Die Konflikte wurden zwar beigelegt, dennoch zeigte sich bereits vor der Konferenz, dass Smith nicht völlig unumstritten war. Offensichtlich hatten Smiths Erfolge auch zu einer gewissen Selbstüberschätzung geführt. So soll er in Brighton einmal vom Rednerpult aus gerufen haben: „All Europe is at my feet!”313 Dennoch wurde die Konferenz von Brighton ein voller Erfolg. Die Versammlung, die sich stark am Programm314 von Oxford orientierte, legte einen stärkeren Schwerpunkt auf den Heiligen Geist und hatte bis zu 6.000 Besucher.315 Nach zehn Tagen beendete Smith die Konferenz, die durch Teilnehmer aus ganz Europa ein internationales Gepräge hatte316, mit den Worten: „The Brighton Convention has now ended, and the blessings from the Convention have begun.”317 3. Der Skandal von Brighton Der erwartete Segen für die Higher-Life-Bewegung wurde durch die folgenden Ereignisse zunichte gemacht. Zwei Wochen nach Brighton kursierten Gerüchte, dass Smith zu einem dringenden Treffen mit acht seiner Unterstützergerufen worden sei.318 Zudem wurde während der Mildmay-Konferenz, die kurz nach Brighton stattfand, zum Gebet aufgerufen: „For God to advert an impending calamity to the Church”319 was die Unsicherheit hinsichtlich Smiths weiter verstärkte. Als sich daraufhin herausstellte, dass Smith die Teilnahme an der folgenden Broadlands-Konferenz sowie der ersten Keswick-Konferenz absagte, überschlugen sich die Vgl. Hannah Whitall Smith, The Christian’s secret of a holy life, Grand Rapids 1994, 141. Während Smiths Abwesenheit wurden durch Boardman, Cullis und auch Asa Mahan weitere Konferenzen mit bis zu 2500 Teilnehmern in verschiedenen Städten Großbritanniens durchgeführt. Vgl. Boardman, Life and labours of the Rev. W. E. Boradman, 161-175. 310 So wurde z.B. das Buch von Hannah Whitall Smith The Christian’s secret of a happy life (New York u. a. 1875) in dieser Zeit aus dem Material ihrer Bibelarbeiten von Oxford zusammengestellt. Auch die Zusammenfassung der Oxford-Konferenz wurde von Smith in dieser Zeit verfasst und veröffentlicht. 311 Ausführliche Darstellungen der Reise finden sich in Karl Heinz Voigt, Die Heiligungsbewegung zwischen Methodistischer Kirche und Landeskirchlicher Gemeinschaft; sowie Stephan Holthaus, Heil – Heilung –Heiligung, 59-90. 312 Vgl. Meneghel, Becoming a "heretic", 224f. 313 Benjamin Breckinridge Warfield, Perfectionism. Volume I, New York 1932, 321. 314 Einen detaillierten Überblick über die Veranstaltungen gibt der Konferenzbericht „Record of the Convention for the Promotion of Scriptural Holiness held at Brighton May 29th to June 7th“ (Brighton/London 1875). 315 Vgl. Dwight Allan Ekholm, Theological roots of the Keswick Movement, Basel 1992, 109f. Andere Quellen sprechen sogar von 8.000-10.000. Vgl. z.B. Hannah Whitall Smith, The Christian’s secret of a holy life, 145. 316 Nach Wangemann waren aus Deutschland, Holland, Belgien, Frankreich, Spanien, Italien, Schweden, Norwegen und der Schweiz 200 Geistliche angereist. Vgl. Theodor Hermann Wangemann, Pearsall Smith und die Versammlungen zu Brighton in ihrer Bedeutung für Deutschland, Berlin 1875, 6. 317 Record of the Convention for the Promotion of Scriptural Holiness, 359. 318 Dieser Kreis bestand aus S.A. Blackwood. Evan H. Hopkins, Markus Martin, Donald Matheson, R. C. Morgan, Lord Radstock, T. B. Smithies, Henry Varley und war auch maßgeblich an der Planung der ersten KeswickKonferenz beteiligt. 319 J. C. Pollock, The Keswick Story, 34. 77 309 Spekulationen.320 Zu diesem Zeitpunkt war mit dem Unterstützerkreis bereits vereinbart worden, dass Smith von allen öffentlichen Tätigkeiten Abstand nehmen würde, und man beschloss, mit dem Besprochenen nicht an die Öffentlichkeit zu gehen.321 Smith trafen die Anschuldigungen und die Umstände der Angelegenheit empfindlich. Sein Gastgeber berichtete, dass sich Smiths psychischer Zustand massiv verschlechterte, dass er Angstzustände hatte und ein Kollaps kurz bevorstand.322 In dieser eskalierenden Situation versuchte Smith seine Frau in der Schweiz zu erreichen, die sich dort mit einigen Freunden auf einem Erholungsurlaub befand. Jedoch kollabierte er in Paris und seine Frau erhielt bei ihrer Rückkehr in Großbritannien in Dover ein Telegramm, dass ihr Mann krank in Paris wäre. Als sie nach einer Nachtfahrt in Paris ankam, fand sie Robert in einem desolaten Zustand in einem Hotel. Sie beschrieb die Situation kurz darauf in einen Brief: „It is a complete break down, and a threatning of the same nervousness from which he suffered so fearfully two years ago, and I am sure nothing but a long rest and a thorough change of scene and occupations will be of any avail. [...] I then brought Robert on here to rest and be quiet until the day for sailing come. He has lost 20 lbs. already, and is suffering very much from almost constant nausea, and from his head.”323 Hannah brachte ihren Mann zunächst nach Wales, um dort auf die Überfahrt in die USA zu warten, die am 14. Juli 1875 stattfand.324 Im Laufe des nächsten halben Jahres kursierten weiter diverse Gerüchte über die Vorfälle von Brighton. Einerseits wurden Ehebruch oder Irrlehren als Gründe für die überstürzte Abreise von Smith genannt, andererseits wurde seine psychische Erkrankung, an der Smith aufgrund eines Sturzes vom Pferd leiden sollte, als Erklärung aufgeführt.325 Als Ende des Jahres in einem Zeitungsartikel berichtet wurde, dass ein Evangelist im Schlafzimmer einer jungen Verehrerin aufgefunden worden war, kam es zu einer Stellungnahme des Unterstützerkreises von Smith.326 In ihr wird Smith nicht namentlich genannt und nur vage auf Lehrverirrungen und Verhaltensweisen, die ohne jegliche böse Absicht gewesen seien, verwiesen. Dies führte nur zu weiteren Spekulationen über eventuelle kriminelle Handlungen oder mormonischer Tendenzen von Smith. Deswegen sah sich Blackwood im Januar 1876 in der Zeitung The Record genötigt, eine zusätzliche Stellungnahme abzugeben, um weiteren Schaden von den an dem Skandal beteiligten Personen abzuwenden. Er entkräftete in diesem Artikel die wildesten Gerüchte, rechtfertigte die Entfernung von Smith und sprach ihn gleichzeitig von jeglicher bösen Absicht frei. Zudem erklärte er aber, dass er nicht tiefer ins Detail gehen wolle, weil dies zu weiteren Spekulationen führen würde, die aber für die Öffentlichkeit unangebracht seien. Durch diese Aussage schaffte er es, im viktorianischen Großbritannien die Diskussion zum Erliegen zu bringen.327 320 Vgl. M. J. D. Roberts, Evangelicalism and Scandal in Victorian England: The Case of the Pearsall Smiths, History: the journal of the Historical Association 95, Oxford (2010), 443f. 321 Vgl. J. C. Pollock, The Keswick Story, 35. 322 Vgl. a.a.O., 34. 323 Hannah Whitall Smith, The Christian’s secret of a holy life, 147. 324 Vgl. Barbara Strachey, Remarkable relations, 47. 325 Eventuell hatte Smith wirklich einen Reitunfall, aber dessen Auswirkungen waren bei weitem nicht so schwerwiegend. Vgl. die Darstellung seines Sohnes Logan Pearsall Smith, Unforgotten years, 52. Der Verweis auf den Reitunfall scheint ein Versuch zu sein, Smiths psychische Probleme zu legitimieren. Die Darstellung ist aber widersprüchlich und lässt sich kaum in den Lebenslauf von Smith eingliedern. Smith selbst berichtete schon auf der Konferenz in Oxford von einem Reitunfall und dessen Auswirkungen mit einem starkem religiösen Unterton. Nach eigenen Angaben geschah dies 1861 und er soll sich danach eine Zeit lang allein im Inneren Südamerikas befunden haben, um dort gesund zu werden. Vgl. Robert Pearsall Smith, Account of the Union Meeting, 134f. Von dieser Reise und dem schweren Unfall wird aber sonst an keiner anderen Stelle berichtet, nicht einmal in den Briefen der Ehefrau Hannah findet sich eine Bemerkung darüber. 326 „Some weeks after the Brighton Convention it came to our knowledge that the individual referred to had on some occasions, in personal coversations, incalculated doctrines which were most unscriptual and dangerous. We also found that there had been conduct which, altough we were convinced that it was free of all evil intention, way yet such as to render action necessary on our part. We therefore requested him to abstain at once from all public work, and when the circumstances were represented to him in their true light, he entirely acquiesced in the propriety of this course.” Vgl. Barbara Strachey, Remarkable relations, 47f. 327 Vgl. M. J. D. Roberts, Evangelicalism and Scandal in Victorian England, 450f. Eine Übersetzung des Briefes findet sich bei Jellinghaus, Das völlige, gegenwärtige Heil, 46. 78 Für Smith, der sich zu diesem Zeitpunkt in den USA befand und sich nicht verteidigen konnte, bedeuteten die Erklärung seines Unterstützerkreises und die Stellungnahme von Blackwood das endgültige Ende seiner Karriere in Großbritannien. Zwar wurde nie offiziell aufgeklärt, was in Brighton wirklich vorgefallen war, aber allein die öffentlichen Stellungnahmen legten schwere moralische Verfehlungen und Irrlehren seitens Smith nahe. 4. Hintergründe zum Skandal von Brighton Erst 90 Jahre später wurden nähere Details des Skandals von Brighton bekannt. In einen Brief von Smith an Lord Cowper-Temple fand sich eine Schilderung des Vorfalls. Smith schrieb darin, dass eine junge Verehrerin namens Hattie Hamilton auf sein Zimmer gekommen wäre und er in seelsorgerischer Absicht wie ein Vater mit ihr gesprochen hätte.328 Dabei habe er seinen Arm um sie gelegt mit dem Anliegen, dass sie in Gottes Liebe völlige Ruhe fände. Dieses Gespräch habe aus Gedankenlosigkeit in seinem abgeschlossenen Zimmer stattgefunden. Es sei jedoch ohne jeglichen sexuellen Hintergedanken gewesen. Diese Version von Smith scheint aber die Angelegenheit nur teilweise wiederzugeben. Denn in einen anderen Brief an Cowper-Temple, der als Reaktion auf die briefliche Schilderung des Zwischenfalls durch Smith geschrieben wurde, wird davon berichtet, dass Hattie Hamilton auf dem Schoß von Smith saß und er sie wiederholt geküsst habe.329 Ein Brief von Hannah Whithall Smith und ihr Buch Religious fanaticism liefern noch weitere Details. Nach ihrer Darstellung soll Smith bei diesem Seelsorgegespräch auf die Lehre von der Verlobung mit Christus von Henry Forster eingegangen sein und er habe dabei Hattie Hamilton bewusst berührt, um ein geistliches Erleben auszulösen. Smith sei während des Gespräches alleine an dem geistlichen Wohlergehen jener Frau interessiert gewesen.330 Egal was letztlich zwischen Robert Pearsall Smith und Hattie Hamilton wirklich vorgefallen war, es verletzte jedenfalls eindeutig viktorianische Moralvorstellungen und wurde von seinem Unterstützerkreis als untragbar angesehen, so dass er fallen gelassen wurde. Wahrscheinlich spielten auch gewisse antiamerikanische Tendenzen und persönliche Konflikte ein Rolle, weshalb seine Unterstützer eine für Smith derartig desaströse Öffentlichkeitsarbeit durchführten. Die vielen öffentlichen Erklärungen lieferten insgesamt solch widersprüchliche Aussagen, dass man sich kein klares Bild der Geschehnisse machen konnte. Dadurch wurde schließlich der Ruf von Robert Pearsall Smith grundlegend ruiniert. 5. Smiths Leben nach dem Karriereende Zurück in den USA stabilisierte sich Smiths Gesundheit langsam. Jedoch sollte er bis zum Ende seines Leben mit seiner labilen Psyche kämpfen. 1876 nahm er nochmals kurz Predigttätigkeiten im Holiness Movement auf. Er predigte völlig unvorbereitet und ohne innere Anteilnahme, dennoch kamen die Predigten bei den Teilnehmern sehr gut an. Dieser unerwartete Erfolg bestärkte Smith jedoch nur in seinem Zweifel an der Aufrichtigkeit der Bewegung, weshalb er sich nun endgültig von der Bewegung löste.331 1877 starb Smiths Schwiegervater Smith und hinterließ der Familie Anteile an Whitall Tatum, die ein völlig sorgenfreies Leben ermöglichten. So findet man in den Briefen von Hannah Whitall Smith in den nächsten Jahren diverse Reiseberichte und Smith selbst führte das Leben eines gut gestellten Privatmannes, der diverse Künstler und Schriftsteller unterstützte.332 Die Ehe der Smiths entwickelte sich in diesen Jahren zu einem reinen Zweckbündnis. Durch seine psychische Erkrankung und die massive Enttäuschung in England entfremdete sich Robert auch von seiner Frau. Allem Anschein nach hatte er 1882 eine Affäre.333 Die Briefe seiner Frau vom 328 Hannah berichtet in einem Brief, dass Hamilton Smith in Brighton überschwänglich begrüßte und sogar küsste. Vgl. Hannah Whitall Smith, The Christian’s secret of a holy life, 149. 329 Vgl. M. J. D. Roberts, Evangelicalism and Scandal in Victorian England, 445f. 330 Vgl. Hannah Whitall Smith, The Christian’s secret of a holy life, 149. 331 Vgl. ebd. 332 Vgl. Marie Henry, The secret life of Hannah Whitall Smith, 97. 333 Vgl. Barbara Strachey, Remarkable relations, 184. 79 Anfang des Jahres zeigen deutlich, dass sie nicht mehr viel von dieser Ehe erwartete.334 Als ihre Tochter Mary 1885 einen Engländer heiratete, begann für die Familie ein Leben zwischen den USA und England, bis Robert und Hannah sich 1889 endgültig in England niederließen. Nach Beschreibungen seines Sohnes Logan hatte sich Smith in dieser Lebensphase weitgehend von christlichen Glaubensvorstellungen gelöst und scheint die letzten Jahre seines Lebens desillusioniert in einem schlechten psychischen Zustand verbracht zu haben, bis er am 17. April 1898 in London starb.335 6. Bewertung von Smith in Deutschland Wie schon beschrieben, überwog in Deutschland eine positive Deutung des Lebens von Smith. Zum Beispiel verteidigte Jellinghaus 1880 in der 1. Auflage seines Buches Das völlige, gegenwärtige Heil durch Christum Smith hinsichtlich der Ereignisse von Brighton. Er sah Smith darin als völlig unschuldig an. Selbst in der 5. Auflage336 beschrieb er Smith noch als glaubenstarkes Vorbild und auch in Möllers Lebensbild von 1910 wurde Smith noch durchweg positiv dargestellt. Für ihn wurde Smiths Wirken 1875 einfach durch eine Erkrankung beendet, von der er sich nicht mehr erholte.337 Einer der Gründe für diese positiven Beurteilungen war wahrscheinlich, dass Smith es geschafft hatte, in Deutschland einen äußerst positiven Eindruck zu hinterlassen. Smith wurde damals als charismatischer Redner wahrgenommen, dessen Persönlichkeit von einer tiefen eigenen Frömmigkeit durchzogen war, gepaart mit einer demütigen Liebenswürdigkeit. Er galt als gebildet, reich, gutaussehend und war durch seine „Triumphreise“ zu einer Symbolfigur der aufstrebenden deutschen Heiligungsbewegung geworden. Sie identifizierte sich anfangs so stark mit Smith, dass man fast von einer Art Personenkult sprechen kann.338 Das legt natürlich nahe, dass überzeugte Anhänger von Smith nur schwer mit dem Skandal von Brighton und dem Abbruch des öffentlichen Wirkens von Smith umgehen konnten und deswegen eine positive Interpretation der Ereignisse entwickelten. Ein anderer Grund, warum Autoren wie Jellinghaus und Möller weiter positiv über Smith berichteten, war schlicht und einfach der, dass ihnen Fakten fehlten, bzw. sie ihnen bewusst vorenthalten oder beschönigt wurden. Wie angemerkt, kamen viele Details über den Skandal von Brighton erst Jahrzehnte später an die Öffentlichkeit, weshalb eine Verteidigung von Smith eine legitime Option darstellte. Außerdem hatte Smith selbst verständlicherweise seine Lebensgeschichte positiv dargestellt und zum Beispiel auch seine Glaubenszweifel nach 1875 nicht weiter artikuliert. Von seinem Sohn Logan gibt es Anmerkungen, dass Smith bei Anfragen von Anhängern der Heiligungsbewegung weiterhin den Gläubigen gemimt haben soll.339 Wenn man also nur den Eigenaussagen von Smith über sein Leben folgt, gewinnt man einen äußerst positiven Eindruck, der jedoch nur teilweise mit der Realität übereinstimmt. Es ist also nicht verwunderlich, dass das Leben und Wirken von Smith in Deutschland derartig positiv bewertet wurde. Letztendlich spielte auch noch die Berühmtheit von Smith eine weitere Rolle. Sein Auftreten in der Higher-Life-Bewegung und die äußerst erfolgreiche DeutschlandReise hatten ein großes öffentliches Interesse ausgelöst. Triumph und Tragödie liegen bei ihm nahe beieinander. Aus heutiger Sicht ist eine Bewertung seines Wirkens ambivalent, aber ohne ihn hätte der Heiligungsbewegung eine dynamische Identifikationsfigur gefehlt, die gerade in Deutschland die Verbreitung des Heiligungsgedankens stark gefördert hat. Vgl. Hannah Whitall Smith, The Christian’s secret of a holy life, 209f. Vgl. Logan Whitall Smith, A Religious Rebel, 62, sowie: Barbara Strachey, Remarkable relations, 187. 336 Ab der 2. Auflage fehlen ausführliche Erklärungen zu den Ereignissen in Brighton. 337 Vgl. Max Möller, Robert Pearsall Smith, 56f. 338 Zum Beispiel schrieb seine Frau Hannah etwas verwundert, dass es in Deutschland eine extreme Nachfrage nach Porträtfotos von Smith gebe. Über 2.000 Bilder wurden daraufhin angefertigt. Vgl. Hannah Whitall Smith, A Religious Rebel, 26. Rappard stellte fest, dass durch den Skandal von Brighton auch eine ungesunde Überbetonung der Person von Smith beendet wurde. Vgl. Carl Heinrich Rappard, Jesus allein, 43f. 339 Vgl. Logan Whitall Smith, A Religious Rebel, 62. 80 334 335 Wolfgang Reinhardt Die Erweckung in Wales 1904/05 und ihre Auswirkungen auf den deutschen Neupietismus Die Erweckung von Wales in den Jahren 1904-05 war die letzte „große Erweckung“ in Europa, wenn man darunter eine geistliche Bewegung versteht, die ein ganzes Land durchdringt und für eine gewisse Zeit verändert. Außerdem weitete sie sich wie wohl keine andere auch in kürzester Zeit auf buchstäblich alle Kontinente aus.340 1. Der Forschungsstand Angesichts der Größe und der Wirkungsgeschichte der walisischen Erweckung erstaunt es, dass sie in den kirchengeschichtlichen Standardwerken des 20. Jahrhunderts wie dem „Heussi“ und „Hauschild“ keine Erwähnung gefunden hat und sie auch in vielen wissenschaftlichen Beiträgen über die europäische Erweckungsbewegung fehlt341 – zudem gibt es bis heute keine einzige deutschsprachige Monographie darüber. Wales wurde als das Land der Erweckungen in Europa bezeichnet: Allein zwischen 1762 und 1862 zählt man 15 größere Erweckungen,342 die bedeutendsten waren die von 1859343 und vor allem die im „goldenen Zeitalter“ der (calvinistisch-) methodistischen Erweckung des 18. Jahrhunderts mit den eigenen großen, aber bei uns wenig bekannten Erweckungspredigern wie Howel Harris, Daniel Rowland sowie dem Poeten der Erweckung, William Williams of Pantycelyn.344 Angesichts dieser bedeutenden Geschichte muss man es als Versäumnis bezeichnen, dass „Wales“, anders als die Erweckungen in anderen Teilen Europas, kein eigenes Kapitel in der großen, vierbändigen Geschichte des Pietismus erhalten hat, ja kaum erwähnt wird.345 Aber auch außerhalb der Forschung scheint mir das geschichtliche Interesse an früheren Erweckungen und die Hoffnung auf eine neue Erweckung im heutigen Pietismus und in evangelikalen Kreisen unseres Landes gering zu sein. Das ist in vielen Teilen der Welt und das war auch in Deutschland vor 100 Jahren völlig anders. In der deutschen Gemeinschaftsbewegung gab es um die Wende zum 20 Jahrhundert eine geradezu „heiße“ Erwartung und einen „Gebetsbund“ zur Erneuerung des ganzen Landes als Teil einer internationalen Gebetsbewegung.346 Dazu hatten nicht zuletzt die vielen Berichte aus aller Welt, besonders von der großen Erweckung in Wales ab 1904, beigetragen. Der historische Kontext, die Ursachen sowie der 340 Am ausführlichsten dokumentiert von Noel Gibbard, On the Wings of the Dove. The International Effects of the Welsh Revival of 1904-05, Bridgend 2002. 341 Literaturbelege und Diskussion in: Wolfgang Reinhardt, Die Erforschung der Erweckungsbewegungen des 20. Jahrhunderts als dringendes Desiderat der internationalen Pietismusforschung, in: Interdisziplinäre Pietismusforschungen. Beiträge zum Ersten Internationalen Kongress für Pietismusforschung 2001, hg. von Udo Sträter (Hallesche Forschungen 17) Tübingen 2005, Bd. II, 813-23, 813f. 342 Vgl. u.a. D. Geraint Jones, Favoured with Frequent Revivals. A Brief History of Revivals in Wales 1762-1862, Cardiff 2001. 343 Vgl. Eifion Evans, Revival comes to Wales. The Story of the 1859 Revival in Wales, Bridgend 1967; Thomas Philipps, The Welsh Revival. Its Origin and Development, 1960, reprint: Edinburgh 1998. 344 Vgl. z.B. Geraint Tudor, Howell Harris. From Conversion to Separation 1735-1750, Cardiff 2000; Eifion Evans, Daniel Rowland and the Great Evangelical Awakening in Wales, Edinburgh, Carlisle 1985; Ders., Bread of Heaven: The Life and Work of William Williams, Pantycelyn, Bridgend 2010; John Morgan Jones and William Morgan, The Calvinistic Methodist Fathers of Wales (2 vol.) Edinburgh, Carlisle 2008. 345 In GdP 3, Der Pietismus im neunzehnten und zwanzigsten Jahrhundert (Göttingen 2000), wird nur die letzte Erweckung von Wales in den Beiträgen von Jörg Ohlemacher über das „Gemeinschaftschristentum in Deutschland im 19. und 20. Jahrhundert“ (430ff.) und von Mark Noll zu Nordamerika (513) sehr knapp genannt. 346 Vgl. z.B.: „Jetzt ist die Ernte reif. Gottes Stunde für eine große weltweite Erweckung scheint geschlagen zu haben.“ Der Verfasser nennt aktuelle Erweckungen in verschiedenen Teilen der Welt und fährt fort: „Laßt uns einer dem anderen versprechen, daß wir Tag für Tag beten wollen für eine Erweckung des Geistesfeuers im unserm Herzen, unserm Bund, unserm Land und für die Bekehrung der Menschheit!“ in: Licht und Leben 17 (1905), 352. Im Artikel „An die Mitglieder des Gebetsbundes für eine Erweckung in Deutschland“ wird in einem kirchengeschichtlichen Durchgang das intensive Gebet einzelner mit nachfolgenden Erweckungen verknüpft, vgl. a.a.O., 688. 81 Verlauf sind bereits an anderer Stelle nach walisischen Quellen nachgezeichnet worden. 347 Durch englische Übersetzungen der walisischen Bücher und Zeugenberichte sehen wir heute noch deutlicher, dass diese Erweckung unabhängig voneinander an mehreren Stellen ausbrach.348 Manche Irrtümer sind zu korrigieren, z.B. der, dass die Erweckung von Wales durch die Großevangelisation von Torrey und Alexander ausgelöst worden sei,349 oder dass Wales teilweise einfach unter „England“ subsumiert wird. 350 Im Allgemeinen geben aber die alten deutschen Berichte, besonders der Augenzeugen, ein weitgehend zutreffendes Bild der wesentlichen Kennzeichen wieder. 2. Die Berichte über die walisische Erweckung in deutschen Veröffentlichungen 2.1 Zeitschriften- und Augenzeugenberichte aus dem landeskirchlichen Bereich Aus den zahlreichen Zeitschriften greife ich Licht und Leben exemplarisch heraus.351 Die bekannteste Persönlichkeit, Evan Roberts, wird darin zwar ausführlicher beschrieben, aber auch relativiert: Die Bewegung begann vor ihm und breitete sich auch da aus, wo er nie aufgetreten war. Es war nicht das „Evan Roberts-Revival“ – wir wissen heute, dass diese Sicht vielmehr das Produkt der nationalen Presse, besonders der Western Mail war. Von den Zigtausenden von Erweckungsversammlungen war er nur in etwa 250 persönlich anwesend.352 Licht und Leben schildert die überall sichtbaren öffentlichen Wirkungen einmal so: „In den Stahlfabriken in Gorsenon kommen die Arbeiter täglich zu Gebetsversammlungen zusammen, und manch einer hat unter heißen Tränen Gnade gesucht und gefunden. Der Bann des Volkes: Trunk und Fluchen hat aufgehört. [...] An einem Orte mußte eine Theatergesellschaft mit dem nächsten Zuge wieder weiter reisen, weil alle Leute in den Evangelisationsversammlungen waren. Berüchtigte Spieler tun Buße und liefern ihre Karten und Würfel aus. Die Polizei hat wenig Arbeit, weil überall Ruhe und Ordnung herrscht. In einer Kirchengemeinschaft ist durch die Erweckung ein unglücklicher Streit beigelegt worden. […] Überall hört man Beten und Singen, und die Erweckung ist der Gegenstand allgemeinen Interesses. […] Die Presse spricht von einer nationalen Bewegung, und fünf weltliche Zeitungen berichten täglich eingehend über dies Wunderwerk. Die Geistlichkeit und alle Prediger des Wortes erkennen die Hand Gottes. Alle konfessionellen Schranken fallen.“353 Bei allen Unterschieden steht nach Licht und Leben doch die Botschaft vom Kreuz im Mittelpunkt: „Es ist köstlich zu sehen, wie in diesen Tagen des Unglaubens und der Leugnung Vgl. Wolfgang Reinhardt, “A Year of Rejoicing”. The Welsh Revival of 1904-05 between Modernity and a Long Revival Tradition and a Call for a Network of International Research on the Newer Revival Movements in a Worldwide Context, in: Evangelical Review of Theology (ERT) 31,2 (2007) 100-126, mit neuerer Literatur, etwa R. Tudur Jones, Faith and the Crisis of a Nation. Wales 1890-1914, Cardiff 2004. 348 Vgl. z.B. Philip H. Eveson (Hg.), When God came to North Wales. An account of how the 1904-05 religious revival affected Bethesda and Rhosllanerchrugog, Oswestry 2010; Peter and Dorothy Bennett (Hg.), The Quarry Revival. First hand accounts of the Revival in Llanfairfechan, North Wales, in 1904-5, Llanfairfechan o.J [22011]. 349 So Dieter Lange, Eine Bewegung bricht sich Bahn. Die deutschen Gemeinschaften im ausgehenden 19. und 20. Jahrhundert und ihre Stellung zu Kirche, Theologie und Pfingstbewegung, Berlin 1979; Gießen u.a. ³1990, 162: „Die Erweckung griff bald nach Wales über.“ Ähnlich schon bei Hans von Sauberzweig, Er der Meister, wir die Brüder. Geschichte der Gnadauer Gemeinschaftsbewegung 1888-1958, Offenbach. 1959, 184. „Wales“ ist auch nicht durch diese Evangelisation vorbereitet und nicht „durch den Seminaristen Evan Roberts“ „ausgelöst“ worden, wie Michael Diener meint: Kurshalten in stürmischer Zeit. Walter Michaelis (1866–1953), Ein Leben für Kirche und Gemeinschaftsbewegung, Gießen 1998, 147. 350 Etwa noch bei Hans von Sauberzweig, a.a.O., 184, auch 185. 351 Außerdem berichteten u.a. Auf der Warte, das Calwer Missionsblatt, Philadelphia, der China-Bote, das Evangelische Allianzblatt, der Glaubensbote sowie besonders ausführlich Israels Hoffnung, Licht und Leben und die Sabbathklänge. 352 R. Tudur Jones, Faith, 361; Henri Bois, Le Réveil au Pays de Galles, Toulouse, Genève [1905], 418. A.T. Fryer: “Although Evan Roberts’ name is the most prominent in the Revival, he neither created nor sustained it for the most part. He is the embodiment of the Spirit of the Revival, the most striking manifestation of the force that caused it, and to a very great extent its leader and director, but he did not produce the Revival, nor did the Revival produce him.”, The Psychological Aspects of the Welsh Revival 1904-05, e-text, p.10, The Revival Library, King’s Christian Centre, CD-ROM 2004. 353 Licht und Leben 17 (1905), 136-137; vgl. auch 19 (1907), 313f. 82 347 des Sühnopfers der Heilige Geist seine persönliche Gegenwart beweist und das Wort vom Kreuz bezeugt als die Gotteskraft, die vom Tode errettet und neues Leben schafft.“ Diese Botschaft habe auch an den Universitäten und Hochschulen eine Erweckung ausgelöst, so dass Professoren ihre Vorlesung abbrechen mussten und sie zu einer Gebetsversammlung umgewandelt wurde. In ganz besonderer Weise gebrauche Gott Jugendliche, „auch junge Mädchen, die durch ihr Zeugnis [und Singen, WR] ganze Versammlungen bewegen.“ 354 Diese Berichte weckten bei vielen den Wunsch, mit eigenen Augen zu sehen, „um in der pfingstlichen Luft, die jetzt dort weht, sich gleichsam zu baden.“355 Darunter waren Vertreter der noch jungen deutschen Gemeinschaftsbewegung wie Otto Stockmayer356 und Jakob Vetter, der einen Fortsetzungsbericht über die Erweckung in den Sabbathklängen schrieb.357 Ernst Lohmann erzählt in seinen Lebenserinnerungen: „In besonderer Weise erlebte ich die Wirklichkeit Gottes bei der Erweckung in Wales.“358 Als er in einer privaten Unterredung Principal Edwards die Frage stellte „Ach, sagen Sie, Herr Professor, was ist jetzt nach diesen Erlebnissen Ihre Lehre vom Heiligen Geist?“, bekam er die freundliche Antwort: „Alle unsere Theorien sind in die Brüche gegangen. Wir haben keine Theorien mehr, aber wir haben jetzt die Sache … Diolch-iddo [sic! = walisisch: Dank sei ihm].“ 359 Eva von Tiele-Winckler berichtet in ihrer Autobiographie von ihren Erfahrungen im walisischen Bergwerksort Neath und den Nachwirkungen in ihrer Miechowitzer Schwesternschaft in Oberschlesien: „Mächtig aber waren die Eindrücke, die wir von der umwandelnden Kraft des heiligen Geistes auf eine ganze Ortschaft und eine große Menschenmenge empfingen. [...] Unvergeßlich – diese Versammlungen! Es war eigentlich keine Leitung da, und doch empfand man eine wohltuende Harmonie und heilige Ordnung wie von unsichtbarer göttlicher Kraft gewirkt.“360 Gräfin Elisabeth von Waldersee wurde durch Berichte von Besucherinnen begeistert und spürte in Deutschland auf den Konferenzen in Wandsbek und Blankenburg 1905 und den Versammlungen im Missionshaus der Malche den Geist der Erweckung von Wales, besonders durch die Vorträge von Jessie Penn-Lewis und das Zeugnis von Eva von Tiele-Winckler, die „eine Geistestaufe von nie geahnter Kraft in Wales empfangen“ habe. Dies führte dazu, dass sie 354 Licht und Leben 17 (1905), 154. So der Verf. des Berichtes von der Erweckung in Wales im Calwer Missionsblatt über einen alten Freund, der demnächst nach England und Wales gehen wolle, auch in: Philadelphia 15 (1905) 68. 356 Vgl. Alfred Roth, Otto Stockmayer, Ein Zeuge und Nachfolger Jesu Christi. Sein Leben und seine Lehre, Gotha 1925. Stockmayer soll vor der Reise geäußert haben: „Ich gehe nach Wales, um mich zu baden in der Erweckungsluft.“ (222f) Aber er betonte auch: „was hilft uns jedes Baden in Geistesluft, wenn wir nicht persönlich tiefer in der Reformation wurzeln“, d.h. dass alles nach den unantastbaren Normen des Wortes Gottes gemessen werde, gerade weil „in Zeiten der Erweckung Mischungen aller Art, Seelisches vorkommt“ (Roth, a.a.O., 223) und damit das geistliche Leben nicht nachlasse, wenn die Wellenschläge der Erweckung wie schon in Wales nachgelassen haben. Er konnte sich auch gegen jede „seelische“ Nachahmung der Formen von Wales wehren, vgl. Roth, a.a.O. 225. 357 „Die Erweckung in Wales“ in: Sabbathklänge 47 (1905), 186-188; 205-207, 219-221; 285-287, 49 (1907) 142; ein erster Bericht auch schon vom Herausgeber in Nr. 47 (1905), 173f. 358 Nur ein Leben, Schwerin o.J., 183-187: „In Wales“. 359 Von dieser Sache, der Gegenwart des Geistes Gottes, waren viele Besucher fasziniert. Walisische Zeitungen berichteten von Besuchen zweier Deutscher im nordostwalisischen Rhos(llanerugog), die erzählt hätten, dass (die Erweckung in) Rhos das Thema der Gespräche in Deutschland sei. Vgl. Pontycymer, in: Y Tyst vom 16.8.1905, sowie Y Diwygiad, in: Y Gwyliedydd vom 8.6.1905, 5. 360 Eva von Tiele-Winckler, Denksteine des lebendigen Gottes. Aufzeichnungen selbsterlebter Führungen, Gießen/ Basel 1963, 38f. Zurückgekehrt nach Deutschland in den „Friedenshort“ bittet sie ihre Schwestern um Vergebung für ihr „bisheriges Wirken unter ihnen, für alles Eigene, Selbstgewollte und Selbstgemachte.“ (a.a.O., 43) Es kommt in der Folge zu einer stillen Kettenreaktion von Sündenbekenntnissen, Vergebung, Gewissheit und Lebenserneuerung unter den Schwestern. Später erlebte sie eine „große, tiefgehende und mächtige Erweckung unter den versammelten Schwestern und Gästen“ (a.a.O., 43). Herausgefordert vom Zeugnis dieser, wie sie schreibt „leuchtend jungen Christen“, spürte sie nach fünfzehn Jahren im Dienst Gottes ihre Kraftlosigkeit, Mangel an „Zeugenmut“ (a.a.O., 39), aber auch, dass dann das Eis ihres „Herzens allmählich und unter der warmen Frühlingssonne der Gnade“ auftaute und dass nach einem längeren Prozess, der innere Beugung und tiefen Frieden einschloss, ein neuer Lebensabschnitt für sie begonnen habe. Vgl. auch Walter Thieme, Mutter Eva. Die Lobsängerin der Gnaden Gottes. Leben und Werk der Schwester Eva von Tiele-Winckler, Berlin 1966, 150-156. 83 355 selbst mit anderen nach Wales fuhr, um „aus eigner Anschauung die Geistesbewegung an der Quelle zu studieren.“ 361 Die ausführlichsten Berichte aus deutscher Sicht stammten von Luise Oehler362 und Adeline Gräfin Schimmelmann. Diese „adlig, fromme, exzentrische“363 Dame am Berliner Hof, die die üblichen Grenzen ihres Standes überwand, um als freie, „bedeutendste und wohl auch erste“364 Evangelistin zu wirken, berichtet, wie sie auf Bitten der Bergleute in 600 Metern Tiefe eine Versammlung hielt, wo sich Hunderte von Bergarbeitern früh morgens vor Arbeitsbeginn regelmäßig zu Gebet. Schriftlesung und Gesang trafen. Als sie noch benommen aus dem Fahrstuhl stieg und ihr aus der Dunkelheit ein wunderbarer Gesang entgegentönte, war es ihr, „als ob man aus dem Grabe durch Engelgesang geweckt würde.“ Die Gebete der Männer schildert sie als „klar, kurz und bündig, kein Wort zu viel, und kein Wort zu wenig – keine unnützen Gefühlsergüsse.“ Natürlich gäbe es auch Schwächen. „Aber Unrecht wäre es, wo ein paar Mißtöne sind, das Ganze als eine Dissonanz zu be- und verurteilen.“ Gegenüber den Einwänden besonders der kritisch veranlagten Deutschen entgegnet sie: Zum einen sei die Bewegung noch jung und erst der Herbst bringe „das volle Resultat von all den Blüten, die der Sommer in ihrer Farbenpracht entfaltet.“ Aber man könne auch zu pragmatisch und undankbar sein „und sich die Freude an der sommerlichen Blütenpracht verderben lassen.“ 365 2.2 Berichte und Wertungen in deutschen Freikirchen Auch in den deutschen Freikirchen wurde über die Waliser Erweckung berichtet und diskutiert. In den Freien evangelischen Gemeinden, von deren Leitern offenbar niemand persönlich nach Wales reiste, gab es begeisterte Berichte, aber auch Vorbehalte, weil man sich – so August Jung – schon vorher intensiv mit der Sünden- und Rechtfertigungslehre der Heiligungsbewegung auseinandergesetzt hatte.366 Allerdings werden in seiner Darstellung die geschichtlichen Ursprünge, die in Wales selbst liegen, nicht richtig wiedergegeben.367 Auch die Rolle von Evan Roberts wird hier überschätzt. Es ist weiterhin nicht richtig, dass Geistestaufen und Krankenheilungen „an der Tagesordnung“ waren. Krankenheilungen kamen vor, aber waren nicht häufig. „Geistestaufen“, oder wie immer man eine neue Erfüllung mit dem Geist nannte, waren die Frucht ebenso wie Bekehrungen. Man sprach davon, dass etwa 100.000 als neue 361 Hedwig von Redern, Segensspuren im Leben von Gräfin Elisabeth von Waldersee nach ihren eigenen Aufzeichnungen“. Leipzig o.J., 126-137, 134. Von Redern selbst war nach ihren hohen Erwartungen etwas enttäuscht von ihren Besuchen in Keswick und Wales – sie kam allerdings auch erst 1906, als die Erweckung schon abklang, vgl. Hedwig von Redern, Knotenpunkte, Selbstbiographie, Lahr-Dinglingen 1938, 86-91. 362 Luise Oehler, Die religiöse Bewegung von Wales. Nach den Schilderungen von Augenzeugen, Stuttgart 1905. 363 So der Titel der umfangreichen neuen Biographie: Ruth Albrecht u.a., Adeline Gräfin von Schimmelmann. Adlig. Fromm. Exzentrisch, Neumünster 2011. 364 Paul Fleisch, Die moderne Gemeinschaftsbewegung in Deutschland. Ein Versuch, dieselbe nach ihren Ursprüngen darzustellen und zu würdigen. 1. Band: Die Geschichte der deutschen Gemeinschaftsbewegung bis zum Auftreten des Zungenredens (1875-1907), Leipzig 31912, 231. Jörg Ohlemacher in seinem Nachwort zu: Adeline Gräfin Schimmelmann, Streiflichter aus meinem Leben am deutschen Hofe, unter baltischen Fischern und Berliner Socialisten und im Gefängnis einschließlich „Ein Daheim in der Fremde“ von Otto Funke, hg, v. Jörg Ohlemacher, (KTP 12), Leipzig 2008, 141: „Nach heutigem Forschungsstand war sie [...] die erste deutsche Evangelistin, die von Pommern aus erweckliche Vorträge im ganzen Deutschen Reich und weit darüber hinaus bis in die Vereinigten Staaten von Amerika hielt.“ 365 Unsere Erfahrungen in der Waleser Erweckung, Berlin, o.J., 28-29. In der walisischen Presse stand übrigens, dass Gräfin Schimmelmann bei ihrem Besuch in der walisischen Bergarbeiterstadt Pontypridd vom Interesse des deutschen Kaisers an der Erweckung in Wales berichtet habe und dass er solch eine Bewegung auch unter den Bergleuten in Deutschland erbitte und fördere. Vgl. The Welsh Revivalist, January 1907, 9. 366 August Jung, Vom Kampf der Väter. Schwärmerische Bewegungen im ausgehenden 19. Jahrhundert. Dokumente aus Freien evangelischen Gemeinden und kirchlichen wie freikirchlichen Gemeinschaften, (GuTh 5,1) Witten 1995, 192. 367 Schon die Vorgeschichte ist nicht korrekt dargestellt: die entscheidenden Ursprünge der Erweckung liegen nicht in den Konferenzen des englischen Keswick oder dann des walisischen Llandrindod (so sehr dies auch mitgewirkt hat), schon gar nicht in den Kampagnen von Torrey und Alexander, die „die Lehre von der Geisttaufe mit nach England“ gebracht hätten und „einen solchen Zulauf“ fanden, „daß man von einer ‚Erweckung’ sprach.“ (a.a.O., 193). 84 Vollmitglieder den (im Gegensatz zu England meist nonkonformistisch geprägten) Gemeinden hinzugefügt wurden.368 In den deutschen baptistischen Gemeinden fand die Erweckung in Wales in den Jahren 1905-06 große Beachtung und weckte „die Erwartungen nach einem ähnlichen Erleben in Deutschland.“369 Wales wurde auf baptistischen Konferenzen „ausnahmslos positiv bewertet.“370 Es gab aber durchaus auch kritische und differenzierende Stimmen.371 Auch im deutschen Methodismus wurde die Erweckung in Wales beobachtet und diskutiert. Der Evangelist vergleicht die Erweckung „in den Grubendistrikten“ mit ähnlichen Erscheinungen zu Wesleys Zeiten und kommt dann zu dem Urteil: „Wer die Berichte von vorurteilsfreien, christlichen Augenzeugen über diese gewaltigen Geisteswirkungen liest, der kann kaum anders als hierin ein unmittelbares Werk von Gott zu erblicken.“372 Selbst die öffentliche Debatte pro und contra Wales in den Landeskirchen wurde kommentiert. Auf die Streitschrift des lutherischen Pastors Max Glage aus Hamburg „Wittenberg oder Wales? Eine ernste Frage“ hatte der ebenfalls lutherische Pastor Mummsen mit der Schrift “Wittenberg und Wales!” geantwortet.373 Das methodistische Blatt stellte dazu grundsätzlich fest: „Es ist ja längst zur Genüge bekannt, dass man von gegnerischer Seite alles, was sich auf kirchlichem Gebiet irgendwie bemerkenswert aus dem Rahmen des Gewohnheitsmäßigen und Althergebrachten heraushebt, schlechthin als ‚methodistisch’ bezeichnet. In Wirklichkeit tut man dem Methodismus damit zuviel Ehre an.“374 3. Auswirkungen der Waliser Erweckung auf Deutschland 3.1 Regionale deutsche Erweckungen infolge von „Wales“ In Deutschland steigerten die Berichte aus Wales die Sehnsucht nach einer eigenen Erweckung, die sich dann zuerst in Mülheim an der Ruhr ausbreitete, wo Ernst Modersohn und Martin Girkon in einer großen Kirchengemeinde zusammenarbeiteten. Nach gemeindlichen Gebetstreffen versammelten sich von Himmelfahrt bis Pfingsten 1905 auf übergemeindlicher Basis in einem neutralen Saal etwa 1000 Menschen.375 Im Rückblick schreibt Modersohn: 368 Leider gehen in Jungs Darstellung die enormen positiven Auswirkungen auf das ganze Land unter der Abwehr gegen manches „menschliche, unbiblische und unnüchterne Moment in der Bewegung“ verloren. Man spürt in dem Beitrag eine unverhohlene Kritik daran, dass der Gärtner „im Alleingang“ einen Augenzeugenbericht aus Wales abdruckte, „der vor Begeisterung strotzte und bedauerlicher Weise ohne einen Kommentar blieb.“ (a.a.O., 194) Allerdings scheinen hier wie damals auf der Bundeskonferenz der FEG am 21. Juni 1905 in Siegen andere Einflüsse und deutsche Probleme den Blick für die Waliser Erweckung getrübt zu haben, wie etwa die Frage nach der Sündlosigkeit und Geisterfüllung, die in Wales anders verstanden wurde, vgl. den Abschnitt über „The Revival and Doctrine“ bei Noel Gibbard, Fire on the Altar. A History and Evaluation of the 1904-05 Welsh Revival, Bridgend 2005, 170-78. 369 Günter Balders, Kurze Geschichte der deutschen Baptisten, in: Ein Herr, ein Glaube, eine Taufe, 150 Jahre Baptistengemeinden in Deutschland, hg. von Günter Balders, Wuppertal, Kassel 1984, 60. 370 Axel Kuhlmann, Der Einfluß der angloamerikanischen Heiligungsbewegung auf den deutschen Baptismus zwischen 1947 und 1914. Unter besonderer Berücksichtigung der auf Bundes- und Vereinigungkonferenzen behandelten Themen. Unveröffentlichte Examensarbeit, Elstal 2000, 34. 371 Vgl. z.B. Karl Krull, Die Erweckung in Wales, in: Der Hülfsbote, 1905, 174-177: Er stellt dort die These auf, die Erwartung, dies sei der Anfang einer „großen weltumfassenden Erweckung“ oder auch nur einer solchen in Deutschland, sei unbegründet. Die Lehre von einer besonderen Geistestaufe für die Gläubigen, die auch in Deutschland zahlreiche Anhänger gewonnen habe, sei auch in England nur von denen vertreten worden, die von der Keswick-Konferenz beeinflusst worden seien. 372 Der Evangelist 56 (1905) 16. Die Einordnung in die lange Geschichte „ähnlicher Erregungen“ und die „Volksseele“ in der säkularen Presse wird mit der geistlichen Sicht konfrontiert, dass es sich um gewaltige Pfingstfeuer handele: „Es ist ein heiliges Feuer vom Himmel, von welchem Christus sagte: ‚... was wollte ich lieber, es brennete schon.’“ 373 Max Glage, Wittenberg oder Wales? Eine ernste Frage, Hamburg 1905. R. Mumssen, Wittenberg und Wales! Erwiderung auf P. Glage’s Schrift: Wittenberg oder Wales? Neumünster o.J. 374 Der Evangelist 57 (1906) 147. 375 „Hunderte mußten wieder umkehren, weil sie keinen Platz mehr fanden.“ Ernst Modersohn, Er führet mich auf rechter Straße, Lebenserinnerungen, Wuppertal 1960, 106. Berichte in den „Sabbathklängen“ 47 (1905), 411-413; 428-432; 444-446; 460-462; 476f.; 493-495; 507-509; 524-526; 540f.; 575f.; 652-654. 85 Nachdem die Glaubenden einer nach dem anderen ihre Sünde bekannt hatten, „da schenkte er uns ein Pfingsten, wie wir noch keins erlebt hatten. Eine wunderbare Erweckung begann.“376 Die Erweckung breitete sich danach im rheinisch-westfälischen Bereich aus: in Barmen, Witten, Gelsenkirchen, Kamen, Essen und Hamm. In Witten habe Pastor Simša von seinen Erfahrungen in Wales erzählt, er und die Pastoren Holthey-Weber und Modersohn seien besonders der Anlass der Erweckung gewesen.377 Auch im Oberbergischen Land, wo es schon lange ein regelmäßiges Gebet um Erweckung gegeben habe, verstärkten die Berichte aus Wales diesen Wunsch.378 Der Einfluss von Wales war auch in Norddeutschland spürbar. Das Allianzblatt schrieb, dass in Itzehoe durch die Verlesung des Vetterschen Berichts über die Erweckung in Wales in der Versammlung ein Sturm von Gebeten hervorbrach und viele Gläubige unheilige Sachen in Ordnung brachten.379 In Hamburg brach die Erweckung in der Christlichen Gemeinschaft „Philadelphia“ am Holstenwall 1905 nach dem Bericht eines Augenzeugen von Wales aus. Es heißt, als sie „die Gegenwart Gottes in so mächtiger Weise“ erlebten, beteten mehrere hundert Personen zur gleichen Zeit. 380 Ähnliches geschah in Wandsbek und Elmshorn (Dolman empfahl wöchentliche Gebetstreffen auf Allianzbasis, 1906 verschickte er 20.000 Gebetskarten).381 Weitere geistliche Aufbrüche wurden berichtet aus Großalmerode382, Halle, Wernigerode383, Vandsburg, Stettin, Schlesien, bei Frauenkonferenzen in der Malche Freienwalde (Oder), Liegnitz und Berlin. Bemerkenswert ist auch der Zusammenhang von Erweckung und einer verstärkten Aktivität von Frauen und Mädchen, die in Wales selbst noch ausgeprägter war, aber in Deutschland nicht überall auf Zustimmung stieß.384 Dazu passt auch die Bemerkung „Sobald übrigens die Hochflut der Erweckung vorüber war, trat auch das Gebet der Frauen und Kinder in den allgemeinen Gebetsversammlungen wieder zurück.“385 Nicht unerwähnt bleiben soll auch das Phänomen der Kindererweckungen, das aus dieser Zeit aus dem Oberbergischen und vom Siegerland, aus Norddeutschland und Schlesien berichtet wird.386 376 Ernst Modersohn, Menschen, durch die ich gesegnet wurde. Erinnerungen von Ernst Modersohn, bearb. von Alfred Modersohn, Berlin 41972, 74. Viele Berichte sind auch wiedergegeben in: Adelheid Junghardt/Ekkehart Vetter, Ruhrfeuer, Mülheim 2004, 18-27. 377 In: Was sagt die Schrift? 51 (1905), zit. nach Fleisch, Gemeinschaftsbewegung, 458. 378 „Durch die Kunde von der Erweckung in Wales wurden die Gläubigen gestärkt, Größeres vom Herrn zu erwarten.“ Die Folge war ein kräftiger Gebetsgeist, Reue über das bisherige Leben und die Ordnung des Verhältnisses zu anderen Christen. Vgl. Licht und Leben 18 (1906), 293. In Wülfringhausen bei Wiehl hatte man „unter anderem durch den Bericht eines Augenzeugen über den Segen in Wales tiefe Anregung empfangen.“ Ebd. 379 Deutschland wird heimgesucht, in: Ev. Allianzblatt 15 (1905), 134. 380 Gottes Gnadenheimsuchung in Hamburg, in: Was sagt die Schrift? 2 (1905), 535-39, 535. 381 Fleisch, Gemeinschaftsbewegung, 459. 382 „Eine Erweckung in Großalmerode“, in: Was sagt die Schrift? 2 (1905), 488f.; Bericht von Prediger KaiserHeidelberg, in: Philadelphia 17 (1907), 152-154; „Aufzeichnungen eines jungen Theologen aus dem Jahre 1908 oder was in einer deutschen reformierten Gemeinde möglich ist“, in: Karl Ecke, Der Durchbruch des Urchristentums infolge Luthers Reformation. Lesestücke aus einem vergessenen Kapitel der Kirchengeschichte, Altdorf/ Nürnberg 2. Aufl. o.J., 80-95. Kritisch dazu Fleisch, Geschichte der Pfingstbewegung in Deutschland von 1900-1950, Marburg 1983, 47-51. 383 Auf der Herbstkonferenz von Wernigerode 1905 habe „Gott auf das ernste Flehen seiner Kinder hin seinen Geist ausgegossen über die Versammelten. […] Mit elementarer Gewalt trieb der Geist Gottes, Sünden zu bekennen, sich zu versöhnen, einander abzubitten und mit allen Sünden aufzuräumen.“ Fleisch, Gemeinschaftsbewegung, 460. 384 In Gelsenkirchen z.B. hatte Cäcilie Petersen, Oberin des Diakonissenhauses Salem in Lichtenrade, 14 Tage lang Versammlungen gehalten, die eine große Anziehungskraft auf viele Schichten ausübten und das Leben Hunderter verwandelt haben sollen. Vgl. Erweckung in Gelsenkirchen, in: Ev. Allianzblatt 15 (1905), 158. Der zu erwartenden Kritik wurde vorgebeugt: „Unser Herz ist voll Anbetung, besonders, dass der Herr auch die Frauen dadurch legitimiert, an Zions Mauern bauen zu dürfen, was ja nach Neh. 3,12 nicht unbiblisch ist.“ Zit. nach Fleisch, Gemeinschaftsbewegung, 454. Auch der schwäbische Altpietist Dietrich betrachtete bei aller Freude über die Waliser Bewegung das öffentliche Reden der Frauen und Mädchen als eine der nicht nachzuahmenden Äußerlichkeiten, in: Philadelphia (1905) Heft 7, zit. nach Fleisch, Gemeinschaftsbewegung, 448. 385 Licht und Leben 18 (1906) 309. 386 Vgl. z.B. „Aus dem Siegerlande wird von einer merkwürdigen Bewegung unter den Kindern berichtet. Viele Kinder sind gläubig geworden und halten in der Woche Gebetsstunden ab.“ Evangelisches Allianzblatt 16 (1906), 163. „In Schlesien kam es auch zu Kindererweckungen, und auch dies verteidigten und verherrlichten die ‚Gottestaten’ (Nr. 17).“ Fleisch, Gemeinschaftsbewegung, 463. 86 3.2 Die Waliser Erweckung und die Konferenzen von Bad Blankenburg und Gnadau Die Berichte von Wales spielten auch eine Rolle auf den Konferenzen der Gemeinschaftsbewegung und der Allianz. Auf der großen Allianzkonferenz in Bad Blankenburg 1905 herrschte eine enthusiastische Stimmung. Im offiziellen Konferenzbericht hieß es von den Ereignissen nach den Vorträgen von Dr. Torrey über die Taufe im heiligen Geist: „Der Herr hat […] die Gebete vieler Seiner Kinder erhört, ihre Erwartungen erfüllt, […] und mit einer Erweckung geantwortet, wie sie geistesmächtiger und tiefgehender wohl keiner der ca. 1300 Gäste erwartet hatte.“387 Die Gnadauer Konferenz war weniger begeistert, aber es gab auch dort – etwa in dem Referat von Pastor Simsa – mehrfach Bezüge auf die walisische Erweckung und das, was man aus ihr lernen könnte.388 Paul Fleisch stellte mit Genugtuung fest, dass Gnadau 1906 den Radikalen „eine schwere Enttäuschung” gebracht habe: „Die Erweckung war nicht ausgebrochen, vor allem deswegen nicht, weil die Ansätze dazu vom Präsidium jedes Mal unterdrückt wurden, indem das Durcheinanderbeten abgeschnitten, die Bekenntnisse wenigstens nicht befördert wurden.”389 Lange meint, dass Theodor Haarbeck mit seinem Referat die „so hochgespielte Lehre von der Geistestaufe einer vernichtenden Kritik unterzogen“ habe, die vielmehr nach biblischem Urteil mit der Bekehrung zusammenfalle. So hätte die Gnadauer Gemeinschaftsbewegung „den unter englischem Einfluss stehenden Richtungen eine entscheidende Abfuhr erteilt.“390 4. Das Verhältnis zur Pfingstbewegung Die weiteren Ereignisse von Kassel 1907 bis zur Berliner Erklärung 1909 bewirkten, dass die gesamte Entwicklung, die zu der sogenannten „Zungenbewegung“ geführt hat, im Gnadauer Verband kritisch gesehen wurde.391 Insbesondere die Lehre von der „Geisttaufe“, die vorher in der Gemeinschaftsbewegung oft wie selbstverständlich aus der angelsächsischen Heiligungsbewegung übernommen wurde, fiel mit unter das Verdikt „undeutscher“ Lehren. Eine bedeutsame Frage für die weitere Forschung ist, ob die berechtigte Kritik an dem Terminus „Geistestaufe“ als einem zweiten, von der Bekehrung unterschiedenen Ereignis nicht den Blick und die Leidenschaft dafür trübten, dass es durchaus eine größere Fülle des Geistes im Leben des Glaubenden gibt und somit neue „Geisterfüllungen“ nach Pfingsten erstrebenswert sind – ebenso auch neue „Ausgießungen“, besondere „visitations of the spirit“ (wie die Waliser gern sagten) für Gemeinden, ganze Regionen und Länder. Insofern würde ich die These zur Diskussion stellen, ob nicht die heftige deutsche Abwehr gegenüber der Erwartung eines „neuen Pfingsten“392 zugleich auch die Erwartung einer größeren Erweckung erstickt oder zumindest stark gedämpft hat. In der Folge dieser Ereignisse behauptete man, dass schon in der Erweckung in Wales Fehlentwicklungen angelegt gewesen seien wie die starke Emotionalität, die Betonung der Geistestaufe, Visionen und Wunder und in Wales der Grundstein für die spätere 387 Reden und Ansprachen der zwanzigsten Allianz-Konferenz zur Vertiefung des Glaubenslebens, 28. August bis 2. September 1905, Blankenburg 1905, III; ähnlich: Evangelisches Allianzblatt 15 (1905), 357ff.; 365ff. Kritischere Beurteilung bei Lange, Bewegung, 166-68. 388 Vgl. Verhandlungen der achten Gnadauer Pfingstkonferenz gehalten zu Schönebeck a. d. Elbe vom 5.-8. Juni 1906, Stuttgart 1906, 27-34, 42, 112f., 128. „Wenn nun durch die Waliser Bewegung irgendeine Sache klar geworden ist, so gewiß diese: Wir haben dem Heiligen Geiste die Leitung zu lassen. Was dies in der Praxis heißen kann, möge folgendes Beispiel zeigen. Während der Erweckung in Wales ist es oft genug vorgekommen, dass ein Pastor mit einer ausgearbeiteten Predigt in die Kirche kam, aber die Gemeinde war schon da, suchend, betend, singend und dankend. Da hatte der Pastor nicht zu denken und zu sagen: Jetzt bin Ich da, sondern den gegenwärtigen Gott, den Heiligen Geist, zu ehren und Ihm die Leitung zu lassen.“ (a.a.O., 32) 389 Fleisch, Gemeinschaftsbewegung 479, vgl. auch Ohlemacher, Gemeinschaftschristentum, 433. 390 Lange, Bewegung, 168. 391 Vgl. Giese, Ernst, Und flicken die Netze. Dokumente zur Erweckungsgeschichte des 20. Jahrhunderts, Marburg 1976; Lange, Bewegung 177ff.; Fleisch, Pfingstbewegung, 36ff. 392 Vgl. den berühmten Satz vom alten Elias Schrenk auf der Gnadauer Pfingstkonferenz 1910, obwohl er die fehlende Geistesfülle der Gemeinde beklagte: „Kinder Gottes warten auf kein Pfingsten.“ Zit. nach Diener, Kurshalten, 200. 87 Pfingstbewegung mit ihren Verirrungen gelegt worden sei.393 Es ist aber dringend nötig, dass man trotz mancher Strukturparallelen das historische Urteil über die Erweckung in Wales unterscheidet von den späteren Erscheinungen in Deutschland und der Pfingstbewegung, wie immer man sie beurteilt. Zweifellos gab es Kontakte und Briefwechsel zu späteren Führern des pentekostalen Aufbruchs 1906 in Los Angeles.394 Außerdem wurden zwei der heutigen Pfingstkirchen, die Elim-Kirche395 und die Apostolic Church396, von „Kindern der Waliser Erweckung“ begründet. Allerdings spielte das wichtigste unterscheidende Kennzeichen der Pfingstbewegung, die Glossolalie, in Wales fast überhaupt keine Rolle.397 Eine phänomenologische Parallele – allerdings auch zur früheren Heiligungsbewegung und anderen Erweckungen – besteht vor allem im besonderen Charakter der Erweckungsversammlungen, von denen viele Besucher berichteten, dass sie nicht von Menschen geleitet wurden und der freien, spontanen Beteiligung aller Laienchristen Raum gaben. Gerhard Ruhbach behauptete 1989 in einem Aufsatz: „Der Beginn der Pfingstbewegung hat nichts mit der Waliser Erweckung zu tun und knüpft auch nicht an eine laufende Erweckung in Deutschland an“398, was in dieser Absolutheit nicht stimmt. Er bedauerte, dass es nach der Trennung bei einem starren Nebeneinander bis in die Gegenwart geblieben sei (was inzwischen weniger starr ist), aber sein Fazit bleibt bedenkenswert: „Der Preis war hoch, die Erweckung war gekappt – und das auf Jahrzehnte hin; die Bereitschaft sich den aufgebrochenen Fragen theologisch und geistlich zu stellen, blieb – aus Beunruhigung und Angst – gering.“399 5. Konsequenzen Was Stephan Holthaus zusammenfassend in seiner umfangreichen Monographie über das Ende der Heiligungsbewegung in Deutschland schreibt, gilt ähnlich auch für das Interesse und die Erwartung einer neuen Erweckung in Deutschland nach 1919: „Mit den Jahren 1909 und 1910 ging eine 35jährige Ära zu Ende, die den protestantischen Gemeinden im deutschsprachigen Raum viele geistliche Aufbrüche geschenkt hatte und deren Auswirkungen bis heute zu spüren sind. Die Heiligungs- und Evangelisationsbewegung brach dabei nicht durch Einflüsse von So kritisiert Hans von Sauberzweig u.a., dass „das Visionäre in den Versammlungen von Evan Roberts eine nicht geringe Rolle spielte“, in: Er der Meister, 185. Stellvertretend für manche irrige Beurteilung steht auch die Website des Württembergischen Christusbundes, wo es von der Erweckung in Wales u.a. heißt: „Die Waliser Erweckungsbewegung hatte also sehr ähnliche Lehren wie Pastor Paul. Der Grundstein für die spätere Pfingstbewegung war damit gelegt.“ http://www.christusbund.de/Die-Auseinandersetzung.33.0.html (= Wiedergabe einer Proseminararbeit von Andreas Hirsch, FTH Gießen). 394 Z.B. Pastor Joseph Smale, der in Wales gewesen war und davon in seiner kalifornischen Heimatgemeinde berichtete, die dann lange Zeit betete um „eine Erweckung, ähnlich derjenigen von Wales. In Wales warteten sie auf Gott.“ Wie Pfingsten nach Los Angeles kam. Leonberg o.J., 11, 13. 395 Andrew Walker u. Neil Hudson: George Jeffreys, Revivalist and Reformer: A Revaluation. In: Andrew Walker u. Kristin Aune (Hg.), On Revival. A Critical Examination, Carlisle 2003, 137-156, mit weiterer Literatur. 396 In Pen-y-Groes in Camarthenshire durch Daniel Powell Willams, vgl. T. N. Turnbull: What God hath Wrought: A Short History of the Apostolic Church, Bradford 1959; James E. Worsfold: The Origins of the Apostolic Church in Great Britain with a Breviate of its Early Missionary Endeavours, Thorndon. Wellington 991; B. Llewellyn: A Study in the History of the Apostolic Church in Wales in the Context of Pentecostalism. Unpubl. MPhil thesis, University of Bangor 1997. 397 Als Ausnahmen nennt Noel Gibbard einerseits die vielseitig geistlich begabte Sarah Jones und die beiden Orte Penygroes bei Ammanford 1906 (später das Zentrum der Apostolic Church) und Bridgend 1906. „Evan Roberts visited Sarah Jones, a believer who exercised many of the spiritual gifts, including prophesying, healing and speaking in tongues. One source says that she first spoke in tongues during the revival, but another claims it was early in 1906. As far as Pen-y-groes was concerned, however, 1906 was still a time of revival. Similar developments took place in Pen-y-fai, Aberkenfig, Bridgend, where a new wave of blessing was experienced during 1906.“ in: Gibbard: Fire, 182. Zum Sprachengebet und einer Häufung ungewöhnlicher Erscheinungen vgl. auch Russell Davies: „At Maesypica Farm, Cwm-twrch, when Sarah Jones saw ‚a thousand angels’, it was claimed that ‚several spoke in tongues’, that a portrait of Christ appeared on a ceiling and that the Devil had been cast out of man.“ Secret Sins. Sex, Violence and Society in Camarthenshire 1870-1920. Cardiff 1996, 201. 398 Die Erweckung von 1905 und die Anfänge der Pfingstbewegung, in: PuN 15 (1989), 90. 399 A.a.O., 94. 88 393 außen, sondern durch interne Querelen und Diskrepanzen auseinander. Von den Verwerfungen dieser Zeit hat sie sich nicht mehr erholt.“400 Daraus möchte ich eine doppelte Konsequenz ziehen, zunächst auf der wissenschaftlichen Ebene: Wir brauchen ein Forschungszentrum und ein internationales Netzwerk zur Erforschung der Erweckungsbewegungen, besonders der vernachlässigten neueren Erweckungen des 20. Jahrhunderts401, und zwar mit einer komparatistischen Sichtweise. Nur so kann man Kurzschlüsse vermeiden und differenzieren zwischen typischen sowie kontextuellen oder sekundären Merkmale von Erweckungen. Ich möchte anregen, dies im Rahmen der Neupietismusforschung aufzugreifen. Die zweite Konsequenz liegt auf der kirchlich- gemeindlichen Ebene. Hier könnte ein neues geschichtliches und ökumenisches Interesse für die alten und neuen Erweckungen des 20. Jahrhunderts manches bewirken. Zum einen eine größere Unterscheidungsfähigkeit der Christen angesichts der verwirrenden Vielfalt von heutigen Bewegungen, zum anderen aber auch eine neue Erwartung einer genuinen Erweckung angesichts unserer kirchlich-theologisch-geistlichen Armut in Deutschland, so wie die Berichte von der Waliser Erweckung in vielen Teilen der Welt starke Auswirkungen hatten. Eine echte Erweckung hat eine begrenzte, aber unverzichtbare Bedeutung. So sollen am Schluss zwei Äußerungen aus Wales stehen, die auch für unsere heutige Situation bedenkenswert sind. Einer der vielen Erweckungsprediger von 1904-06, R. B. Jones, sagte 25 Jahre später in seinem Rückblick auf die damaligen Ereignisse: Erweckungen sind „Gezeiten im Leben einer Generation, die, wenn man sie nicht nutzt, das Segel hoch und trocken auf dem Ufer liegen lassen […] Roberts warnte seine Zuhörer schon, dass die Hoch-Zeit der Erweckung mit ihrer geistlich-emotionalen Anspannung nicht auf immer weitergehen werde, sondern dass man ihre einmalige Chance ergreifen müsse, bis die Gemeinden auf eine höhere Ebene gehoben würden und sich dann wieder in die ruhigeren Fahrwasser der normalen Gemeindearbeit begeben könnten.“402 Einer der führenden Politiker von Wales, der spätere britische Premierminister Lloyd George, ließ politische Veranstaltungen verschieben, damit sie nicht mit den revival meetings kollidierten, und wandte sich später an seine Minister mit den Worten: „The material conditions of this country will not improve until there comes a spiritual awakening”, und er fügte hinzu: „and I charge you ministers with the responsibility of promoting and fostering such a revival.”403 Stephan Holthaus, Heil – Heilung – Heiligung. Die Geschichte der deutschen Heiligungs- und Evangelisationsbewegung (1874-1909), (KGM 14) Gießen 2005, 596. 401 Näheres dazu in Wolfgang Reinhardt, „A Year of Rejoicing”. The Welsh Revival of 1904-05 between Modernity and a Long Revival Tradition and a Call for a Network of International Research on the Newer Revival Movements in a Worldwide Context, in: Evangelical Review of Theology (ERT) 31,2 (2007) 100-126, sowie ders., Die Erforschung der Erweckungsbewegungen des 20. Jahrhunderts als dringendes Desiderat der internationalen Pietismusforschung, in: Interdisziplinäre Pietismusforschungen. Beiträge zum Ersten Internationalen Kongress für Pietismusforschung 2001, hg. von Udo Sträter (Hallesche Forschungen 17) Tübingen 2005, Bd. II, 813-23. Demnächst detaillierter in einem Aufsatz in der Evangelical Review of Theology. 402 R. B. Jones, Rent Heavens, The revival of 1904, some of its hidden springs and prominent results, o.O. 1931, 56. 403 A.a.O., 67. 89 400 Sven Brenner Der angloamerikanische Einfluss auf die deutsche Pfingstbewegung 1. Forschungsstand Den typologischen Ansätzen zur Erforschung der Pfingstbewegung, bei denen sie durch bestimmte Merkmale von anderen christlichen Gruppen abgegrenzt wird404, stehen im wesentlichen die historischen Ansätze, die in Verbindung mit der Debatte zu den Ursprüngen der Pfingstbewegung einhergehen, gegenüber. Als grundlegende Annahme wird hier von einem historisch definierbaren Zentrum der Pfingstbewegung ausgegangen, zu dem die verschiedensten Ausläufer der Bewegung in irgendeiner historischen Verbindung stehen müssten.405 Hierbei wird, vor allem von amerikanischen Autoren, der amerikanische und globale Ursprung der Pfingstbewegung in der Azusa-Street-Erweckung unter Pastor William Joseph Seymour 1906 in Los Angeles gesehen.406 Robeck spricht beispielsweise von Azusa Street als dem Geburtsort der globalen Pfingstbewegung sowie dem vorrangigen Zentrum der weltweiten Ausbreitung der Pfingstbewegung vor 1915, und erweckt den Anschein, dass die Pfingstbewegung ein allein nordamerikanisches Produkt sei, das weltweit verbreitet wurde.407 Bergunder weist jedoch darauf hin, dass dieses Erklärungsmodell zu kurz greift, da die Genese der Pfingstbewegung im Zusammenhang mit dem missionarischen Aufbruch des 19. Jahrhunderts gesehen werden muss und von Anfang an ein globales Geschehen war. Azusa Street kann sozusagen eher als Ausgangspunkt, aber nicht als der eigentliche Beginn der Pfingstbewegung angesehen werden.408 Daher gehen mit der Diskussion um die Anfänge der pfingstlichen Erweckung verschiedene historiographische Schemata einher. Neben dem Schema des singulären Ursprungs, wie z.B. bei Robeck (Nordamerika), das von der Konsequenz her Richtschnur und Maßstab für alle weiteren Entwicklungen bleibt, steht das Schema der multiplen Ursprünge, bei dem der Pfingstbewegung mehrere Identitäten mitgegeben werden.409 Auch hier sind die vielfältigen Ursprünge für die Bestimmung und Bewertung der Pfingstbewegung maßgeblich. Ganz anders dagegen gehen Entwürfe vor, die keinen Ursprung der Pfingstbewegung zeichnen, sondern deren historische Kontinuität mit vorgängigen Gruppen herausstellen410. Hierbei bleibt allerdings zu klären ab wann von der „Pfingstbewegung“ gesprochen werden kann.411 Dayton versucht beispielsweise aufzuzeigen wie die Pfingstbewegung aus dem Methodismus und der Heiligungsbewegung des 19. Jh. hervorging und in der Wesleyanischen Theologie wurzelte. 404 Vgl. z.B. Allan H. Anderson, Varieties, Taxonomies, and Definitions, in: Studying Global Pentecostalism. Theories + Methods, Hg. v. Allan Anderson u.a., Berkeley 2010, 13-29. 405 Jörg Haustein, Arbeitspapier: Theorien und Methoden in der Erforschung der Pfingstbewegung, Stand 3.12.2010, IAKP-Tagung „Aktuelle Forschungsperspektiven Theorien und Methoden“, Heidelberg, 3.-4.12.2010, www.glopent.net/iak-pfingstbewegung. 406 Vgl. z.B. Gary B. McGee, To the Regions Beyond. The Global Expansion of Pentecostalism, in: The Century of the Holy Spirit. 100 Years of Pentecostal and Charismatic Renewal, 1901-2001, Hg. Vinson Synan, Nashville 2001, 69-95. Robert Owens, The Azusa Street Revival. The Pentecostal Movement Begins in America, in: a.a.O., 39-68. Vinson Synan, The Holiness-Pentecostal Tradition. Charismatic Movements in the Twentieth Century. Michigan 2 1997. 407 Vgl. Cecil M. Robeck, Jr., The Azusa Street Mission and Revival. The Birth of the Global Pentecostal Movement, Nashville 2006. 408 Michael Bergunder, Pfingstbewegung, Globalisierung und Migration, in: Migration und Identität. Pfingstlichcharismatische Migrationsgemeinden in Deutschland, hg. v. M. Bergunder u. J. Haustein, Frankfurt 2006, 155-169. Vgl. zum Folgenden Michael Bergunder, Mission und Pfingstbewegung, in: Leitfaden Ökumenische Missionstheologie, hg. v. Christoph Dahling-Sander u.a., Gütersloh 2003, 200–219. Allan H. Anderson, An Introduction to Pentecostalism. Global Charismatic Christianity, Cambridge 2004, 19–38. Vgl. auch Michael Bergunder, The Cultural Turn, in: Studying Global Pentecostalism. Theories + Methods, Berkeley, Los Angeles, London 2010, 51-73. 409 Vgl. Walter J. Hollenweger, Charismatisch-pfingstliches Christentum. Herkunft, Situation, Ökumenische Chancen. Göttingen 1997. Allan H. Anderson, An Introduction to Pentecostalism. Global Charismatic Christianity, Cambridge 2004, 19–38. 410 Vgl. Donald W. Dayton, Theological Roots of Pentecostalism, New Jersey 1987. Michael Bergunder, Mission und Pfingstbewegung, in: Leitfaden Ökumenische Missionstheologie, 200–219. 411 Vgl. Michael Bergunder, The Cultural Turn, 51-73. 90 Dagegen wurde ins Feld geführt, dass die Pfingstbewegung noch zahlreiche andere Wurzeln habe412, dass sie sich theologisch unterscheide413, und dass „diese amerikanische Einordnung die globale Situation nur unzureichend erfasse“.414 Dieser Aufsatz möchte deutlich machen, dass das Aufzeigen von einlinigen Einflüssen, in unserem Fall von Amerika nach Deutschland, nicht ausreicht, da wir es in der Pfingstbewegung mit einem pluralen und multidirektionalem Netzwerk zu tun haben. Mit Blick auf die Anfänge und die Entstehungsgeschichte der Pfingstbewegung in Deutschland, wird deutlich, dass ein angloamerikanischer Einfluss durch eine historische Kontinuität, welche eine theologische Kontinuität impliziert, nicht gegeben ist. Die wesentlichen Aspekte, die zum Aufbruch der Pfingstbewegung geführt haben, sind in innerdeutschen Entwicklungen sowie exogenen Faktoren zu suchen. Um weitere Entwicklungen, evtl. Wechselbeziehungen, Abgrenzungen und Brüche zu eruieren, folgt ein Blick auf die bislang im Bereich „Deutsche Pfingstbewegung“ wenig beachtete Zeit des Nationalsozialismus und ein Ausblick auf die Zeit nach 1945. 2. Entstehung und Ursprung der Pfingstbewegung in Deutschland Für Stephan Holthaus kam es in Deutschland mit dem Beginn des 20 Jh. zu einem Ende der Heiligungs- und Evangelisationsbewegung. Vordergründig ließ die aus ihr herauswachsende Pfingstbewegung diese zerbrechen.415 Hintergründig waren es aber auch pneumatologische Phänomene und perfektionistische Tendenzen die zur Krise führten, obwohl es solche auch von Beginn an in der angloamerikanischen Heiligungsbewegung gegeben hatte.416 Unter anderem lassen sich die Auseinandersetzungen zwischen der aufkommenden Pfingst- und der etablierten Heiligungs- und Evangelisationsbewegung auf die radikalisierten Heiligungstheorien von Jonathan Paul, dem sogenannten „Vater der Pfingstbewegung“ zurückführen.417 Im Gegensatz zur klassischen deutschen Heiligungsbewegung, die den Heiligen Geist nur am Rande thematisiert und die Heiligung mehr christologisch verortet hatte, wurde die Pneumatologie durch die von Paul stark verbreitete Lehre von der Geistestaufe, die als plötzliches Erlebnis im Sinne einer zweiten oder dritten Erfahrung nach Bekehrung und Heiligung verstanden wurde, mehr und mehr in den Mittelpunkt gerückt.418 Noch deutlicher wurden die Unterschiede zur klassischen Heiligungsbewegung aber in der Frage des Perfektionismus.419 In seiner sogenannten „Lehre des reines Herzens“ hatte sich ab 1904 die Heiligungslehre von Paul so radikalisiert, dass seine Theologie der Lehre von einer möglichen Sündlosigkeit sehr nahe kam.420 Zusätzliche Impulse kamen aus dem Ausland. Während innerhalb der Heiligungs- und Evangelisationsbewegung die Erwartung einer neuen Geistesausgießung vorherrschte, 412 Vgl. Walter J. Hollenweger, Charismatisch-pfingstliches Christentum. Z.B. zeigt dies Terry Cross gegenüber dem „Evangelicalism“ (Dayton) auf. Terry Cross, Sind Pfingstler Evangelikale? Eine Betrachtung der Theologischen Differenzen und Gemeinsamkeiten, in: Freikirchenforschung 19 (2010), 114-138. 413 415 Zur Geschichte der deutschen Pfingstbewegung vgl. Paul Fleisch, Die Pfingstbewegung in Deutschland, Hannover 1957; Christian Hugo Krust, 50 Jahre Geschichte der deutschen Pfingstbewegung – Mülheimer Richtung, Nürnberg 1958; Walter J. Hollenweger, Enthusiastisches Christentum. Die Pfingstbewegung in Geschichte und Gegenwart, Zürich 1969; Paul Schmidgall, Von Oslo nach Berlin. Die Pfingstbewegung in Europa, Erzhausen 2003; Paul Schmidgall, Hundert Jahre Deutsche Pfingstbewegung. 1907-2007, Nordhausen 2007; Ekkehart Vetter, Jahrhundertbilanz – erweckungsfasziniert und durststreckenerprobt. 100 Jahre Mülheimer Verband FreikirchlichEvangelischer Gemeinden, Bremen 2009. 416 Stephan Holthaus, Heil – Heilung – Heiligung. Die Geschichte der deutschen Heiligungs- und Evangelisationsbewegung (1874-1909), Gießen 2005, 551ff. 417 Vgl. Paul Fleisch, Die Heiligungsbewegung. Von den Segenstagen in Oxfort 1874 bis zur Oxford-GruppenBewegung Frank Buchmans, Hg. und eingeleitet von Jörg. H. Ohlemacher, Gießen 2003, 357-364. 418 Vgl. Stephan Holthaus, Heil – Heilung – Heiligung, 557. 419 Vgl. a.a.O., 558. 420 Vgl. Paul Schmidgall, Hundert Jahre Deutsche Pfingstbewegung, 83. Christian Hugo Krust, 50 Jahre, 76. Stephan Holthaus, Heil – Heilung – Heiligung, 556-563. 91 beobachtete man zur gleichen Zeit in Großbritannien eine ähnliche Erweckungssehnsucht.421 Neben großer positiver Resonanz im deutschsprachigen Raum und regelrechten „Pilgerfahrten“ von Deutschen nach Wales, gab es innerhalb der deutschen Gemeinschaftsbewegung aber auch Kontroversen über die Einschätzung der neuen Erweckung.422 Insgesamt sieht Holthaus die Erweckungsversammlungen in Mülheim an der Ruhr und auf der Blankenburger Konferenz im Jahr 1905 als eine direkte Auswirkung der Aufbrüche in Wales an. „Sie trugen den Funken der Erneuerung nach Deutschland“.423 Und obwohl die Botschaft vom Geisteswirken und Zungenreden, angestoßen durch die Ereignisse in der Azusa Street schnell Deutschland erreichte, schlug sie dort zunächst keine großen Wellen, da Wales näher lag. Der Durchbruch der Pfingstbewegung in Deutschland geschah erst durch einen Umweg über Norwegen, durch Thomas Ball Barratt, der während seines Amerikabesuches im Jahre 1906 mit der Pfingstbewegung in Berührung gekommen war. Nach dem Empfang einer pfingstlichen Geistestaufe kehrte er nach Norwegen zurück und berichtete über seine neuen Erfahrungen.424 „Die Nachricht von den geistlichen Aufbrüchen in Norwegen erreichte schnell auch Deutschland, wo die Wogen der Waliser Erweckung inzwischen verklungen waren“.425 Schmidgall sieht verschiedene Erweckungsberichte für die Entstehung der deutschen Pfingstbewegung als ausschlaggebend an, da diese enthusiastischen Berichte das Verlangen etwas Ähnliches zu erleben verstärkten.426 „Für die Teile der Gemeinschaftsbewegung, die sich später in der deutschen Pfingstbewegung konstituierten“ hält er aber das Diktum von Eugen Edel für zutreffend: „Der Ursprung der heutigen (Pfingst-) Bewegung ist in Wales zu suchen“.427 Schmidgall zeigt aber auf, dass die Ereignisse von Azusa Street zu Beginn sowohl in den Gemeinschafts- als auch in den Pfingstkreisen begrüßt wurden. „Erst als die Enthusiasmen der Azusa Street Erweckung bekannt wurden, haben sich verschiedene Leiter der Gemeinschaftsbewegung dagegen ausgesprochen“. Seitens Johannes Seitz wurde am 7. Juli 1907 ein kritischer Brief nach Los Angeles geschrieben, der die Warnung und Aufforderung enthielt doch „zu prüfen“: „Es ist viel Göttliches, Gutes und Herrliches im Anfang der Los Angeles-Bewegung gewesen. Aber wenn Unbiblisches, Ungesundes, Schwärmerisches hineinkommt, so wird es gehen, wie wir es in Deutschland so oft sehen mußten: wenn sich die Hölle in Lichtsgestalt verkleiden konnte und man Verzückungen, Offenbarungen und Erscheinungen für bare Münze annahm, so kam dadurch ein falscher Geist herein und zerstörte allmählich, oft auch schnell alles das, was vom Geiste Gottes kam und wirklich durch den Geist Gottes entstanden war.“428 Selbst die Leiter der entstehenden Pfingstbewegung Mülheimer Prägung distanzierten sich deutlich von Azusa Street und identifizierten sich mehr mit dem früheren Aufbruch um Charles Vgl. Stephan Holthaus, Heil – Heilung – Heiligung, 563. Beispielsweise evangelisierte dort 1903-1904 der amerikanische Evangelist und Heiligungstheologe Reuben Archer Torrey, begleitet von dem Sänger Charles Alexander. Hinzu kam der damals wachsende Einfluss der Keswick-Konferenzen. Der für den deutschsprachigen Raum wohl populärste Prediger der Erweckung in Wales, die 1904 ihren Ausgang nahm, war Evan Roberts. 422 Vgl. a.a.O., 566. Jonathan Paul sah im Aufbruch von neuen Geistesgaben die positive Besonderheit von Wales. 423 Stephan Holthaus, Heil – Heilung – Heiligung, 567 424 Barratt befand sich wegen einer Geldsammlung in New York. Er hörte von der Erweckung in der Azusa Street und informierte sich darüber, war aber persönlich nicht in Los Angeles gewesen. Vgl. auch Paul Schmidgall, Von Oslo nach Berlin!, 19 425 Stephan Holthaus, Heil – Heilung – Heiligung, 571. 426 Paul Schmidgall, Hundert Jahre Deutsche Pfingstbewegung, 45. Schmidgall unterscheidet zwischen externen Gründen: Verschiedenen Erweckungsberichten, die um die Jahrhundertwende aus dem Ausland (1901 Topeka/Kansas; 1904/05 Wales; 1906 Azusa Street; 1906/07 Christiania) nach Deutschland gelangten; und internen Gründen: Die Gemeinschaftsbewegung als Wiege der deutschen Pfingstbewegung. Durch sie wurden fünf theologische Fundamentalien wie Heil, Heiligung, Heilung, Heilserwartung, Geistestaufe vorgeprägt. 427 Eugen Edel, Der Kampf um die Pfingstbewegung, 15. Zitiert in Schmidgall, Hundert Jahre Deutsche Pfingstbewegung, 55. Edel zitierte selbst allerdings den Gemeinschaftshistoriker J. Warns aus dessen Monatsblatt „Die Wahrheit in Liebe“. Vgl. das Zitat auch bei Paul Fleisch, Die Pfingstbewegung in Deutschland, 24. Paul Fleisch bringt die „Vorgänge im Ausland“ direkt mit der Erweckung in Wales 1904 zusammen und stellt sie neben die Wurzel der enthusiastisch-eschatologischen Richtung der deutschen Gemeinschaftsbewegung, als eine zweite Grundströmung, auf welche die Deutsche Pfingstbewegung zurückgeht (Paul Fleisch, Die Pfingstbewegung in Deutschland, 386). 428 In: Christian Hugo Krust, 50 Jahre Deutsche Pfingstbewegung, 56. 92 421 Fox Parham (Topeka, Kansas 1901).429 Nach den Kasseler Ereignissen 1907 wollte man wohl nicht mehr mit „Enthusiasmen“ in Verbindung gebracht werden, und die andauernden Gespräche mit der Gemeinschaftsbewegung nicht gefährden.430 Interessanterweise wurden die Ereignisse unter Barratt in Norwegen weitaus positiver aufgenommen, und Jonathan Paul reiste 1907 nach Christiania um die Erweckung persönlich zu sehen.431 Obwohl die skandinavische Erweckung in weiten Teilen enthusiastisch war, wurde sie selbst nach den Ereignissen von Kassel von Anhängern der deutschen Pfingstbewegung weiterhin positiv rezipiert. Schmidgall sieht als mögliche Erklärung die geographische Nähe und damit verbundene Möglichkeit, im Gegensatz zum weit entfernten Los Angeles, die Erweckung durch Besuche unmittelbar in Augenschein zu nehmen.432 Obwohl die Gegner der Pfingstbewegung in Deutschland in der Berliner Erklärung von 1909 die Bewegung „im untrennbaren Zusammenhang mit der Bewegung von Los Angeles, Christiana, Hamburg, Kassel und Großalmerode“ sahen, lässt sich historisch gesehen keine direkte Verbindung zwischen Azusa Street und der Pfingstbewegung in Deutschland belegen. Es besteht höchstens eine indirekte Verbindung durch Thomas Ball Barratt.433 Somit kann das historiographische Schema des singulären Ursprungs und der damit oft verbundenen amerikanischen Einordnung im Falle der deutschen Pfingstbewegung nicht aufrecht erhalten werden. Vielmehr erweist sie sich bei näherer Betrachtung als Produkt eines größeren diskursiven Netzwerks.434 3. Angloamerikanische Einflüsse bis 1945 Schon seit den Anfängen der deutschen Pfingstbewegung hatte es Beziehungen zum Ausland gegeben, auch nach Amerika.435 Beispielhaft sei hier ein Vorgang erwähnt, als 1928 in Mülheim Vogets Gedanken von der Notwendigkeit tieferer Buße und der pessimistischen Gelassenheit sich so durchgesetzt hatten, dass sich von außen und innen Kritik erhob.436 Aus den USA kam die erstaunte Anfrage, ob Gott sich in Deutschland etwa ganz anders offenbaren und reden würde als in Amerika? Im Gegensatz zu der in Amerika vorherrschenden Freude im Herrn, Händeklatschen, wehenden Taschentüchern, gegenseitigem Schütteln der Hände, Lachen, Jauchzen, und der Tatsache, dass jedermann vergnügt und glücklich sei, scheine in Deutschland das andere Extrem vorzuherrschen: Immer in Staub und Asche und immer ein beständiges Klagen über die eigene unwürdige und untüchtige Verfassung. Die Hauptbotschaft in Deutschland laute wohl: „Tut Buße!“437 Doch ist z.B. der Einfluss der größten und bedeutendsten pfingstlichen Freikirche in den USA, der Assemblies of God, in den ersten Jahrzehnten auf Deutschland als sehr gering einzustufen.438 429 Vgl. Paul Schmidgall, Hundert Jahre Deutsche Pfingstbewegung, 62. Parham lehrte die Geistestaufe als zusätzliches Ereignis zur Heiligung und sah in der Xenolalie das Zeichen für den Empfang der Geistestaufe (nach Apg 2). Im Januar 1901 erlebte eine seiner Schülerinnen, Agnes Ozman, das sehnlichst erwartete Zeichen. Parham und weitere Schüler folgten. 430 Vgl. a.a.O., 56. Die Norwegerinnen Dagmar Gregersen und Agnes Thelle kamen 1907 zur Unterstützung von Evangelisationen nach Hamburg und dann nach Kassel. Im Blaukreuzhaus in Kassel eskalierten die Veranstaltungen und mussten abgebrochen werden. 431 Vgl. Christian Hugo Krust, 50 Jahre Deutsche Pfingstbewegung, 51-52. 432 Vgl. Paul Schmidgall, Hundert Jahre Deutsche Pfingstbewegung, 69. 433 “The news from Los Angeles created great interest in Spirit-baptism and tongues in Germany, but there appears to be no direct link between Germany and Azusa Street, only an indirect connection existed through the ministry of the Methodist Pastor, Thomas Ball Barratt (1862-1940).” In: Carl Simpson, A critical evaluation of the contribution of Jonathan Paul to the development of the German Pentecostal Movement. Ph.D.-Thesis, Glyndwr University March 2011, 101-102, bisher unveröffentlicht. 434 Vgl. Michael Bergunder, Pfingstbewegung, Globalisierung und Migration, 155-169. Die Pfingstbewegung kann als ein internationales diskursives Netzwerk verstanden werden, das zur Definition das Vorhandensein zweier Formalkriterien erfordert: historische Beziehungen und synchrone Interrelationen (diachrones und synchrones Netzwerk). 435 Vgl. Carl Simpson, A critical evaluation, 124-129, sowie Paul Fleisch, Die Pfingstbewegung in Deutschland, 291f. Beispielsweise unterhielt Voget gute Beziehungen zu den amerikanischen Assemblies of God. 436 Vgl. a.a.O.,311. 437 A.a.O., 312-313. 438 Gottfried Sommer, Anfänge freikirchlicher Pfingstgemeinden in Deutschland zwischen 1907 und 1945, 24. 93 Einige Bedeutung hatte die seitens des Amerikaners Paul Bernhard Peterson 1927 gegründete Russian and Eastern European Mission, die später den Namen Eastern European Mission (EEM) erhielt. 1928 entstand in diesem Zusammenhang eine Bibelschule in Danzig durch Gustav Herbert Schmidt, der auch für die EEM dort ein Hauptquartier errichtet hatte. Die Unterrichtssprache war dort Deutsch. In den Wirren des Krieges wurde Schmidt verhaftet, konnte Deutschland aber heimlich verlassen, nachdem er aufgrund seiner amerikanischen Staatsbürgerschaft 1941 entlassen wurde.439 Für die Pfingstbewegung in Deutschland zur Zeit des Nationalsozialismus ist zu beachten, dass evtl. mit Ausnahme des Mülheimer Verbandes und der Elim-Bewegung von keiner voll organisierten Denomination gesprochen werden kann, sondern von Gruppierungen mit starken Leiterpersönlichkeiten. Aufgrund eines ausgeprägten Partikularismus ist das Verhalten der verschiedenen Pfingstgruppen in dieser Zeit sehr differenziert zu betrachten.440 Mit Blick auf die Pfingstbewegung Mülheimer Richtung ist auffallend, dass „Amerika“ kein vorrangiges Thema gewesen ist. Interessanterweise findet zum Beispiel in der Zeitschrift Heilszeugnisse441 der Mülheimer Bewegung im Zeitraum von 1930 bis 1941 „Amerika“ so gut wie keine Erwähnung, dafür umso mehr „England“. Scheinbar englische negative Charaktereigenschaften wie „Sentimentalität und Sensationshunger, Weichlichkeit und Grausamkeit“ wurden als etwas angesehen, was nur auf „angelsächsischem Holze“ wuchs, aber auf keinen Fall in Deutschland.442 In ihrer Selbstwahrnehmung spielte nur Deutschland eine bestimmende, übergeordnete und somit einflussreiche Rolle. Gemäß nationalsozialistischer Propaganda hatte man sich auf England als direktes Feindbild eingeschossen. Gott habe dem gedemütigten Deutschland einen Führer erweckt, der wirklich um Frieden bemüht sei, der aber aufgrund der Briten und Franzosen zur Kriegspolitik gezwungen wurde.443 Frankreich und England bekämen durch den Krieg letztendlich nur das, was sie verdienten, da Deutschland den Krieg nie gewollt habe444, im klaren Gegensatz zu England, das am liebsten gesehen hätte, wenn überall Krieg gegen Deutschland entbrannt wäre.445 Deutschlands „Triumphe“ wurden gleichgesetzt mit Gottes Gerechtigkeit und Gericht. England erführe dadurch „Züchtigung für ihre frevlerische Kriegsschuld“446 und sehe „die erhobene Sense des deutschen Schnitters über sich“, verharre aber trotzdem weiterhin in seiner Verblendung.447 Aber „wen Gott verderben will, den schlägt er mit Blindheit“.448 England würde durch das Schwert „die ihm gewiß noch einmal heilsame Demütigung erfahren, die Gottes Wort und Weissagung ihm nach Daniel Kapitel 7 Vers 4 zubestimmt“ habe.449 „Denn die Engländer sie wollen ja doch angeblich eine bewußt christliche Nation sein, sie bleiben aber die wirkliche Beweisführung dafür weitgehend schuldig.“450 Die Eschatologie war vom Ausgang des Krieges geprägt. Die Zerschlagung des Fundaments des britischen Weltreichs, den die deutschen „Helden“ unter Einsatz ihres Lebens erzwängen, würde den Weg zum Endsieg frei machen.451 England wurde als Blockade für das sich neu konstruierende Europa gesehen. Die anderen europäischen Völker hätten bereits erkannt, dass sich auf deutscher und italienischer Seite die „jungen zukunftsstarken Kräfte“ befänden.452 Am 439 Vgl. a.a.O., 25. Siehe auch J. Coletti, Russian and Eastern European Mission, in: The New International Dictionary of Pentecostal Charismatic Movements (Revised and Expanded Edition). Hg. Stanley M. Burgess and Eduard M. Van der Maas, 2003, 1031-1032. 440 Sven Brenner, „Pentecostalism in Nazi Germany“, GloPent Conference 2009, Birmingham, U.K. unveröffentlichtes Manuskript. 1. Vgl. Paul Schmidgall, Hundert Jahre Deutsche Pfingstbewegung, 287-294. 441 Heilszeugnisse. Eine Halbmonatsschrift zum Dienst der Gemeinde Jesu Christi. Hg. K.W. Mütschele, Erschienen in Mülheim/Ruhr. Ab Jg. 22/1930 bis Jg. 33/1941. Gemeinde Gottes Archiv Urbach. 442 Vgl. Des Engländers Feind heißt England!, in: Heilszeugnisse Nr.21, 1. November 1940, 32 Jg., 163. 443 Vgl. Gerechtigkeit erhöht ein Volk, in: Heilszeugnisse Nr.9, 1. Mai 1940, 32 Jg., 69-70. 444 Vgl. Des Engländers Feind heißt England!, in: Heilszeugnisse Nr.21, 1. November 1940, 32 Jg., 163. 445 Vgl. Ein Brandherd weniger!, in: Heilszeugnisse Nr.22, 15. November 1940, 32 Jg., 174. 446 Waffenstillstand!, in: Heilszeugnisse Nr.14, 15. Juli 1940, 32 Jg., 109. 447 Vgl. Zeit der Ernte, in: Heilszeugnisse Nr.17, 1. September 1940, 32 Jg., 135. 448 Waffenstillstand!, in: Heilszeugnisse Nr.14, 15. Juli 1940, 32 Jg., 109. 449 Gerechtigkeit erhöht ein Volk, Heilszeugnisse Nr.9, 1. Mai 1940, 32 Jg., 69f. 450 Ebd. 451 Vgl. Stück um Stück, in: Heilszeugnisse Nr.23, 1. Dezember 1940, 32 Jg., 182. 452 Neues Europa, Heilszeugnisse Nr.24, 15. Dezember 1940, 32 Jg., 189. 94 Ende stünde aber klar der deutsche Sieg, der die Neuordnung Europas bringen würde.453 Der Untergang des englischen Weltreiches sei nötig, damit „endlich für alle Zeit Ruhe und Frieden“ einkehre.454 Nur so könne es „wirkliche Freiheit“ für die deutsche Nation geben. 455 Eine starke Abgrenzung erfolgte gegenüber dem Anglo-Israelismus, der ja beispielsweise schon von Charles Fox Parham vertreten wurde. Parhams Hierarchie der Rassen mit den Angelsachsen als oberster Herrenrasse passte sehr genau ins damalige Umfeld der Südstaaten der USA.456 In den Heilszeugnissen bemerkte man mit Erstaunen gravierende Unterschiede hinsichtlich der Einstellung zur jüdischen Abstammung. Während jedermann in Deutschland, dem Land dem es nicht nur genügte jeder geistigen Beherrschung des eigenes Volkes durch ein fremdes Gastvolk ein Ende zu bereiten, sondern das auf mögliche Reinheit der Rasse drang, seine arische Abstammung beweisen musste und sich jeder glücklich schätzen konnte, wenn er „keinen Tropfen jüdischen Blutes in seinen Adern hatte!“, brach in England, „dem größten Weltreich“, eine genau entgegengesetzte Bewegung auf. „Der Engländer fing an, mit einem erstaunlichen Fleiß und Eifer sich um einen lückenlosen Nachweis dafür zu bemühen, dass die Angelsachsen eigentlich Israeliten seien.“457 In diesem Zusammenhang ging man in einem Artikel in den Heilzeugnissen auf die British-Israel-World-Federation ein, laut der die britische Rasse das wieder aufgefundene Israel darstelle. Die angelsächsischen Völker, zu denen auch SchleswigHolstein, Hannover, die Provinz Sachsen u.a. gehören, seien die blutsmäßige Fortsetzung der israelitischen Nation, und somit „die Erben der besonderen Vorrechte, die Israel durch den nationalen Bund Gottes mit ihm zugesichert empfangen habe“.458 Man stellte mit Erstaunen fest, dass das, „was also der Deutsche verabscheut und als einen Ekel von sich weist, zur selben Zeit des ihm doch blutsverwandten Engländers höchster Stolz und Ruhm!“ wird.459 Ohne Zweifel sah man sich aber auch gegenüber Amerika als überlegen an. Amerika war ein Land, das man im Hinblick auf seine öffentliche Moral und seine fehlenden Persönlichkeiten mit Verantwortlichkeitsgefühl „augenblicklich am Ende eines Sandseiles“ baumeln sah.460 Amerika, übertraf Deutschland beispielsweise darin weit „Sekten“ zu bilden. 461 Am Beispiel von Heinrich Vietheer (Elim-Bewegung), der auch als ein Vater der deutschen Pfingstbewegung angesehen wird,462 möchte ich diese Positionierung gegenüber Amerika verdeutlichen. Vietheer war ein Mann, der in seinem Dienst sogenanntes „Amerikanisches“ ablehnte. In einem speziellen Fall, als es in Königsberg zu erheblichen Problemen durch einen Prediger kam, stellte Vietheer beispielsweise fest, dass doch jeder Einsichtige seit Jahren wisse, dass dieser Prediger durch das Nachahmen amerikanischer und englischer Methoden und das künstliche Forcieren von „Erweckungen“ auf die Dauer nicht über seine Unaufrichtigkeit und innere Hohlheit hinwegtäuschen konnte.463 Und von seiner Amerikareise 1934/35 berichtet Vietheer, dass er dort u.a. „echt Amerikanisches“ zu hören bekam, etwas, bei dem er innerlich absolut nicht mitgehen konnte.464 Trotz mancher Vorurteile konnte Vietheer aber Amerika auch etwas Positives abgewinnen. Z.B. war er so beeindruckt vom Moodyschen Bibelinstitut in Chicago, dass er im Glaubensweg darüber einen über drei Ausgaben laufenden Bericht veröffentlichte.465 Auch imponierte ihm die dortige Gastfreundschaft und er musste zugeben, dass er so manches in Amerika lernen konnte. 453 Vgl. Gelöbnis und Gebet, in: Heilszeugnisse Nr.5, 1. März 1941, 33 Jg., 39. Zum Zeitgeschehen, in: Heilszeugnisse Nr.8, 15. April 1941, 33 Jg., 69. 455 Verpflichtendes Gebot, Heilszeugnisse Nr.24, 15. Dezember 1940, 32 Jg., 189. 456 Walter J. Hollenweger, Charismatisch-pfingstliches Christentum. Herkunft Situation Ökumenische Chancen, Göttingen 1997, 33-35. 457 Vgl. Wächter, wie weit ist´s in der Nacht?, in: Heilszeugnisse Nr.3, 1. Februar 1935, 27 Jg., 39. 458 A.a.O., 40f. 459 A.a.O., 39. 460 Vgl. Aporia Luk. 21,25, in: Heilszeugnisse Nr.14, 15. Juli 1933, 25 Jg., 224. 461 Vgl. a.a.O., 164f. 462 Vgl. Bernhard Olpen, Gekämpft mit Gott und Menschen. Das Leben von Heinrich Vietheer, Erzhausen 2007, 10. 463 Vgl. H. Vietheer, Reisebericht, in: Der Glaubensweg, Nr.12, 1931, 5 Jg., 142. 464 Vgl. H. Vietheer, Reisebrief aus Amerika. Von unserem Missionsleiter, in: Der Glaubensweg Nr. 12; 1934; 8 Jg., 144. 465 Vgl. H. Vietheer, Das Moody’sche Bibelinstitut in Chicago, in: Der Glaubensweg Nr.9, 1935; 9 Jg., 106; Ein Rundgang durch das Moodysche Bibelinstitut in Chicago, in: Der Glaubensweg Nr.10, 1935, 9 Jg., 118-119; Interessantes aus dem Moodyschen Bibelinstitut in Chicago, in: Der Glaubensweg Nr.11, 1935, 9 Jg.,131-132. 95 454 Denn „alles in allem war es eine gesegnete Konferenz.“466 Vietheer berichtete den Geschwistern in Deutschland erstaunt, dass er in Chicago, die in Deutschland als die größter Verbrecherstadt der Welt galt, von den angeblich überall präsenten „Gangstern“ gar nichts bemerkte.467 Er stellte dann aber mit Erschrecken fest, dass seitens der Amerikaner ein völlig falsches Bild von Deutschland bestehe und sah seinen Dienst nun als dessen Korrektur. Vietheer konnte es nicht glauben wie viel „Falsches“ in Amerika über die deutsche Regierung und besonders über den Reichskanzler verbreitet wurde und versicherte, dass in Deutschland völlige Freiheit herrsche, das Evangelium in biblischer Klarheit zu verkündigen. Er beschloss überall wo er in Amerika dienen würde, am ersten Abend zuerst über die Situation in Deutschland zu sprechen.468 In seinem ersten Abendvortrag mit dem Titel „Wie sieht es in dem heutigen Deutschland aus?“ stellte er die „vielen häßlichen und gehässigen Lügen, die hier in Amerika verbreitet werden“ bloß, bevor er anfing „den großen und herrlichen Jesus zu predigen und das gegenwärtige, völlige Heil in ihm.“469 Vietheer wurde so, bewusst oder unbewusst, zum Botschafter für Deutschland und seine nationalsozialistische Politik. Vietheers „aufklärender Dienst“ war aus deutscher Sicht sogar so „erfolgreich“, dass Geschwister aus Amerika Mut bekamen nach Deutschland zu reisen, obwohl man sie zuvor gewarnt hatte, deutschen Boden zu betreten. Letztendlich fanden sie es hier „natürlich ganz anders vor als erwartet“, was von den damaligen Besuchern der Gottesdienste, aber auch von den deutschen Behörden „sehr beifällig aufgenommen“ wurde.470 Einige Geschwister in Amerika waren dankbar für die Monatszeitschrift der Elim Bewegung in Deutschland, den Glaubensweg, den sie selbst lasen und auch bewarben, da er „wahre Hausmannskost und unverfälschte Wahrheit“ enthalte. Und gerade das Bekennen dieser Wahrheit sei es, was der deutschen „Geistesbewegung“ sehr hoch anzurechnen sei.471 Während seiner Amerikareise hatte Vietheer die Gelegenheit vielen Gottesdiensten beizuwohnen, z.B. auch einer „Negerversammlung“ in der geklatscht und getrommelt wurde. „Der Prediger stampfte dauernd mit dem Fuß, daß es nur so dröhnte und dauernd schlug er klatschend mit der Hand aufs Podium und aufs Geländer“. Etwas, was Vietheer bisher noch nie erlebt hatte: „Mir fing mein Kopf an zu brummen. Ja, ja, es geschieht allerlei unter der Sonne.“472 Er besuchte auch Los Angeles. Und gerade dort hat Gott, so Vietheer „diese vielfach auch noch heute sehr verachteten Negern“ in der kleinsten Straße von Los Angeles erwählt um dort ein Feuer fallen zu lassen, „das sich bald über die ganze Welt ausbreitete!“. Für Vietheer hat „sich keine christliche Bewegung in Amerika so ausgebreitet wie diese Geistesbewegung“.473 Doch obwohl Vietheer die weltweite Bedeutung von Azusa Street anerkannte, grenzte er die deutsche Bewegung deutlich davon ab. Aus seiner Perspektive war es beispielsweise nicht leicht eine deutsche Gemeinde auf klarer biblischer Grundlage in den Vereinigten Staaten zu gründen. Ein Anliegen das ihn immer mehr ins Gebet trieb.474 Seiner Meinung nach war in der Arbeitsmethode der Brüder dort noch „manches mangelhaft“.475 Auch ginge es in den Erweckungsveranstaltungen viel zu laut zu, da die Geschwister in Amerika sich in den öffentlichen Versammlungen auf allerlei Weise bemerkbar machten, auch während der Ansprache. Da hierdurch das Wirken des Heiligen Geistes behindert würde, konnte Vietheer das nicht dulden und ging ganz energisch dagegen vor. Auch schleppte man seiner Ansicht nach in Amerika viel zu schnell Seelen, die noch gar keine klare Sündenerkenntnis hatten, zur sogenannten Bußbank. Vietheer stellte überdies fest, dass es dort noch viele Hindernisse wegzuräumen gäbe, da die Geschwister keine „wahre Zerbrechung“ kannten und sie auch nicht wollten.476 466 H. Vietheer, Reisebrief aus Amerika. Von unserem Missionsleiter, in: Der Glaubensweg Nr.12, 1934, 8 Jg., 144. Vgl. ebd. 468 Vgl. ebd. 469 H. Vietheer, Evangelisation in Benton Harbor, Mich., U.S.A., in: Der Glaubensweg Nr.1, 1935, 9. Jg., 12. 470 H. Dittert, Zeltarbeit in Altona, in: Der Glaubensweg Nr.8, 1935, 9 Jg., 96. 471 Vgl. Aus dem Leserkreis, in: Der Glaubensweg Nr. 8, 1935, 9 Jg., 96. 472 H. Vietheer, Evangelisation in Cleveland, Ohio, U.S.A., in: Der Glaubensweg Nr.2, 1935, 9 Jg., 23-24. 473 H. Vietheer, Reisebrief aus Californien, in: Der Glaubensweg Nr. 3, 1935, 9 Jg., 35. 474 Vgl. H. Vietheer, Evangelisation in Cleveland, Ohio, U.S.A., in: Der Glaubensweg Nr. 2, 1935, 9 Jg., 23-24. 475 H. Vietheer, „Reisebrief aus Amerika. Von unserem Missionsleiter“, Der Glaubensweg Nr. 12, 1934, 8 Jg., 144. 476 Vgl. H. Vietheer, Evangelisation in Benton Harbor, Mich., U.S.A., in: Der Glaubensweg Nr. 1, 1935, 9. Jg., 12. 96 467 Insgesamt lässt sich feststellen, dass ein amerikanischer Einfluss auf die Deutsche Pfingstbewegung in den ersten Jahrzehnten kaum vorhanden war. In der Zeit des Nationalsozialismus übernahm man innerhalb der deutschen Pfingstbewegung die nationalsozialistische Sicht des alles überragenden Deutschland, die zur Überheblichkeit und Abgrenzung vor allem gegenüber England, aber auch Amerika führte. Man hielt die eigenen deutschen Wurzeln für die weitaus wichtigste Prägung. 4. Angloamerikanische Einflüsse nach 1945 Schon während der Zeit des Nationalsozialismus gab es seitens amerikanischer Pfingstgemeinden Bemühungen in Deutschland Fuß zu fassen. Im Falle der International Church of the Foursquare Gospel, die 1937 in Berlin gegründet, dann aber aufgrund des Krieges verboten wurde, gelang dies beispielsweise nicht.477 Ganz anders dagegen erging es Herman Lauster, dem Begründer der Gemeinde Gottes in Deutschland, der nach Amerika ausgewandert war und 1936 als Missionar der Church of God aus Amerika zurückkehrte und ab 1937 in Deutschland Gemeinden gründete.478 Aufgrund seiner evangelistischen Tätigkeiten wurde er festgenommen und von August 1938 bis März 1939 im KZ Welzheim inhaftiert.479 Dies führte seitens des weltweiten Leiters der Church of God, J. H. Walker, zu einem weltweiten Gebets- und Fastentag am 5. März 1939, dem wohl 50.000 Gläubige in den USA, Deutschland und anderen Ländern folgten. Am 16. März 1939 wurde Herman Lauster aus dem KZ entlassen.480 Im Februar 1942 wurde er zum Militärdienst eingezogen und diente während der Zeit des Krieges auf der Insel Guernsey. Er kam erst nach Deutschland zurück, als er im August 1946 aus englischer Kriegsgefangenschaft entlassen wurde.481 Nach dem Krieg erhielten die neugegründeten Gemeinden Hilfslieferungen mit Kleidern und Nahrungsmitteln von der Mutterkirche, der Church of God aus den USA. Hierzu trugen auch einige in Deutschland stationierte amerikanische Soldaten, die Mitglieder der Church of God waren, bei. Durch finanzielle Hilfe aus Amerika konnte 1948 ein Missionszelt gekauft werden. Im Februar 1949 wurde mit Unterstützung des Deutschamerikaners Robert R. Seyda eine Bibelschule begonnen482, und durch weitere Unterstützung aus den USA wurde es von 1949-55 möglich vier Gemeindehäuser zu errichten.483 1963 wurde Lambert DeLong, Amerikaner und Schwiegersohn von Herman Lauster, als Vorsteher der Gemeinde Gottes in Deutschland eingesetzt um den erkrankten Lauster zu entlasten, der dann 1964 verstarb. Lambert DeLong leitete nach ihm die Gemeinde Gottes Deutschland für zehn Jahre.484 Auch bei den Assemblies of God kamen die Beziehungen zu Deutschland erst nach 1945 sichtbar zum Tragen. Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges versuchten die Assemblies of God bewusst Einfluss zu nehmen, da man für die „Neuerziehung“ nach die Krieg das Evangelium als fundamental wichtig ansah: „Education did not prevent Germany from ravaging Europe in the past and it will not now. What is needed is a power that will go below the surface and touch men’s hearts. That power is the gospel of Christ. It needs to be preached in Germany in the power of the Spirit until men’s hearts are changed and a generation of law-abiding, peace-loving Christian youth arises to be a blessing and not a curse to mankind.”485 Vgl. Paula Gassner, In des Töpfers Hand, Stuttgart 22007, 69. Paula Gassner berichtet hier wie sie in Berlin mit einer Mitarbeiterin von Aimee McPherson aus Kalifornien zusammengeführt wird, die in Berlin in der Schönfließerstraße Versammlungen abhielt. Vgl. Sommer, Anfänge freikirchlicher Pfingstgemeinden, 27. 478 Vgl. Herman Lauster, Vom Pflug zur Kanzel, Krehwinkel 1964; Bobbie Lauster, Herman Lauster. One Man and God, Cleveland 1967; Schmidgall, Hundert Jahre Deutsche Pfingstbewegung, 323ff. 479 Vgl. Herman Lauster, Vom Pflug zur Kanzel, 60-69; Bobbie Lauster, Herman Lauster, 93-119. 480 Bobbie Lauster, die Schwiegertochter von Herman Lauster, berichtet von diesem „Wunder“. Bobbie Lauster, Herman Lauster, 93-119. 481 Vgl. Herman Lauster, Vom Pflug zur Kanzel, 80. 482 Sie wurde zum Vorläufer des heutigen Europäischen Theologischen Seminars in Freudenstadt-Kniebis. 483 Vgl. Paul Schmidgall, Hundert Jahre Deutsche Pfingstbewegung, 373-375. 484 Vgl. Paul Schmidgall, Von Oslo nach Berlin, 96. 485 “Re-education Germany”, The Pentecostal Evangel, 26. Mai 1945, 5. 97 477 Man erkannte eine offene Tür in Deutschland, und nach und nach gewann das Thema „Einigkeit unter den Pfingstkreisen“ an Bedeutung.486 Hierbei ist Gustav Kindermann zu erwähnen, der als Field-Sekretär der Assemblies of God für Europa tätig war, und nach Ende des Krieges die Initiative für eine neue internationale Konferenz ergriff. Unter anderem wollte man auch dem besonders von amerikanischer Seite her geäußerte Wunsch die in der Nachkriegszeit eingesetzten Hilfslieferungen nach gemeinsamen Richtlinien zu koordinieren, nachkommen.487 Als 1950 die Freien Pfingstler ihren Weg getrennt von den Mülheimern gingen, wurden sie „sowohl von schwedischer als auch von amerikanischer Seite behutsam gedrängt, sich doch endlich als freikirchliche Pfingstgemeinden zu einigen. Andernfalls stünde sogar die Verteilung der humanitären Hilfsgüter für sie auf dem Spiel.“488 Als Erklärung für die Spannung zwischen den deutschen Pfingstbrüdern wurde u.a. die Auseinandersetzung zwischen der amerikanischen und der kongregationalistisch ausgerichteten schwedischen Pfingstbewegung gesehen.489 Es gab nämlich besonders zwischen den Assemblies of God und den schwedischen Pfingstpastoren, von denen viele der deutschen Prediger beeinflusst waren, eine Auseinandersetzung bezüglich der Organisation.490 Aus schwedischer Sicht lehnte man die Idee einer denominationellen Organisation völlig ab,491 und verstand sich im Gegensatz zu den Amerikanern „als eine ausschließlich auf Vertrauen und Liebe der Pfingstprediger angelegte Arbeitsgemeinschaft, ohne jede hierarchische Struktur.“492 Es stand der Vorwurf im Raum, dass die Vertreter der amerikanischen Assemblies of God – im Gegensatz zu den völlig uneigennützig arbeitenden schwedischen Missionen, die in keinem einzigen Fall versucht hätten so etwas wie schwedische „Filialen“ in Deutschland zu gründen – hauptsächlich ihre eigenen Interessen in Deutschland vertreten würden.493 Schwedische Leiter argwöhnten, „dass die amerikanischen Brüder gewissermaßen die Hand auf das Werk in Europa legen und es sozusagen von den USA aus beaufsichtigen wollen, ein Ansinnen, dem die amerikanischen Gesandten jedoch widersprachen.“494 Weil man kein Geld hatte, war man aber auf die Hilfe der Amerikaner angewiesen. Auf amerikanische Initiative hin wurde schließlich das „Theologische Institut“ gegründet.495 Die Amerikaner hatten dort ein theologisches, spirituelles und personelles Übergewicht, so dass es von deutscher Seite zu einem Antrag kam, bestimmte Kriterien zu berücksichtigen, da die Amerikaner dem deutschen Empfinden nicht voll gerecht würden.496 Die Leitung sowie der Großteil der Lehrerschaft wurde aber weiterhin von den amerikanischen Assemblies of God gestellt. Rückblickend stellte man allerdings fest, dass sich ab 486 Vgl. Gottfried Sommer, Die Sammlung Deutscher Freikirchlicher Pfingstgemeinden in der Zeit des Wiederaufbaus 1945-1955 zur Arbeitsgemeinschaft der Christengemeinden in Deutschland (ACD). Entwicklung und Selbstverständnis. Unveröffentlichtes Manuskript, FTA Gießen 1999, 17-18. Sommer beruft sich auf: „Reeducation Germany”, in: The Pentecostal Evangel, 26. Mai 1945, 5; „An Open Door in Germany”, in: The Pentecostal Evangel, 23. Juni 1945, 3; John Lindvall, Pentecostal Blessings in Germany, in: The Pentecostal Evangel, 19 Juni 1948, 9; Gustav Kindermann, “Pentecostal Unity in Germany”, in: The Pentecostal Evangel, 6. November 1948, 14. 487 Vgl. Paul Schmidgall, Hundert Jahre Deutsche Pfingstbewegung, 396-397. Die deutschen Pfingstkirchen erhielten nach dem Krieg Direkthilfen von Pfingstgemeinden aus der Schweiz, Skandinavien und den USA, vgl. a.a.O., 348. 488 Ludwig David Eisenlöffel, Freikirchliche Pfingstbewegung in Deutschland. Innenansichten 1945-1985. Göttingen 2006, 67. 489 Vgl. a.a.O., 70. 490 Vgl. Gottfried Sommer, Sammlung Deutscher Freikirchlicher Pfingstgemeinden, 21. 491 Vgl. a.a.O., 27. 492 Ludwig David Eisenlöffel, Freikirchliche Pfingstbewegung in Deutschland, 56. 493 Vgl. a.a.O., 72. 494 Paul Schmidgall, Hundert Jahre Deutsche Pfingstbewegung, 398-399. Vgl. Gottfried Sommer, Die Sammlung freikirchlicher Pfingstgemeinden, 32. 495 Gustav Kindermann kaufte im Auftrag der Assemblies of God eine gut erhaltene Villa in Stuttgart. Dies wurde der Vorläufer des Theologischen Seminars Beröa, der Ausbildungsstätte des Bundes Freikirchlicher Pfingstgemeinden (heute in Erzhausen bei Darmstadt). 496 Z.B. sollten deutsche Pfingstprediger die besonderen Schwerpunkte der praktischen Theologie im Blick auf die deutsche Situation lehrmäßig vermitteln. Vgl. Ludwig David Eisenlöffel, Freikirchliche Pfingstbewegung in Deutschland, 85-94. 98 1951 die amerikanische Kultur und Frömmigkeit neben der herkömmlichen deutschen störend bemerkbar gemacht hatte.497 Insgesamt wird deutlich, dass es nach Kriegsende zu einem Paradigmenwechsel kam. Nun wurde von den USA aus massiv versucht, Einfluss auf die deutsche Pfingstbewegung zu nehmen, was insgesamt dankbar angenommen wurde. 5. Schlussfolgerungen Im Hinblick auf die Ursprünge der Pfingstbewegung in Deutschland gibt es keinerlei historische Belege für einen direkten Kontakt mit der Azusa-Street-Gemeinde in Los Angeles, es besteht höchstens eine indirekte Verbindung durch die Arbeit von Thomas Ball Barratt. Somit kann das historiographische Schema eines singulären Ursprungs und die damit oft verbundene Einordnung der deutschen Pfingstbewegung als amerikanisches Gewächs nicht aufrecht erhalten werden. Ein amerikanischer Einfluss war in den ersten Jahrzehnten kaum vorhanden. In der Zeit des Nationalsozialismus kam noch dazu, dass man innerhalb der deutschen Pfingstbewegung die nationalsozialistische Sicht eines alles überragenden Deutschland übernahm, die zu einer verstärkten Überheblichkeit und Abgrenzung vor allem gegenüber England, aber auch in Bezug auf die USA führte. Man hatte das Bewusstsein, ganz aus eigenen Quellen zu leben. Erst nach Kriegsende kam es zu einem Bruch. Nun gab es von den USA aus sehr dominante Versuche einer Einflussnahme auf die deutsche Pfingstbewegung. Dies wurde, besonders in Bezug auf finanzielle und personelle Unterstützung in Deutschland dankbar angenommen. 497 Vgl. a.a.O., 158. Referat zum Thema „Generationskonflikte“ auf der ACD-Konferenz 1973. 99 Thorsten Dietz Der Einfluss der anglo-amerikanischen Heiligungstheologie auf die Theologie von Theodor Jellinghaus 1. Einleitung „Es drängt mich, den vielen Lesern meiner Bücher und Traktate und den Teilnehmern an meinen Bibelkursen mitzuteilen, daß meine Lehren irreführend sind.“498 Mit diesen Worten eröffnete Theodor Jellinghaus (1841-1913) seine 1912 veröffentlichte Erklärung über meine Lehrirrtümer. Weiter schreibt er: „Wie ich nach jahrelanger Ueberlegung sehe, verleiten meine Schriften zu einer oberflächlichen, unbiblischen Auffassung von Sünde, Welt, Fleischeslust, Gesetz, Heiligkeit, Gerechtigkeit, Zorn Gottes, Gericht, Ewigkeitsernst, Opfertod Christi, Wachen, Beten, Ringen, Selbsterkenntnis, Selbstgericht, Buße und Glaube, Rechtfertigung und Wiedergeburt und Reinigung.“499 Theodor Jellinghaus galt in seiner Zeit als der führende Theologe der jungen Gemeinschaftsbewegung.500 Sein Werk Das völlige, gegenwärtige Heil durch Christum war inzwischen in fünfter Auflage erschienen und weit verbreitet.501 Als Bibelschullehrer und Konferenzredner wurde er neben Verkündigern wie Otto Stockmayer und Carl Heinrich Rappard als einer der einflussreichsten Vertreter der Bewegung angesehen, die ausgehend von den Heiligungskonferenzen in Oxford und Brighton 1874/75 auch in Deutschland eine beträchtliche Verbreitung gefunden hatte.502 Eine so radikale Infragestellung des eigenen Denkens und Wirkens wirft natürlich Fragen auf. Jellinghaus legt nicht nur Wert darauf, in fast allen von ihm ausgeführten Themen schwer geirrt zu haben, sondern auch darauf, dass es sich dabei um sein persönliches Irren und nicht etwa um Fehler der Gemeinschaftsbewegung oder der Heiligungsbewegung insgesamt handelt. Dies wird deutlich, wenn man sich die Liste der Wahrheitszeugen anschaut, von denen abgefallen zu sein er sich bekennt: Seinen eigenen Irrtümern stellt er nicht nur die gemeinsam bekannte christliche Wahrheit der Bibel, der Kirchenväter, der Reformatoren und Pietisten gegenüber. Ausdrücklich betont er seinen eigenen Irrtum im Gegensatz zu Vertretern der Gemeinschafts- und Heiligungsbewegung wie Rappard, Stockmayer, Schrenk, Seitz, „wie überhaupt die ganze gläubige Theologie des 19. Jahrhunderts, auch die leitenden Blätter der deutschen bischöflichen Methodistenkirche, der evang. Gemeinschaft und der Baptisten“ sowie auch “fast alle Lieder des Reichsliederbuches“503. In der bisherigen Beschäftigung mit Jellinghaus dominierten solche Zugangsweisen, die sein Denken aus einer bestimmten konfessionalistischen Beschreibungsperspektive rekonstruierten. Das war in Deutschland in der Regel ein mehr oder weniger strenges vermittlungstheologisches oder konfessionalistisches Neuluthertum504, das war in der großen amerikanischen Studie von Benjamin Warfield505 eine stramme Variante von Old-School-Calvinismus. Mir geht es an dieser 498 Theodor Jellinghaus, Erklärung über meine Lehrirrungen, Lichtenrade 1912, 9. A.a.O., 9-10. 500 Zur kurzen biographischen Orientierung vgl. Stephan Holthaus, Heil – Heilung – Heiligung. Die Geschichte der deutschen Heiligungs- und Evangelisationsbewegung (1874-1909), Gießen 2005, 146-162. 501 Vgl. die systematische Würdigung dieses Werkes bei Jörg Ohlemacher, Das Reich Gottes in Deutschland bauen. Ein Beitrag zur Vorgeschichte und Theologie der deutschen Gemeinschaftsbewegung, (AGP 23) Göttingen 1989, 165-190. 502 Vgl. etwa Inspektor Theodor Haarbeck: „Bekanntlich ist Jellinghaus der Theologe der Pearsall Smith’schen Bewegung geworden, die im Jahre 1875 von Amerika zu uns herüberkam.“ Aus: Brief- und Fragekasten, Licht und Leben 24 (1912) Nr. 1, 13. 503 Jellinghaus, Lehrirrungen, 6. 504 Vgl. die Studien von Paul Fleisch (Die Heiligungsbewegung. Von den Segenstagen in Oxford 1874 bis zur Oxford-Gruppenbewegung Frank Buchmans, hg. und eingeleitet von Jörg H. Ohlemacher, Gießen 2003.), Ludwig Ihmels (Zur Lehre von der Heiligung bei Theodor Jellinghaus, O. O. o. J.) und Ernst Cremer (Das vollkommene gegenwärtige Heil in Christo. Eine Untersuchung zum Dogma der Gemeinschaftsbewegung, Beiträge zur Förderung christlicher Theologie 19 (1915) H. 4/5). 505 Benjamin B. Warfield, Perfectionism, hg. von Samuel G. Craig, Philadelphia 1967. (Bd. II von Ders., Studies in Perfectionism, New York 1931) 100 499 Stelle um eine Befreiung der Wahrnehmung von Jellinghaus aus solchen Zugangsweisen. Das jeweils angelegte dogmatische Maß dominierte die Gesichtspunkte, unter denen Jellinghaus’ Überlegungen wahrgenommen werden konnten. Auf diesem Weg der Darstellung zerfiel seine Theologie oft in einen guten, richtigen Part, der als biblisch, evangelisch oder gesund eingeschätzt wurde, und in einen anderen Part, der dann für magische, mystische, arminianische oder andere Abschweifungen gerügt wurde. Zunächst soll der Fokus daher auf der historisch-genetischen Fragestellung liegen, wie bei Jellinghaus die Impulse der anglo-amerikanischen Heiligungsbewegung506 mit der Tradition deutscher Theologie vermittelt werden. Welche theologischen Einflüsse hat er verarbeitet? Worin besteht seine eigene Syntheseleistung? In einem zweiten Abschnitt möchte ich dann nach der inneren Logik seines Denkens fragen. Gibt es in seinen Texten auch eine Reihe von erheblichen begrifflichen Unschärfen, so begegnen im Zentrum seiner Überlegungen doch immer wieder konsequent gehandhabte Schlüsselbegriffe und Grundgedanken, die für eine eindeutige Codierung und damit Präzision der Systemlogik stehen (z. B. Rechtfertigung durch den Glauben – Heiligung durch den Glauben).507 Was machte dieses Denken für eine ganze Generation von Pietisten und Erweckten so attraktiv? Welche Probleme löste es? Aber auch: Welche Folgeprobleme konnte dieses Denken verursachen? In welchen Herausforderungen konnte es sich bewähren, wo hingegen bahnte es durch die Fraglichkeit eigener Bewährung eine theologische Weiterentwicklung an oder machte sie nötig? Dabei soll insbesondere der Umgang mit Kohärenzbedürfnissen oder Dissonanzerfahrungen des Denkens bedacht werden. Schließlich kehren wir noch einmal zurück zum Widerruf seiner Theologie und fragen nach Gründen für das spektakuläre Scheitern seines Systems. 2. Die Heiligungstheologie von Jellinghaus und ihre Quellen 2.1 Die Heilsordnung (das völlige Heil) Grundsätzlich lässt sich sagen, dass in Jellinghaus’ Theologie eine Grundlogik verwirklicht wird, die ihren Ursprung im wesleyanischen Methodismus508 nicht verleugnen kann. Jellinghaus lässt keinen Zweifel daran aufkommen, dass die Anleihen vom englisch-amerikanischen Christentum wesentliche Bedeutung für sein Denken besitzen. Mit unverkennbarem Importstolz wird dies in den frühen Vorworten deutlich. „Dies Buch“ sei eine Frucht der „Belehrungen, die ich durch meine nähere Bekanntschaft mit den in der englisch-amerikanischen Christenheit wirksamen Geisteskräften und Lichtgedanken und insbesondere durch meine Teilnahme an der sogenannten Heiligungsbewegung empfangen habe.“509 Gleich im zweiten Kapitel des ersten Bandes wendet sich Jellinghaus der für den Gesamtaufbau zentralen Frage der Heilsordnung zu. Nachdem er im Blick auf die überkommene reformatorische Lehrbildung eine große Unsicherheit beklagt, sieht Jellinghaus vor allem durch John Wesleys Methodismus „belebendes Licht auf den Heilsweg“510 geworfen. Dabei ist es ihm zunächst darum zu tun, den plötzlichen, abrupten Charakter von Bekehrungen bzw. Gnadendurchbrüchen zu betonen. Die Abgrenzung richtet sich gegen die Vorstellung eines 506 Theologiegeschichtlich vergleiche vor allem: E. Brooks Holifield, Theology in America. Christian Thought from the Age of the Puritans to the Civil War, Yale University Press 2003. Mark A. Noll, America’s God. From Jonathan Edwards to Abraham Lincoln, Oxford University Press 2002. 507 Vgl. in diesem Sinne die Beschreibung von Niklas Luhmann zur Funktion von Leitunterscheidungen im Sinne einer semantischen Codierung: Mit ihrer Hilfe gelingt es, eine „Vielzahl von relevanten Oppositionen auf eine Zentraldifferenz zu reduzieren, die alle anderen Unterschiede und Gegensätze verständlich macht.“ Niklas Luhmann, Liebe als Passion. Zur Codierung von Intimität, Frankfurt/Main 1982, 108. Vgl. dazu die Verwendung Luhmannscher Deutungskategorien zur Erschließung der Theologie im DGD bei Frank Lüdke, Diakonische Evangelisation. Die Anfänge des Deutschen Gemeinschafts-Diakonieverbandes 1899-1933, Stuttgart 2003. 508 Zu Wesley vgl. als erste Hinführung die knappe wie instruktive Übersicht bei Walter Klaiber und Manfred Marquard, Gelebte Gnade. Grundriß einer Theologie der Evangelisch-methodistischen Kirche, Stuttgart 1993, besonders 285ff. 509 Theodor Jellinghaus, Das völlige, gegenwärtige Heil durch Christum, Basel 41898, III. In der Regel wird in diesem Aufsatz die vierte Auflage zu Grunde gelegt. 510 Jellinghaus, Heil, 75. 101 allmählichen sukzessiven Nacheinanders von Stufen. Wesentlich sei, dass Berufung, Erleuchtung, Erweckung, Buße, Glaube, Rechtfertigung „nicht verschiedene Stufen sein können, die der gnadensuchende Sünder nacheinander allmählich durchzumachen hat. Es beschreiben vielmehr diese Worte die Bekehrung des Sünders zu Gott nach verschiedenen Seiten hin.“511 Grundlegend für die Heilsordnung ist sodann die Zweistufigkeit von Rechtfertigung und Heiligung. Jellinghaus teilt sein Buch in zwei Hauptteile, die auf Rechtfertigung durch den Glauben und Heiligung durch den Glauben bezogen sind. Die unbedingte Zusammengehörigkeit beider Momente wird stark betont. Zugleich wird in der permanenten Rede von diesen beiden Seiten christlicher Existenz ihr Unterschied genauso eindeutig festgeschrieben. Immer wieder erfolgt die Betonung, dass „der Christ an der Bekehrung und Begnadigung sich nicht als an einer letzten Stufe genügen lassen soll, sondern zur Kraft in der Heiligung und Reinigung des Herzens und zu tieferer Gewißheit seines Gnadenstandes und seiner endlichen Erlösung durchdringen muß.“512 Deutlich ist die darin gegebene horizontale Streckung christlicher Existenz, die von Anfang an auf eine Weg- bzw. Entwicklungslogik ausgerichtet wird. War in der reformatorischen Theologie die Rechtfertigung das Zentrum, aus dem jegliche theologische Fragestellung abgeleitet oder zumindest bestimmt wurde, so erhält diese nun den Charakter eines Anfangs; sicher eines Anfangs, dem bestimmende Bedeutung für seine Entfaltung zugestanden wurde, der aber eben doch überschreitbar und auf seine Überschreitung hin zur christlichen Vollkommenheit angelegt war.513 Seine Überzeugungsstärke gewinnt dieses Konzept durch die Kraft des Analogieschlusses. Rechtfertigung durch den Glauben, dieser Ausdruck fungiert als Opposition gegenüber Rechtfertigung durch Werke bzw. eigene Anstrengungen. Im erwecklichen Protestantismus konnte die grundsätzliche Evidenz dieser Opposition vorausgesetzt werden: Gnade statt Leistung, Geschenk statt Verdienst. Diese Leitdifferenz, durch die das Christsein überhaupt definiert wurde, ließ sich nun noch einmal hineinkopieren in die Fortsetzung des christlichen Lebens: in die Heiligung durch den Glauben. Nicht nur in der Begründung christlicher Existenz, auch in ihrem weiteren Vollzug konnte die Logik des Gnadenempfangs als maßgeblich behauptet werden. Erst beides zusammen machte das „völlige Heil“ des christlichen Glaubens aus. 2.2 Der Akt der Übergabe (das gegenwärtige Heil) Ist der Aufbau der Jellinghaus’schen Dogmatik grundsätzlich einer solchen Theologie des Heilsweges zuzuordnen, so ist die weitere Ausgestaltung nicht einfach aus den methodistischen Impulsen des 18. Jahrhunderts abgeleitet, sondern verdankt sich wesentlich der amerikanischen Weiterentwicklung dieses Ansatzes in der Zeit des Second Great Awakening in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts.514 Zunehmend wird in dieser Zeit die Lehre von der Heiligung von der Vollzugslogik der Bekehrungserfahrung geprägt. Die Bekehrung mit ihrem Übergangscharakter, ihrer eindeutigen zeitlichen Fixierbarkeit, wird zum Muster auch der Heiligung. Die gedankliche Parallelisierung von Rechtfertigung und Heiligung, die schon bei Wesley formuliert wurde, findet ihre vom Muster der Erweckung her geprägte Fortschreibung im Verständnis eines akthaften, zeitlich fixierbaren Übergangs auch in die Heiligung. In diesem Sinne konzentrierte sich die wesleyanische Theologie in den 1820er- und 30er-Jahren auf diesen Übergang.515 Phoebe Palmer fragte ausdrücklich nach einem „shorter way“516 zur Erlangung christlicher Heiligkeit; ähnlich ist die Tendenz bei Methodisten wie Timothy Merritt und George Peck517. Was bei Wesley und Fletcher, den Klassikern des 18. Jahrhunderts, noch 511 Jellinghaus, Heil, 84. Jellinghaus, Heil, 341. 513 Vgl. im Blick auf Wesleys Theorie der christlichen Vollkommenheit Mark K. Olson, John Wesley’s Theology of Christian Perfection: Developments in Doctrine and Theological System, Fenwick 2007. 514 Vgl. Holifield, Theology, 268ff. und 361ff.; Noll, America’s God, 306-314, 359ff. Vgl. auch Paul Fleisch, Zur Geschichte der Heiligungsbewegung. Erstes Heft. Von Wesley bis Boardman, Leipzig 1910. 515 Vgl. Holifield, Theology, 256ff.; Noll, America’s God, 359ff. 516 Vgl. Phoebe Palmer, The Way of Holiness, New York 1843, vor allem 5-25. 517 Vgl. Holifield, Theology, 270-272; Noll, America’s God, 359-362. 102 512 stärker ein Entwicklungshorizont war, der auch die Möglichkeit aktualer Übergänge kannte, wird nun grundsätzlich zu einer pragmatischen Anleitung von abrupten Übergangserfahrungen. In dieser Form wurde wesleyanische Theologie stilbildend auch für andere konfessionelle Traditionen. Die kongregationalistischen und presbyterianischen Kirchen in den USA hatten von ihren Traditionen her die intensivere theologische Ausbildung. Hier begann im 18. Jahrhundert ebenfalls schon ein langer Prozess der Amerikanisierung, in dem die alteuropäischen Erbschaften der Theologie eine allmähliche Transformation erfuhren.518 Dieser Übergang erlebte vor allem in den 1830er-Jahren eine Beschleunigung, als in der reformierten Tradition regelrecht anticalvinistische Theoriebildungen entstanden, die in Umkehrung oder Gegensatzbildung zu bisherigen prädestinatianischen Denkannahmen die Erfahrung der eigenen Selbsttätigkeit in der Erweckung zur Geltung brachten. Bei keinem lässt sich diese Tradition so gut greifen wie bei Charles Finney.519 In unserem Zusammenhang ist er (neben Asa Mahan und Thomas Upham) der wichtigste Vertreter ursprünglich reformierter Tradition, die den Heiligungsgedanken prominent zur Geltung bringt. Ähnlich wie bei Phoebe Palmer tritt dabei der akthafte Übergang besonders ins Zentrum: der Willensentschluss, der jederzeit möglich ist. Schon in frühsten Äußerungen von Theodor Jellinghaus zur neuen Heiligungslehre in der Zeitschrift Des Christen Glaubensweg ist es das Moment der plötzlichen, aktuellen Aneignung des Heils, das systembildenden Charakter gewinnt.520 In seinem Beitrag Das siegreiche Leben im völligen Glauben an Christum wird der voluntaristische Charakter der Glaubensbewegung stark betont: „Im Willen und nicht vor Allem im Gefühl beruht die Religion und der Glaube.“521 Mehrfach in Anführungszeichen gesetzt und damit als vielfaches Zitat der Oxforder Reden ausgewiesen wird die zeitliche Bestimmung dieses Übergangs: „Jetzt gleich“. Diese akute Vollzugsform des Glaubens war Jellinghaus so wesentlich, dass er seinen nächsten Aufsatz in Des Christen Glaubensweg ganz dieser zeitlichen Zuspitzung widmete: „Inwiefern will Christus ‚jetzt gleich‘ des gläubigen Christen Heiligung sein und ihn von allen Sünden erlösen?“522 Dieser Einsicht ist Jellinghaus Zeit seines Lebens treu geblieben. Wohl wird in der späteren ausführlichen Fassung seiner Lehre umfangreicher auf die Zusammenhänge von Christi Heilstat, menschlicher Aneignung und lebenslanger Einübung verwiesen. Der akthafte Übergang aber, nicht nur als ein Merkmal der Bekehrung, sondern auch der Heiligung, bleibt für sein Denken grundlegend: Entscheidend sei, dass „uns der heilige Geist klar macht, wie eine völlige Erlösung für uns ‚jetzt’ bereit ist und es daher nur auf unser Nehmen und Ruhen in Christo durch den Glauben ankommt.“523 Stärker betont Jellinghaus nun: Idealtypisch ist die Aneignung der völligen Erlösung etwas, was schon in der Bekehrung gegeben ist. Empirisch aber sei es nun einmal so, dass es bei den meisten Christen eher ein zweiter Schritt nach längerer Vgl. vor allem die instruktive Beschreibung dieses Prozesses bei Noll, America’s God, 227ff. Zu Finney vgl. Noll, America’s God und Holifield, Systematic Theology. In Deutschland sind vor allem seine Lectures on Revival auch als Übersetzung intensiv rezipiert worden. 520 Die Texte, die Jellinghaus in Des Christen Glaubensweg veröffentlicht hat, stellen als Keimzelle seines Denkens den Ausgangspunkt jeder Auseinandersetzung mit seiner Theologie dar. Vgl. Theodor Jellinghaus, Zeugnis von Th. Jellinghaus, in: Des Christen Glaubensweg 2 (1875) 38-40; Ders., Das siegreiche Leben im völligen Glauben an Christum, in: Des Christen Glaubensweg 4 (1875) 72-76; Ders., In wiefern will Christus „jetzt gleich“ des gläubigen Christen Heiligung sein und ihn von allen Sünden erlösen? I, in: Des Christen Glaubensweg 10 (1875) 195-199; Ders., In wiefern will Christus „jetzt gleich“ des gläubigen Christen Heiligung sein und ihn von allen Sünden erlösen? II, in: Des Christen Glaubensweg 11 (1875) 212-215. Ders., Buße und Glauben. I, Buße, in: Des Christen Glaubensweg 4 (1876) 74-79; Ders., Buße und Glauben. II, Glaube, in: Des Christen Glaubensweg 5 (1876) 87-91; Ders., Gewißheit der Sündenvergebung und der Gotteskindschaft. I, in: Des Christen Glaubensweg 9 (1876) 165171; Ders., Gewißheit der Sündenvergebung und der Gotteskindschaft, II, in: Des Christen Glaubensweg 10 (1876) 192-197; Ders., Gewißheit der Sündenvergebung und der Gotteskindschaft, III, in: Des Christen Glaubensweg 11 (1876) 215-220; Ders., Das Gleichnis von den Arbeitern im Weinberg und seinen Mahnungen und Warnungen, in: Des Christen Glaubensweg 7 (1877) 129-134. 521 In: Des Christen Glaubensweg 4 (1875) 73 (Hervorhebung TJ). Diese Konzentration auf den Willen entsprach voll und ganz dem amerikanischen Mainstream von Finney bis Smith und ist kein Sondergut von Jellinghaus. Vgl. hingegen Fleisch: Als Jellinghaus „sich der Heiligungsbewegung öffnete, blieb ihm manches an den angelsächsischen Formulierungen bedenklich. Vor allem misstraute er aller Betonung der Gefühle […].“ Fleisch, Heiligungsbewegung, 102. 522 In: Des Christen Glaubensweg 10 (1875) 195-199 und Des Christen Glaubensweg 11 (1875) 212-215. 523 Jellinghaus, Heil, 364. 103 518 519 Glaubenserfahrung sei.524 Am häufigsten bezeichnet er diesen Akt nun als „völlige Hingabe“525 bzw. „Übergabe“526. Die Betonung dieses Übergangs ist es, die für ein zweites Wesensmerkmal seines Ansatzes steht: die willentliche Aneignung des vollen Heils Christi hier und jetzt („das gegenwärtige Heil“). 2.3 Popularisierung: Boardman und das Ehepaar Smith Dieser zentrale Gedanke der Heiligungsbewegung der augenblickshaften Aneignung einer höheren Heiligungsstufe hat seine Wurzeln in den theologischen Strömungen des Second Great Awakening; Jellinghaus begegnet diesem Denken jedoch vor allem in der Gestalt einer dritten Stufe der Heiligungsbewegung. Diese Tradition ist zu greifen in den sehr populären Büchern The higher Christian Life (1858) von William Boardman und The Christian’s secret of a happy Life (1870) von Hannah Whitall Smith.527 Bezeichnend für diese Stufe ist, dass das polemische bzw. systematische Interesse nun stark zurücktritt. Anders als bei Charles Finney wird nicht mehr der Gegensatz zum klassischen Calvinismus der Old School gesucht. Anders als bei den methodistischen Vertretern des Second Great Awakening geht es nicht mehr um die Wahrung einer wesleyanischen Identität und insofern um die Anlehnung an Wesleysche Topoi. Die Impulse der Heiligungstheologie sind bei den genannten Verkündigern in eine Phase der Popularisierung getreten, in der das Augenmerk auf postkonfessioneller Anschlussfähigkeit und praktischer Aneignung der religiösen Erfahrung liegt. Hier wird nun nicht mehr die Abgrenzung von der klassisch-reformierten Tradition der Gnadenlehre gesucht, sondern eher die Vereinbarkeit mit der reformatorischen Rechtfertigungslehre betont. Schon in den ersten Kapiteln von Boardmans Buch wird Martin Luthers Rechtfertigungserfahrung im Rahmen der Heiligungslehre gedeutet.528 Überhaupt bemüht sich Boardman nach Kräften, die Unterschiede von Wesleyanern, Oberlinern und Lutheranern herunter zu spielen. Bei ihnen sieht er Gegensätze der Ausdrucksweise und vielleicht auch Unterschiede der Theoriebildung; bei allen religiösen Gruppen aber gibt es ähnliche Beschreibungen der Grunderfahrung der Heiligung durch den Glauben.529 Boardman zielt in seinen erbaulichen Ausführungen darauf ab, diese gemeinsame Erfahrung ins Zentrum zu stellen und die für gegensätzliche Lehrbildung anfällige Begrifflichkeit insgesamt eher zu vermeiden. So tritt nun auch eine Reihe von theologischen Diskussionen zurück. Im Blick auf den Schlüsselbegriff Wesleys, die christliche Vollkommenheit, gibt es große Zurückhaltung.530 Nun wird in der Frage der Entscheidungsfreiheit und in der Verhältnisbestimmung zur Gnade nicht „Wir haben also nicht anzunehmen, daß nach der Bibel bei jedem gläubigen Christen ein zweiter zeitlich bestimmter Vorgang einer völligen Hingabe eintreten müsse. Aber das ist nach der thatsächlichen Erfahrung wahr, daß bei den meisten gläubigen Christen nicht lange nach der Bekehrung und dem ersten Liebesfeuer ein Mangel an völliger Glaubenshingabe und ein teilweises Wandeln im Selbstgesuch oder Selbstregierung oder Selbstquälerei oder Weltdienerei sich zeigt.“ A.a.O., 508. 525 A.a.O., 506ff. 526 A.a.O., 508. Biblisch sieht Jellinghaus diesen Zusammenhang vor allem in Röm 12,1-2 besonders klar ausgedrückt, vgl. a.a.O., 516. 527 Für die Zeit nach dem Rückzug von Robert P. Smith aus der Öffentlichkeit ist es bezeichnend, dass dieser nicht mehr in erster Linie als Hauptanreger der neuen Bewegung genannt wird. Ausdrücklich beruft sich Jellinghaus auf William Boardman: „Der gesundeste, schriftgemäßeste, vorsichtigste und einflußreichste Lehrer der Heiligung durch den Glauben wurde W. G. Boardman“. (Jellinghaus, Heil, 718) Robert. P. Smith wird hingegen als Schüler von Boardman, Upham und anderen eingeführt (vgl. a.a.O., 720). 528 William E. Boardman, The Higher Christian Life, Boston/New York 1859, 20ff. Fern von jeder Berührung mit der historischen Realität wird Luthers Geschichte im Sinne der Heiligungstheologie neu erfunden: „He believed in Jesus and trusted that for the sake of Jesus who had died, and risen again for his justification, his sins were all freely forgiven. But he longed for a holy heart and a holy life, and sought them by means not by faith.“ A.a.O., 30. Schließlich habe Luther erkannt, dass die Vergebung der Sünden nicht genug sei, es gelte, Christus auch zur Heiligung anzunehmen; erst mit diesem zweiten Durchbruch sei er der große Reformator geworden (Vgl. a.a.O., 33; 38). 529 „Both Wesleyans and Oberlins differ from Lutherans in the use of terms, and in the theology of the experience described, but aside from this, in all that is essential in the experience itself all are agreed.“ A.a.O.,41. 530 Vgl. Jellinghaus im Blick auf Boardman und Smith: „Auf diese Weise waren sie fähig, viele gefährliche Sätze der wesleyanischen Heiligungslehre zu vermeiden.“ (A.a.O., 720). 104 524 nur auf jede Polemik, sondern auch auf jede Präzisierung verzichtet. Stattdessen konzentriert sich die Darlegung auf die Beschreibung der Heiligung aus einer Perspektive der Partizipanten. Wo die Generationen zuvor noch mit Fragen der Anthropologie bzw. der Gnadenlehre befasst waren, haben Boardman, Smith und Co. geistliche Anleitungsliteratur mit nur leichtem theologischem Gepäck verfasst. Jellinghaus knüpfte vor allem an die Rezeptionsgestalt an, die die Heiligungsbewegung in der popularisierenden Verarbeitung dieser Verkündiger erhalten hatte. Er verzichtete aber auf die schroffen arminianischen Akzente wie etwa bei Finney. Wesley hatte gebrochen mit dem strikten Erwählungs- und Verwerfungsdualismus der calvinistischen Tradition und demgegenüber die freie Gnade betont, die jedermann angeboten sei. Die Heilsaneignung sei freilich getragen von der vorlaufenden Gnade und ermöglicht durch das Geisteswirken. Die Oberlin-Theologie ging über diese Version weit hinaus. Nun wurde die Entscheidung für den Glauben ganz und gar als menschliche Möglichkeit begriffen. Erst dieser konsequente Arminianismus ermöglichte das drängerische Zielen auf die sofortige Entscheidung für Christus, die allein in der Verfügung des Einzelnen stand und jederzeit möglich war. Jellinghaus geht diese Frage nicht systematisch an, sondern nur in beiläufigen Stellungnahmen. So kann es auf der einen Seite heißen: „Die ganze Aneignung der Erlösung ist ein Werk des durch das Wort wirksamen heiligen Geistes.“531 Neben dieser Formulierung begegnen aber auch viele Betonungen der verantwortlichen Mitwirkung des Menschen. Die Unschärfe der eigenen synergistischen Position kann ausdrücklich betont werden: „Ohne das Geheimnis der biblischen Gnadenwahl deshalb hier erörtern und ergründen zu wollen, lassen wir diese altreformierte Lehre hier bei Seite und gehen immer davon aus, daß, da Christus für alle ein wirklicher Erlöser ist, die Schuld und Ursache der Nichtannahme der im Worte dargebotenen Gnade nur im Menschen liegen kann.“532 Genauso wird verzichtet auf die Ausformulierung des wesleyanischen Vollkommenheitsideals. „Nun habe ich aber von der ersten Auflage meines Werkes an ängstlich den Ausdruck ‚völlige Heiligung’ und ‚gänzliche Heiligung’ vermieden und immer nur von tieferer und völligerer Heiligung gesprochen.“533 Auch im Blick auf das Heiligungsverständnis ist der Unterschied zu den anfänglichen Akzenten des Methodismus deutlich. Bei Wesley und anderen Flügeln der Heiligungsbewegung begegnet ein transformatorisches Heiligungsverständnis in dem Sinne, dass der Mensch geistlich umgewandelt und innerlich von Sünde befreit wird. Bei Jellinghaus ist hingegen zu reden von einem repressiven Heiligungsverständnis. Im Glaubenswandel, unter der Führung des Heiligen Geistes bleibe Sünde wohl ein Teil der menschlichen Natur, werde aber unterdrückt, sodass Sünde zwar vorhanden bleibe, sich aber nicht (notwendig) als Tatsünde manifestieren müsse. Darin ähnelt Jellinghaus’ Konzeption der englischen KeswickBewegung534, die eine Verbindung von klassisch-reformatorischem Sündenernst und modernem Fortschrittsoptimismus ermöglichte. Eine solche Sicht kann anthropologisch an der pessimistischen Sicht des Menschen klassisch-reformatorischer Theologie festhalten, im Blick auf den Lebenswandel aber zu einer optimistischeren Einschätzung kommen. An dieser Stelle zeigt sich auch, dass man sich nicht zuletzt das Verhältnis zur reformatorischen Tradition und zur deutschen Universitätstheologie anschauen muss, wenn man den theologischen Ansatz von Jellinghaus verstehen will. 2.4 Das reformatorische Erbe und die deutsche Universitätstheologie Die inhaltliche Herausforderung bestand für Jellinghaus sicher darin, die neuen Impulse so zu verarbeiten, dass sie in Kohärenz mit anderen Grundüberzeugungen und Wertannahmen seines deutschen theologischen Hintergrundes standen. „Klar war mir allerdings schon 1874, daß ohne eine richtige biblische Rechtfertigungslehre in Deutschland die Lehre von der Heiligung durch den Glauben nicht tiefe Wurzeln schlagen könnte.“535 Dieser Zusammenhang kam in den 531 A.a.O., 70. A.a.O., 80. 533 A.a.O., 534 534 Vgl. David W. Bebbington, The Dominance of Evangelicalism. The Age of Spurgeon and Moody, Downers Grove, Illinois 2005, z. B. 208. 535 A.a.O., 21. 532 105 englischen Quellen nur am Rande zur Sprache.536 Schon in den Beiträgen zu Des Christen Glaubensweg ist deutlich zu erkennen, dass es Jellinghaus je länger je mehr um eine Verknüpfung der neuen Einsichten mit dem Erbe reformatorischen Denkens und der deutschen Universitätstheologie geht.537 Durchweg betont Jellinghaus, den Anschluss an die lutherische Lehre von der Rechtfertigung allein durch den Glauben zu suchen. Laut Register ist die mit Abstand am häufigsten zitierte Autorität in seinem Hauptwerk Martin Luther. Sicher muss man dabei in Abzug bringen, dass Jellinghaus seine englischen Quellen selbst dort oft nicht namentlich zitiert, wo er ihnen im hohen Maße verpflichtet ist, und er umgekehrt Luther bei möglichst vielen Gelegenheiten einzubinden versucht. Dabei kann von einer eigenständigen Rezeption der Theologie Luthers nicht wirklich die Rede sein. Jellinghaus hat ein klares systematisches Programm, wie Luther zur Geltung zu bringen ist: als Lehrer der Rechtfertigung allein durch den Glauben. Diese Lehre soll in ihrer grundlegenden Bedeutung gewürdigt werden. Zugleich geht es darum, sie zu ergänzen und zu überbieten. „Unsere Reformatoren haben in einer sittlich rohen Zeit unter den widerwärtigsten und hinderlichsten Verhältnissen als helle Lichter in Wort und Wandel geleuchtet.“538 Jetzt aber „müssen wir nicht nur die Geisteskräfte der Reformation, sondern viel höhere erlangen.“539 Neben diesem Anschluss an die reformatorische Tradition, Erweckung und Pietismus hat man oft übersehen, welch starke Einflüsse der zeitgenössischen universitären Theologie bei Jellinghaus verarbeitet sind.540 Unverkennbar ist vor allem der Bezug zu einer erwecklichen Vermittlungstheologie bzw. zur milden Variante von lutherisch-konfessioneller Theologie, wie sie ihm bei seinem Lehrer Johann Christian Konrad von Hofmann in Erlangen begegnet waren. Jellinghaus betont ausdrücklich, er habe in den Vorarbeiten zu diesem Buch „die Schriften der älteren und neueren Lehrer unserer evangelischen deutschen Kirche nochmals gründlichst durchforscht.“541 Ein detaillierter Vergleich mit Albrecht Ritschl könnte zeigen, dass in einer Reihe von Grundmotiven große Übereinstimmung besteht, wie in der Ablehnung des ArmeSünder-Christentums der Reformation oder im Ziel der Perfektibilität der menschlichen Person als Leitperspektive menschlicher Entwicklung.542 Ist die erste Auflage von Das völlige, gegenwärtige Heil durch Christum noch am reinsten von der Verarbeitung der OxfordErfahrungen geprägt, so gibt Jellinghaus seinem Buch ab der zweiten und vollends ab der dritten Auflage eine neue systematische Grundidee: den Gedanken der organischen Stellvertretung Christi als christologischer Basis, von der her in neuer Weise der Zusammenhang von Rechtfertigung und Heiligung erst zu verstehen ist. Rechtfertigung und Heiligung werden in den späteren Auflagen gegründet im Heilswerk Christi, im Wirken des völligen Erlösers. Der Gedanke der „organischen Stellvertretung“ soll dabei die klassisch kirchliche Terminologie von der juridisch-anselmischen Stellvertretungslehre ablösen. Diese mit ihrer veräußerlichten Rede von stellvertretender Genugtuung durch Übernahme der Strafe und dem damit möglichen Freispruch von der Verurteilung im Gericht führte dazu, dass die Rechtfertigung wesentlich als „Größere englische Bücher über die Rechtfertigung konnte ich außer einigen ganz kleinen Büchern nicht auffinden.“ A.a.O., VI. 537 Die Beiträge von 1875 lassen sich als dichte Zusammenfassungen der neuen Erfahrungen und Einsichten lesen. In der Tat bemüht sich Jellinghaus schon in den Aufsätzen von 1876 („Buße und Glaube“ und „Heilsgewißheit“) um eine Verknüpfung der neuen Einsichten mit der traditionellen lutherischen Kirchensprache. 538 A.a.O., 394. 539 Ebd. 540 Vgl. dazu Ernst Heinatsch: „Der Leser wird mehrfach Äußerungen der besten kirchlichen Theologen der Gegenwart finden, welche zeigen sollen, wie entscheidende Grundgedanken der Gemeinschaftsbewegung bereits ihre Parallelen in der kirchlichen Theologie haben und wie groß bereits das gemeinsame Gut ist.“ Ernst Heinatsch, Die Krisis des Heiligungsbegriffs in der Gemeinschaftsbewegung der Gegenwart (Theodor Jellinghaus). Eine biblisch-dogmatische Studie, Neumünster o. J., 22. Auch Benjamin Warfield betonte diese Nähe nachdrücklich, wenn auch aus kritischer Perspektive. Vgl. Warfield, Perfectionism, 404-405. 541 Jellinghaus, Heil, V. 542 Als markante Unterschiede lassen sich benennen: Jellinghaus fehlt jegliches historisch-kritisches Bewusstsein im Umgang mit den biblischen Texten. Sein bibeltheologischer Entwurf ist nicht an der Auseinandersetzung mit den weltanschaulichen und kulturellen Strömungen der Zeit interessiert. Seiner Heiligung bzw. Ethik fehlt die für Ritschl so typische Zuspitzung in Richtung auf den irdischen Beruf als den wahren Ort der verwirklichten Heiligung. 106 536 Straferlass, nicht aber als Neuschöpfung und Umwandlung des Menschen begriffen wurde. Die Nähe zu Hofmanns Versuch, eine alte Wahrheit in einer neuen Weise zu lehren, ist dabei unverkennbar.543 Vor allem Benjamin Warfield hat darauf hingewiesen, dass die Theologie von Theodor Jellinghaus nicht nur aus ihren anglo-amerikanischen Einflüssen zu erklären ist, sondern mindestens genauso stark vorbereitet wurde von seiner Prägung durch die deutsche Universitätstheologie. So viel ist sicher richtig: Jellinghaus geht es in seinem Buch mehr und mehr darum, beide Welten ausdrücklich aufeinander zu beziehen. Auf beiden Seiten sieht er Bedarf zur Abgrenzung, sei es gegenüber einem Wesleyanischen Perfektionismus einerseits, sei es gegenüber dem unerwecklichen Intellektualismus Ritschlscher Theologie andererseits. Dass es sich bei seinem Werk nicht einfach um eine deutsche Fassung anglo-amerikanischer Heiligungstheologie handelt, sondern um den spannungsvollen Versuch einer Synthese, ist unverkennbar. 3. Konstitution und Stabilisation des neuen Heiligungsbewusstseins Bislang galt es, in historisch-genetischer Perspektive die Theologie von Jellinghaus in das Geflecht der Einflüsse und Abhängigkeiten seiner Zeit einzuordnen. An zwei Stellen soll nun die innere Systematik näher betrachtet werden. 3.1 Das Heiligungsziel und die Schwierigkeit seiner positiven Bestimmung Wie schon im theologiegeschichtlichen Durchgang bemerkt, fällt es Jellinghaus nicht leicht, die Stufe der Heiligung inhaltlich näher zu bestimmen. Den klassischen Zielbestimmungen der Wesleyanischen Tradition, der Vollkommenheit, der völligen Heiligkeit bzw. Heiligung oder der Ausrottung der Sündennatur erteilt er samt und sonders eine Absage.544 Worin besteht aber dann das „völlige Heil“? Eindeutig fällt zunächst die Abgrenzung aus: Seine Argumentation wendet sich stets gegen ein Konzept des Glaubensbewusstseins, das die Rechtfertigung durch den Glauben für sich in Anspruch nimmt, das dann aber in einem zweiten Schritt die Heiligung, das Leben im Einklang mit dem Willen Gottes, sich selbst als zu erbringende Leistung und Anstrengung zuschreibt und sich dann wiederfindet in einem Selbsterleben von Kämpfen, Erliegen, Büßen und wieder Kämpfen. Eine solche Haltung der Selbstheiligung wird emotional eindeutig charakterisiert: Es handelt sich um einen „schwermütigen“545, gedrückten Pietismus, bestimmt vom „Sündenelendsgefühl“546. Dieser Haltung gegenüber wird die Heiligung durch den Glauben empfohlen als eine Art geistliche Parallelaktion, die die Logik der Rechtfertigung als der Anfangsgestalt des christlichen Glaubens überträgt auf den Vollzug der gesamten christlichen Existenz. Neben die Rechtfertigung durch den Glauben tritt die Heiligung durch den Glauben. Die Befreiung von der Schuld der Sünde wird durch die Befreiung von der Macht der Sünde überboten. Deutlich ist, was dadurch im Lebensvollzug überwunden werden soll: der innere Zwiespalt einer Selbstbeurteilung, die das positive Gottesverhältnis in steter Spannung erlebt zum nur gebrochenen Vollzug eines neuen Lebenswandels. Die Erneuerung des Gottesverhältnisses soll genauso durchgreifend auf den Lebensvollzug durchschlagen. Welche positive Füllung gewinnt dabei aber das neue Leben? Nun tut sich Jellinghaus sichtbar schwer, die Erfahrung der Heiligung von derjenigen der Rechtfertigung theologisch eindeutig abzugrenzen. So lehnt er es stets ab, ein positives Ziel wie Vollkommenheit etc. zu beschreiben oder zu definieren. Ausdrücklich gesteht er zu, dass es im Grunde diesen Unterschied nicht geben müsste, dass es idealiter in der Erfahrung der Rechtfertigung um dasselbe gehen müsste, was als Heiligung zu entfalten sei. Es sei nun aber eben empirisch so, dass bei den meisten Gläubigen die Erfahrung sich in zwei Teilschritte auseinanderlege. Somit kommt Jellinghaus nicht umhin, in der Beschreibung der Heiligungserfahrung eben auch Selbstauslegungen des empirischen Glaubensweges einzubinden. 543 Dieses Lehrstück bedürfte einer eigenen Analyse, die im Duktus des Themas dieses Aufsatzes nicht geleistet werden kann. 544 Jellinghaus, Heil, 717. 545 A.a.O., 81. 546 A.a.O., 114. 107 Was ist das Neue? Immer wieder wird die affektive Umbestimmung der persönlichen Selbsterfahrung namhaft gemacht. „Grundgedanke der Heiligungsbewegung“ sei, dass man durch die Hingabe an Christus „Heiligung und unzerstörbare Herzensruhe“547 finde. Der affektive Wechsel von Traurigkeit zu Freude ist die konkrete Gestalt, in der die Heilserfahrung sich in einem fröhlichen, gewissen und beruhigten Glaubensgefühl niederschlägt. Relativ eindeutig wird der Prozess des Übergangs beschrieben. Der Glaube wird im Sinne der OberlinTradition als einzelne Willensbewegung, als Entscheidung, als Akt der Lebensübergabe an Christus beschrieben. Diese Punktualisierung des Glaubens machte den Übergang eindeutig und inszenierbar. Zugleich warf sie Folgeprobleme auf: Die spätere Verkündigung musste diesen Akt, der gerade aus seiner punktuellen Vollziehbarkeit und Verfügbarkeit großen Charme bezog, wieder strecken: Diese Entscheidung galt es „moment by moment“ zu bewähren, wie es bei den amerikanischen Vorbildern hieß. Die klassische Formulierung des „moment by moment“ zeigt, wie die ursprünglich gewonnene Klarheit durch Vereindeutigung des Übergangs nun in permanente Anschlussentscheidungen überführt und damit auch wieder problematisiert wird. Denn wie lässt es sich in der Selbstauslegung des frommen Subjekts vermeiden, den eigenen Lebensvollzug nicht schon wieder als eine Pendelbewegung von Stehen und Fallen zu erfahren? Wie lässt sich das Bewusstsein eines höheren Standes verstetigen? Ausdrücklich zurückgewiesen wird die Möglichkeit, sich am Vorhandensein einer positiven Gefühlswelt zu orientieren. Wer „noch äußere Zeichen oder fühlbare und erkennbare Hilfbeweise in sich haben will, als Träume, plötzliche, selige Gefühle, innige Gebetsandacht, wunderbare Führungen etc., der kann nicht zum sicheren Frieden kommen.“548 Im Sinne des voluntaristischen Glaubensbegriffs der Oberliner wie auch bei Smith betont Jellinghaus den „unbedingten, fühllosen Glauben“549. In diesem Sinne ist die Verkündigung strikt voluntaristisch orientiert. Wie kommt es aber, dass diese Bewegung sich so oft des Vorwurfs erwehren muss, ein Gefühlschristentum zu propagieren? Ist das nur ein Missverständnis? Nun, zumindest ein leicht mögliches! Denn auf der anderen Seite lässt sich die neue Stufe überhaupt nicht beschreiben ohne Bezug zur veränderten Gefühlslage. Der Glaube soll zwar nicht aufbauen auf solchen Gefühlen, sein rechter Vollzug ist jedoch auch nicht denkbar unter dauerndem Ausbleiben einer solchen positiven Gefühlswelt! Es gilt, dass „selige Erfahrungen und Gefühle eine gesegnete Frucht und Zeichen des Glaubens“550 sind. „Innige Gefühle des Friedens und der Liebe Gottes“ müsse man insofern „für das allein Normale und Richtige und zu Erstrebende halten.“551 Insofern tut sich Jellinghaus schwer mit einer positiven Kennzeichnung des neuen Standes der Heiligung durch den Glauben. Faktisch nimmt er immer wieder Bezug auf die veränderte Erfahrungswelt des Geheiligten, systematisch versucht er aber jede grundsätzliche Bedeutung der eigenen Erfahrungswelt zu verneinen und alles auf die stete Entscheidung des Glaubens zu gründen. Umso stärker wird das Thema in negativer, abgrenzender Hinsicht behandelt: Welche Erfahrungen widersprächen denn dem neuen Heilsbewusstsein und seien daher nach Möglichkeit zu meiden? 3.2 Freiheit von der Macht der Sünde Am deutlichsten lässt sich das Heiligungsziel negativ formulieren: Es geht um die Befreiung von der Macht der Sünde, um die Loslösung vom Sündigenmüssen. Dieses negative Heiligungsideal steht bei Jellinghaus im Zentrum, wenn es darum geht, das Erreichen der Heiligungsstufe auch für das eigene Bewusstsein zu verstetigen. Hier liegt der große Unterschied zu Wesley und dem Methodismus. Es geht nicht mehr wie in der Wesleyanischen Tradition um die vollkommene Liebe, d. h. um eine Durchdringung des nach außen orientierten Handelns des Christen vom Ideal der christlichen Hingabe her. Es war die Größe Wesleys, dass er auf die Propagierung dieses Ideals seine ganze Energie verwandte. Es ist daher kein Zufall, dass gerade der Methodismus so stark mit seinen sozialethischen 547 A.a.O., 435. A.a.O., 162. 549 Ebd. 550 A.a.O., 166. 551 Ebd. 548 108 Impulsen (Kampf gegen die Sklaverei, gegen Alkoholismus, Benachteiligung der Frauen etc.) die Entstehung der modernen Welt förderte und begleitete. Eine solche durch die Liebe gesteuerte Außenorientierung des Heiligungsideals tut sich natürlich schwer, die Bedingungen anzugeben, unter denen Vollkommenheit wirklich als erreicht betrachtet werden kann – was im späteren Methodismus zu quälerischen Debatten führte. Die Erreichbarkeit der Heiligungsstufe wird in der Heiligungsbewegung nicht zuletzt dadurch ermöglicht, dass der Fokus des neuen Lebens stärker nach innen verlegt wird. Das Heiligungsideal erfährt eine Introversion: Nicht mehr die vollkommene Liebe im Handeln, sondern das Freibleiben von Sünden im Horizont eigener Selbstbeobachtung ist das Ziel.552 In dieser Introspektion wird die Selbstbeurteilung mittels des Bewusstseins vom eigenen Handeln zum allein ausschlaggebenden Maßstab. Der zehnte Abschnitt des zweiten Bandes mit dem Titel „Sieg über die Sünde“ erweist sich daher als Schlüsselkapitel, in dem die innere Kohärenz des gesamten Heiligungsideals nachgewiesen werden soll. Die Sünde wird hier als eine der schwierigsten und strittigsten Fragen der Heiligungslehre eingeführt, sodass Jellinghaus sich zunächst um eine Begriffsklärung bemüht. Der Begriff der Sünde begegne in verschiedenen Formen: 1. als bewusste und absichtliche Gebotsübertretung (602-604). 2. als Schwachheitssünde oder Übereilungssünde (604-606). 3. als Sünde im Sinne von Sündennatur oder Fleisch (606-608) und 4. als unbewusste Sünde.553 Als hermeneutischer Schlüssel im Umgang mit der vielfältigen biblischen Begrifflichkeit fungiert für Jellinghaus dann die Auslegung des 1. Johannesbriefs. Auf der einen Seite wird dort als Ziel formuliert: Wir sollen nicht sündigen (1Joh 2,1; 3,6). Auf der anderen Seite gilt: „Wenn wir sagen, wir haben keine Sünde, so betrügen wir uns selbst.“ (1Joh 1,8) Jellinghaus leitet daraus einen grundsätzlichen Unterschied von „Sünde haben“ und „Sünde tun“ ab. Sünde im eigentlichen Sinne ist absichtliche und bewusste Gebotsübertretung. Das ist gemeint mit dem „Sünde tun“ aus dem 1. Johannesbrief. Um die Vermeidung dieser ausdrücklichen Form der Sünde geht es in seinem Heiligungsziel. Die anderen Sündenbegriffe der Bibel erweisen sich für das Ziel des christlichen Lebens, nicht zu sündigen, als zu weit gefasst. In weitschweifigen Bibelauslegungen bemüht sich Jellinghaus um den Nachweis, dass die anderen Formen der Sünde nicht im Blick sind, wenn Johannes die Möglichkeit des Nichtsündigens stark macht. „Der Ausspruch (1 Joh. 3,6): ‚wer in ihm bleibet, der sündigt nicht’, geht nach dem Zusammenhang gegen das bewusste, fortwährende Sündigen der schmutzigen Irrlehrer (Joh 15,6), nicht gegen Schwachheitssünden der treuen Gotteskinder.“554 Noch weniger lässt sich der Gedanke christlicher Sündlosigkeit ausspielen gegen die Sündennatur der gefallen Menschheit. Zwar gelte: Sünde als Fleisch bzw. Sündennatur hätten wir immer.555 Dabei handele es sich jedoch nicht um Sünde im eigentlichen Sinn. Man müsse sich hüten, den christlichen Sündenbegriff zu weit auszudehnen, sonst würden Menschsein und Sünde ununterscheidbar.556 Jellinghaus will nicht so weit (wie etwa Charles Finney) gehen, Sünde ausschließlich im bewussten, vorsätzlichen Handeln zu sehen. Es mag verborgene Fehler geben, für die wir um Gnade bitten müssen, die unbewussten Sünden.557 In diesem Sinne kann er auch die reformatorische Sündenlehre ausdrücklich würdigen mit ihrem Grundsatz, Sünde nicht nur in den Handlungen, sondern auch in den Herzensregungen und Begierden zu sehen. Generell aber solle man dieses Verständnis vorsichtig handhaben. Wären diese unbewussten Sünden Vgl. in Jellinghaus’ großem Werk allein das Register zum Stichwort „Liebe“: Die Liebe zu Gott und Christus wird genannt als Kennzeichen der Wiedergeburt. Auch wo von der Liebe zu den Brüdern gesprochen wird, geht es wieder um ein Kennzeichen der Wiedergeburt. Auch hier wird die Liebe in den Zirkel der Selbstwahrnehmung und Selbstbeurteilung hineingenommen. Im Kontext der Heiligung spielt die Liebe dem Register nach faktisch keine Rolle; schon gar nicht die Liebe zu den Fremden bzw. der Dienst an der Welt und den Kreaturen. Zum Konzept der völligen Liebe im Sinne Wesleys vgl. die Abgrenzung auf Seite 710! 553 Das Schema ist weiterentwickelt gegenüber seinen Anfängen in Des Christen Glaubensweg. Dort heißt es: „Unter Sünde versteht die Bibel (mit Ausnahme der Stellen, wo es so viel als verderbte, sündliche Adamsnatur zu bedeuten scheint) fast immer eine erkannte Uebertretung des göttlichen Gebots in Werken, Worten oder Gedanken.“ Jellinghaus, Jetzt gleich II., 213. Die Tendenz, Sünde vor allem auf bewusste Tatsünden zu beziehen und deren Unterlassung für möglich zu erklären, ist in den Anfängen noch stärker ausgeprägt. 554 Jellinghaus, Heil, 613. 555 A.a.O., 454. 556 A.a.O., 609. 557 A.a.O., 609f. 109 552 Sünde im eigentlichen Sinne, könne keiner sündlos sein. Die Bibel gebrauche das Wort Sünde aber in der Regel nicht so, dafür sei sie viel zu praktisch.558 Überhaupt sei es nicht geraten, zu scharfe Begriffsbestimmungen oder mathematisch genaue Begriffe von heilig und unheilig zu verwenden.559 Ausführlich versucht Jellinghaus diese Unterscheidungen durchzuhalten auch im Verhältnis von Versuchung und Sünde.560 Grundsätzlich gilt: Versuchung ist keine Sünde; was nachzuweisen ihm im Blick auf die Versuchung des sündlosen Christus nicht schwerfällt. In reformatorischer Perspektive vollzog sich der Übergang zur Sünde im eigenen Begehren. Die Begierde wird bei Paulus wie bei Jesus als Wurzel der Sünde bestimmt.561 Auf dieses Zwischenglied lässt Jellinghaus sich aber nicht ein, sondern versucht, durch eine Vielzahl von Abstufungen die generelle Sündlosigkeit des Versuchten grundsätzlich festzuhalten: Versuchungen werden so lange nicht zur Sünde, als wir nicht mit ihnen spielen, wohlwollend darauf eingehen oder unterliegen.562 Dabei bleibt die Argumentation auch von Spitzfindigkeiten nicht frei: Gedanken an Böses seien noch keine bösen Gedanken563, wie auch Gedanken an bestimmte Sünden noch keine Gedankensünden seien.564 Für das bloße Herantreten solcher Gedanken an uns könnten wir nicht verantwortlich gemacht werden. Abschließend kann Jellinghaus wohl zugestehen: „Im philosophischen Sinne hat also der geheiligte Christ kein reines Herz.“565 Das Adjektiv „philosophisch“ soll zugleich andeuten, dass diese Zuspitzung auf völlige Reinheit eben nicht das Anliegen der Bibel sei, wenn sie den Sieg über die Sünde verheiße. Grundlegend bleibe es dabei: Im Glauben möge sich der geheiligte Christ trösten, dass er durch Christus von der Sünde getrennt sei. Von unwissentlichen Sünden und von Schwachheiten mag er nicht frei werden.566 Manchmal sei es der Einfluss der Geschichte, mal der Tradition, mal der Denomination, mal des Standes oder des Alters, mal auch des Körpers mit seinen Leiden, von denen aus der Christ von Schwachheiten affiziert werde. Dann aber könne Sünde nicht im vollen Sinne zugerechnet werden.567 So könne es auch sein, dass jemand bei Jesus vollkommen sei, aber nicht in den Augen der Mitchristen oder der Mitmenschen. Der Sieg über die Sünde und damit das zentrale Merkmal der Heiligungsstufe bleibe von diesen Einschränkungen unberührt. 4. Vom Gelingen und Scheitern religiöser Deutungssysteme 4.1 Entfremdung von der anglo-amerikanischen Einflusssphäre Es ist die Besonderheit des Jellinghausschen Entwurfs, dass sein Verfasser ihn noch zu Lebzeiten zurückzog und bekannte, konservative Theologen darum bat, seinen Entwurf zu widerlegen.568 Die eigene Verurteilung seiner vermeintlichen Lehrirrungen ist überaus aufschlussreich für die Problematik seines Denkens. 558 A.a.O., 614. A.a.O., 615. 560 A.a.O., 620f. 561 Vgl. Mt 5,28: „Wer eine Frau ansieht, sie zu begehren, der hat schon mit ihr die Ehe gebrochen in seinem Herzen.“, sowie Röm 7,7: „Ich wusste nichts von der Begierde, wenn das Gesetz nicht gesagt hätte ‚Du sollst nicht begehren‘ (Ex 20,17).“ 562 Vgl. Jellinghaus, Heil, 622 563 Vgl. ebd. 564 Vgl. a.a.O., 623. 565 A.a.O., 625. 566 Vgl. a.a.O., 634. 567 Vgl. a.a.O., 639. 568 Dies berichtet etwa Paul Fleisch, der seine große, posthum erschienene Monographie über die Heiligungsbewegung auf diesen Impuls zurückführt; vgl. den Beginn des Vorworts: „Die Anfänge dieser Arbeit reichen 50 Jahre zurück. Damals bat mich der schwer herzkranke Pastor Theodor Jellinghaus, ich möchte etwas gegen seine ‚heilistische‘ Lehre, wie er es nannte, schreiben.“ Fleisch, Heiligungsbewegung, 16. Vgl. auch Ludwig Ihmels: „Dazu kam, daß Jellinghaus in den letzten schweren Jahren seines Lebens mich wie andere Theologen gebeten hat, ihm bei der öffentlichen Widerlegung der ihm unterlaufenen Irrtümer zu helfen.“ Ihmels, Heiligung, 89. 110 559 Zunächst einmal leitet Jellinghaus fast jeden Punkt seines Widerrufs mit Formulierungen ein, die die englisch-amerikanische Herkunft der Ideen benennen, die ihn verführt haben.569 Es ist unverkennbar, dass Jellinghaus’ Äußerungen in einem gewissen Zeitkontext stehen, in dem die kritische Sicht des „Englischen“ einer wachsenden Zeitstimmung entsprach. In der öffentlichen Wahrnehmung scheint mir dabei im Längsschnitt eine Verschiebung deutlich: Wo man der Tendenz nach vor 1900 sagte, das sei methodistisch, nicht lutherisch, hieß es nach 1900, das sei englisch, nicht deutsch. Innerhalb der Gemeinschaftsbewegung gab es lange Zeit eine große Offenheit für internationale Kontakte. Je näher es aber dem Ersten Weltkrieg entgegenging, desto stärker wurde auch hier die Tendenz, in der Abgrenzung vom Westen das eigene deutsche Profil stärken zu wollen. Bemerkenswert finde ich, dass diese Tendenz bei Jellinghaus nicht abrupt mit der Verwerfung seiner Lehre einsetzt, sondern sich auch vorher schon abzeichnet. Man höre und staune, was Jellinghaus in der fünften Auflage seines Werkes 1903 schon in seinem Vorwort schreibt: „Wehmütig sehe ich, im Unterschiede von meinem noch in der Vorrede zur vierten Auflage [1898] so stark ausgedrückten Optimismus, auf die Entwickelung des sittlichen und religiösen Lebens in Amerika und England. Man hält an den alten methodistischen Schlagworten von Buße, Rechtfertigung, Wiedergeburt, Heiligung und Vollkommenheit fest, dabei aber ist man weltselig und strebt rationalistisch-evolutionistisch nach christlichem Kulturfortschritt und Weltverklärung. Soviel ich sehe, steht der rechte Flügel der Ritschlianer in Deutschland vielen religiösen Grundwahrheiten des Christentums viel näher als ein großer Teil der englischen und amerikanischen Theologen und Philosophen. Bei solcher Sachlage ist es meine Überzeugung, daß die zum Siege des Evangeliums in unserem alles revolutionierenden und umbildenden Zeitalter so hoch nötige Neugeburt der protestantischen Theologie nur in Deutschland erfolgen kann und wird.“570 In diesem Sinne gibt es in der 5. Auflage noch weitere Anmerkungen, die ein Abrücken von den anglo-amerikanischen Ausgangspunkten seiner Lehre ausdrücken.571 4.2 Die Verwerfungen im Umgang mit der Pfingstbewegung Noch stärker zu gewichten aber dürften die Erfahrungen mit der Pfingstbewegung sein. Ernst Buddeberg stellt es in seiner großen Kritik von Jellinghaus’ Theologie in Licht und Leben als neue, gemeinsame Gewissheit vieler Gemeinschaftsleute und Pietisten dar: Es sei eine falsche Heiligungslehre gewesen, die zur Pfingstbewegung geführt habe.572 Die allgemein abgelehnten Konsequenzen der Heiligungsbewegung in der Pfingstbewegung übten starken Druck aus auf viele Selbstverständlichkeiten in Gnadau und der Allianz. Die ausführliche Diskussion um Jellinghaus’ Widerruf zeigt noch einmal überdeutlich, dass mit der Verwerfung der frühen Pfingstbewegung in Deutschland in vielen Kreisen Gnadaus wie in der Allianz nun fast alles kritisch bewertet wurde, was in einem positiven Bezug zur Pfingstbewegung gestanden haben könnte. Jellinghaus hatte sich in dieser Frage früh positioniert in dem Sinne, dass ein positiver Anschluss von seiner Theologie her an die Entwicklung hin zur Pfingstbewegung nicht denkbar sei. Geradezu scharf kann sich Jellinghaus in einem Zusatz der vierten Auflage von 1898 von jüngeren radikalen Tendenzen (Jonathan Paul) abgrenzen: „Wer lehrt, daß jeder Christ durch eine zweite Taufe mit dem heiligen Geiste auch die Erfahrung der Ausrottung seiner Sündennatur und seines Sündlosseins machen müsse, der ist ein widerbiblischer Schwärmer und Irrgeist.“573 Gleichwohl ist unverkennbar, dass für viele Zeitgenossen in der Verkündigung etwa von Paul eine konsequente Weiterentwicklung der Gedanken von Jellinghaus vorlag. So Jellinghaus, Lehrirrungen, 14. Jellinghaus distanziert sich von den „Oxforder Lehren“ 21 und 30, er verwahrt sich gegen „die vor längerer Zeit von England und Amerika herübergebrachte Lehre“. 34. Vgl. auch die Formulierungen aus „englisch-amerikanischen Kreisen“, 37 und: „Ich habe diese Art […] nicht selbst erfunden, sondern in der englisch-amerikanischen Evangelisations- und Heilsbewegung vorgefunden.“ 43. 570 Jellinghaus, Heil, 5. Auflage, XVII. 571 Vgl. etwa die neu hinzugekommene Fußnote 533-534: „Nun habe ich aber von der ersten Auflage meines Werkes an ängstlich den Ausdruck ‚völlige Heiligung’ und ‚gänzliche Heiligung’ vermieden und immer nur von tieferer und völligerer Heiligung gesprochen“. A.a.O., 534. 572 Ernst Buddeberg, Die Heiligung durch den Glauben – das Losungswort der neueren Heiligungsbewegung, Licht und Leben 24 (1912), Nr. 9, 130. 573 Jellinghaus, Heil, 71. 111 569 Die starke Spaltung unter denjenigen, die sich noch in der Heiligungsbewegung verbunden wussten, musste natürlich für die theologische Verarbeitung der Entwicklung ein großes Problem darstellen. Denn bei der Schärfe wechselseitiger Verurteilungen und Verwerfungen dürfte es auch bei noch so viel Sophistik unmöglich gewesen sein, den Gedanken der tätigen Sündlosigkeit geheiligter Gotteskinder durchzuhalten. 4.3 Der Zusammenbruch innerer Kohärenz Diese Faktoren, die Entfremdung von den anglo-amerikanischen Einflüssen und die wachsenden Spannungen unter den Anhängern der Heiligungsbewegung, erhöhten sicher einen gewissen Druck auf den systematischen Zusammenhang seines Denkens. Ließ sich Jellinghaus’ Vermittlungsbemühung mit ihrem optimistischen Anspruch noch länger durchhalten, wenn sowohl die Ursprünge wie auch die möglichen Konsequenzen dieses Denkweges immer problematischer zu werden schienen? Nun müssen solche Schwierigkeiten für sich kein Grund sein, das eigene Denksystem aufzugeben. Ausschlaggebend ist zuletzt die Frage nach der internen Stabilisierbarkeit des eigenen Systems. Ließ es sich so weiterentwickeln, dass es seinen eigenen Leitunterscheidungen treu blieb und zugleich offen war für die Beurteilung neuerer, problematischer Tendenzen in der christlichen Welt? Der Versuch, die Traditionen von Heiligungsbewegung, Reformation und Universitätstheologie miteinander zu verbinden, nötigte Jellinghaus immer schon zu einem hohen Maß an Unbestimmtheit, um Systemwidersprüche abzuschwächen. Wir haben gesehen, wie Jellinghaus auf der einen Seite perfektionistische Spitzen abbrach, um die Kompatibilität mit reformatorischen Überzeugungen zu wahren; auf der anderen Seite verzichtete er darauf, die gnadentheologischen Überzeugungen der Reformation zum Zuge kommen zu lassen, um die Handhabbarkeit der neuen Lehre nicht zu gefährden. Meines Erachtens ist es für das schließliche Scheitern des Jellinghaus’schen Systems ausschlaggebend, dass sein System über keine Kompetenz verfügte, Erfahrungen der Krise bzw. des Scheiterns nachhaltig noch einmal mit den Mitteln seiner Heiligungslehre auffangen und verarbeiten zu können. Dies unterscheidet seinen Ansatz etwa auch von der mit viel tieferem Sündenernst verbundenen Heiligungstheologie Otto Stockmayers, die z.B. im Deutschen Gemeinschafts-Diakonieverband (DGD) zwei Weltkriege überstand und erst im Kulturwandel der 1960er nach dem Zweiten Weltkrieg jegliche Plausibilität und Anschlussfähigkeit an das gewandelte geistige Klima einbüßte. Welche Möglichkeiten hatte Jellinghaus, mit den schweren Verwerfungen innerhalb der von der Heiligungsbewegung bestimmten Gotteskinder umzugehen? Sein Widerruf ist ein eindrückliches Zeugnis, dass diese Erfahrung sich als schlechterdings nicht deutungsfähig erwies. Darum ist es vor allem seine Sündenlehre, die er nun radikal verwirft. Rückblickend spitzt er dies zu auf die Einsicht: „Weil ich beweisen wollte, daß der Christ nicht zu sündigen braucht, so erklärte ich vieles nicht für Sünde.“574 Dieses Eingeständnis ist in hohem Maße bemerkenswert. Natürlich versuchte Jellinghaus, seine Sündenlehre durch ausführliche biblische Untersuchungen zu untermauern. Das Heiligungsideal des Nichtsündigens, die Überbietung eines klassischen Vergebungschristentums machte aber die Abschwächung des überlieferten Sündenbegriffs der reformatorischen Tradition notwendig. Um dieses Überbietungsbewusstsein auf Dauer aufrecht halten zu können, musste „Sünde im eigentlichen Sinne“ einem regelrechten Minimalisierungsprozess unterworfen werden. Denn wenn Sünde sich auch als erfahrene und erlebte Realität des geheiligten Christenlebens erweisen sollte, dann wäre die Grunddifferenz des systematischen Ansatzes gegenstandslos geworden. Daher muss Jellinghaus’ Widerruf als Ausdruck gescheiterter Stabilisierungsbemühungen des Heiligungsbewusstseins gesehen werden. Auf die unmittelbare Stabilisierung der neuen Selbsteinschätzung war Jellinghaus wie auch die Heiligungsbewegung im hohen Maße eingestellt. Von Anfang an ist die Umstellung des religiösen Bewusstseins von sozialen Vollzügen begleitet, die eine Artikulation und soziale Validierung der neuen Selbsteinschätzung im hohen Maße unterstützte. Die Kultur der Camp-Meetings schaffte einen dichten sozialen Gemeinschaftsrahmen, der im hohen Maße konzentriert war auf religiöse Kommunikation. Ohne jede Alltagsunterbrechung war der Ablauf von Predigten und Erfahrungsberichten bestimmt. Die 574 Jellinghaus, Lehrirrungen, 14. 112 neue Bewegung verfügte bald über ein eigenes Liedgut, in der wesentliche Inhalte gemeinschaftlich „ersungen“ wurden. Schließlich war das Zeugnis-Geben im Blick auf die eigenen gemachten Erfahrungen nicht nur eine Möglichkeit, sondern ein Akt, der als notwendig zugehörig zur gemachten Heiligungserfahrung verstanden wurde. Kognitive Präsentation, affektiv-gemeinschaftliche Kommunikation und individuelle Artikulation der neuen Heiligungslehre waren eng miteinander verzahnt. Die bei weitem größere Herausforderung bestand darin, die vollzogene Umstellung des religiösen Bewusstseins auch unter Alltagsbedingungen auf Dauer zu garantieren. Neben dem weiteren Abhalten von Tagungen und Camp-Meetings war die Bildung von dichten Gemeinschaften ein wesentliches Mittel. Die gemeinsame Kommunikation vollzog sich in einer Vielzahl von Zeitschriften und Traktaten. Ließ sich aber das neue Bewusstsein der Heiligungserfahrung auch im individuellen Vollzug dauerhaft stabilisieren gegenüber der Gefahr des Scheiterns, also des Sündigens? Für solche Erfahrungen keine Stelle im theologischen System zu haben, das erwies sich als der eigentliche Schwachpunkt seiner Lehre. 4.4 Radikale Bußfrömmigkeit als Umkehrung der bisherigen Systemlogik Die ungeheure Verdüsterung seines Zeitempfindens ließ Jellinghaus nur noch die Möglichkeit einer radikalen Bußfrömmigkeit offen: War bislang im Blick auf die Sünde ein Minimalisierungsprogramm leitend, das vor allem auf die Identifikation von Fällen zielte, die nicht Sünde im strengen Sinne seien, so betreibt Jellinghaus nun eine Totalisierung des Sündengedankens. „Es ist jetzt die letzte Stunde vor der vollen Nacht des Antichristentums und vor der Zersetzung aller moralischen und religiösen Lichts-, Liebes-, Geistes-, Lebens- und Wahrheits-Kräfte in der Menschheit. Es ist für die Besten jetzt schwer, sich zu retten, aber es ist möglich durch demütige Buße und selbstverleugnende Treue bis in den Tod.“575 In seinem Widerruf gelingt Jellinghaus nicht mehr die Entwicklung eines anderen Systems, sondern nur eine negative Umkehrung aller seiner bisherigen Wertungen. Man wird seinem Widerruf nicht damit gerecht werden können, dass man sagt, er sei darin wieder zur Position des älteren Pietismus zurückgekehrt.576 Zu Recht betont Ernst Heinatsch, dass die Positionen, die Jellinghaus in seinem Widerruf vertritt, so radikal sind, dass sie auch nicht einem erwecklichen Luthertum zugeordnet werden können.577 Vielmehr erweisen sich seine Konsequenzen hier vor allem als vollständige Umkehrungen seiner bisherigen Annahmen; auch wenn er nun versucht, dies im Einklang mit konservativer Frömmigkeit zu formulieren. Insofern kann man sagen, dass er auch im Widerruf noch ganz im Banne seines bisherigen Systems steht, es nun aber mit negativen Vorzeichen vertritt; als eine ernsthafte Alternative wird man es wahrlich nicht bezeichnen können.578 575 Jellinghaus, Lehrirrungen, 46. So etwa Ernst Buddeberg in seiner großen Studie zur Heiligungstheologie in Licht und Leben (1912) in den Nr. 9-21: „So liegt in der Persönlichkeit und dem Geschick von Jellinghaus eine Tragik. Er gehört von Hause aus und nach seiner angeborenen Nüchternheit zu dem älteren Pietismus, durch seine Smith’sche Heiligungslehre zu der neueren Heiligungslehre. Diese beiden Richtungen ringen in seinem Buche miteinander. […] Jellinghaus ist jetzt […] in das Lager zurückgekehrt, von dem er ursprünglich ausgegangen ist.“ A.a.O, 245. 577 Ernst Heinatsch, Pastor Theodor Jellinghaus und sein Widerruf, Auf der Warte (1912) Nr. 5, 2-4. Heinatsch zitiert hier auch Aussprüche der ersten Fassung des Widerrufs von 1911, die dann so nicht veröffentlicht worden sind, z. B.: „Mein Buch ist vom Anfang bis zum Ende Lüge.“ A.a.O., 3. 578 Nach der Veröffentlichung des Widerrufs von Jellinghaus kam es zu teilweise unwürdigen Diskussionen um seinen Geisteszustand. Gravierend und für Jellinghaus sicher schmerzhaft war dabei wohl die Infragestellung seiner geistigen Gesundheit durch seinen Sohn bzw. die Familie, wie sie in Auf der Warte publik gemacht worden sind. Sein Sohn wird dort mit den Worten zitiert: „Anfang Mai wurde mein Vater zu seiner sterbenden Tochter gegen den Willen der Aerzte aus dem Irrenhaus genommen und, da wir überrascht waren durch die körperliche Beruhigung, behielt man ihn zur Pflege in der Familie. Wir haben immer gewußt, daß seine Zwangsgedanken noch dieselben waren wie vor 6 Jahren. Er hat nun hinter unserem Rücken, heimlich, wie solche Patienten das zu tun pflegen, an alle möglichen Leute ziemlich widerspruchsvolle lange Schreiben gesandt, in denen er angeblich seine Lehre widerlegt. Darin widerruft mein Vater Lehren, die er nie gelehrt hat, ja die er mit Fettdruck abgelehnt hat. – Mein armer Vater ist so krank, daß er z. B. nicht beten kann.“ Auf der Warte (1912) Nr. 4, 7. Der Herausgeber Möbius versuchte wohl mit dieser Herausgabe von vorneherein die Grundsatzkritik des Widerrufs zu diskreditieren und große Teile der ursprünglichen Lehre von Jellinghaus auch für die Gegenwart zu retten. Je größer die Verbundenheit mit der klassischen Heiligungstheologie war, desto stärker fiel auch die Neigung aus, ihn für krank bzw. nicht zurechnungsfähig zu halten. Umgekehrt wird vor allem in Licht und Leben der Widerruf Jellinghaus’ von Personen 113 576 4.5 Gemeinschaftsbewegung und Theologie Auch das spektakuläre Scheitern der Jellinghaus’schen Synthese hat für Jahrzehnte einen unbefangenen Umgang mit anglo-amerikanischen Theologie-Importen in der Welt des deutschen Pietismus erschwert. Wenn innerhalb der Gemeinschaftsbewegung überhaupt nach theologischer Orientierung gesucht wurde, dann wurde zurückgegriffen auf die Traditionen eines pietistischen Biblizismus (Theodor Haarbeck) oder auf das Erbe eines erwecklichen Luthertums (von Walter Michaelis bis Siegfried Kettling). Ausgehend von den erwecklichen Aufbruchserfahrungen der eigenen Geschichte einen Ansatz theologischen Denkens zu entwickeln, in dem auch das angloamerikanische Erbe der Heiligungslehre zur Geltung kommt, das wurde in der Folgezeit kaum noch in größerem Stil versucht. Angesichts des spektakulären Scheiterns Jellinghaus’ ist dies nur allzu verständlich. Es ist aber auch bedauerlich. Jellinghaus wollte theologisch verknüpfen, was für viele Gemeinschaftschristen zusammengehörte: die reformatorische Betonung der bedingungslosen Gnade Gottes in Jesus Christus und das hohe Ideal christlicher Heiligkeit und Wirksamkeit im Sinne des modernen, methodistischen Christentums. Diese ursprüngliche Absicht hat m. E. alle Sympathie verdient. Die Synthese, die Jellinghaus dabei entwickelte, erforderte jedoch auf beiden Seiten einen hohen Preis. Auf Seiten der reformatorischen Rechtfertigungslehre verzichtete Jellinghaus darauf, den spezifischen Sündenbegriff der Reformatoren durchzuhalten. Genauso undeutlich wird die Einsicht in die Bedingungslosigkeit der Gnade durch die Betonung immer neuer Entscheidungssituationen. Auf Seiten des methodistischen Heiligungsideals verlor Jellinghaus hingegen die Ausrichtung auf die tätige, reine und unbedingte Liebe Wesleys zugunsten eines negativen Heiligungsideals, das seinen eigenen Status am präzisesten noch als Freibleiben von Tatsünden formulieren konnte. Das Ideal der Heiligung wurde durch eine selbstbezügliche Konzeption abgelöst, in der es um das siegreiche Vermeiden von Sünden und Niederlagen geht. Damit wurde zwar ein handhabbarer Maßstab gewonnen im Blick auf das tatsächliche Erreichen von Sündlosigkeit, letztlich aber zielte das Ringen um Heiligung nur noch auf die Vermeidung von inneren Widerspruchserfahrungen. Verloren ging dabei die Weite christlicher Liebe mit ihrer weltdurchdringenden und -verändernden Kraft. Die Leitidee einer Verknüpfung von Gnadenbewusstsein und Heiligungsideal ist m. E. auch heute nicht überholt. Vor welchen falschen Kompromissen man sich bei seiner Verwirklichung hüten sollte, hat Jellinghaus auf seine Weise eindrücklich demonstriert. wie Haarbeck und Buddeberg nachdrücklich begrüßt. In Licht und Leben wird Jellinghaus schließlich auch ein Forum gegeben, sich selbst an seine Kritiker zu wenden. (Theodor Jellinghaus, Ist „Gnadau“ und Heiligungsbewegung eins?, in: Licht und Leben 1912, 487-490). Die Parallelen zum Umgang mit Robert Pearsall Smith nach dessen „krankheitsbedingtem Rückzug aus der Öffentlichkeit“ sind auffällig. Diese Diskussionen machen insgesamt deutlich, wie schwer sich diese erweckliche Tradition damit tut, das Scheitern wichtiger Protagonisten bzw. Irrtümer ihrerseits in den eigenen Reihen theologisch angemessen einzuordnen. Diese Schwierigkeit ist nicht zuletzt mit dem jeweiligen Umgang mit Theologie insgesamt eng verbunden. „Theologie“ bzw. biblische Lehre ist untrennbar verknüpft mit der charismatischen Ausstrahlung und der persönlichen Glaubwürdigkeit desjenigen, der sie als Zeuge vertritt. Die persönliche Glaubwürdigkeit und Integrität scheint allemal schwerer zu wiegen als die Übereinstimmung mit biblischer oder traditioneller Lehre, als logische Konsistenz oder argumentative Kraft. 114 Die Autoren Sven Brenner, M.A., Jg. 1974, Pastor der Gemeinde Gottes KdöR. Thorsten Dietz, Prof. Dr. theol., Jg. 1971, Pfarrer; Professor für Systematische Theologie an der Evangelischen Hochschule Tabor in Marburg. Thomas Hahn-Bruckart, Dr. theol., Jg. 1978, Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der JohannesGutenberg-Universität Mainz. Ekkehard Hirschfeld, Dr. theol, Jg. 1965, Gymnasiallehrer in Neckartenzlingen. Markus Krause, B.A. theol., Jg. 1977, Königsbrunn. Frank Lüdke, Prof. Dr. theol., Jg. 1965; Professor für Kirchengeschichte und Leiter der Forschungsstelle Neupietismus an der Evangelischen Hochschule Tabor in Marburg. Nicholas Michael Railton, Jg. 1957, Dozent für deutsche Sprache und Geschichte an der University of Ulster in Coleraine/Nordirland. Wolfgang Reinhardt, Dr. theol., Jg. 1947, ev. Pfarrer, Erweckungsforscher, Koordinator dt. Partnerschaften mit Überlebenden des Völkermords in Ruanda durch das MFB e.V. Hans-Martin Thimme, Dr. theol., Jg. 1940, Pfr. i.R., Münster. Karl Heinz Voigt, Jg. 1934, Kirchenhistoriker und Pastor der evangelisch-methodistischen Kirche, wohnhaft in Bremen. 115