Inter-? Multi-? Trans-kulturell? Kulturelles Lernen im Fremdsprachenunterricht neu betrachtet Kulturelles Lernen im Fremdsprachenunterricht "neu betrachten" – geht denn das überhaupt noch? Meine Antwort lautet: Man muss kulturelles Lernen immer wieder neu durchdenken, weil ein endgültiges Verstehen dieser komplexen Lernvorgänge nicht möglich ist und unsere alltäglichen Erfahrungen immer wieder bewältigt und geordnet werden wollen. Wenn man die Diskussionen seit den 1980er Jahren, in denen das interkulturelle Lernen als separates Lernziel aufkam (z. B. Bausch et al. 1994), verfolgt, fällt auf, dass viele Publikationen zum Thema entweder sehr abstrakt sind oder sich auf Aufgabenstellungen beschränken. Zwischen beiden Aspekten gibt es kaum vermittelnde Ebenen. Im besten Falle wird eine philosophische Rahmensetzung durch konkrete Aufgabenstellungen zu einzelnen literarischen Texten ergänzt (z. B. in Bredellas Das Verstehen des Anderen, 2010). Oft beschränken sich Publikationen zum interkulturellen Lernen im Fremdsprachenunterricht jedoch völlig auf Prinzipien und Grundregeln (z. B. Nünning/Nünning 2000), die einerseits wichtig, nötig und keineswegs unumstritten sind, andererseits aber nur teilweise beim Verstehen dessen helfen, was interkulturelles Lernen ist und wie es bewerkstelligt werden kann. Alle sprechen also vom kulturellen Lernen, und heraus kommen entweder relativ allgemeine und abstrakte Erwägungen und Prinzipien oder meist recht traditionelle Aufgabenformen zu einzelnen Texten oder Medien. Die Ursachen dafür liegen meines Erachtens im weiten Kulturbegriff, denn wenn man Kultur nicht mehr nur als Hochkultur versteht, ist sie so vielfältig und veränderlich, dass es schwer wird zu entscheiden, was wichtig ist. Sie liegen außerdem in der Vielfalt der SchülerInnen und der individuellen Erfahrungen, Interessen, Einstellungen usw. sowie in der Unzugänglichkeit psychischer Prozesse und der Komplexität der mentalen, sozialen und kulturellen Faktoren, die beim interkulturellen Lernen wirken. Dieser Komplexität und Dynamik wird durch eine Beschränkung auf das sehr Allgemeine oder das ganz Konkrete begegnet. Was ist Fremdverstehen, was ist interkulturelles Lernen? Hier stellt sich zunächst die Frage, was eigentlich das Fremde im Fremdverstehen ist. "Fremd" wird als "soziale Ordnungskategorie" bezeichnet (Krupka 2002, 70). Bernd Krupka unterscheidet zwei Bedeutungen von "fremd", a) kognitiv unbekannt und dadurch nicht zugänglich, sowie b) "normativ fremd", wenn "fremd" als Eigenschaft einem Sachverhalt oder einer Person zugewiesen wird (2002, 71). Wenn etwas "normativ fremd" ist, heißt das, dass bestimmte bereits zugängliche Aspekte des Fremden (z. B. Stereotype) zur Klassifizierung von Personen oder Phänomenen genutzt werden, was verhindern kann, dass das wirklich Unbekannte kennengelernt wird. Als fremd wird empfunden, was nicht mit den eigenen Relevanzen, Standardisierungen und Normen übereinstimmt (Krupka 2002, 74-75) – als Beispiel mag ein Verweis auf das Stereotyp des höflichen Briten genügen. Dieses Verständnis von "fremd" als normative Kategorie kann helfen, menschliche Verhaltensweisen zu erklären. So "suspendiert" die Zuweisung von fremd "zunächst von dem Druck, einen Gegenstand oder ein Gegenüber zu einem Bekannten zu machen" (Krupka 2002, 71) – man kann daran vorbeigehen, weil diese Person/dieser Gegenstand nicht zur eigenen Gemeinschaft gehört (Krupka 2002, 74). Solche Ordnungsschemata "regeln und ordnen […] Fremdheitserfahrungen" und strukturieren Kommunikationsmöglichkeiten (Krupka 2002, 72). Wenn das Fremde zum Positiven (z. B. "Amerikaner sind so viel offener, optimistischer, freundlicher als wir") oder Negativen ("Amerikaner sind oberflächlich und kulturlos") vereinfacht wird, wirkt das Wissen über diese Kultur hermetisch abgeschlossen und es besteht keine Notwendigkeit, ihre Vielfalt und Widersprüche kennen zu lernen. Dieser halb psychologische, halb philosophische Ansatz scheint mir hilfreich für das Verstehen, wie die Wahrnehmung "fremd" entsteht, warum mit der Klassifikation als "fremd" oft die Beschäftigung aufhört, und 1 wo man im Unterricht ansetzen müsste – nämlich damit, Interesse zu wecken, aber auch Strategien zum Umgang mit der erkannten Fremdheit zu entwickeln. Dabei sind vor allem zwei Ebenen zu beachten: 1) Wenn "fremd" ein Moment fehlender Bekanntheit darstellt, muss Wissen erworben bzw. vermittelt werden. 2) Wenn "fremd" einem Sachverhalt aufgrund fehlender Akzeptanz zugewiesen wird (Krupka 2002, 72), sollten vor allem Einstellungen geformt werden. Inter-, multi- und trans-kulturelles Lernen Jürgen Einhoff (2003) unterscheidet mehrere Ansätze zur Annäherung an fremde Kulturen im Fremdsprachenunterricht. Der kulturelle Ansatz legt Wert auf Kenntnisse über eine fremde Kultur, die als eine relativ geschlossene gesellschaftliche Formation angesehen wird. Der Ansatz ist auf Ganzheit orientiert, verlangt Beachtung der historischen Entwicklung kultureller Phänomene und Auswahl von Charakteristischem für den Unterricht (zentrale Texte, Genres usw.). Dieser Ansatz ist unverzichtbar, wenn auch zu eng, zu wissensorientiert, und er stellt die andere Kultur als monolithisch-geschlossen dar. Der multikulturelle Ansatz berücksichtigt besonders die Diversität der Zielkultur und die unterschiedliche Situation verschiedener sozialer Gruppen, vermittelt also ein offeneres, dynamischeres Bild der Zielkultur und schließt interkulturelle Vergleiche ein. Unter dem interkulturellen Ansatz werden verschiedene Vorgehensweisen zusammengefasst; das Vorgehen kann 1) eher sachorientiert sein, ähnlich wie der kulturelle Ansatz, oder 2) prozessund schülerorientiert sein, auf Verhalten, Kompetenzen ausgerichtet, aber interkulturell zu arbeiten heißt immer, zwischen eigener und fremder Kultur zu vergleichen. Dieser Ansatz verlangt die Miteinbeziehung der Binnenperspektive der Lerner und geht davon aus, dass Interpretationen von Kultur individuell und intra-kulturell variieren. Der transkulturelle Ansatz betont gegenseitige Durchdringung von Kulturen, die vielfältigen Brüche und Überlappungen zwischen – heutzutage immer hybriden – Kulturen, die Rolle von lingua francas und globale Vernetzungen und Probleme. Hier wird die Idee kultureller Reinheit und Abgeschlossenheit aufgegeben, woraus sich hohe Ansprüche an die didaktische Umsetzung ergeben. Auch wenn die Vermittlung von Kultur vor allem im Anfangsunterricht auf klare Informationen und überschaubare Einheiten, also Vereinfachungen, angewiesen scheint, ist es wichtig, immer wieder eine kulturvergleichende Perspektive einzunehmen, bei Bekanntem und Ähnlichem anzuknüpfen sowie die eigene wie fremde Kultur nicht als etwas "Reines" anzusehen, sondern in ihrer Vielfalt, Gemischtheit und Veränderlichkeit zu betrachten. Im Folgenden werden exemplarisch zwei Kernprobleme des kulturellen Lernens etwas genauer betrachtet: der Umgang mit Stereotypen und der Perspektivenwechsel. Kernproblem I: (Wieder)Erkennen von Stereotypen – und dann? Sonja Reiß definiert Stereotypisierung als "rationelles Verfahren des Individuums zur Reduktion der Komplexität der realen Umwelt" (Reiß 1997, 15) und als notwendig zur sozialen Orientierung. Ein Stereotyp ist der verbale Ausdruck einer auf soziale Gruppen oder einzelne Personen als deren Mitglieder gerichteten Überzeugung. Es hat die logische Form einer Aussage, die in ungerechtfertigt vereinfachender und generalisierender Weise, mit emotional-wertender Tendenz, einer Klasse von Personen bestimmte Eigenschaften oder Verhaltensweisen zu- oder abspricht. (Reiß 1997, 29, nach Angelika Wenzel) 2 Und wirklich kommen wir ohne Stereotype nicht aus. Die Musterfamilie im Lehrbuch entspricht Stereotypen und vermittelt und diese notwendigerweise: Auch der Übergang von ausschließlich weißen bürgerlichen britischen oder amerikanischen Familien zu "Patchworkfamilien" und Familien mit Migrationshintergrund modifiziert Stereotype, schafft wieder neue Stereotype. Ausgewählte Berufe, Städte usw. wirken ebenfalls exemplarisch und schaffen stereotype Vorstellungen – und das ist für das Lernen notwendig und vor allem im Anfangsunterricht unvermeidlich, denn man kann sich nicht auf allen Klassenstufen endlos in Komplexität verlieren. Wenn mir Studierende bei einem Aufenthalt im Mittleren Westen der USA berichten, "es ist genauso wie in amerikanischen Filmen und im Fernsehen, die Häuser und die Straßen sehen genauso aus!", dann zeigt das die positive Funktion der Stereotype (vorwiegend aus den deutschen Medien), Wiedererkennen zu ermöglichen und das Fremde bekannt und (nur) normativ anders erscheinen zulassen. Nun müsste Interesse vorhanden sein, die Vielfalt der Wohnverhältnisse weiter zu erkunden, die Winzigkeit vieler New Yorker Wohnungen, die Bretterbuden und Trailer Parks der ärmeren Schichten – aber auch hier liegen wieder Stereotype vor, muss wieder Verallgemeinerungen vorgebeugt werden. Entscheidend ist, dass erfahrbar gemacht wird, dass Wissen und Verstehen nie abgeschlossen sind. Mit zunehmender Sprachbeherrschung und Denkfähigkeit sollten immer wieder Texte, Bilder und Filme eingesetzt werden, die nicht dem Ausgangsstereotyp entsprechen. Das positive Erlebnis, dass das eigene (stereotype) Bild mit (Teilen) der Realität übereinstimmt, dass man also etwas Richtiges weiß, ist wertvoll und gibt Selbstvertrauen, aber von vielen Phänomenen haben wir normalerweise keine detaillierten Kenntnisse und geben uns mit Stereotypen zufrieden. Deshalb muss die Einstellung entwickelt werden, dass man bewusst über das Bekannte (Stereotyp) hinausgeht und das sieht und sucht, was nicht dem Stereotyp entspricht. Beispiel: Das ethnische Stereotyp des Indianers und das Kontern des Stereotyps. Material: Moderne (Klemm) v. historische (Curtis) photographische Portraits von Indianern Der deutsche Photograph Eric Klemm veröffentlichte 2009 den Photoband Silent Warriors. Portraits of North American Indians. Die Portraits von Indianern verschiedener Stämme in den USA und Kanada wurden immer vor weißem Grund aufgenommen, verweigern also jeden Kontext. Die Personen werden in Alltags- oder Arbeitskleidung gezeigt oder, auf eigenen Wusch, theatralisch als Indianer zurechtgemacht. Man sieht Obdachlose, Feuerwehrleute, SozialarbeiterInnen und andere Berufsgruppen, eine Rollstuhlfahrerin, junge und alte Menschen aus ganz verschiedenen sozialen Gruppen und Weltgegenden. Es wäre eine Herausforderung, mit dem Portrait einer jungen Rollstuhlfahrerin zu beginnen, zunächst ohne Bildunterschrift (Klemm 2009, 56: "Andrea 38, Lytton First Nation, Lytton B.C., Canada, June 2, 2006"), oder mit dem eines Bewässerungsarbeiters (Klemm 2009, 59: "Harvey, Esketemc, irrigation worker, Big Bar Creek, B.C., Canada, May 31, 2006"). Die Bildbeschreibung kann sowohl also Brainstorming als auch als Kleingruppenarbeit vorgenommen werden und soll zunächst dem Aufstellen von begründeten Vermutungen über die Person dienen. Dazu bieten sich die üblichen Leitfragen an: What can you see in the picture? What is missing? (context, place) – Where and when may the photo have been taken? – What kind of person is portrayed (age, experience etc.)? Die Merkmale der beschriebenen Person(en) werden gesammelt, danach gegebenenfalls die Bildunterschrift und das Thema "American Indians / First Nations" hinzugefügt. Es soll deutlich werden, dass hier noch andere Merkmale als Ethnizität die Einordnung der Personen bestimmen und dass diese uns in vielem sehr ähnlich sind. In einem zweiten Schritt könnten stereotype Bilder von Indianern entweder von SchülerInnen bereitgestellt oder verbal entwickelt werden. Thomas King, ein Cherokee, liefert in seiner Vorbemerkung zu Klemms Buch eine treffende Zusammenfassung zum stereotypen Indianer: "Noble. Naked. On horses. Bows and arrows. Chasing buffalo. Wrapped in blankets and furs. […] nobody wants to see us driving a pick-up or playing guitar in a band or chairing a board 3 meeting" (in Klemm 2009, 7). Zur Erarbeitung des romantisierenden Indianerstereotyps bieten sich einzelne Aufnahmen aus Edward S. Curtis' (1868-1952) umfangreichen photographischen Werk The North American Indian (1907-1930) an, die im Internet leicht zugänglich sind. Sowohl Wikipedia als auch die Webseite des Smithsonian Institute zu Edward S. Curtis zeigen weiterhin am Beispiel des Photos "In a Piegan Lodge", wie Curtis Fotos manipulierte und alles Moderne aus seinen Bildern der Indianer verbannte, also bewusst Stereotype produzierte. Fotoband und Webseiten bieten eine Fülle von Material, anhand dessen die soziale Konstruiertheit unseres Indianerbildes gezeigt und neben Interesse auch Wissen über die Vielfalt der Lebensentwürfe von Indianern jenseits jeder Romantisierung erworben werden kann. Kernproblem II: Perspektivenwechsel Zum interkulturellen Lernen gehören auch soziale, sprachliche und mentale Handlungskomponenten und Einstellungen. Wo etwas als "fremd" klassifiziert und abgelehnt wird, weil es auf den ersten Blick nicht den eigenen Normen entspricht, kann die Einnahme der fremden Perspektive helfen, die innere Logik und Schlüssigkeit einer anderen Verhaltensweise zu erkennen. Dazu muss in vielen Fällen die Bereitschaft erst geweckt und innerer Widerstand überwunden werden. Danach können bestimmte Handlungsschritte, die zum Prozess des Perspektivenwechsels gehören, eingeübt werden. Helene Decke-Cornill und Lutz Küster schlagen vor, Perspektivenwechsel in drei Stufen zu gliedern und zu üben: 1. Mit der Identifizierung und Differenzierung anderer Sichtweisen setzt eine Dezentrierung des eigenen Blickes ein. 2. Mit der Perspektivenübernahme werden fremde Perspektiven auf Personen, Ereignisse und Dinge inhaltlich nachvollzogen. 3. Perspektivenkoordination bedeutet eine bewusste Integration verschiedener Perspektiven auf einer Metaebene. (vgl. Decke-Cornill/Küster 2010, 231) Als methodische Arbeitsformen wurden vor allem Rollenspiele vorgeschlagen, bei denen Positionen eingenommen werden müssen, die den eigenen zuwider laufen und Unstimmigkeiten und Ungereimtheiten aufbringen können. Dadurch können Identitätsdarstellung, Empathiefähigkeit und Rollendistanz entwickelt werden (vgl. Hermann-Brennecke 1991, 83 f.). Ähnlich können Theaterstücke zur Identifizierung und Aneignung fremder Sichtweisen bzw. zur Auseinandersetzung mit ihnen genutzt werden. Das multiperspektivische Erzählen in literarischen Werken bietet sich ebenfalls als Material für das Identifizieren verschiedener Perspektiven, ihre Einnahme und anschließende Koordination an. Beim Einsatz von Filmen kann ein Ereignis aus der Sicht verschiedener Personen beschrieben oder über Gedanken und Gefühle einer bestimmten Person spekuliert werden (vgl. Volkmann 2010). Wichtig ist dabei, dass nicht unbedingt die Perspektiven der Hauptpersonen und Identifikationsfiguren nachvollzogen werden, sondern eher die der problematischen Figuren oder Randfiguren. Im Film East Is East über eine britisch-pakistanische Familie bieten sich z. B. die Perspektive des Vaters, Mr. Khan, oder der Nachbarin, Auntie Annie, an. Nur so kann man sich von den bequemen Stereotypen entfernen und Fremdverstehen erreichen. Literatur Bausch, Karl-Richard, et al. (Hg.) 1994. Interkulturelles Lernen im Fremdsprachenunterricht. Tübingen: Narr. Bredella, Lothar 2010. Das Verstehen des Anderen. Tübingen: Narr. Decke-Cornill, Helene, und Lutz Küster 2010. Fremdsprachendidaktik. Tübingen: Narr. Einhoff, Jürgen 2003. "Multi-Culti." Sonderheft PRAXIS/fsu 2003, 6-9. Hermann-Brennecke 1991. "Vorurteile. Eine Herausforderung an den Fremdsprachenunterricht." Zeitschrift für Fremdsprachenforschung 2:1, 64-98. Krupka, Bernd 2002. Die rechte Hand muß wissen, was die linke tut. Münster: Waxmann. 4 Nünning, Ansgar und Vera 2000. "British Cultural Studies konkret. 10 Leitkonzepte für einen innovativen Kulturunterricht." Der fremdsprachliche Unterricht Englisch, 34:43, 4-10. Reiß, Sonja 1997. Stereotypen und Fremdsprachendidaktik. Hamburg: Kovacs. Volkmann, Laurenz 2010. Fachdidaktik Englisch. Kultur und Sprache. Tübingen: Narr. Materialien Curtis, Edward S. The North American Indian. 20 vols. Internet sources Klemm, Eric 2009. Silent Warriors. Portraits of North American Indians. Göttingen: Steidl. East Is East 1999. Regie: Damien O'Donnell. DVD. Prof. Dr. Gabriele Linke (Universität Rostock) 5