06 Geschichte Biodid

Werbung
Lehrstuhl Prof.em. Dr. rer. nat. Eberhard G. SCHMIDT Universität Essen, FB 9:
Grundvorlesung BIOLOGIEDIDAKTIK, Bearbeitungsstand vom 20.1.2001
Kap.6: Geschichte der Biologiedidaktik
6— 1
6. Zur Geschichte des Biologieunterrichtes in Deutschland
6.0 Vorbemerkungen
Geschichtlichkeit ist ein Kennzeichen des Lebendigen wie auch der Welt überhaupt
(WAHLERT 1975). Der heutige Biologieunterricht und damit die Biolodiedidaktik sind – wie
alle anderen Kulturleistungen der Menschheit auch – nur aus ihrer Geschichte zu
verstehen. Kultur ist immer auch Ausdruck der jeweiligen Epoche und ihrer
Vergangenheit (vgl. WILHELM 1967: 51ff.). So ist die Geschichte der Biologiedidaktik zum
Verständnis der heutigen Situation unerläßlich.
Die Geschichte des Biologieunterrichtes und damit die der Biologiedidaktik ist in die
Geschichte der Pädagogik (vgl. z.B. BLÄTTNER 1966) über die frühen Didaktiker (wie
COMENIUS, FRANCKE, ROUSSEAU sowie KERSCHENSTEINER) eingebettet. Auf die Geschichte
der Pädagogik (und ihre Verknüpfung mit der Philosophie bis zur Mitte dieses
Jahrhunderts)
wird
hier
nicht
eingegangen,
sie
ist
Gegenstand
der
Erziehungswissenschaften (vgl. z.B. BLÄTTNER 1966, WILHELM 1967).
Geschichtliche Analyse ist oft subjektiv geprägt. Ein besonderes Gewicht erhalten
im Folgenden das industrielle Zeitalter am Ende des 19. Jahrhunderts/ zur
Jahrhundertwende um 1900 (LÜBEN & LEUNIS, JUNGE, SCHMEIL: Einführung des
beschreibend morphologisch/ systematischen Arbeitens am Objekt, dann der Wechsel
zur biologisch/ funktionalen Artanalyse mit plausiblen Untersuchungen/ Experimenten,
aber auch die Etablierung der Buchbiologie im Unterricht; vgl. z.B. NORRENBERG 1904,
SCHEELE 1981) und das akademisch/ statistische Curriculum-Paradigma der 70er Jahre
des 20. Jahrhunderts. Damit werden die Schwerpunkte etwas anders gesetzt als in den
gängigen Didaktiken (vgl. EKR sowie SIEDENTOP 1964, auch z.B. KLAUSING 1968, SCHEELE
1981).
Einen historischen Überblick der Naturvorstellungen als Hintergrund für den
Biologieunterricht vermittelt TROMMER (1993), darauf wird (ebenso wie z.B. auf die
Geschichte der Ökologiebewegung: KNAUT 1993, TREPL 1987) nicht näher eingegangen.
Als historischer Überblick ist auch die Geschichte von MNU (Deutscher Verein zur
Förderung des mathematischen und naturwissenschaftlichen Unterrichts: KLEIN 1991;
zur aktuellen Situation des Gymnasiums vgl. SCHMIDT 1994) anzuführen.
Bei dem folgenden Streifzug durch die Geschichte der Biologiedidaktik in Deutschland
wird besonders gefragt nach:
 Wann wurden heute allgemein anerkannte Prinzipien des BU eingeführt?
 Welchen Stellenwert hatte die direkte Naturerfahrung/ -erforschung in der
jeweiligen Epoche?
 Welche biologischen Arbeitsweisen wurden dabei eingesetzt.
Lehrstuhl Prof.em. Dr. rer. nat. Eberhard G. SCHMIDT Universität Essen, FB 9:
Grundvorlesung BIOLOGIEDIDAKTIK, Bearbeitungsstand vom 20.1.2001
Kap.6: Geschichte der Biologiedidaktik
6— 2
Abkürzungen zur Kurzcharakteristik der Epochen:
Die einzelnen Epochen werden also zusammenfassend gekennzeichnet durch die jeweils
charakteristischen der folgenden Stichpunkte:
 Konz: Konzept zur Stoffauswahl & -ansicht
 Stoff: Inhaltliche Schwerpunkte
 Arbw: Bevorzugte biologische Arbeitsweisen
 Med.: Arbeitsobjekte und besondere Medien
 Meth: (Unterrichts-) methodische Schwerpunkte/ Innovationen
 Einst: Besonders geförderte Einstellungen zur belebten Natur
Literatur:
BLÄTTNER, F: Geschichte der Pädagogik. Quelle & Meyer, Heidelberg, 12.Aufl. 1966.
KLAUSING, O.: Biologie in der Bildungsreform, Beltz, Weinheim 1968.
KLEIN, A.: Ringen um die mathematisch-naturwissenschaftliche Bildung. Geschichte der Jahre 1945 bis 1990
des Deutschen Vereins zur Förderung des mathematischen und naturwissenschaftlichen Unterrichts.
Dümmler, Bonn 1991.
KNAUT, A.: Zurück zur Natur! Landschafts- und Heimatschutz im wilhelminischen Zeitalter. Diss. Universität
München 1992. Auch unter dem Titel: Zurück zur Natur! Die Wurzeln der Ökologiebewegung. Suppl. 1
zum Jahrbuch f. Naturschutz & Landschatspflege. AG berufl. & ehrenamtl. Naturschutz (ABN), Bonn
(in Kommission bei Kilda, Greven) 1993.
NORRENBERG, J.: Geschichte des naturwissenschaftlichen Unterrichts in Deutschland. ###, Leipzig, 1904.
SCHEELE, I.: Von LÜBEN bis SCHMEIL, die Entwicklung von der Schulnaturgeschichte zum Biologieunterricht
zwischen 1830 und 1933. Reimer, Berlin 1981.
SCHMIDT, A.: Das Gymnasium im Aufwind. Struktur, Entwicklung, Probleme seiner Oberstufe. Hahner VG,
Aachen-Hahn, 2.Aufl. 1994.
SIEDENTOP, W.: Methodik und Didaktik des Biologieunterrichts. Quelle & Meyer, Heidelberg 1964, 4.Aufl.
1972.
TREPL, L.: Geschichte der Ökologie vom 17. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Athenäum TB, Frankfurt/M.
1987.
TROMMER, G.: Natur im Kopf. Geschichte ökologisch bedeutsdamer Naturvorstellungen in deutschen
Bildungskonzepten. Deutscher Studienverlag, Weinheim, 2.Aufl. 1993.
WAHLERT, G.v.: Die Geschichtlichkeit des Lebendigen als Aussage der Biologie. Ein Beitrag zur
Strukturierungsdebatte. S. 46-58 in: KATTMANN & ISENSEE (Hrsg.): Strukturen des Biologieunterrichts.
Aulis/ Deubner, Köln 1975.
WILHELM, T.: Theorie der Schule. Hauptschule und Gymnasium im Zeitalter der Wissenschaften. Metzler,
Stuttgart 1967.
6.1 „Blickpunkt Natur“ (im Schulumfeld): Begründung des
neuzeitlichen BU (18. Jahrh.): COMENIUS & Nachfolger; ROUSSEAU
Einführung
Öffentlicher Unterricht des Mittelalters erfolgte in den Dom- und Klosterschulen und war
auf das Lesen der Bibel ausgerichtet. Er wurde in Latein, der Sprache der (römischkatholischen) Kirche und der Wissenschaft, gehalten. Diese Schulen waren damit einer
Elite unter dem Bürgertum vorbehalten. Adel und gehobenes Bürgertum hatten
Privatlehrer (vgl. den großen Pädagogen HERBART [z.B. 1806: Allgemeine Pädagogik aus
dem Zwecke der Erziehung abgeleitet; vgl BLÄTTNER 1966]: *1776 in Oldenburg, Nachfolger
von Kant in Königsberg 1809-1833, dann wieder in Göttingen: †1841).
Lehrstuhl Prof.em. Dr. rer. nat. Eberhard G. SCHMIDT Universität Essen, FB 9:
Grundvorlesung BIOLOGIEDIDAKTIK, Bearbeitungsstand vom 20.1.2001
Kap.6: Geschichte der Biologiedidaktik
6— 3
Wenn schon biologische Fragen im Unterricht aufkamen, so wurden sie dozierend
an Hand der Texte von ARISTOTELES (aus Makedonien, 384-322 v.Chr., ein Schüler
PLATON's) geklärt. Eigene Anschauung als Grundlage naturwissenschaftlicher Aussagen
wurde zwar immer mal wieder gefordert (z.B. vom Dominikaner ALBERTUS MAGNUS, 11931280, aus Köln oder von dem französischen Philosophen und Mathematiker RENÉ
DESCARTES, 1596-1650), doch fand das keinen Widerhall. Anstoß zum Wandel gaben
Humanismus und Reformation(skriege), das neue Weltbild der Naturwissenschaften
(GALILEO GALILEI aus Pisa/ Florenz, 1564-1642). In der Didaktik ist dieser Wandel mit
dem Namen COMENIUS verknüpft:
COMENIUS (= KOMENSKÝ), JOHANN AMOS, 1592-1670
Er war (seit 1632) Bischof der „böhmischen Brüdergemeinde“ und Leiter ihres
Schulwesens und forderte  seiner Zeit um ein Jahrhundert voraus  u.a. den
muttersprachlichen Untericht in den öffentlichen Schulen (7.-12. Lebensjahr, dann für
Begabte die Lateinschule, 13.-18. Lebensjahr, und die Akademie, 19.-24. Lebensjahr)
und die Einführung von „Realien“ (also von naturwissenschaftlichen Themen).
 Didactica magna 1632: Lehre soll nicht darin bestehen, die Autoritäten als solche, die
großen Schriften (angefangen mit der Bibel) zu zitieren, sondern vielmehr der eigenen
Erfahrung und ihrer logischen Verknüpfung den Vorrang geben.
 Orbis sensualium pictus („Gemalte Welt“) 1658: ein bebildertes Realienbuch, das
wichtigste naturkundliche Schulbuch für lange Zeit (mehrsprachig verfaßt,
bebilderter Nachfolger der Janua linguarum reserata).
Begründung des neuzeitlichen Biologieunterrichts durch Aufnahme der „Realien“ in den
Lehrplan in der Form der Arbeit am Naturobjekt und im Freien (statt Unterricht nach
dem Buch), wenn auch mit besonderer Betonung der für den Menschen wichtigen
Pflanzen und Tiere (wie Nutzpflanzen und Haustiere).
Konz:
Stoff:
Arbw:
Med.:
Naturerfahrung hat Vorrang vor Buchwissen.
Ganzheitliche Sicht: Beachtung der Einbindung
in den Zusammenhang:
d.h. jedes Ding soll zuerst als Ganzes betrachtet werden
und dann erst die Teile des Ganzen.
Bewertung nach Nutzen und Schaden für den Menschen:
Utilitaristische Betrachtungsweise.
Pflanzen und Tiere mit Bezug zum Menschen
(wie Nutzpflanzen),
Arbeiten am Naturobjekt (als Präparieren),
Zoologische Präparatesammlung
FRANCKE, AUGUST HERMANN, 1663-1727
Die Umsetzung der umwälzenden Vorstellungen von COMENIUS erfolgte zunächst in
einem der kleinen, mehr dem Fortschritt aufgeschlossenen Fürstentümer (vgl. GOETHE,
HAECKEL in Sachsen-Weimar!), dem Herzogtum Sachsen-Gotha, mit der Gothaischen
Schulordnung (1721). FRANCKE war daran maßgeblich beteiligt. Er war Pietist und führte
am Pädagogicum in Halle/Saale ein Heim für zuletzt über 2000 oft verwahrloste Kinder
und Jugendliche. Zu dem Pensum gehörte eine regelmäßige naturwissenschaftliche
Lehrstuhl Prof.em. Dr. rer. nat. Eberhard G. SCHMIDT Universität Essen, FB 9:
Grundvorlesung BIOLOGIEDIDAKTIK, Bearbeitungsstand vom 20.1.2001
Kap.6: Geschichte der Biologiedidaktik
6— 4
Belehrung, jedoch nicht als regulärer Unterricht, sondern als Vermittlung nützlicher
Kenntnisse auf Spazier- und Unterrichtsgängen („Recreationsübungen“) oder bei der
praktischen Arbeit, im Sommer im Freien in einem dafür angelegten botanischen Garten.
Im Winter wurden als praktische Übung zur Morphologie/ Anatomie der Tiere
Schlachttiere und Geflügel tranchiert, Tiere (auch Hunde) seziert, z.T. auch präpariert,
Vögel ausgestopft (vgl. KLAUSING 1968). Diese Präparate wurden in einem
„Naturalienkabinett“ (d.h. einer biologischen Sammlung) aufbewahrt und als
Demonstrationsmaterial bei den praktischen Übungen eingesetzt.
SALZMANN, CHRISTIAN GOTTHILF (1744-1811)
Er hatte (ab 1784) ein eigenes philanthropisches Erziehungsinstitut in ländlicher
Umgebung (Schnepfenthal SW Gotha/ Thüringen, damals Herzogtum Sachsen-Gotha)
und förderte ebenfalls die die biologische Unterrichtung im Freien verbunden mit der
selbsttätigen Anlage eines Schulgartens und von biologischenSammlungen und
eigenständigen Naturbeobachtungen, dem Protokollieren, Vergleichen mit bereits
Bekanntem und Einordnen in das bereits Bekannte.
ROUSSEAU, JEAN-JACQUES, 1712-1778
Nach der Epoche der Aufklärung wurde die Einstellung zur Natur durch ROUSSEAU *1712
in Genf, † 1778 bei Paris) geprägt (vgl. BLÄTTNER 1966). Als „Evangelium der Natur“
wurde die Natur mystisch/ schwärmerisch verklärt (Moderichtung im Rokoko),
ROUSSEAU antizipiert damit die Romantik (vgl.: 1750: Discours sur les sciences et les arts
mit Thesen wie: „Die Menschheit ist durch die Kultur und Aufklärung aus dem Glück
des naturhaften Urzustandes ins Verderben gestürzt worden“, eine Analogie zur
biblischen Vertreibung aus dem Paradies).
Bleibende Verdienste ROUSSEAUS sind (u.a.):
 Die Entdeckung des Menschen als Naturwesen, als Einheit von Körper, Empfinden/
Gefühl und Denken/ Wissen (statt des Primats des Geistlichen im Mittelalter,
verbunden mit dem Geistigen, der Vernunft, in der Epoche der Aufklärung).
 Die Entdeckung der eigenständigen Bedürfnisse und eines Eigenrechtes des Kindes
mit einer spezifischen Entwicklung ( „Schülerrelevanz“ der 70er Jahre).
 Die Erziehung zum verantwortlichen Staatsbürger (im Spätwerk!)
 Kritisches Hinterfragen der Kultur (z.B. als Zeiterscheinung).
ROUSSEAU bestimmte mit diesem schwärmerisch verklärendem Naturbild die
Zeitströmung Ende des 18. Jahrhunderts bis weit in das nächste Jahrhundert (z.T. bis
in dieses Jahrhundert, vgl. die Ökologiebewegung: TREPL 1987, s.o.) hinein.
Lehrstuhl Prof.em. Dr. rer. nat. Eberhard G. SCHMIDT Universität Essen, FB 9:
Grundvorlesung BIOLOGIEDIDAKTIK, Bearbeitungsstand vom 20.1.2001
Kap.6: Geschichte der Biologiedidaktik
6— 5
Übersicht der Epoche
Stoff:
„Nützliche Kenntnisse“
Arbw.: Beobachtungen am Lebewesen in der freien Natur
 Anlage von Gärten,
Bewirtschaftung von Beeten als praktische Arbeit
Präparieren von Tieren, Untersuchen von Präparaten
Med:
Anlage biologischer Sammlungen
Meth: Geländearbeit auf Spaziergängen oder im Garten (Sommer),
Präparierübungen und Untersuchen von Präparaten von Tieren (Winter)
Einst: Umsetzung der Naturphilosophie von ROUSSEAU
Literatur:
BLÄTTNER, F: Geschichte der Pädagogik. Quelle & Meyer, Heidelberg, 12.Aufl. 1966.
KLAUSING, O.: Biologie in der Bildungsreform, Beltz, Weinheim 1968.
6.2 Das diagnostisch/ systematisch/ morphologische Artkonzept
(um 1830): LÜBEN & LEUNIS
Die Beschreibung und Ordnung der Formenmannigfaltigkeit erhielt durch das
phänominale Werk von LINNÉ (1735: Systema naturae, mit zahlreichen Auflagen, vgl.
LINNAEUS 1758) eine tragfähige Struktur. Die Beschreibung und Ordnung der
Formenmannigfaltigkeit stand von dann an bis etwa Anfang/ Mitte des vorigen
Jahrhunderts im Mittelpunkt biologischer Forschung. Durch den Kolonialismus jener
Zeit wurde auch die tropische Artenvielfalt für die europäischen Museen verfügbar.
Dieser Höhepunkt deskriptiv/ systematischer Forschung wurde zum Vorbild für die
Schulbiologie (Dominanz der „Fachrelevanz“): Epoche der systematischen Morphologie
im Biologieunterricht. Die morphologischen Untersuchungen waren auf das LINNÉsche
System ausgerichtet, das Bestimmen hatte einen hohen Stellenwert, konnte zum
eigentlichen Ziel des BU werden. Das Beobachten der Lebensweisen wurde dagegen eher
ausgeklammert, der Bezug der Pflanzen zu ihrer Umgebung wurde vor allem als
Standortlehre behandelt.
LÜBEN, AUGUST, 1804-1873:
1832: „Anweisungen zum Unterricht in der Naturgeschichte nach naturgemäßen
Grundsätzen
für
gehobene
Volksschulen,
Bürgerschulen,
Berufsschulen,
Schullehrerseminaren und Gymnasien bearbeitet“.
Die bis heute aktuelle didaktische Intention LÜBEN‘s macht das folgende Zitat (nach
LÜBEN aus HÖRMANN 1965: 26) deutlich (vgl. auch Kap. 2.4: Ethik und formale Bildung
naturwissenschaftlichen Arbeitens):
„Kenntnis der Natur als eines großen Ganzen, die Erkenntnis des Lebens und der Kräfte
in der Natur, die Erkenntnis der Einheit in der Mannigfaltigkeit und der Mannigfaltigkeit
in der Einheit, ein Verständnis für die Gesetzmäßigkeit. .... Weit höher als die bloße
Brauchbarkeit steht der bildende Einfluß, den dieser Unterricht, planmäßig betrieben,
auf den ganzen Menschen ausübt. Er bildet die Sinne, übt das Gedächtnis, beschäftigt
die Einbildungskraft, stärkt Urteilskraft, Witz, Scharfsinn und Beobachtungsgabe,
Lehrstuhl Prof.em. Dr. rer. nat. Eberhard G. SCHMIDT Universität Essen, FB 9:
Grundvorlesung BIOLOGIEDIDAKTIK, Bearbeitungsstand vom 20.1.2001
Kap.6: Geschichte der Biologiedidaktik
6— 6
erweckt und bildet den Schönheitssinn. Den höchsten Wert erhält der
Naturgeschichtsunterricht als Mittel, den Menschen zu wahrer, innerer Gottesfurcht zu
erheben“.
Die praktische Arbeit im Unterricht bestand in morphologischen Untersuchungen an
abgepflückten Pflanzen im Sommer und an Tierpräparaten im Winter; sie konnte diesen
hohen Bildungszielen damit nicht gerecht werden.
LEUNIS, JOHANNES, 1802-1873:
1869.(9. Aufl. 1877): „Schul-Naturgeschichte. Eine analytische Darstellung der
Naturreiche.“
Der
Unterricht
wurde
dabei
weitgehend
reduziert
Bestimmungsübungen am Objekt, aber mit selbsttätiger Entwicklung
Bestimmungsschlüsseln als kreativem Element, damit haben wir hier den Ansatz
forschend/ entdeckenden Lernen.
drei
auf
von
zum
Didaktische Prinzipien von bleibendem Wert bei LÜBEN & LEUNIS:
Vom Einfachen zum Komplizierten; vom Nahen zum Fernen,
Vorrang heimischer Arten gegenüber Exoten (Volksschule).
Vorrang der mit bloßem Auge erkennbaren Phänomen vor solchen,
die Lupe und Mikroskop erfordern.
Vorrang für induktive, auf Selbsttätigkeit des Schüler gerichtete Lehrverfahren
vor Deduktion und Demonstration;
Vorrang der Erfahrung/ von erwiesener Wahrheit
gegenüber Hypothesen/ bloßen Vermutungen,
Vorrang des Konkret/ Praktischen gegenüber dem Abstrakt/ Wissenschaftlichen.
Ziele und Schritte des Arbeitens am Naturobjekt (nach LÜBEN):
Förderung der Eigentätigkeit und des selbständigen Arbeitens
mit den Schritten [in der Klammer das Stichwort in heutiger Diktion]:
 (selbständiges) Beobachten  (eigene) Erfahrung)
 (selbständiges) Beschreiben & Zeichnen (Protokollieren)
 Zusammenfassen zu systematischen Gruppen
nach abgestufter Ähnlichkeit [Deutung 1. Stufe]
 Einordnen in das LINNÉ'sche System
[Deutung 2. Stufe: Einordnen in den Theoriezusammenhang]
LÜBEN & LEUNIS
Konz: Möglichst selbständige Gestaltsbeschreibung für die Einordnung in das
(wissenschaftliche) LINNEsche System an didaktisch ausgewählten Arten und
exemplarische Formenübersicht: Morphologisch/systematisches Artkonzept.
Damit Abkehr vom Nützlichkeitsaspekt [angewandte Biologie im heutigen Sinne]
hin zur zweckfreien Biologie [„reine“ Naturwissenschaft im heutigen Sinne].
Stoff: Einführung in die Klassifikation der Arten.
Arbw.: Induktiv/ selbsttätiges Arbeiten an ausgewählten Arten,
dabei Ausgang von den Arten, die das Kind am leichtesten auffaßt.
Med.: Naturobjekte.
Meth.: Kindgerechte methodische Prinzipien (s.o.).
Lehrstuhl Prof.em. Dr. rer. nat. Eberhard G. SCHMIDT Universität Essen, FB 9:
Grundvorlesung BIOLOGIEDIDAKTIK, Bearbeitungsstand vom 20.1.2001
Kap.6: Geschichte der Biologiedidaktik
6— 7
Literatur
LINNAEUS, C.: Systema naturae. Regna tria naturae, Tom. (Bd.) I Regnum animale. Salvius, Holmiae
(Stockholm), 10.Aufl. 1758. Facsimile-Nachdruck British Museum (Natural History), London 1956.
6.3 Volkstümliche, naturnahe, ganzheitliche Naturbetrachtung
(um 1850): ROßMÄßLER
Zeitströmung: Romantik. – In der Biologie setzte sich die vergleichend-morphologische
(„homologisierende“) Arbeitsweise durch. Die ganzheitliche Betrachtungsweise hatte
einen hohen Stellenwert (vgl. CUVIER [~1800]: Lebewesen als organische Ganzheit).
Experimentelle Arbeiten (Physiologie, auch in Verbindung zur Humanphysiologie/
Medizin) gewannen an Raum.
Der Gedanke der ganzheitlichen Einheit der Organismen mit dem Raum („Kosmos“)
ist in Deutschland durch A.v.HUMBOLDT (1845, vgl. TROMMER 1993, s.o.) populär
geworden, in den exakten Naturwissenschaften steht dem die Vorstellung der strengen
Kausalität unter (reduktionistisch/deterministisch) normierten Versuchsbedingungen
entgegen.
HUMBOLDT weist auch den Weg vom statischen Denken in Strukturen zum
dynamischen in Relationen/ Systemen: „Der Reichtum der Naturwissenschaften besteht
nicht mehr in der Fülle, sondern in der Verkettung von Tatsachen“ (vgl. das Motto bei
JUNGE 1885 sowie Kap. 2.8: Bildung als Verständnis von Zusammenhängen).
EMIL ADOLF
ROSSMÄSSLER
1806 - 1867
NATURFORSCHER
VOLKSLEHRER
UND DEMOKRAT
aus Leipzig
Lehrstuhl Prof.em. Dr. rer. nat. Eberhard G. SCHMIDT Universität Essen, FB 9:
Grundvorlesung BIOLOGIEDIDAKTIK, Bearbeitungsstand vom 20.1.2001
Kap.6: Geschichte der Biologiedidaktik
6— 8
ROßMÄßLER, EMIL ADOLF, 1806-1867.
Die Biographie als Beispiel für ein Lehrerschicksal der Zeit
(Details bei TROMMER 1993):
1806 Geboren in Leipzig; Vater (Kupferstecher) starb früh; mit Hilfe von Almosen
Studium der Theologie („billiges“ Fach) trotz biologischer Neigungen.
1827 Hauslehrer in Thüringen.
1836 Professur für Zoologie an der berühmten Forstakademie in Tharant/Sachsen, div.
Fachbücher, u.a. ein Mollusken-Handbuch.
1848 Parlamentarier für die Arbeiterpartei in der Paulskirche in Frankfurt/M.,
(Mitbegründer der deutschen Arbeiterbewegung: Leipziger Arbeiterbildungsverein,
später Sozialdemokratische Arbeiterpartei in Eisenach). Nach dem
Zusammenbruch der Revolution und Demokratie Anklage wegen Hochverrats. –
Trotz Freispruchs Verlust der Professur an der Forstakademie Tharant (b.
Dresden).
1849-52 freiberuflich tätig als Reisender mit volkstümlichen Vorträgen über die Natur
mit großem Zuspruch (z.B. in Stuttgart, Mainz, Wiesbaden, Frankfurt/M.,
Magdeburg, Leipzig), wegen des Einbeziehens der DARWINschen Thesen zur
Evolution aber anstößig bei den (preußischen) Behörden.
Zahlreiche populärwissenschaftliche. Bücher („Geschichte der Erde“,
„Süßwasseraquarium“, „Wald“), z.T. zus. mit ALFRED BREHM („Tiere des Waldes“,
1866); Zeitschriften „Aus der Heimath“ (1859-66), „Die Gartenlaube“.
1856: „Der See im Glase“: Das Aquarium als Mittel der
naturwissenschaftlich/ heimatkundlichen Volksbildung.
1860: Der naturgeschichtliche Unterricht, Gedanken und Vorschläge zu einer Umgestaltung
desselben.
In dieser Zeit hatte die außerschulische biologische Bildung bei den Bürgern einen
hohen Stellenwert, nicht nur durch ROßMÄßLER, sondern auch durch Sachbücher. Zu
erinnern ist an BREHM's „Illustriertes Tierleben“, 6 Bände 1863-69, oder E. HAECKEL's
„Kunstformen der Natur“, 1904, aber auch an die gemütvollen Naturschilderungen von
WILHELM BÖLSCHE aus Berlin (z.B. „Naturgeheimnis“ 1905) oder von HERMANN LÖNS aus
der Lüneburger Heide (s.Kap. 6.5.4).
Es wurden lokale naturwissenschaftliche Vereine gegründet (z.B. die „Gesellschaft
naturforschender Freunde zu Berlin“ 1773), das Sammeln von Conchylien (vor allem der
bizarr geformten und apart gefärbten Molluskenschalen und Korallen aus Übersee) und
von Insekten (von Erfassungen der einheimischen Fauna bis zu Ziersammlungen
exotischer Großformen unter den Schmetterlingen und Käfern) war verbreitet und
lieferte den Grundstock bedeutender Museen (wie dem LÖBBECKE-Museum in
Düsseldorf), die „Botanisiertrommel“ (Vorläufer der heutigen Platiktüte in der Botanik)
wurde zum Erkennungszeichen der Naturfreunde.
Bedeutende systematische Werke erschienen für eine breites Publikum (wie die
„Naturgeschichte der Vögel Deutschlands“, 1820-1844 von J.F. NAUMANN, Bauer und
Autodidakt aus einem Dorf bei Köthen (nahe Dessau in Anhalt) oder REITTER's „Fauna
Germanica, die Käfer des Deutschen Reiches“ in 5 Bänden 1908-16, herausgegeben vom
Deutschen Lehrerverein für Naturkunde!). Auch die großen Zoologischen Gärten
entstanden, oft aus ehemaligen herrschaftlichen Fasanerien oder Menagerien (wie in
Berlin 1844).
Lehrstuhl Prof.em. Dr. rer. nat. Eberhard G. SCHMIDT Universität Essen, FB 9:
Grundvorlesung BIOLOGIEDIDAKTIK, Bearbeitungsstand vom 20.1.2001
Kap.6: Geschichte der Biologiedidaktik
6— 9
Lehrstuhl Prof.em. Dr. rer. nat. Eberhard G. SCHMIDT Universität Essen, FB 9:
Grundvorlesung BIOLOGIEDIDAKTIK, Bearbeitungsstand vom 20.1.2001
Kap.6: Geschichte der Biologiedidaktik
6 — 10
Kennzeichnung von ROßMÄßLER und seiner Epoche:
Konz: Ganzheitliche Betrachtung der Organismen.
Weg von dem philologisch/weltfremden Reden über Natur,
aber auch von der bloß morphologischen Artbeschreibung imSystemkontext
hin zum rationalen Erfassen der Lebenserscheinungen & Lebensweisen
Arbw: Naturbetrachtung
Med:
Popularisierung der Aquarien(technik),
damit der entspr. Beobachtungsmöglichkeit im (Klassen-) Zimmer.
Schautafeln; naturkundliche (Sach-) Bücher (wie Brehms Tierleben)
Einst: Schwärmerische Verklärung der Harmonie der Natur
mit stark emotionalen Anthropomorphismen;
Wecken der Freude an der Natur
Literatur:
DIETRICH, G.: EMIL ADOLF ROßMÄßLER – ein Wegbereiter des fortschrittlichen Biologieunterrichts. BioS 1979:
518-528 (1979).
TROMMER, G.: Natur im Kopf. Die Geschichte ökologisch bedeutsamer Naturvorstellungen in deutschen
Bildungskonzepten. Deutscher Studien Verlag, Weinheim, 2.Aufl. 1993.
6.4 Das ökologische Artkonzept: Lebendiger Biologieunterricht
im Kontext Lebensraum Teich: FRIEDRICH JUNGE, 1885:
Der Dorfteich als Lebensgemeinschaft
6.4.1 Einführung
Einen Markstein der Biologiedidaktik setzte F. JUNGE 1885 mit dem Buch Der Dorfteich
als Lebensgemeinschaft (1885). Den Blickwandel von der Strukturbeschreibung zum
Beziehungsgefüge zeigte schon das bereits zitierte eine Motto des Buches (s.Kap. 7.3).
Die ganzheitliche Sicht als Grundprinzip ist dann in dem anderen Motto des Buches:
„Die Natur ist in jedem Winkel der Erde ein Abglanz des Ganzen“ aufgezeigt worden.
Hierbei folgte er auch wieder ALEXANDER VON HUMBOLDT.
Auch der Lebenslauf JUNGE's ist ein Beispiel für ein besonderes Lehrer-Schicksal:
JUNGE, FRIEDRICH, 1832-1905.
1832 (8.12.)* in Pölitz bei Oldesloe/Holstein, Vater Schuhmacher, starb kurz nach
JUNGE's Geburt, Schule in Oldesloe, Zuverdienst als Präparand.
1851 Seminar (Volksschullehrerausbildung) in Bad Segeberg
mit einem Stipendium Oldesloer Bürger.
1854 Schuldienst an verschiedenen Orten in Holstein, Nebenverdienst durch TrichinenFleischbeschau (dafür hatte er sich ein Mikroskop angeschafft);
Hauslehrer beim Müller im Dorf Hohenfelde (N Selenter See)
mit der Möglichkeit zu ökologischen Studien am Mühlenteich.
1878 Hauptlehrer, später Schulleiter an einer Volksschule
(„Mädchen-Bürgerschule“) in Kiel.
In Kiel Besuch von Lehrerfortbildungskursen an der Universität zur Ökologie
(Biozönose) bei Prof. Dr. MOEBIUS; Umsetzung zu:
1885 „Der Dorfteich als Lebensgemeinschaft“
Lehrstuhl Prof.em. Dr. rer. nat. Eberhard G. SCHMIDT Universität Essen, FB 9:
Grundvorlesung BIOLOGIEDIDAKTIK, Bearbeitungsstand vom 20.1.2001
Kap.6: Geschichte der Biologiedidaktik
6 — 11
1890 2. Auflage; 3. Aufl. posthum 1907.
1905 † am 28.5. in Kiel, 72 Jahre alt.
Literatur:
JUNGE, F.: Der Dorfteich als Lebensgemeinschaft. Lipsius & Tischer, Kiel 1885. Nachdruck (der 3. Aufl. von
1907) mit Vorwort/ Einführung von W.JANßEN, W.RIEDEL & G.TROMMER. Lühr & Dircks, St. PeterOrding 1985.
6.4.2 Das Buch „Der Dorfteich als Lebensgemeinschaft“
Es ist gliedert in:
Teil I: Ziel und Verfahren des naturgeschichtlichen Unterrichts.
Bei aller Akzeptanz der methodischen Grundsätze LÜBEN's (s.o.) wendet sich JUNGE heftig
gegen
die
morphologisch/ systematische
Betrachtungsweise
als
„einem
wissenschaftlichen Apparat, der für die Schule nicht Selbstzweck sein kann“. Für die
biologische Wissenschaft hielt JUNGE die Systematik für unverzichtbar, für die Schule
(S I!) aber für ungeeignet: Systematik sei ein abstraktes Produkt menschlicher Logik,
dessen reale Basis schulisch nicht erfaßbar sei. Schule müsse vielmehr die konkrete,
lebendige Natur mit den Organismen als harmonischer Ganzheit anschaulich nahe
bringen! Die Abstimmung von Gestalt und Lebensweise, ihre Anpassung an den
Lebensraum sollen die Schüler aus der Anschauung heraus verstehen lernen, sie
müssen daher im Mittelpunkt des Biologieunterrichts stehen. Die wissenschaftliche
Trennung der Physiologie und Entwicklungsbiologie von der Morphologie sei
dementsprechend aus schulischer Sicht zu verwerfen, die harmonische Einheit von
Morphologie und „Biologie“ zu betonen.
Hinweis: Diese Problematik ist ist aktuell geblieben. Schulisch ist die BauLeistungs-Verzahungen etabliert, das Hochschulstudium bereitet darauf nicht genügend
vor, selbst die LPO trennt die Morphologie (Teilgebiete B1, C1 für SII) von der Physiologie
(B2, C2) als alternatv zu studierende Teilgebiete! Die Richtlinien S I im Gymnasium NRW
betonen wieder systematische Einordnungen (Schwerpunkt Wirbeltiere), ohne jedoch die
Prinzipien des Natürlichen Systems dabei verständlich zu machen!
Eine Reihe ökologischer Zusammenhänge wurde von JUNGE (in Anlehnung an
LUDWIG KARL SCHMARDA (1853, 1877; vgl. TROMMER in JUNGE 1885/1985) als „Gesetze“
formuliert. Sie sollten den theoretischen Hintergrund für die „biologische“
Betrachtungsweise bilden und daher im Unterricht an Beispielen erarbeitet werden
(s.u.).
Angefügt wurde eine Reihe didaktisch/ methodischer Handreichungen für einen
lebendigen Biologieunterricht, der Beobachtungen in der freien Natur mit
Untersuchungen und einfachen, aber schlüssigen Experimenten (zumeist an
Wassertieren im Aquarium) im Klassenraum verbindet. Den Abschluß bildete ein
Stoffplan für eine Kieler „Mädchen-Bürgerschule“.
Lehrstuhl Prof.em. Dr. rer. nat. Eberhard G. SCHMIDT Universität Essen, FB 9:
Grundvorlesung BIOLOGIEDIDAKTIK, Bearbeitungsstand vom 20.1.2001
Kap.6: Geschichte der Biologiedidaktik
6 — 12
Teil II: Der Dorfteich als Lebensgemeinschaft.
Im einleitenden Kapitel „Zur Orientierung für den Lehrer“ und „ein Jahresbild seines
Lebens“ beschreibt JUNGE anschaulich einen norddeutschen Mühlenteich (in
Ostholstein, O Kiel) mit seiner Vegetation und den Nutzungen. Es folgen unter „II. Die
Glieder“ Artmonographien von Tieren [beginnend mit 1. der Stockente, 2. dem
Gelbrandkäfer und weiteren Wasserkäfern, 5. der (Rauch-) Schwalbe, 6. dem
Wasserfrosch bis zu 21. „der braune Armpolyp“ Hydra und einem „Rückblick auf das
Tierreich“] und von Pflanzen [von 1. der Weide und 2. der Erle bis zu 18. Wasserfäden
(Fadenalgen) und 19. der Vielwurzligen Wasserlinse sowie dem Rückblick auf das
Pflanzenreich] in didaktischer (nicht in systematischer) Anordnung. Unter „3. Das
Nichtorganisierte“ sind die abiotischen Komponenten Wasser und Teichgrund, wieder mit
einem Rückblick abgehandelt. Ein „allgemeiner Rückblick auf das Ganze“ bildet den
Schluß.  In einem Anhang sind einige Erzählungen über Teicharten (als belebende
Einschübe für den Unterricht), Kurspläne und als Teil III „Aquarium“ eine Bauanleitung
(Geld war knapp, es gab damals auch noch keinen Fachhandel auf dem Lande!) mit
Hinweisen zur Pflege des (Heimat-) Aquariums und zum Fang von Tieren dafür angefügt.
Diskussion: Teil I liefert somit die didaktisch/ methodische Grundlegung für JUNGE's
Konzept, also die Zielvorstellungen, die Kriterien der Stoffauswahl und der biologischen
Arbeitsweisen nebst methodischen Handreichungen. Teil I ist damit als JUNGE's Didaktik
des Biologieunterrichts anzusehen. Teil II gibt einen detaillierten Stoffplan mit den
Schlüsselfragen für das schrittweise Erarbeiten am Objekt und mit Versuchsanleitungen
für die experimentelle Kontrolle, damit zugleich die Unterrichtsgliederung. Teil II könnte
auch als Arbeitsbuch für die Hand des Schülers eingesetzt werden.
Die strikte Ablehnung der systematischen Anordnung (in Teil I) ist nicht nur von
der Sachlogik des ökologischen Artkonzeptes geboten, sie soll sicherlich auch den
Paradigmawechsel hervorheben; überdies ist das Unterrichtskonzept auf die
Sekundarstufe I (in heutiger Sprechweise, insbesondere auf die Haupt- und Realschule)
ausgerichtet. Teil II ist allerdings nur für denjenigen, der ebenfalls über eine breite
biologische Felderfahrung verfügt, Aquarientechnik und die Unterrichtspraxis zur
Materie beherrscht, voll verständlich. Dieser Teil ist dementsprechend in den
Diskussionen oft verkannt worden (vgl. Kap. 6.6).
6.4.3 Die „Gesetze“
Die "Gesetze" hatten in der didaktischen Diskussion besondere Aufmerksamkeit
gefunden. Sie werden daher hier vorgestellt (die Wortwahl wurde dabei etwas verändert):
1. Das Gesetz der Erhaltungsmäßigkeit: Aufenthalt, Lebensweise und Einrichtung
entsprechen einander. Das wird beim Biotopwechsel in der Ontogenie besonders deutlich
(vgl. Fig. 29, 30/ S. 118, 120: Stechmücke mit Entwicklung; Fig. 40, 41/ S. 134: Larven
& Imago einer Eintagsfliege; Fig. 35, 36 /S. 126, 128: Libellen in verschiedenen Stadien).
Lehrstuhl Prof.em. Dr. rer. nat. Eberhard G. SCHMIDT Universität Essen, FB 9:
Grundvorlesung BIOLOGIEDIDAKTIK, Bearbeitungsstand vom 20.1.2001
Kap.6: Geschichte der Biologiedidaktik
6 — 13
2. Das Gesetz der organischen Harmonie: Jedes Wesen ist ein Glied des Ganzen: Das
entspricht dem Gesetz 1, auf Lebensgemeinschaften angewandt. JUNGE hat dabei
maßgeblich die Nahrungsbeziehungen im Blick.
3. Das Gesetz der Anpassung: Lebensweise und Gestalt passen sich bis zu einem
gewissen Grade veränderten Verhältnissen an Das wird beim Wechsel von Wasser- und
Landformen von Uferpflanzen deutlich (vgl. Wasserknöterich Fig. 69, 70/ S. 197, 198;
Heterophyllie beim Wasserhahnenfuß Fig. 56/ S. 184 [Landform nicht abgebildet, aber
genannt]. Anzuführen wäre aber auch der Gestaltswechsel von der festsitzenden
Uferstaude zum Flugsamen als Verbreitungsorgan oder die Erle mit Windpollen und
Flug-/Schwimmsamen (vgl. Zottiges Weidenröschen Fig. 83, 84/ S. 220, 221; Erle
Fig. 54/ S. 179 sowie z.B. die Überwinterung bei Laubbäumen mit herbstlichem
Laubfall, der winterliche Rückzug in Dauerstadien wie Samen bei anuellen Pflanzen, in
Dauereier bei Wasserflöhen oder Winterschlaf bzw. Wegzug bei Warmblütlern).
4. Das Gesetz der arbeitsteiligen Differenzierung der Organe (als Voraussetzung für
höhere Leistungsfähigkeit).
5. Das Gesetz der Entwicklung (aus einfachen Stadien im Sinne der Ontogenie); das
Gesetz der Gestaltenbildung (Gestaltungsgesetz), d.h. der Wechselwirkungen zwischen
den Organen bei der Ontogenie.
6. Das Gestaltungsgesetz Die vorhandenen Teile üben auf die hinzukommenden einen
Einfluß aus, so daß ein Körper von einer bestimmten Form entsteht („Warum entsteht
aus dem Ei eines Frosches nicht ein Salamander?“).
7. Das Zusammenhangsgesetz Die einzelnen Organe sind von der Gesamtheit und von
einander abhängig (vgl. die Stärke der Flugmuskulatur und die Höhe des
Brustbeinkammes bei Vögeln).
8. Das Gesetz der Sparsamkeit (Flügel in der Insektenpuppe; je sorgfältiger die
Brutpflege, desto geringer die Zahl von Eiern, vgl. Karpfen mit Stichling ).
Hinweis: Die Gesetze 1-3 entsprechen Bedingungen der Lebensstrategien, d.h. der
Realisierung des ökologischen Potentials an einem konkreten Ort, zu einem konkreten
Zeitpunkt unter konkreten Bedingungen und damit der ökologischen Nische, die
anderen der Lebensform als ökologischem Artmerkmal bzw. evolutivem Erbe der Art (vgl.
SCHMIDT 1991).
Die Herleitung der Gesetze im Unterricht ist (am Beispiel von Gesetz 3 /Anpassung
an den Lebensraum) in dem Vorwort (zur 3. Aufl., S. XIII, vgl. JUNGE 1885/ 1995)
beschrieben worden:
„Im Aquarium wird gerade ein Gelbrandkäfer gehalten. Ein Kind bringt zufällig einen
Gartenlaufkäfer mit zur Schule. Nun werden beide in ein Glasgefäß gesetzt,
herumgezeigt, beide als Käfer erkannt und in ihren Bewegungen auf dem trockenen
Boden verglichen. Dann wird der Laufkäfer für einen Augenblick mit dem Gelbrand ins
Wasser des Aquariums geworfen, wieder werden die Bewegungen verglichen. Dann fällt
einem 10jährigen Kinde, auch wenn es sonst noch keinen biologischen Unterricht
erhalten hat, sofort auf, daß die Hinter- & Mittelbeine des Gelbrandes zum Wasser
passen, aber nicht für das Trockene, die des Laufkäfers umgekehrt fürs Land, aber nicht
fürs Wasser."
Lehrstuhl Prof.em. Dr. rer. nat. Eberhard G. SCHMIDT Universität Essen, FB 9:
Grundvorlesung BIOLOGIEDIDAKTIK, Bearbeitungsstand vom 20.1.2001
Kap.6: Geschichte der Biologiedidaktik
6 — 14
Dieser Zusammenhang von Gestalt, Lebensweise & Lebensraum soll dann bei jedem
Tier, das danach behandelt wird, überprüft werden. Nach dem Prinzip des induktiven
Verfahrens wird so von selbst aus der anfänglichen Hypothese eine Gesetzmäßigkeit
(hier Nr. 3). Damit wird die Mannigfaltigkeit der biologisch/ ökologischen
Zusammenhänge auf Artniveau, die „biologische“ Sicht der Arten, in schulisch
umsetzbarer
Form
zu
allgemeineren
Aussagen
abstrahiert.
Eine
solche
Verallgemeinerung
entspricht
dem
Wesen
von
Wissenschaft,
damit
der
Wissenschaftspropädeutik im Biologieunterricht. An dem didaktischen Stellenwert dieser
Gesetze entzündete sich dann eine heftige Diskussion mit z.T. harscher Kritik am
JUNGEschen Konzept. Mit seinem ökologischen Artkonzept und der Verallgemeinerung zu
ökologischen Regeln war JUNGE der Wissenschaft seiner Zeit voraus, manches ist
inzwischen zu relativieren. Bei der Untersuchung eines komplexen Gegenstandes (wie
der Teichökologie) kristallisieren sich oft zunächst faszinierende Gesetzmäßigkeiten
heraus, die mit fortschreitender Kenntnis verschwimmen. Die Problematik von Gesetzen
in der Ökologie ist überdies bis heute noch nicht gelöst, angesichts der „Chaos“-Struktur
von Ökosystemen Ausdruck eines prinzipiellen Dilemmas (Kap. 2.8). So sollten diese
„Gesetze“ JUNGE's nicht zu eng gesehen und auch nicht dem insgesamt weitsichtigen
Konzept von JUNGE angelastet werden. JUNGE hatte selbst auch schon betont, daß diese
Gesetze bei Lebewesen nicht immer einfach zu erkennen, also zu relativieren sind (JUNGE
1885/ 1985: S. 13 oben). Vordergründig ist es überdies, die „Gesetze“ (wie in der
„Kampfschrift“ von SCHMEIL 1896/ 1905: Kap. 6.5.2) nur deshalb als sachlich falsch zu
verwerfen, weil sie nicht so absolut gelten wie z.B. die Gesetze der Mechanik. JUNGE's
Söhne ADOLF & OTTO nahmen dazu im Vorwort der 3. Auflage 1907, also zwei Jahre nach
JUNGE's Tod, als Herausgeber Stellung. Man spürt, daß sie die Kritik (insbesondere in
der „Kampfschrift“ von SCHMEIL 1896) als überzogen, z.T. als absurd ansahen und damit
als schmerzlich empfanden.
Als Unterschied zu der damals gängigen evolutiv/ systematischen Sicht auf der
Grundlage der (vergleichenden) Morphologie hob JUNGE hervor, daß hier die Merkmale
auch für Schüler faszinierend und die Prinzipien plausibel sein sollen. Das begründete
für ihn den hohen Bildungswert seines Ansatzes und die Opposition gegen den
morphologisch/ systematischen bei LÜBEN & LEUNIS.
JUNGE'S Verdienste um die Formulierung und didaktische Umsetzung eines noch
heute gültigen ökologischen Artkonzeptes darf das einstige Gerangel um die „Gesetze“
nicht schmälern, wie letztlich auch SCHMEIL schon in der genannten „Kampfschrift“
hervorhebt. Wir sollten sie als Zeiterscheinung abtun. So manchem unserer heutigen
Zeitgenossen in Schule und auch in der Hochschule ist JUNGE auch so immer noch
voraus.
Literatur
SCHMEIL, O.: Über die Reformbestrebungen auf dem Gebiete des naturgeschichtlichen Unterrichts. Nägele,
Stuttgart 1896, 7.Aufl. 1905, 11.Aufl. 1913.
Lehrstuhl Prof.em. Dr. rer. nat. Eberhard G. SCHMIDT Universität Essen, FB 9:
Grundvorlesung BIOLOGIEDIDAKTIK, Bearbeitungsstand vom 20.1.2001
Kap.6: Geschichte der Biologiedidaktik
6 — 15
6.4.4 Bezugspunkt Lebensgemeinschaft oder Biocoenose
Den Begriff der „Lebensgemeinschaft oder Biocoenose“ hatte der Kieler Ordinarius für
Zoologie, MOEBIUS, 1877 am Beispiel der Austernbank hergeleitet, und zwar nach
Freilandstudien vor Sylt (wo die Auster wie auch sonst an der deutschen Nordseeküste
seit einem ¾ Jahrhundert ausgestorben und nur noch mit den leeren Schalen am
Strand präsent ist, aber zunehmend durch einen Einwanderer #### ersetzt wird).
MOEBIUS war vor seiner Berufung nach Kiel Gymnasiallehrer in Altona (damals zu
Holstein gehörig, heute Ortsteil von Hamburg, „der mit der Reeperbahn“) gewesen. Er
hatte seine ökologischen Innovationen auf Fortbildungsveranstaltungen interessierten
Lehrern und damit auch JUNGE praktisch vorgeführt. JUNGE hatte sie dann innovativ auf
den Teich übertragen, noch bevor die Gewässerökologie, die Limnologie, sich als
eigenständige Wissenschaft etabliert hatte (vgl. SCHMIDT 1996). Dabei hatte JUNGE
offenbar die Indivualität und die Dynamik, die spezifische Veränderung durch den
Menschen eines jeden Ökosystems erkannt. So hat er einen ganz konkreten MühlenTeich (an der Mühlenau in Hohenfelde, N Selenter See) anschaulich beschrieben,
Eingriffe wie die Viehtränke oder das Absenken des Wasserspiegels beim Mühlenbetrieb
genannt. Das eigentliche Beziehungsgefüge (vgl. Abb. ##, Kap. 4.8.5.6) blieb dabei
allerdings eher vage, (so fehlte z.B. eine Korrelation von Ufervegetation mit den
genannten Nutzungen, wäre auch der Zeit um fast ein Jahrhundert voraus gewesen).
Das zeigte sich schon an dem Begriff „Dorfteich“ für einen am Rande des (Straßen-)
Dorfes liegenden Bachstau, dem Mühlenteich, mit Eingriffen in die Wasserführung
durch die Nutzung. Dorfteich i.e.S. war zu jener Zeit der Feuerlöschteich im Dorfanger
mit einem völlig anderen ökologischen Beziehungsgefüge (wie SCHMEIL in seinen
Lebenserinnerungen ohne direkten Bezug zu JUNGE ausführt: SCHMEIL & SEYBOLD 1986).
Das Titelbild des Buches (in der Ausgabe von 1985, auch auf S. 010) zeigt übrigens
wieder einen völlig anderen Teichtyp, nämlich einen Hofteich als Bacherweiterung.
In den heutigen Biologiedidaktiken (wie EKR 1993*:13/ Abb.2-1) wird JUNGE
üblicherweise mit dem Etikett „(syn-) ökologische Betrachtungsweise“ versehen und von
der „funktionsmorphologischen Betrachtungsweise“ SCHMEIL's abgehoben. Das orientiert
sich vordergründig am Begriff „Lebensgemeinschaft“ im Buchtitel und trifft den Kern
nicht. JUNGE's bleibendes Verdienst liegt vielmehr in der Innovation einer konsequent
funktionalen (damit funktionsmorphologischen), d.h. ökologischen Artbeschreibung die
aus dem Kontext eines ausgewählten Lebensraumes als Anpassung/ Angepaßtheit
plausibel und am konkreten Objekt nachprüfbar ist.
Literatur
SCHMEIL, O.: Über die Reformbestrebungen auf dem Gebiete des naturgeschichtlichen Unterrichts. Nägele,
Stuttgart 1896, 7.Aufl. 1905, 11.Aufl. 1913.
SCHMEIL, O. & A.SEYBOLD: Leben und Werk eines Biologen. ### Lebenserinnerungen. Quelle & Meyer,
Heidelberg 1954, 2.Aufl. 1986.
SCHMIDT, E.: Ökosystem See. Bd. I: Der Uferbereich des Sees. Biologische Arbeitsbücher 12.1. Quelle &
Meyer, Wiesbaden (1974), 5. Aufl. 1996.
Lehrstuhl Prof.em. Dr. rer. nat. Eberhard G. SCHMIDT Universität Essen, FB 9:
Grundvorlesung BIOLOGIEDIDAKTIK, Bearbeitungsstand vom 20.1.2001
Kap.6: Geschichte der Biologiedidaktik
6 — 16
6.4.5 Das ökologische Artkonzept bei Junge
Die Grundeinheiten oder Elemente eines Ökosystems sind die involvierten Arten. Das
Beziehungsgefüge im Ökosystem wird von dem ökologischen Potential dieser Arten und
von ihrem Einsatz, den Lebensstrategien, bestimmt. Damit ergibt sich ein funktionales
Ordnungsraster für eine ökologische Artbeschreibung, das völlig verschieden von dem
für eine systematische Artbeschreibung ist (vgl. KINNE 1984, SCHMIDT 1991, 1992, 1996).
Das bleibende Verdienst von JUNGE liegt für mich in der praktikablen Herleitung
eines solchen funktionalen oder ökologischen Artkonzeptes. Es ist ihm für die Tiere
trefflich gelungen, während die Pflanzen vor allem unter dem Aspekt der
Fortpflanzungsbiologie gesehen wurden (was angesichts des geringen Kenntnisstandes
zur Standortökologie zu seiner Zeit und des mehr phänomenologischen Arbeitens in der
Schule auch beachtlich ist).
JUNGE's ökologisches Frageraster der Artmonographien der Tiere wurde nicht starr
angewendet, sondern dem jeweiligen Objekt angepaßt. Einige Beispiel sollen das
veranschaulichen (direkt aus dem Text von JUNGE übernommene Passagen in kursiv).
1. Die Ente (Anas boschas) [JUNGE 1885/ 1995: 50ff.]:
1. Aufenthalt und Körperform nebst Bedeutung.
Mit Fragen wie Kälteschutz der Füße („wenig Blut“), Wärme-Isolation durch das
Federkleid: Bau der Feder und des Gefieders, Fettschicht  Enten-: Hühnerbraten,
Vergleich mit dem Frieren von mageren & fetten Menschen, Nässeschutz durch
Unbenetzbarkeit des Gefieders/ Einfetten, Auftrieb durch Lufträume im Gefieder,
aber auch (wie bei allen Vögeln) im Rumpf & Knochen ( Luftsäcke der Vogellunge).
2. Bewegungen.
Ruderfuß beim Schwimmen, hinten angesetzt  Watscheln auf dem Land (Vergleich
mit Storch, Hahn): Anpassung an das Leben auf dem Wasser.
3. Nahrung (und Aufenthalt)
„Schnabbelt Entenflott“ (Wasserlinsen) mit Kleintieren, Gründeln. Seihschnabel mit
Tastsinn: Wieder Anpassung an das Wasserleben. Aber auch Fressen an Land,
ausgenutzt zur Schneckenvernichtung im Garten, aber mit Vertritt- und
Fraßschaden an den Erbsen.
4. Ihre Häuslichkeit (Fortpflanzung)
Nest im Stall, Wärmen der Eier, Schlüpfen, Bau & Entwicklung des Eies. Ausbrüten
von Enteneiern durch Glucken (große, brutfreudige Hennen) ergibt Entenkücken
(trotz der Adoption: Beleg für die Vererbung von Artmerkmalen), die Kücken aus
Wildenteneiern sind scheuer (erbliche Veränderung bei der Domestifikation); dazu
ein Textbeispiel (S. 59):
„Und wie diese ihre Abstammung von wilden Enten nicht verleugnen können, so
können die Enten überhaupt ihre Abstammung nicht verleugnen. Sind Enten von
einer Henne ausgebrütet, so gehen sie ganz wohlgemut auf den Teich, mag die
Henne noch so besorgt ihr „Gluck, gluck“ rufen und bis an den Bauch ins Wasser
gehen – sie kümmern sich nicht darum, sie fühlen sich wohl auf dem Wasser,
obgleich sie den Teich zu ersten Mal sehen, während die alte Henne ihn kennt, sich
aber demselben nicht anvertraut."
Lehrstuhl Prof.em. Dr. rer. nat. Eberhard G. SCHMIDT Universität Essen, FB 9:
Grundvorlesung BIOLOGIEDIDAKTIK, Bearbeitungsstand vom 20.1.2001
Kap.6: Geschichte der Biologiedidaktik
6 — 17
Hinweis: Hinter diesem Beispiel steckt das Phänomen der Prägung, genauer der
Nachlaufprägung der Entenkücken auf die „Mutter“. Es wurde für die Wissenschaft von
KONRAD LORENZ erschlossen (LORENZ 1978 sowie IMMELMANN et al. 1996). LORENZ war
durch seine Beobachtungen beim Schlüpfen eines künstlich erbrüteten Grauganseies
und der Nachfolgereaktionen des Kückens darauf gestoßen (sehr anschauliche,
kindgemäße Beschreibung in LORENZ 1949/ 1952). Dabei hatte er die 10 Eier bis zum
vorletzten Tag von einer Pute ausbrüten lassen, kannte also sicher die Nachlaufprägung
auf die Hühnervogel-(Adoptiv-) Mutter schon von der Anwendung auf dem Hühnerhof
her (damit aber in einem anderen Kontext, d.h. in einer anderen „Schublade“)!
Rückblick Ente [JUNGE 1885/1995: 60]:
1. Körperform und Bedeckung passen zu dem Leben auf dem Wasser.
2. Die Füße sind geeignet zum Schwimmen, passen also auch zum Leben auf dem Wasser.
3. Die Einrichtung des Schnabels ermöglicht ein Finden der Nahrung im Wasser, der
Schnabel paßt also auch zu ihrem Wasserleben.
4. Selbst die jungen Enten zeigen Neigung zum Wasserleben.
Also ist die Ente ein rechter Wasservogel.
Denken wir uns einmal, die Ente hätte ein Kleid aus Wolle, wie das Schaf - was wäre
die Folge, wenn sie einmal untertauchte? Oder sie hätte die Füße einer Henne? Oder
den Schnabel einer Taube?
Ihre Einrichtung (Organisation) paßt z u ihrem Wasserleben.
5. Die Ente als Glied eines Ganzen [JUNGE 1885/ 1995: 61ff.].
a) Ihre Verwandtschaft.
Vergleich mit der Gans („andere“ Nahrung nicht spezifiziert, heute sagen wir: die
Graugans weidet mehr im Grünland und hat, dazu passend, einen Rupfschnabel im
Gegensatz zum Seihschnabel der Stockente und, noch mehr spezialisiert, der
Löffelente). Heute würden wir mit dem Schwan vergleichen.
b) Ihre Abhängigkeit
Hinweis auf den Zug der (nordischen) Wildenten & -gänse, V-Flugformation dabei.
c) Ihr Dienst
Verwertung der Ente: Freßfeinde in der Natur, Verwertung von Eiern, Federn und
Fleisch durch den Menschen. Analogie zur Nahrungsaufnahme der Ente.
Variationen der Gliederung: Bei „2. Gelbrand“ und z.B. „6. Der Grüne Waserfrosch“ ist
als „4. die Atmung“ eingefügt, unter Abhängigkeit sind beim Gelbrand das Verlassen des
Gewässers bei Nahrungs- und „Wassermangel“ (Austrocknung des Gewässers), die
Bedeutung der Vegetation als Zufluchtsraum und die Bedeutung der Temperatur für die
Entwicklung (sgeschwindigkeit) angemerkt. Beim Wasserfrosch „gehört die Stimme, der
Gesang, ebenso zur Frühlingsnacht wie das Lied der Nachtigall (BREHM)“; ausführlich wird
auf die Überwinterung unter Wasser mit Verifikation durch Beboachtung in einem
Aquarium am kalten Fenster eingegangen [JUNGE 1885/1995, S. 62ff. bzw. 88ff.].
Lehrstuhl Prof.em. Dr. rer. nat. Eberhard G. SCHMIDT Universität Essen, FB 9:
Grundvorlesung BIOLOGIEDIDAKTIK, Bearbeitungsstand vom 20.1.2001
Kap.6: Geschichte der Biologiedidaktik
6 — 18
Bei 10. Wasserschnecke (Große Schlammschnecke Limnaeus stagnalis) ist die
Gliederung umgestellt zu [JUNGE 1885/ 1995: 111ff.]:
1. Aufenthalt & Bewegung (einschließlich des Kriechens an der Wasseroberfläche)
2. Bewegungsorgane
(mit Angaben von Beobachtungsaufgaben/ Versuchen zur wellenförmigen
Muskelbewegung im Fuß, dem Nachweis des Schleimbandes, zur Bedeutung der
Oberflächenspannung)
3. Das Gehäuse (mit Kalknachweis)
4. Nahrung & Ernährungsorgane
(mit Details zum Abweiden des Aufwuchses und zur Radula, Abb.)
5. Sinneswerkzeuge
6. Atmung (Luftatmung/ Atemhöhle  Blut)
7. Die Entwicklung
8. Die Schnecke als Glied des Ganzen
Feinde, Ausgleich über Gelegegröße, Verwandte
Dieses ökologische Frageraster von JUNGE's Tiermonographien ist (etwas umgestellt) als
Grundmuster eines ökologischen Artkonzeptes wieder didaktisch aktuell geworden (vgl.
SCHMIDT 1991). Es bildet die Grundlage für das Verständnis des Beziehungsgefüges im
Ökosystem, also der Systemökologie im heutigen Sinne.
Literatur
IMMELMANN, K., E.PRÖVE & R.SOSSINKA: Einführung in die Verhaltensforschung. Pareys Studientexte 13.
Blackwell Wissenschaft, Berlin, 4.Aufl. 1996.
KINNE, O.: Ökologie – Brennpunkt biologischer Forschung und Schicksalsfrage für die Menschheit. S. 24-37
in PETERS, G. (Hrsg.'): Karl Ritter v. Frisch-Medaille: Wissenschaftspreis 1984 der Dtsch. Zoolog. Ges.
[DZG]. Beih.zu Verh.ber. DZG Bd. 77. Fischer, Stuttgart 1984.
LORENZ, K.: Tiergeschichten. Er redete mit dem Vieh, den Vögeln und den Fischen. Borotha-Schoeler, Wien
1949, 6.-8. Aufl. 1952.
LORENZ, K.: Vergleichende Verhaltensforschung. Grundlagen der Ethologie. Springer, Wien 1978.
SCHMIDT, E.: Umdenken beim Ökosystemverständnis. Ökosystemanalyse am praktischen Beispiel nach dem
Lebensform-/ Nischenkonzept. S. 1-7 in: GERHARDT-DIRCKSEN & SCHMIDT (Hrsg.): Ökosystem
Stadtteich. Themenheft PdB 40 (6). Aulis/ Deubner, Köln 1991.
SCHMIDT, E.: Das ökologische Artkonzept (Nischenkonzept) für das Ökosystemverständnis unter
angewandten Aspekten. Faun.-Ökol. Mitt (Kiel) 6: 335-341 (1992).
SCHMIDT, E.: Ökosystem See. Bd. I: Der Uferbereich des Sees. Biologische Arbeitsbücher 12.1. Quelle &
Meyer, Wiesbaden 1974, 5. Aufl. 1996.
6.4.6 Die Freilandarbeit bei JUNGE
Die Umsetzung des ökologischen Artkonzeptes beginnt im Gelände. Hier stellen die
Dynamik des Jahresganges und die Besonderheiten eines jeden Jahres hohe
Anforderungen an den Lehrer. Er muß sich ständig auf dem Laufenden halten, um die
Freilandarbeit zu optimieren. Dazu gehören (Teil I, S. 15-17):
1) Ein Plan zum Unterichtsvorhaben schon 1 Jahr im voraus, dabei Auswahl einer
übersichtlichen, den Kindern zugänglichen Lebensgemeinschaft
2) Vermittlung eines Gesamteindruckes bei den Schülern:
„Dabei werden Blumen gepflückt und benannt, Tiere beobachtet und benannt,
vielleicht wird auch gespielt (mit Gelegenheits-Beobachtungen). Der dabei gewonnene
Lehrstuhl Prof.em. Dr. rer. nat. Eberhard G. SCHMIDT Universität Essen, FB 9:
Grundvorlesung BIOLOGIEDIDAKTIK, Bearbeitungsstand vom 20.1.2001
Kap.6: Geschichte der Biologiedidaktik
6 — 19
Totaleindruck von der Lebensgemeinschaft und ihren Gliedern wird mit einfachen
Worten zum Ausdruck gebracht“ (S. 15 Mitte).
6.4.7 Die Kursplanung
Kriterien der Kursplanung sind:
1) Auswahl der Objekte nach
- dem Interesse bei der Freilandarbeit,
- dem zu erwartenden Interesse durch die Behandlung im Unterricht,
- dem Wert für das Kursziel.
2) Der Zeitplan
Dabei spricht sich JUNGE für den Bezug zur Jahreszeit aus, auch wenn dann
verschiedene Phänomene derselben Art zu verschiedenen Zeiten im Untericht zu
behandeln sind. Er verweist auf die Lebensnähe dieses Vorgehens.
3) Umfang der Vertiefung (S.22):
Sie soll sich nach einem besonderen Interesse der Schüler, nach der Bedeutung für
den Menschen und für die Lebensgemeinschaft, nach Besonderheiten in der
Lebensweise etc., aber auch nach der Fassungskraft der Schüler und den
Möglichkeiten der Veranschaulichung richten, wobei die ästhetische Seite mit zu
beachten ist.
6.4.8 Das Beobachten als Arbeitsweise bei JUNGE
Hierzu sei JUNGE (1885/1995 T. I, S. 16ff., veränd.) selbst zitiert:
„Eine genaue Beobachtung bilde die Grundlage des Unterrichts, er ist nur nach der
lebendigen Natur zu erteilen. Dazu muß der Lehrer selbst beobachten, die Standorte der für
den Unterricht relevanten Pflanzen und ihre Entwicklung im Jahresgang gut kennen, sie
ggf. kultivieren und vielfältige Versuche anstellen. Dazu macht der Lehrer öfter, zumindest
alle Woche einmal die Runde, wobei sich vieles mit dem Spazierengehen und Ausruhen
dabei verbinden läßt. Wer aber diese Mühe scheut, wird nicht eine Lebensgemeinschaft wie
den Dorfteich behandeln können; denn die Bücher lassen uns da vollständig im Stich.
Selbst in Monographien müssen wir uns erst durch einen Schwall wissenschaftlicher
Erörterungen hindurcharbeiten, bis wir ein Körnchen für uns finden. Ein Unterricht, der sich
auf die eigene Erfahrung stützt, ist aber unvergleichlich mit dem nach dem Buch. Darum,
frisch ans Werk, Ihr Kollegen! Selbst ihr, die ihr nicht viel Biologie auf demSeminar gelernt
habt, die das „unnütze Heusammeln“ anwiderte, könnt doch beobachten, könnt doch
denkend die Tatsachen verknüpfen, könnt beim Landmann, beim Fischer etc. für manche
Sachen Licht erhalten".
„Der Lehrer halte die Kinder zu genauem Beobachten an. Er mache sie auf die
Phänomene aufmerksam oder stelle mit ihnen gemeinsam Versuche an. Material bringt der
Lehrer mit in die Schule, auch die Kinder bringen etwas mit. Doch darf der Unterricht nicht
davon abhängen!“
„Alle Beobachtungen werden kurz notiert. Sie werden in kurzen Sätzen klar
ausgesprochen. Immer aber werden die Beobachtungen und die Schlußfolgerungen scharf
auseinander gehalten. Das dient der Objektivität und der Allgemeinbildung des Kindes,
denn diese Scheidung von Sehen und Meinen wendet es dann auch auf anderen Gebieten
an.“
Lehrstuhl Prof.em. Dr. rer. nat. Eberhard G. SCHMIDT Universität Essen, FB 9:
Grundvorlesung BIOLOGIEDIDAKTIK, Bearbeitungsstand vom 20.1.2001
Kap.6: Geschichte der Biologiedidaktik
6 — 20
„Daß die Kinder nicht bloß die Organe, sondern auch deren Tätigkeit betrachten
sollen, sei zum Schluß noch ausdrücklich hervorgehoben“.
Diese Ausführungen zum Beobachten im Biologieunterricht belegen die Aktualität
von JUNGE!
Lehrstuhl Prof.em. Dr. rer. nat. Eberhard G. SCHMIDT Universität Essen, FB 9:
Grundvorlesung BIOLOGIEDIDAKTIK, Bearbeitungsstand vom 20.1.2001
Kap.6: Geschichte der Biologiedidaktik
6 — 21
6.4.9 Das Experimentieren als Arbeitsweise bei JUNGE
Als Beispiel für einfache Experimente im Klassenraum sei gewählt (JUNGE 1885/1995
T. II, S. 64, 65):
2. Der Gelbrand (Dytiscus marginalis). 3. Nahrung und Ernährungsorgane.
Versuch zur Nahrungswahl : „Halten wir ihn [den Gelbrandkäfer] in einem Glashafen
[Aquarium], in welchen wir etwa einen Stein, oder eine Blume oder dgl. gestellt haben. Wir
werfen unserm Käfer einige Brotkrumen in sein klares Wassergefäß. Er arbeitet am Grunde
umher, wühlt alles auf, verzehrt aber nichts, auch nichts von dem Kraut (Wasserfäden,
Wasserlinsen etc.) in dem Wasser. Werfen wir ein Körnchen frisches Fisch- oder Rindfleisch
hinein – sogleich hat er es gefaßt. Er genießt Fleischnahrung, nährt sich von
Wasserjungferlarven und andern kleinen Wassertieren, von toten Fischen, selbst lebende
Fische geht er an, in Fischteichen ist er deshalb nicht gern gesehen.“
Formen wir diesen Versuch in das heute übliche Schema (Kap. 5.1.8) um:
Material & Gerät: Gelbrandkäfer; Kleinaquarien (etwa 1-2 l; je eines für 2-4 Schüler) mit
abgestandenem Wasser, Kiesgrund und einem Büschel Wasserpflanzen (als
Refugium). Ein Stückchen Brot, ein Stückchen frisches (Fisch-) Fleisch (etwa 10 g).
Versuchsvorbereitung und -ansatz: Die Gelbrandkäfer werden vor der
Unterrichtsstunde in das Aquarium gesetzt. In der Stunde werden die Aquarien
ausgeteilt, die diesem Versuch vorangehenden Beobachtungen durchgeführt.
Frage: Wovon ernährt sich der Gelbrandkäfer?
Versuchsdurchführung: Die Schüler werfen einen Brotkrümel in das Wasser.
Beobachtung: Er wird vom Käfer (ebenso wie die Wasserpflanze) nicht beachtet.
Hypothese: Der Käfer ist Fleischfresser.
Neuer Versuch: Ein Fleischstückchen wird in das Aquarium geworfen.
Beobachtung: Der Käfer stürzt sich sogleich auf das Fleischstückchen und frißt es.
Deutung: Der Käfer ist Fleischfresser. Er nährt sich (z.B.) von toten Fischen.
Transfer auf allgemeinere Zusammenhänge: Der Käfer nährt sich von Kleintieren im
Wasser, selbst lebende Fische geht er an, in Fischteichen ist er deshalb nicht gern
gesehen.
Anmerkung: Dieser Transfer knüpft an gängige Meinungen an, geht aber über das
Versuchsergebnis hinaus, nachgewiesen wurde nur die Eigenschaft als Aasfresser
(„Gesundheitspolizei“). Für die weitergehende Aussage hätte der Käfer in einem
größeren Aquarium mit lebenden Kleinfischen zusammengesetz werden müssen.
Diese überleben aber in der Regel (SCHMIDT 1996). Richtig ist die Deutung, daß der
Käfer Aas gezielt aufsucht, lebende Tiere aber nur bei Verletzung (Duftspur aus der
Wunde) oder bei direktem Kontakt angeht.
Hinweis: Dieser Zusammenhang wird eigentlich von JUNGE selbst unter dem Stichwort
(sinngemäß) „Entfernen aus dem Fischteich“ angesprochen (S. 69):
„...er schadet uns, sofern er, und besonders seine Larve, den Fischen im Teich, die wir
für uns haben wollen, nachstellt. Deshalb töten wir lieber ihn selbst (wie?), nachdem wir
ihn nach totem Fleisch hingelockt und mit einem Kätscher gefangen haben“.
 Anwendung: Zum Fang von Gelbrandkäfern im Fischteich kann man die Käfer mit
einem Stückchen frischen Fleisches anlocken (S. 69).
Lehrstuhl Prof.em. Dr. rer. nat. Eberhard G. SCHMIDT Universität Essen, FB 9:
Grundvorlesung BIOLOGIEDIDAKTIK, Bearbeitungsstand vom 20.1.2001
Kap.6: Geschichte der Biologiedidaktik
6 — 22
Versuch zur Beuteortung (S. 65):
„Füttern wir ihn noch einmal, um zu beobachten, wie er seine Nahrung entdeckt:
Er liegt ruhig an der Oberfläche.
Ich bringe auf einer Messerspitze etwas geschabtes Fleisch nahe vor seinen Kopf; seine
großen Augen bemerken es gar nicht.
Berühre ich mit dem Fleisch ganz leise seine langen, fadenartigen Fühler, – sogleich ergreift
er es.
Die Fühler leisten ihm offenbar denselben Dienst, den andern Tieren ihre Nase leistet.
Vergleiche die Weise, wie die Ente sich die Nahrung sucht.“
Dieser Versuch schließt sich direkt an den zur Nahrungswahl an. Auf die Umformung in
das heutige Schema (wie vorstehend ausgeführt) wird hier verzichtet. JUNGE hat damit
im Grunde den Versuch zum Nachweis des chemischen Beuteschemas beim
Gelbrandkäfer (im Gegensatz zum mechanischen bei der Larve!) von TINBERGEN und
seiner Schule (vgl. TINBERGEN
1956: 27; EIBL-EIBESFELDT 1987: 141; SCHMIDT
1996: 233ff.) schon vorweg genommen!
Literatur
EIBL-EIBESFELDT, I.: Grundriß der vergleichenden Verhaltensforschung. Ethologie. Piper, München, 7.Aufl.
1987.
SCHMIDT, E.: Ökosystem See. Bd. I: Der Uferbereich des Sees. Biologische Arbeitsbücher 12.1. Quelle &
Meyer, Wiesbaden 1974, 5. Aufl. 1996.
TINBERGEN, N.: Instinktlehre. Vergleichende Erforschung angeborenen Verhaltens. Parey, Hamburg, 2.Aufl.
1956.
6.4.10 Schwierigkeiten bei der praktischen Umsetzung von JUNGEs Konzept
Die Schwierigkeiten, das JUNGE'sche Konzept mit der begrenzten Freilanderfahrung
selbst engagierter Biologielehrer umzusetzen, schildert anschaulich MARIA HÖRMANN
(1965: 28-29):
„SCHMEIL lehnte den Gedanken der „Lebensgemeinschaften“ als in der Schule nicht
durchführbar ab. Ihm schloß sich der Seminarlehrer OTTO KOHLMEYER mit seiner
Abhandlung über „Das biologische Prinzip im naturkundlichen Unterricht“ an.
HEINRICH GRUPE (sen). wurde gerade durch die Ablehnung der Lebensgemeinschaften von
seiten SCHMEILs und KOHLMEYERs in seiner Opposition gestärkt und strebte mit Eifer und
bewundernswerter Zähigkeit danach, den Gegenbeweis zu liefern. GRUPE erzählt in
seiner „Naturkunde in der Volksschule“ (1949), wie er, der erfahrene Naturkundelehrer,
mit dem „Dorfteich“ in der Praxis verfuhr:
Da lag nun die „Lebensgemeinschaft“ in wunderbarer Abgeschiedenheit vor mir. In
den dichten Pflanzenbeständen und im Wasser war reges Tierleben. Zunächst gab ich
mich dem Eindruck hin, dann aber drängte der Entschluß, der mich hergetrieben, zur
Tat. Ich wollte meine Aufgabe in Angriff nehmen. Ja, aber welche Aufgabe? Ich kannte
die JUNGE'schen „Gesetze“ auswendig; hier draußen jedoch waren meinen Augen
keine Gesetze sichtbar – ich sah nur Tiere und Pflanzen und Wasser. Gut, an den
Lebewesen sollten ja die Gesetze zum Ausdruck kommen. Also heran an die Pflanzen!
Aber so ein Röhrichtbestand hat es in sich. Außer Schilf kannte ich nicht gar zu viel
davon. Also dann zu den Schwimmpflanzen! Unter ihnen verbargen sich noch mehr
Unbekannte. Nun, wenn die Pflanzen widerstrebten, dann heran an die Tiere! Ich fuhr
Lehrstuhl Prof.em. Dr. rer. nat. Eberhard G. SCHMIDT Universität Essen, FB 9:
Grundvorlesung BIOLOGIEDIDAKTIK, Bearbeitungsstand vom 20.1.2001
Kap.6: Geschichte der Biologiedidaktik
6 — 23
mit einem Netz durch den Bodenschlamm und schüttelte den Inhalt am Ufer aus.
Wenn man einem Anfänger beweisen will, daß er nichts kann, so braucht man nur
einmal einen solchen Fang vor ihm auszubreiten mit der freundlichen Aufforderung:
Nun, was ist das? Äußern Sie Sich doch darüber! Ich äußerte mich durchaus nicht,
weil mich niemand dazu aufforderte – und ich hätte mich auch dann nicht geäußert,
wenn die neugierig fragenden Jungen dabeigewesen wären, die sich bestimmt
zunächst nach dem Gekrabbel und nicht nach ‚biologischen Gesetzen‘ erkundigt
hätten. An diesem Nachmittag ging mir an dem verschwiegenen Teich eine Erkenntnis
auf: Die Lebensgemeinschaften in den Büchern und diese Lebensgemeinschaft hier
draußen in der Gemarkung sind zwei verschiedene Angelegenheiten; die Gedanken in
den Büchern bewältigte ich glatt, aber mit den Tatsachen hier draußen war schwer
fertig zu werden. Und ich sagte mir sehr ehrlich: Junge du weißt nichts; erst geh hin
und lerne die Dinge richtig kennen und dann komme wieder und versuche es mit
einem Unterricht, der eine gründliche Sachkenntnis voraussetzt. Mein erster Versuch
scheiterte also daran, daß mir das notwendige Sachwissen fehlte. Wortwissen hatte
ich in hinreichendem Maße, aber damit war mir draußen nicht gedient.
Siebenundzwanzig Jahre später, nach ununterbrochener Arbeit und intensivem Studium
unternahm GRUPE den zweiten Versuch, das Ordnen des Stoffes nach
„Lebensgemeinschaften“ in die Tat umzusetzen. Vier Wochen wohnte er mit seiner
Klasse mitten im Wald. Täglich zweimal wurde der Wald durchforscht, und auf jedem
Gang wurde „Neues“ entdeckt. Ergebnis: Den Kindern wurde der Wald innerlich
nahegebracht, und sie werden die vier Wochen nie vergessen. Aber den gewaltigen
Beziehungsreichtum im Walde zu überblicken, waren die Kinder ihrem Alter nach noch
gar nicht in der Lage".
Literatur
GRUPE, H. (sen.: Heinrich) "Naturkunde in der Volksschule". Schroedel, Hannover 1949.
HÖRMANN, M.: Methoden des Biologieunterrichts. Die Bildungsarbeit der Volksschule. Methodik ihrer Stufen
und Fächer. Kösel München, 2.Aufl. 1965.
6.4.11 Fazit
JUNGE wollte den systematisch/ morphologischen Unterricht am toten Objekt im Sinne
von LÜBEN auf das Verständnis des Lebendigen umstellen, die Faszination des
Lebendigen didaktisch nutzen. Auch er ging also von Artmonographien aus, fragte aber
nach der Einbindung in ihren Lebensraum. Die Arten sollten dabei im Sinne HUMBOLDTs
ganzheitlich gesehen werden. Dazu müssen die Lebewesen naturnah für den Unterricht
verfügbar sein. Das ist in Aquarien für Stillwassertiere am besten möglich. Die Technik
dafür und die Beobachtungsmöglichkeiten hatte ROßMÄßLER populär gemacht. Der
Vergleich verschiedener Arten aus einem Lebensraum vertieft dann anschaulich und
plausibel den funktionalen Bezug.
Der Bezug zum Dorfteich ist also weniger aus dem fachlichen Anliegen der
Einführung in die Synökologie erwachsen, vielmehr ist er die Grundlage für die
praktische Erarbeitung eines Artkonzeptes, das auf „Biologie“ im Sinne der Beziehungen
einer Art zu ihrem Lebensraum (im heutigen Sinne von Habitat) und zu anderen Arten.
Dazu gehören morphologische Anpassungen an den Lebensraum im Einklang mit
Lebensweise, insbesondere die Nahrungsbeziehungen. JUNGE erfüllt damit so
konsequent wie nie zuvor das HUMBOLDTsche Prinzip, daß Verständnis von
Lehrstuhl Prof.em. Dr. rer. nat. Eberhard G. SCHMIDT Universität Essen, FB 9:
Grundvorlesung BIOLOGIEDIDAKTIK, Bearbeitungsstand vom 20.1.2001
Kap.6: Geschichte der Biologiedidaktik
6 — 24
Naturwissenschaften sich im Verständnis von Beziehungsgefügen, nicht in bloßen
Sturkturbeschreibungen zeigt. Diese Pioniertat ist umso höher einzuschätzen, als der
biologische Zeitgeist von den Spekulationen zur (Kausalität der) Evolution im Sinne der
DARWIN'schen Selektionstheorie und (als Grundlage dafür) von der systematischen (d.h.
evolutiv/ geschichtlichen), nicht der funktionalen Sicht der Organismen bestimmt war.
JUNGE hat dabei auch in herausragender Weise das Leitziel Verständnis nach dem
Prinzip des exemplarischen Lernens (vgl. Kap. 2.8, 2.9) vorgeführt, mit einem offenen
Unterricht, der hervorragend Impulse setzt, im Sinne des forschend/ entdeckenden
Lernens mit inklusivem Denken bzw. dem Denken in Vernetzungen zu Untersuchungen
am Objekt anregt, den Bezug zum Umfeld der Schüler und die Lebensnähe immer wieder
herstellt, komplexe Zusammenhänge herausarbeitet. Das Experiment ist bei ihm
wirklich eine Frage an die Natur, die Aquarien dienen als modellhafte Simulation der
Natur im Klassenraum (die Pionierarbeit von ROßMÄßLER dazu nutzend).
Das ökologische, auf direkter Anschauung beruhende Konzept JUNGE's stellt aber
hohe Anforderungen an die fachlichen Grundlagen, die praktische Naturerfahrung und
das pädagogische Geschick des Lehrers. Sie sind selten erfüllt. JUNGE's Konzept hat
daher wohl didaktisch Aufsehen erregt und Anerkennung gefunden, auch dafür gesorgt,
daß (nach dem 1. Weltkrieg) der „Lebensraum Teich/See“ (oder Wald) in der Volks- und
Realschule, bedingt auch in der Mittelstufe des Gymnasiums seinen festen Platz im
Lehrplan gefunden hat. JUNGE's Konzept ist aber nur ausnahmsweise ganz in seinem
Sinne realisiert worden. Die Lehrerausbildung vermittelte nicht die erforderlichen
praktischen Grundlagen und Befähigungen, führte nicht zu dem erfordrlichen
Naturverständnis. JUNGE's Konzept ist also in besonderem Maße schülergerecht, aber
nicht lehrergerecht und daher nur sehr bedingt in der Schule umsetzbar. Selbst der
hoch engagierte Lehrer Heinrich Grupe (sen.) hatte da (wie oben ausgeführt) zunächst
seine Probleme (vgl. aber die hervorragende Einführung in die Naturbeobachtungs mit
exzellenten Beobachtungsaufgaben im Sinne JUNGEs in seinem vielfach aufgelegten
„Naturkundlichen Wanderbuch“, 1949). Das gilt bis heute.
Im Sinne JUNGEs angelegte Großpraktika im Hauptstudium der Lehrerausbildung
zur Ökologie („Ökosystem See“, „Ökosystem Stadtteich“, 1970-1999 an den Hochschulen
Flensburg, Bonn und Essen) erwiesen sich als eine gute Grundlage für die Lösung des
Problems. Sie bleiben aber leider eine Ausnahme in der Lehrerausbildung.
JUNGEs Buch ist auch heute noch eine Fundgrube für hoch interessante
didaktische, methodische und auch biologische Hinweise und jedem Biologiestudenten
und -lehrer sehr zur Lektüre zu empfehlen. Man spürt deutlich, daß es ein reifes
Alterswerk ist: JUNGE war 53 Jahre alt und hatte 31 Jahre Unterrichtserfahrung, als die
erste Auflage erschien. Sein breites biologisches Wissen hat er sich autodiaktisch im
Gelände erworben und erst dann durch die Fachliteratur abgesichert. Eine besondere
Anregung bildete die richtungweisende, praktisch/exemplarisch fundierte ökologische
Sicht
der
„Lebensgemeinschaft“
durch
MOEBIUS,
die
JUNGE
auf
Lehrerfortbildungsveranstaltungen an der Universität Kiel erfahren konnte. Damit hatte
er ein tragfähiges Theoriekonzept und einen biologischen Erfahrungshintergrund, mit
dem er Schüler ansprechen konnte, zugleich umging er die Scheuklappen der
traditionellen wissenschaftlichen Lehre.
Lehrstuhl Prof.em. Dr. rer. nat. Eberhard G. SCHMIDT Universität Essen, FB 9:
Grundvorlesung BIOLOGIEDIDAKTIK, Bearbeitungsstand vom 20.1.2001
Kap.6: Geschichte der Biologiedidaktik
6 — 25
6.4.12 Kennzeichnung von JUNGE's Ansatz:
WENK (1978) nennt die folgenden didaktischen Prinzipien als Fazit von JUNGEs Konzept
zum Biologieunterricht (die noch aktuell gültigen werden durch Fettdruck
hervorgehoben):
1. Das Prinzip des Exemplarischen, und zwar im Großen wie im Kleinen.
2. Das Prinzip der Lebensnähe im Sinne des Bezugs zur Alltagserfahrung.
3. Das Prinzip der eigenen Beobachtung.
4. Das Prinzip des Arbeitsunterrichts.
5. Das Prinzip der Ganzheit.
6. Das Prinzip der fortschreitenden Komplexität, z.B. als „vom Einfachen
oder Bekannten zum Komplizierten oder weniger Bekannten“.
7. Das Prinzip der allgemeinen Naturgesetze.
8. Das Prinzip des Bezugs zum Menschen (und zum Alltag).
Eigene Übersicht:
Konz:
 Holismus: Organismus als harmonische Ganzheit in seinem Lebensraum.
 Artkonzept mit konsequent funktional/ ökologischem Frageraster,
d.h. die Gestalt ist immer in Zusammenhang mit seiner Funktion und damit als
Anpassung an den Lebensraum und die Lebensweise zu sehen.
Es wird realistisch durch den Bezug zu einem konkreten Lebensraum, dem Teich,
der überall in Schulnähe verfügbar und den Kindern bekannt ist,
der sich leicht in der Schule (in Aquarien) simulieren läßt,
und durch die Transparenz des Mediums Wasser besonders einsichtig ist.
 Denken in dynamischen Beziehungen (funktionale „Biologie“)
statt statisch in morphologischen Strukturen
und im Kontext des abstrakten (LINNE'schen) Systems
 Vorbereitung des Denkens in Vernetzungen,
insbesondere in ökologischen Beziehungsgefügen
im Sinne des Ökosystems im modernen Sinne.
 Strikte Trennung von Beobachtung und Deutung/Vermutung
 „Gesetze“ zur organismischen Ordnung als Theoriehintergrund
(aus heutiger Sicht als pauschalisierte Gesetzmäßigkeiten zu sehen).
Stoff: Tiere & Pflanzen vom Teich im funktionalen Kontext
Arbw: Verknüpfung von Freilandarbeit und Untersuchungen im Klassenraum mit
Aquariensimulation.
Med: Aquarien.
Meth: Konsequente Verwirklichung des exemplarischen Prinzips
und eines Impulse setzenden Unterrichts
mit Hinführung zum entdeckenden/forschenden Lernen.
Einst: Gemütvolle Betrachtung der Harmonie in der Natur
Lehrstuhl Prof.em. Dr. rer. nat. Eberhard G. SCHMIDT Universität Essen, FB 9:
Grundvorlesung BIOLOGIEDIDAKTIK, Bearbeitungsstand vom 20.1.2001
Kap.6: Geschichte der Biologiedidaktik
6 — 26
Literatur:
TROMMER, G.: Die Dorfteich-Naturgeschichte. S. 015-053 in F.JUNGE.: Der Dorfteich als Lebensgemeinschaft.
Lipsius & Tischer, Kiel, 1885. Nachdruck (der 3. Aufl. von 1907) mit Vorwort/ Einführung von
W.JANßEN, W.RIEDEL & G.TROMMER. Lühr & Dircks, St. Peter-Ording 1985.
WENK, K.: JUNGEs Dorfteich aus der Sicht des heutigen Biologieunterrichts. S. 98-117 in G.TROMMER &
K.WENK: Leben in Ökosystemen. Leitthemen; Beiträge zur Didaktik der Naturwissenschaften.
Westermann, Braunschweig 1978.
6.5 Die funktionsmorphologische Artbeschreibung nach dem
Schulbuch im systematischen Kontext (um 1900): OTTO SCHMEIL
6.5.1 Lebensweg von SCHMEIL und seine Vorbilder
SCHMEIL, OTTO, 1860-1943.
1860 geboren am 3. 2. in Großkugel (preußische Provinz Sachsen, im heutigen Land
Sachsen-Anhalt zwischen Halle und Leipzig), der Vater war der Dorfschullehrer (in
2. Generation); er starb schon 5 Jahre später auf einem Schulausflug bei einem
unglücklichen Sturz vor den Augen des Jungen; damit ergab sich wirtschaftliche
Not.
1870 Übersiedlung nach Halle in ein karg ausgestattetes Waisenhaus/Internat, das mit
dem Pädagocicum FRANCKEs (s.o.) verbunden war. Das kümmerliche Taschengeld
wurde für eine Käfersammlung verwendet.
1874 Präparandenanstalt (Vorbereitung auf ein Lehrerseminar) in Quedlinburg.
1877 Lehrerseminar in Eisleben, in der Freizeit intensive Naturerkundungen.
1880 Volksschullehrer in der Kleinstadt Zörbig (bei Bitterfeld)
Vom Munde abgespart die „Synopsis der Tier- & Pflanzenkunde“ von LEUNIS, BREHMs
„Tierleben“.
1882 2. Lehramtsprüfung, dann Lehrer in Halle. Mittelschullehrer- und
Rektorenprüfung, jedoch vergebliche Stellensuche in diesen Funktionen,
Neben der Schule Besuch zoologischer Kurse an der Universität, wissenschaftliche
Studien an Copepoden (Hüpferlingen).
1891 Annahme der (Freizeit-) Copepodenstudien als externe Dissertation an der
Universität Leipzig (im benachbarten Königreich Sachsen!) und Promotion summa
cum laude als Externer.
Stipendium zu Studien an der Biologischen Station Rovigno/ Istrien und in
Karsthöhlen.
1894 Rektor an einer Großschule in Magdeburg (1400 Schüler, 40 Lehrkräfte).
Fortführen der Copepoden-Studien. Daneben „Pflanzen der Heimat“
(Schreibarbeiten dafür u.a. zwischen 5 Uhr und dem Schulbeginn um 7 Uhr) und
Arbeit an einem Unterrichtswerk zur Zoologie unter funktions-morphologischem
Aspekt in systematischer Anordnung didaktisch ausgewählter Artmonographien.
1896 „Kampfschrift“ zur Reform des Biologieunterrichts: „Über die Reformbestrebungen
auf dem Gebiete des naturgeschichtlichen Unterrichts“, 11.Aufl. 1913 (s.u.).
1898/99 Lehrbuch der Zoologie, 1903 Lehrbuch der Botanik.
1903 (zusammen mit J. FITSCHEN) die „Flora von Deutschland“
Erstellung von Wandtafeln für den Unterricht als Ergänzung zum Schulbuch.
Lehrstuhl Prof.em. Dr. rer. nat. Eberhard G. SCHMIDT Universität Essen, FB 9:
Grundvorlesung BIOLOGIEDIDAKTIK, Bearbeitungsstand vom 20.1.2001
Kap.6: Geschichte der Biologiedidaktik
6 — 27
1904 Ausscheiden aus dem Schuldienst
um volle Kraft für die freiberufliche Arbeit zur ständigen Verbesserung der sehr
erfolgreichen Bücher und Medien enrtfalten zu können; beim Ausscheiden wurde
ihm der (Ehren-) Professorentitel des Preußischen Staates verliehen;
Übersiedlung nach Marburg und Wiesbaden (in Hessen).
1909 Übersiedlung in die „SCHMEILsche Villa“ in Heidelberg.
1933 ff. Politische Ächtung der SCHMEILschen Unterrichtswerke
da SCHMEIL nicht bereit war, der Rassenlehre etc (im Sinne der Nationalsozialisten)
besonderen Raum zu geben, auch paßte die geringe Würdigung von Lebensräumen
nicht zum Zeitgeist.
1941 goldenes Doktor-Diplom, dabei von der Universität Leipzig als „Reformator des
biologischen Unterrichts“ geehrt,
1943 † in Heidelberg.
Anmerkungen zum Lebenslauf von SCHMEIL: SCHMEIL war wie JUNGE und ROßMÄßLER
Halbwaise und hatte eine karge Jugend. Naturbeobachtung und eigenständige
Erforschung müssen ihn schon früh fasziniert haben, mit 10 Jahren hatte er bereits eine
Käfersammlung. Sobald es ging, kaufte er sich die Lehrbücher der Zeit. Neben dem
Beruf als Lehrer führte er intensive biologische Studien in der Freizeit fort, orientierte er
sich dabei mehr als JUNGE an den Normen der Wissenschaft. So waren die kleinen
Hüpferlinge (Copepoden) sein spezielles Forschungsobjekt in Verbindung mit der
Universität Halle. Seine Arbeit darüber wurde im benachbarten Königreich Sachsen, an
der Universität Leipzig, als Dissertation angenommen, die Promotion bestand er als
Externer mit Auszeichnung (summa cum laude).
Für ein Studium fehlte das Geld, so blieb nur die Ausbildung zum Volksschullehrer;
die Qualifikation zum Mittelschullehrer und zum Schulrektor machte er nebenberuflich,
fand jedoch zunächst keine Anstellung in dieser Position, wurde aber später Rektor einer
Großschule in der Provinzial-Hauptstadt Magdeburg.
Die Vorbilder von SCHMEIL Die Situation des Biologieunterrichts (nach LÜBEN & LEUNIS)
während der Schulzeit von SCHMEIL beschreibt anschaulich das Dichterwort (aus dem
„Waldschulmeister“, 1875) von PETER ROSEGGER, das den Lebenserinnerungen SCHMEIL's
(SCHMEIL & SEYBOLD 1986) im Vorwort (von dem Freiburger Ethologen HASSENSTEIN)
vorangestellt ist:
„Ich habe ... aus Büchern herausgelesen, wie die Birken leben und die Heiderosen
und andere; und ich habe mit meinen Augen dieselben Pflanzen betrachtet, stunden- und
stundenlang, und ich habe keine Beziehung gefunden zwischen dem toten Blatt im Buche
und dem lebendigen im Walde ... oh, wenn so eine Pflanze ihre eigene, mit eitel Ziffern
gezeichnete Beschreibung selbst lesen könnte, sie müßte auf der Stelle erfrieren“.
SCHMEIL's Anliegen war es, von dieser trockenen Buch-/ Kreidebiologie weg zu
kommen, den Biologieunterricht lebendiger zu gestalten. Das funktions-morphologische
Artkonzept JUNGE'S begeisterte SCHMEIL, ihm möchte er zum Durchbruch verhelfen. So
verehrte er vor allem JUNGE, auch ROßMÄßLER als Vorbild dafür. Dabei sollte das
möglichst selbsttätige und selbständige Arbeiten am Objekt (im Sinne LÜBEN & LEUNIS
wie bei JUNGE) gewährleistet bleiben.
Literatur
Lehrstuhl Prof.em. Dr. rer. nat. Eberhard G. SCHMIDT Universität Essen, FB 9:
Grundvorlesung BIOLOGIEDIDAKTIK, Bearbeitungsstand vom 20.1.2001
Kap.6: Geschichte der Biologiedidaktik
SCHMEIL, O. & A.SEYBOLD: Leben und Werk eines Biologen.
Heidelberg 1954, 2.Aufl. 1986.
6 — 28
### Lebenserinnerungen. Quelle & Meyer,
Lehrstuhl Prof.em. Dr. rer. nat. Eberhard G. SCHMIDT Universität Essen, FB 9:
Grundvorlesung BIOLOGIEDIDAKTIK, Bearbeitungsstand vom 20.1.2001
Kap.6: Geschichte der Biologiedidaktik
6 — 29
6.5.2 SCHMEIL's „Kampfschrift“ von 1896 zur Reform des Biologieunterrichts
1896 formulierte SCHMEIL in einer didaktischen „Kampfschrift“ griffige Thesen zur
Reform des Biologieunterrichts (SCHMEIL 1905) und wurde auf einen Schlag bekannt. Die
Schrift erreichte dank der starken Nachfrage bis zum 1. Weltkrieg (in 17 Jahren)
11 Auflagen (die kaum verändert wurden), erregte also großes Aufsehen. Sie gibt eine
auch heute noch interessante Übersicht der damaligen Diskussion zur Reform des
Biologieunterrichts.
Gliederung der „Kampfschrift" (nach SCHMEIL 1905):
I. Der naturgeschichtliche Unterricht hat ein biologischer zu werden (S.7-44).
Hier stellte SCHMEIL das diagnostisch morphologisch/ systematische Artkonzept
LÜBEN'S als überholt dar. Dem entsprach in der Biologie der Wandel von dem deskriptiv/
systematischen
Ansatz
LINNÉ's
(Mitte
des
18.
Jahrhunderts)
zum
funktionsmorphologischen von CUVIER (um 1800, vgl. JAHN 1990). Als Pionier für die
schulische Umsetzung dieser funktionsmorphologischen Betrachtung würdigte SCHMEIL
(in einer umfassenden Diskussion der didaktischen Literatur der Zeit) nachdrücklich
JUNGE und gab weitere schulrelevante Beispiele. Dabei konkretisierte er am Beispiel des
Seehundes und des Mauerpfeffers (in der Form seiner späteren Unterrichtswerke), wie
sich Gestalt und Funktion entsprechen. Ein solcher „biologischer“ Unterricht wurde von
SCHMEIL als Kernpunkt aller Reformbestrebungen des Biologieunterrichts herausgestellt.
Die schwärmerische Verklärung der Naturbeschreibung geißelte er. Dabei bezieht er sich
(wie auch an anderen Stellen) auf GOETHE (SCHMEIL 1905: 44):
„Das einfach Schöne wird der Kenner schätzen,
Verziertes aber spricht der Menge zu“.
2. Über Lebensgemeinschaften (S.44-55)
Lebensgemeinschaften wären Ausdruck dafür, daß die Natur ein organisches
Ganzes bildet und nicht nur einfach ein Konglomerat ist. Diese Einheit wäre komplex, in
ihrer Kausalität aber erst zu erahnen, kaum mit Fakten belegt. Daher sei sie noch nicht
reif für die Schule. JUNGE habe diese Problematik verdrängt und werde daher dem Begriff
nicht gerecht. Lebensgemeinschaften dürften daher nicht im Mittelpunkt des
Biologieunterrichts stehen.
3. Über Gesetze des organischen Lebens (S.56-69).
Hier setzte sich SCHMEIL kritisch mit den Gesetzen im Sinne von JUNGE auseinander
und relativierte sie zu Regeln. Sie sollten daher nicht im Mittelpunkt der
Biologieunterrichts stehen.
4. Über „allgemeine biologische Sätze“ (S.69-74).
Sie seien weniger verbindlich als die Gesetze von JUNGE und könnten daher viel eher
auch von den Schülern selbst gefunden werden. Dazu gehörten auch die Artdiagnosen,
also systematische Sätze (im Gegensatz zu JUNGE).
Lehrstuhl Prof.em. Dr. rer. nat. Eberhard G. SCHMIDT Universität Essen, FB 9:
Grundvorlesung BIOLOGIEDIDAKTIK, Bearbeitungsstand vom 20.1.2001
Kap.6: Geschichte der Biologiedidaktik
6 — 30
5. Über das Beobachten (S.74-77).
Hier belegte SCHMEIL nach Umfragen in seiner Magdeburger Schule, daß ein
erheblicher Anteil der Großstadtkinder (u.a.) noch keinen Bienenstock gesehen hatte
(95%), noch keine Nachtigall hatte schlagen hören (56%) oder noch keinen lebenden Star
beobachtet (48%) oder einen Greifvogel im Fluge gesehen hatte (57%), auch Pilze oder
Eichhörnchen im Walde hatten 42% bzw 71% noch nicht gesehen (nach einer Umfrage
bei 150 Kindern im Alter von 12-14 Jahren).
SCHMEIL ist damit auch ein Pionier der didaktischen Umfragen.
Folgerung aus der Umfrage: Der Biologieunterricht muß ein experimenteller werden:
„Nur durch fleißiges Beobachten, durch Selbstschauen und Selbstuntersuchen ist es
möglich,den schlimmsten Feind alles geistbildenden Unterrichts zu verbannen: den
Verbalismus“.
6. Über Konzentration und Konzentrationsversuche (S.78-94)
SCHMEIL setzte sich hier mit Bestrebungen auseinander, die schon in damaliger Zeit
die Naturwissenschaften zu einem Fach integrieren wollen. Er stellt dabei heraus, daß
dann die Spezifika der Biologie zu kurz kämen. Funktionale Biologie im Sinne SCHMEIL's
muß allerdings bei den Zusammenhängen auch immer physikalische und chemische
Fakten einbeziehen.
Schluß (S.94-95)
In patriotischer Formulierung (der Kaiserzeit entsprechend) wird der vorstehend
geforderte Fortschritt im Biologieunterricht in Verbindung mit dem Wunsch nach einer
Spitzenposition Deutschlands in der Welt gebracht.
Die Thesen (verkürzt)
In Anlehnung an SIEDENTOP (1964: 20ff., aber 17 Punkte auf 9 verkürzt) läßt sich
das Hauptanliegen der „Kampfschrift“ formulieren als:
[1.] Der Unterricht hat in ein wirkliches Verständnis der Natur einzuführen.
[2.] Anstelle der morphologisch-systematischen Betrachtungsweise [LÜBEN's] hat dazu
eine morphologisch-physiologische oder kurz biologische Betrachtungsweise [im
Sinne von JUNGE] zu treten.
[3.] Bau und Lebensweise sollen dabei [im Sinne von JUNGE] in funktionalen
Zusammenhang gebracht werden; es kommt nicht auf ein Aufzählen der
charakteristischen (morphologischen) Merkmale, sondern auf eine Einführung in
das Verständnis [des Beziehungsgefüges] an.
[4.] Diese biologische Betrachtungsweise [im Sinne von JUNGE] führt bei den Schülern
nicht nur zu wirklichem Naturverständnis, sondern auch zu einer positiven
Einstellung zur Natur.
[5.] Morphologie/ Physiologie, d.h. die Biologie i.e.S. müssen aber im Unterricht als
gleichwertig mit der Systematik betrachtet werden, eine einseitige Betonung der
Lehre von der Lebensweise [wie bei JUNGE] ist abzulehnen.
[6.] Lebensgemeinschaften zeigen die Natur als Organismus, nicht einfach als
Konglomerat. Damit sind sie für den Unterricht wichtig, aber nicht vorrangig.
[7.] Die Schüler sollen [im Sinne von LÜBEN & JUNGE] selbständig, elementar forschen,
dabei Gesetzmäßigkeiten altersgemäß aufdecken [im Sinne des entdeckenden
Lernens in heutiger Sprechweise]; das ist hinsichtlich der funktionalen
Lehrstuhl Prof.em. Dr. rer. nat. Eberhard G. SCHMIDT Universität Essen, FB 9:
Grundvorlesung BIOLOGIEDIDAKTIK, Bearbeitungsstand vom 20.1.2001
Kap.6: Geschichte der Biologiedidaktik
6 — 31
Zusammenhänge [im Sinne von JUNGE] aber weitaus anspruchsvoller als im rein
morphologischen Unterricht [im Sinne von LÜBEN].
Lehrstuhl Prof.em. Dr. rer. nat. Eberhard G. SCHMIDT Universität Essen, FB 9:
Grundvorlesung BIOLOGIEDIDAKTIK, Bearbeitungsstand vom 20.1.2001
Kap.6: Geschichte der Biologiedidaktik
[8.]
[9.]
6 — 32
Der Unterricht soll auf allen Stufen das Kind anleiten, nach dem „Warum?“ und
„Wozu?“ zu fragen. Man muß sich jedoch vor Spekulationen und vor Verbalismus
hüten, man muß sich vielmehr auf die Fakten beschränken. Dazu ist „fleißiges
Beobachten, Selbstschauen & Selbstuntersuchen“ [im Sinne von JUNGE]
erforderlich.
Ein Unterricht, der vorrangig auf die Ästhetik ausgerichtet ist, ist abzulehnen
[SCHMEIL wendet sich damit gegen die schwärmerische Naturromantik].
Die eigene Stellungnahme SCHMEIL's (im Alter) zur „Streitschrift“: Betrachten wir
nun
SCHMEIL's
Bewertung
der
„Kampfschrift“
im
Rückblick
in
seinen
Lebenserinnerungen knapp 60 Jahre später: Zu seiner „Streitschrift“ schreibt er darin
nur (SCHMEIL & SEYBOLD 1986: S. 204):
„Der naturgeschichtliche Unterricht lag  von Ausnahmen abgesehen  im vorigen
Jahrhundert noch in den Schulen aller Art sehr im argen. Später wurden zwar mehrfach
Vorschläge zu einer Reform gemacht, aber eine Besserung nur in wenigen Fällen erreicht.
Eine Kritik dieser Vorschläge und meine eigenen Ansichten über die zukünftige
Gestaltung des wichtigen Unterrichtsgegenstandes legte ich 1896 in einer Broschüre
nieder, die den Titel führte „Über die Reformbestrebungen auf dem Gebiet des
naturgeschichtlichen Unterrichts“. Einen so großen Anklang die kleine Arbeit fand,
konnte sie  wie mir von vornherein bewußt war  die gewünschte Umgestaltung des
naturkundlichen Unterrichts nicht herbeiführen."
Das eigentliche Anliegen der „Streitschrift“ geht aber aus dem Schlußsatz hervor:
„Die Lehrer – und zwar aller Schulen –müssen Bücher zur Hand haben, in denen die
Reform von der ersten bis zur letzten Zeile durchgeführt ist. Es galt daher, solche
Bücher zu schreiben.“
SCHMEIL wollte also mit dieser „Kampfschrift“ vor allem seinen (bereits vorbereiteten)
Unterrichtswerken eine Akzeptanz sichern und damit den Markt erschließen!
Im Vorwort schon zur 1. Auflage der „Tierkunde“ (1899) wird die „Kampfschrift“
denn auch ausdrücklich als die didaktische Grundlegung der SCHMEIL'schen
Unterrichtswerke angeführt. Sie entspricht damit dem Teil I von JUNGE's „Dorfteich“
(1885).
Literatur
JAHN, I.:Grundzüge der Biologiegeschichte. UTB 1534. Fischer, Jena, 1990.
SCHMEIL, O.: Über die Reformbestrebungen auf dem Gebiete des naturgeschichtlichen Unterrichts. Nägele,
Stuttgart, (1896, 11.Aufl. 1913), 7.Aufl. 1905.
Lehrstuhl Prof.em. Dr. rer. nat. Eberhard G. SCHMIDT Universität Essen, FB 9:
Grundvorlesung BIOLOGIEDIDAKTIK, Bearbeitungsstand vom 20.1.2001
Kap.6: Geschichte der Biologiedidaktik
6 — 33
6.5.3 Das „biologische“ Schulbuch SCHMEIL's,
ein (wirtschaftlicher) Erfolg sondergleichen
Kurz nach der Kampfschrift erschien das „Lehrbuch der Zoologie“ (SCHMEIL 1898/99,
1918) als erstes seiner Unterrichtswerke. Es ist gewissermaßen ein Gegenstück zum
Teil II von JUNGE's „Dorfteich“, aber für die Hand des Schülers bestimmt. Im Gegensatz
zum lebensnahen „Dorfteich“ ist hier (nach akademischem Prinzip) ein kurzer Abriß der
allgemeinen Biologie vorangestellt; dann folgen die Spezielle Zoologie, angeordnet nach
der Hierarchie des biologischen Systems in absteigender Reihung, und eine Übersicht
der raum-zeitlichen Verteilungsmuster (Paläontologie, Biogeographie) der Arten. Die
Großsystematik mit den verwendeten Unterscheidungs-/ Erkennungs-Merkmalen
werden hier zur besseren Charakterisierung des SCHMEIL’schen Ansatzes mit
aufgenommen (nach der 40. Aufl. von 1918). Im einzelnen gliedert sich das Werk also in:
1. Abschnitt: Allgemeines aus der Tierkunde
Zellen & Gewebe (6 S.). Übersichtliche Zusammenstellung der wichtigsten Lebenserscheinungen
der Tierwelt (1. Bewegung, 2. Atmung, 3. Verdauung, 4. Wärmebedürfnis, 5. Schutz gegen
Feinde, 6. Fortpflanzung; jeweils mit Übersicht der Typen, 2 S.). Die Grundformen der
verschiedenen Baupläne der Tiere (3 S.).
2. Abschnitt: Das Tierreich (System der Tiere)
I. Körper aus zahlreichen Zellen bestehend: Vielzellige Tiere
A. Zweiseitig symmetrische Tiere
1. Mit einem inneren, knöchernen oder knorpeligen Skelett:
1. Kreis Wirbeltiere
a) Durch Lungen atmend; behaart; mit Ausnahme der Kloakentiere lebendige Jungen
gebärend, die durch Milch ernährt werden: 1. Klasse Säugetiere; 14 Ordnungen.
b) Durch Lungen atmend; befiedert; vordere Gliedmaßen sind Flügel; Eier legend: 2. Klasse
Vögel; 14 Ordnungen.
c) Durch Lungen atmend; mit Horn- oder Knochenschilden bedeckt, meist eierlegend: 3.
Klasse Kriechtiere; 4 Ordnungen.
d) In der Jugend durch Kiemen, später durch Lungen und Kiemen oder durch Lungen allein
atmend, Haut nackt; meist eierlegend: 4. Klasse Luche; 2 Ordnungen.
e) Stets durch Kiemen atmend; Haut meist mit Schuppen bedeckt; Gliedmaßen sind
Flossen, meist eierlegend: 5.Klasse Fische;
6 Ordnungen (Knochenfische, Schmelzschupper, Lungenfische, Haie & Rochen,
Rundmäuler, Röhrenherzen [Lanzettfischchen]).
2. Mit einem äußeren Chitinskelett und gegliederten Gliedmaßen
2.Kreis Gliederfüßler
a) Durch Luftröhren atmend. Körper aus drei deutlich geschiedenen Abschnitten bestehend
(Kopf, Brust , Hinterleib), 3 Paar Beine, meist geflügelt. 1. Klasse Insekten; 9 Ordnungen
(Schmetterlinge, Käfer, Haut-, Zwei-, Neztflügler, Schnabelkerfe, Geradflügler
[Heuschrecken, Schaben etc.], Schein-Netzflügler [Libellen, Eintagsfliegen, Termiten!],
Flügellose [Apterygota].
b) Durch Luftröhren atmend.; Körper aus zwei Abschnitten bestehend (Kopf und Rumpf);
alle Ringe des Rumpfes mit je ein oder zwei Paar Beinen; ungeflügelt. 2. Klasse
Tausendflüßler.
c) Luftatmend; Körper in der Regel aus zwei Abschnitten bestehend (Kopfbruststück und
Hinterleib; 4 Paar Beine; ungeflügelt.
3. Klasse Spinnentiere.
Lehrstuhl Prof.em. Dr. rer. nat. Eberhard G. SCHMIDT Universität Essen, FB 9:
Grundvorlesung BIOLOGIEDIDAKTIK, Bearbeitungsstand vom 20.1.2001
Kap.6: Geschichte der Biologiedidaktik
6 — 34
d) Durch Kiemen (oder nur durch die Haut) atmend; fast ausschließlich Wassertiere. 4.
Klassse Krebse.
Lehrstuhl Prof.em. Dr. rer. nat. Eberhard G. SCHMIDT Universität Essen, FB 9:
Grundvorlesung BIOLOGIEDIDAKTIK, Bearbeitungsstand vom 20.1.2001
Kap.6: Geschichte der Biologiedidaktik
6 — 35
3. Körper weich; ohne gegliederte Gliedmaßen; mit einem bauchständigen
Bewegungswerkzeuge (Fuß); einer oberhalb des Fußes gelegenen Hautfalte (Mantel), die
die Atemwerkzeuge überdeckt und meist eine Kalkschale ausscheidet. 3. Kreis
Weichtiere
a) Unsymmetrische Tiere mit Kopf, sohlenartigem Fuß und meist spiralig gedrehter Schale:
1. Klasse Schnecken.
b) Symmetrische Tiere ohne Kopf, mit beilartigem Fuß und zweiklappiger Schale: 2. Klasse
Muscheln.
c) Symmetrische Tiere mit Kopf, Armen, die den Mundumstellen und trichterförmigem Fuße:
3. Klasse Kopffüßler
4. Ohne gegliederte Gliedmaßen, meit einem Hautmuskelschlauch.
4. Kreis Würmer
a) Körper in zahlreiche gleichartige Ringe geteilt: 1. Klasse Ringelwürmer.
b) Körper zylindrisch, nicht in Ringe geteilt: 2. Klasse Rundwürmer.
c) Körper abgeplattete, nicht in Ringegeteilt: 3. Klasse Plattwürmer
(2 Ordnungen: Band- und Saugwürmer
B. Radial symmetrische Tiere
5. Fünfstrahlige Tiere mit Hartteilen in der Haut, die sich meist als Stacheln über die
Körperoberfläche erheben, mit einem Wassergefäßsystem und mit Leibeshöhle, Darm
und Blutgefäßsystem:
5. Kreis Stachelhäuter
a) Nicht festsitzende, sternförmige bis 5eckige Tiere, deren Arme in der Regel allmählich in
den scheibenförmigen Körper übergehen:
1. Klasse Seeesterne.
b) Nicht festsitzende, sternförmige Tiere, deren Arme von dem scheibenförmigen Körper in
der Regel deutlich abgesetzt sind:
2. Klasse Schlangensterne.
c) Tiere, die während des ganzen Lebens oder wenigstens während der Jugend vermittelst
eines Stieles festsitzen: 3. Klasse Haarsterne
(Hinweis: die Klasse heißt eigentlich Seelilien, diese festsitzenden Formen sind weitgehend
ausgestorben, überlebt haben die sekundär beweglich gewordenen Haarsterne, ihr Merkmal der
gefiederten Arme wurde nicht verwendet; der Schlüssel wäre auch einfacher und der
Großsystematik näher, wenn diese primär unbeweglichen Seelilien/ Haarsterne [Pelmatozoa]
den [sekundär] beweglichen übrigen Stachelhäutern [Eleutherozoa] gegenübergestellt würden)
d) Nicht festsitzende Tiere von Kugel-, Herz- oder Schiebenform, ohne Arme.
4. Klasse Seeigel.
e) Nicht festsitzende Tiere von Walzenform: 5. Klasse Seewalzen.
6. Vier- oder sechsstrahlige Tiere mit einem einzigen Körperhohlraume, der Leibeshöhle,
Darmund Blutgefäßsystem vertritt:
6. Kreis Hohltiere.
1. Hohltiere mit Nesselorganen: 1. Unterkreis Nesseltiere.
2. Hohltiere ohne Nesselorgane: 2. Unterkreis Schwämme
Lehrstuhl Prof.em. Dr. rer. nat. Eberhard G. SCHMIDT Universität Essen, FB 9:
Grundvorlesung BIOLOGIEDIDAKTIK, Bearbeitungsstand vom 20.1.2001
Kap.6: Geschichte der Biologiedidaktik
6 — 36
II. Körper aus einer einzigen Zelle bestehend:
7. Kreis Urtiere
a) Urtiere von bestimmter Körperform, deren Oberfläche ganz oder teilweise mit Wimpern
besetzt ist. Mit bestimmter Mund- & Afteröffnung:
1. Klasse Aufgußtierchen oder Infusorien.
b) wie Klasse 1, aber mit wenigen langen Wimpern (Geißeln) oder nur mit einem solchen
Gebilde: 2. Klasse Geißeltierchen.
c) Schmarotzende Urtiere, die bei der Vermehrung in „Sporen“ zerfallen, mit
Scheinfüßchen, ohne bestimmte Mund- und Afteröffnung: 3. Klasse Sporentiere.
d) Urtiere von unbestimmter Form: 4. Klasse Wurzelfüßler.
3. Klasse Sporentiere.
3. Abschnitt: Die Verbreitung der Tiere.
1. Die Tierwelt früherer Zeiten
2. Die geographische Verbreitung der gegenwärtig lebenden Tiere.
A Verbreitung der Tiere im Wasser.
B Verbreitung der Tiere auf dem Lande.
In dem systematischen Teil wurden zunächst die höheren Taxa charakterisiert. Der
angestrebte funktionale Zusammenhang wurde dabei nicht immer konsequent
eingebracht (vgl. auch die obige Anmerkung zu den Seelilien): So müßten unter dem
Aspekt der Funktionsgestalt bei den Weichtieren die Schnecken als FußsohlenGleitkriecher (mit oder ohne Schutzgehäuse), die Muscheln als ± festsitzende, von einer
zweiklappigen Schale umhüllte Filtrierer und die Kopffüßler als räuberische
Rückstoßschwimmer mit großen Augen und Fangarmen am Kopf charakterisiert werden.
Für jede Ordnung (oder Familie, je nach Differenzierung) wurde eine Art
ausführlicher (± nach dem JUNGE'schen Raster) beschrieben und lebensnah gezeichnet;
eine Reihe von Farbbildtafeln, (in der 40. Aufl.) auch sw-Fototafeln kamen hinzu. Die
Formen wurden also anschaulich (analog zu BREHM's Tierleben, aber mit besonderem
Schwerpunkt auf der Biologie) vorgestellt. Im Kleindruck folgt eine Auswahl anderer
Arten aus dem Verwandtschaftskreis.
Der problemorientierte Fragestil JUNGE's wurde aber nicht übernommen. Bei der
Stockente ist das besonders deutlich (SCHMEIL 1918: 240ff.):
11. Ordnung Entenvögel oder Leistenschnäbler (Lamellirostres)
Schnabel mit Ausnahme der harten Spitze von weicher Haut überzogen; an den Rändern mit
hornigen Querleisten. Beine kurz, Vorderzehen durch Schwimmhäute verbunden
(Schwimmfüße!). Wasserbewohner, Nestflüchter. (Bilden mit den 3 folgenden Ordnungen
[Ruderfüßler (Pelikan), Langflügler (Möwen, Albatros), Taucher (Haubentaucher nebst Alken,
Lummen; Pinguine)] die Gruppe der Schwimmvögel).
Die wilde oder Stockente und ihr Abkömmling, die Hausente
(Anas boschas & A. domestica)
Einführung zur Hausente. A. Die Kälte des Wassers vermag der Ente nicht zu schaden. B. Die
Ente durchfurcht leicht das Waser (Schwimmvogel). C. Das Waser liefert der Ente vorwiegend
die Nahrung. D. Die Ente und ihre Feinde (mit Vermehrung als Ausgleich für die
Verluste).
Andere Entenvögel (in Kleindruck)
(Löffel-, Spieß-; Knäck-/Krickente; Eiderente; Grau-, Hausgans; Höckerschwan sowie
Flamingo)
Lehrstuhl Prof.em. Dr. rer. nat. Eberhard G. SCHMIDT Universität Essen, FB 9:
Grundvorlesung BIOLOGIEDIDAKTIK, Bearbeitungsstand vom 20.1.2001
Kap.6: Geschichte der Biologiedidaktik
6 — 37
Der Text ist mit 6 sw-Zeichnungen (Entenfamilie am Ufer, Entenfuß, Kopf Stockerpel mit
Seihschnabel, Querschnitt durch den Entenschnabel, Kopf Löffelente mit Seihschnabel
sowie Flamingogruppe am Nest) und 2 sw-Fotos (Wildgansgruppe am Ufer,
Höckerschwanpaar am Nest im Schilf, auf einer Foto-Tafel zus. mit Zwergtaucher und
Bläßhuhn, beide brütend) illustriert; die Systematik entspricht dem Stand der Zeit (vgl.
HERTWIG 1907).
Zum bessern Vergleich mit JUNGE folgt nun die Darstellung SCHMEIL's zum
Gelbrandkäfer (nach der 40. Auflage 1918, S. 355 unten):
3. Familie Schwimmkäfer (Dytiscidae).
Der Gelbrand (Dytiscus marginalis)
Der Gelbrand ist im Gegensatz zu den meisten anderen Käfern ein Wassertier. Um ihn genau
kennen zu lernen, bringen wir ihn in ein Aquarium. Berühren wir ihn dabei etwas unsanft, dann
läßt er am Vorder- und Hinterrande des Halsschildes eine unangenhm riechende milchweiße
Flüssigkeit austreten, durch die er vielleicht manchen seiner Feinde abschreckt. Wie viele andere
Wasserbewohner ist er oberseits viel dunkler als unterseits, und wenn er auf dem Grunde des
Gewässers oder im Gewirre der Wasserpflanzen ruht, dann ist er nicht leicht zu erkennen
(Unterseite gelbbraun, Oberseite dunkelolivgrün; Halsschild und Flügeldecken mit gelben
Rändern: Name!).
SCHMEIL hat also anders als JUNGE die Abwehrreaktion beim Fang und die Tarnfarbe (?)
herausgestellt. Es folgen sehr knapp die Atmung und etwas breiter die Fortbewegung
sowie der Gewässerwechsel im Fluge, aber immer als Bericht, nicht als Arbeitsanleitung.
Der Hinweis auf die Abdeckung im Aquarium erfolgt auch unvermittelt und ohne Bezug
zum vorangehenden Text (wie vor., S. 356 unten):
„Versiegt der heimatliche Tümpel ... , dann schwingt er sich mit Hilfe der großen Flügel in die
Luft (darum müssen wir das Aquarium überdecken!)“.
Zum Beutefang des Gelbrandkäfers heißt es dann (direkt anschließend):
„Bringen wir zu unserem Gefangenen andere Wassertiere, dann werden wir ihn bald als einen
gefährlichen Räuber kennen lernen. Alles was er vom Fische bis zum Wurme und zur zarten
Larve der Eintagsfliege herab bewältigen kann, fällt ihm zur Beute. Selbst größeren Fischen und
Fröschen frißt der schnelle und gewandte Käfer mit Hilfe der kräftigen Freßzangen Löcher in
den Leib.“
Hier bleibt SCHMEIL theoretisierend, verkürzt den praktischen Ansatz JUNGE's und
kolportiert die irrige Meinung über das „Raubtier“ Gelbrandkäfer. SCHMEIL hat ihn
offenbar selbst nicht im Aquarium studiert, jedoch die Schulfilme zum Nahrungserwerb
des Gelbrandkäfers bis in die 70er Jahre hinein fehlgeleitet. – Ausführlicher als bei
JUNGE folgt dann die Beschreibung der (extraintestinalen) Nahrungsaufnahme der Larve
(richtig, offenkundig nach eigenen Beobachtungen, jedoch ohne Nennung konkreter
Beutearten wie Kaulquappen im Text; abgebildet sind ein Männchen [„nimmt soeben
Luft auf“, jedoch falsch gezeichnet] neben einem Weibchen und einer Larve, die [irreal]
gemeinsam an einer Kaulquappe fressen), hier ist auch ausnahmsweise eine
Versuchsaufforderung beigefügt:
„Schlägt die Larve die Zangen in den Leib einer Beute, so tritt durch den Kanal ein Tropfen
bräunlichen, giftigen Speichels aus, der das Tier tötet und zugleich dessen Weichteile auflöst.
(Laß die Larve in ein Stück Fleisch beißen!).
Lehrstuhl Prof.em. Dr. rer. nat. Eberhard G. SCHMIDT Universität Essen, FB 9:
Grundvorlesung BIOLOGIEDIDAKTIK, Bearbeitungsstand vom 20.1.2001
Kap.6: Geschichte der Biologiedidaktik
6 — 38
Die Metamorphose, ein wichtiges Thema bei JUNGE für den Gelbrand, bleibt
nebensächlich (sie war bei SCHMEIL schon vorher beim Maikäfer behandelt worden):
„Die Verpuppung erfolgt außerhalb des Wassers im Boden, in den sich die Larve einwühlt“.
SCHMEIL lieferte mit seinen Unterrichtswerken eine griffige, systematisch angeordnete
und leicht einzuordnende Artenübersicht. Die Monographien stellten die Biologie der
Arten in den Mittelpunkt und waren mit großer Sachkunde und didaktischem Geschick
verfaßt, lebendig bebildert, damit anschaulich, gut lesbar und eingängig. Sie
beschränkten sich nicht auf die heimische Flora und Fauna, sondern berücksichtigten
auch die tropischen Nutzpflanzen, Großtiere und andere schulrelevante Exoten. So
entsprachen sie dem Zug der Zeit des industriell/ wirtschaftlichen Aufschwunges vor
dem 1. Weltkrieg. Für den Unterricht ermöglichten große, auf die Bücher abgestimmte
Wandtafeln ein entwickelndes Unterrichtsgespräch. Damit konnte dem „biologischen“
Artkonzept im verbalen Unterricht zum dem Durchbruch verholfen werden, der dem
praxisorientierten Konzept JUNGE's mit seiner orginären Begegnung im forschendentdeckenden Lernen versagt blieb. SCHMEIL's Unterrichtswerke waren eben
lehrergerecht! Auch außerhalb der Schule wurden sie bis in die 70er Jahre als griffige
Enzyklopädie des Pflanzen- und Tierreiches geschätzt.
So wurden sie schnell ein so großer kommerzieller Erfolg, daß SCHMEIL sich schon
1904 (44jährig), 5 Jahre nach dem Erscheinen des Lehrbuches der Zoologie, aus dem
Schuldienst zurückziehen konnte, um sich ganz der ständigen Überarbeitung und
Verbesserung seiner Werke widmen zu können.
Das Lehrbuch der Zoologie (später Tierkunde genannt) erreichte dann auch
innerhalb von gut 10 Jahren (1909) beachtliche 25 (!) Auflagen, innerhalb von gut 20
Jahren trotz des Weltkrieges sogar 40 Auflagen (SCHMEIL 1918), insgesamt (wie auch die
Pflanzenkunde) rund 200 Auflagen (SCHMEIL & MERGENTHALER 1986, SCHMEIL & KOCH
1986) mit alles in allem mehr als 25 Mio verkauften Exemplaren. Mehr als 90% der
Mittelschulen und Gymnasien Deutschlands hatten die SCHMEILschen Unterrichtswerke
eingeführt, dazu kamen Übersetzungen in viele Fremdsprachen, auch in die
Blindenschrift. SCHMEIL ist damit der unbestrittene Pionier des biologischen
Schulbuches und zugleich erfolgreichster Schulbuchautor aller Zeiten!
In den 20er Jahren geriet sein Konzept wegen der Anordnung nach dem System,
wegen des zur Spekulation verführenden Aspekts der Zweckmäßigkeit und wegen der
geringen Anleitung zum praktischen Arbeiten und zum „Hinausgehen in die Natur“ in
die Kritik der Reformer. In der NS-Zeit wurde das Unterrichtswerk wegen ungenügender
Beachtung des Gedankens der Lebensgemeinschaft und wegen der Abstinenz in der
Rassen-Frage des Menschen politisch geächtet, doch weiter gut verkauft. Nach dem
Krieg erlebte es wieder eine kurze Renaissance, ehe es mit der Trendwende (weg von dem
systematischen Übersicht und ganzheitlichen Formenkunde, hin zu den „Kennzeichen
des Lebendigen“ in den 60er Jahren als Unterrichtswerk unterging. Es wurde aber auch
danach noch als griffige Enzyklopädie von Naturfreunden nachgefragt.
Lehrstuhl Prof.em. Dr. rer. nat. Eberhard G. SCHMIDT Universität Essen, FB 9:
Grundvorlesung BIOLOGIEDIDAKTIK, Bearbeitungsstand vom 20.1.2001
Kap.6: Geschichte der Biologiedidaktik
6 — 39
Verbunden ist der Name SCHMEIL mit dem Verlag Quelle & Meyer in Leipzig. Er
wurde 1906 als Verlag für Wissenschaft & Schule gegründet, 1926-1968 von OTTO
SCHMEIL's Sohn WERNER geleitet, 1943 in Leipzig ausgebombt und 1948 in der
SCHMEIL'schen Villa in Heidelberg wieder neu aufgebaut (vgl. SCHMEIL & SEYBOLD 1986).
Leider mißglückte der Versuch in den 70er Jahren, die SCHMEIL'schen Lehrbücher mit
ihrer systematisch/ enzyklopädischen Anordnung auf ein Nachfolgewerk „Welt der
Biologie“ nach den Prinzipien der damals aktuellen „Kennzeichen des Lebendigen“
umzustellen, so daß der Verlag 1984 an die Verlagsgruppe um den Aula-Verlag in
Wiesbaden (jetzt Wiebelsheim) überging.
Literatur
HERTWIG, R.: Lehrbuch der Zoologie. Fischer, Jena, (1891), 8.Aufl. 1907
SCHMEIL, O.: Lehrbuch der Zoologie für höhere Lehranstalten und die Hand des Lehrers sowie für alle
Freunde der Natur unter besonderer Berücksichtigung biologischer Verhältnisse. Quelle & Meyer,
Leipzig 1. Aufl. 1898/99, 40. Aufl. 1918.
SCHMEIL, O. & H. KOCH: SCHMEIL‘s Biologisches Unterrichtswerk. Pflanzenkunde. Quelle & Meyer,
Heidelberg, 198.Aufl. 1986.
SCHMEIL, O. & W. MERGENTHALER: SCHMEIL‘s Biologisches Unterrichtswerk. Tierkunde. Quelle & Meyer,
Heidelberg, 200.Aufl. 1986.
SCHMEIL, O. & SEYBOLD, A.: Leben und Werk eines Biologen. ### Lebenserinnerungen. Quelle & Meyer,
Heidelberg 1954, 2.Aufl. 1986.
6.5.4 Kritik am Finalismus: Hermann LÖNS
In der Tat gibt SCHMEIL selbst zu, daß er bei der Abfassung der Monographien (z.B. zum
Elefanten) an die Grenze des ihm verfügbaren Buchwissens gelangte und damit in
Gefahr des Spekulierens geriet, auch habe er den Gedanken der Zweckmäßigketi im
Sinne der Teleologie oder des Finalismus manchmal zu weit getrieben (was in späteren
Auflagen auf Grund der berechtigten Kritik ausgeglichen wurde). Schüler, die nur das
Buch (in den anfänglichen Ausgaben) als Quelle hatten, konnten dann – allen guten
Beteuerungen und Absichtserklärungen SCHMEIL's zum Trotz – doch mehr spekulieren
als sorgsam beobachten. Das hat der „Heidedichter“ HERMANN LÖNS trefflich aufgezeigt.
LÖNS, HERMANN, 1866 -1914
Er wurde in Culm/ Westpreußen geboren, wuchs in Münster/ Westfalen auf. Dort wurde
er durch Molluskenforschung während des Studiums der Medizin & Naturwissenschaft
bekannt. Er setzte das Studium in Greifwald fort, blieb aber ohne Abschluß. Er wurde
dann Journalist in Hannover und der bekannte Heide-Naturschriftsteller. LÖNS war aber
innerlich zerrüttet, meldete sich (48jährig!) als Kriegsfreiwilliger und fiel gleich in den
ersten Tagen an der Westfront.
LÖNS hatte mit seiner großen Freilanderfahrung die Auswirkungen eines überzogen
spekulativen Zweckmäßigkeits-Gedankens in den SCHMEIL'schen Unterrichtswerke
gespürt und sie gut ein Jahrzehnt nach ihrem Erscheinen trefflich karrikiert („Der
zweckmäßige Meyer“; Sponholtz Verlag Hannover 1911; man beachte die Anspielung auf
den SCHMEIL'schen Verlag Quelle & Meyer! Ein Auszug folgt nachstehend). Diese Kritik
wurde in den 20er Jahren gern (als der „zweckmäßige SCHMEIL“) aufgegriffen:
Lehrstuhl Prof.em. Dr. rer. nat. Eberhard G. SCHMIDT Universität Essen, FB 9:
Grundvorlesung BIOLOGIEDIDAKTIK, Bearbeitungsstand vom 20.1.2001
Kap.6: Geschichte der Biologiedidaktik
6 — 40
Der Zweckmäßige Meyer
Meyer schwärmt sehr für die Natur, oder vielmehr, wie er sagt, für Natur, und zwar aus
verschiedenen Gründen. Einmal, weil dieser Sport billig ist, denn Meyer ist für das Billige;
zweitens, weil er bekömmlich ist, denn Meyer ist für das Bekömmliche; drittens, weil Meyer eine
bedeutende naturwissenschaftliche Bildung hat, denn er hat Prima-Reife, ein
Vergrößerungsglas, einen ziemlich richtig gehenden Laubfrosch und ist Mitglied des Kosmos.
Infolgedessen ist für Meyer die Natur eine leicht erklärbare Sache. Über die Tierseele hat ihn
Doktor ZELL, über die Entstehung der Welt der Urania-MEYER, über die Entwicklung des
Menschen FRIEDRICH WILHELM BÖLSCHE vollkommen genügend unterrichtet; den Rest denkt er
sich selbst zusammen.
Meyer und ich gehen oft aus; Meyer redet, und ich höre zu; Meyer erklärt, und ich versuche
zu folgen; Meyer lehrt, und ich stelle schüchterne Fragen; wenn er sie nicht beantworten kann,
erklärt er sie für zu leicht, als daß er darauf eingehen könnte.
„Wie zweckmäßig diese Blume, Hieracium, Habichtskraut heißt sie, eingerichtet ist“, sprach
Meyer und zeigte auf eine Blume, die im grünen Grase stand und ob dieser unerwarteten
Ansprache fast vom Stengel fiel; „ihre leuchtende Farbe zieht die Insekten an. Wäre sie zum
Beispiel rot, so würde sie nicht bemerkt werden“. In diesem Augenblicke kam eine Hummel an,
die irgend etwas in den Bart brummte, das wie Kartoffelkopp klang, übersah vollständig das
schreiend gelbe Plakat des Habichtskrautes und ließ sich an einer roten Taubnessel nieder.
Meyer wandte sich entrüstet ab.
Dann zeigte mir Meyer eine Pflanze, die er Wasserhahnenfuß, Batrachium, nannte. „Sehen
Sie“, sagte er, „würde dieser Graben fließen, so würde diese Pflanze lauter untergetauchte, aber
keine schwimmenden Blätter haben. Da das Wasser aber steht, so bringt sie es zu letzteren.
Das ist das Gesetz der Anpassung, das DARWIN entdeckt hat“. Stimmt, sagte ich; es ist dasselbe,
als wenn man einen Anarchisten aus den bewegten Wellen des Proletariats in die ruhigen
Verhältnisse des Kapitalismus bringt; schon nach fünf Bierminuten wird er konservative Blätter
treiben.”
„Das ist Unsinn“, sprach Meyer, „geben Sie mir lieber eine Zigarre“. Ich gab sie ihm, und er
fuhr fort: „Diese kleinen Käfer, die überall fliegen, sind Aphodien, Mistkäferchen. Die Natur hat
sie dazu bestimmt alle exkrementalen Stoffe fortzuräumen. Mit unglaublicher Sicherheit wissen
sie jeden Mist aufzufinden und fliegen auf ihn zu“. – „Pfui, Spinne“, sprach er dann und spie
eines dieser winzigen Insekten, das ihm in den stets offenen Mund geflogen war, in die
Landschaft, und fuhr darauf fort: „Bemerken Sie diese Lerche da?“ Ich bemerkte sie. „Dieselbe
hat einen anderen Gesang als die Bachstelze, die überhaupt keinen hat, und diese einen
anderen als der Hänfling; das ist deswegen so, damit die Arten sich zusammenfinden, sonst
würde es ein heilloses Durcheinander geben“. Entrüstet runzelte er die Stirne, denn besagte
Lerche sang eben genau wie ein Hänfling, lockte dann wie eine Bachstelze, schlug darauf wie
eine Wachtel, pfiff alsdann wie ein Star und schwirrte zuletzt wie ein Grünfink. „Was sagen Sie
dazu?“ fragte ich Meyern. Er schwieg verletzt.
Als sich aber im weiteren Verfolg unserer Wanderung eine Haubenlerche auf einem Stück
Ödland niederließ, erhellten sich seine finsteren Züge: „Bemerken Sie den Vogel?“ fragte er. Ich
bemerkte ihn. „Er ist genau so grau gefärbt wie der Erdboden und dadurch vor den
Nachstellungen seitens der Raubvögel völlig geschützt“. Ein Sperbermännchen, das hinter einer
krüppeligen Föhre hervorkam, war gegenteiliger Ansicht und bewies sie dadurch, daß es mit der
Lerche in den Klauen abging und Meyer mit seiner Theorie aufsitzen ließ. Ich grinste in mich
hinein und gab Meyer die dritte Zigarre.
Als wir den Wald betraten, wies Meyer mir überzeugend nach, daß die Koniferen, also die
Nadelhölzer, aus Gründen der Zweckmäßigkeit Sommer und Winter die Nadeln behielten, was
die Laubhölzer nicht könnten, einmal weil sie keine Nadeln hätten, und dann überhaupt und so.
Ich fragte ihn darauf, ob die Natur dazu da sei, um von dem Menschen erklärt zu werden, was
Lehrstuhl Prof.em. Dr. rer. nat. Eberhard G. SCHMIDT Universität Essen, FB 9:
Grundvorlesung BIOLOGIEDIDAKTIK, Bearbeitungsstand vom 20.1.2001
Kap.6: Geschichte der Biologiedidaktik
6 — 41
er als selbstverständlich bezeichnete, und dann fragte ich ihn, warum die drei Lärchen auf der
Lichtung, die doch auch Koniferen wären, ihre Nadeln abwürfen, worauf Meyer zu etwas
anderem überging und mich um eine neue Zigarre ersuchte, weil die zweckmäßigen Mücken so
lästig wären.
Mittlerweile kamen wir aus der gedankenbelebenden Kühle des Waldes in das freie Feld und
in die Sonne. Meyers Havelock und Lodenhut erwiesen sich nun als eine von der Natur
unzweckmäßig eingerichtete Körperbedeckung, so daß er schwieg, bis er im Dorfe zwei
Butterbrote mit Harzkäse und zwei Weiße binnen hatte, worauf er wieder zu seiner
Zweckmäßigkeitstheorie zurückkam, nachdem er mir meine letzte Zigarre, seine fünfte,
abgenommen hatte. Meyer bemerkte gerade, daß es sieben sei, und um acht müsse er zu Hause
sein. Er verschob daher weitere Erklärungen auf das nächste Mal. Ich freue mich schon darauf.
Literatur
LÖNS, H.: Der zweckmäßige Meyer. Sponholtz, Hannover, 1911.
Mit Kürzungen in UB H. 80, 7. Jahrg., April 1983.
6.5.5 Das Verhältnis von SCHMEIL ZU JUNGE,
die Dialektik von Verehrung und Widerspruch bei SCHMEIL
Es gab wohl kaum einen Zeitgenossen JUNGEs, der ihn besser verstanden hatte als
SCHMEIL. SCHMEIL kannte den Dorfteich mindestens so gut wie JUNGE, die Vielfalt anderer
Stillgewässer sogar viel besser; er war wissenschaftlich als Kenner der Ruderfußkrebse
(Copepoden), einer markanten Zooplanktongruppe in Teichen, ausgewiesen, also kein
Amateur wie JUNGE, und ebenfalls didaktisch/ pädagogisch erfahren. Kaum ein anderer
konnte also JUNGE's Leistung besser beurteilen und würdigen; SCHMEIL war auch in
Wahrheit von JUNGE's (ökologischem Art-) Konzept fasziniert. Das zeigte sich auch an der
feinfühligen, versteckten Richtigstellung zum Dorfteich in den Lebenserinnerungen von
SCHMEIL (SCHMEIL & SEYBOLDT 1986: 30):
„Der Dorfteich und sein Anger. Die Überschrift dieses Abschnittes weckt in mir eine doppelte
Erinnerung. Erstlich war das Gewässer, das wir mit diesem Namen belegten, samt seiner
Umgebung der Ort sonniger Kindertage, und zweitens hat unter diesem Titel „Der Dorfteich“ ein
vortrefflicher Mann, Fr. JUNGE, vor mehr als 50 Jahren ein Buch herausgegeben, das auf den
naturkundlichen Unterricht und daher auch auf mich, der den Naturwissenschaften sein
ganzes, langes Leben gewidmet hat, einen nachhaltigen Eindruck ausübte“.
Es folgt eine persönliche, ökologische Charakteristik dieses speziellen Dorfteiches, die
nur der Eingeweihte als Darstellung des eigentlichen Dorfteiches, nämlich des
Feuerlöschteiches in der Dorfmitte/ im Dorfanger (vgl. auch HÖRMANN 1965: 58) statt des
JUNGEschen Mühlenteiches am Dorfrand erkennen kann.
SCHMEIL distanziert sich aber in der „Streitschrift“ (1896/1905, die ja seine didaktische Grundlegung
darstellt) deutlich von dem Bezug zum Lebensraum, damit auch vom Teich. So ergibt sich eine Dialektik
aus Verehrung JUNGE's (als Vorbild für das „biologische Artkonzept“) und aus Widerspruch (hinsichtlich
der Akzeptanz des Bezugsrahmens Lebensgemeinschaft Dorfteich). Diese Dialektik gilt es aufzuhellen.
Das „biologische“ (oder ökologische) Artkonzept fragt nach realen funktionalen (ökologischen)
Zusammenhängen. Sie sind gerade an Analogien oder Konvergenzen, also am Bezugspunkt Lebensraum,
besonders gut erkennen. Dieser Bezugspunkt Lebensraum gibt also sachlogisch den angemessenen
Ordnungsrahmen für die Arten im ökologischen Kontext. Stillgewässer sind dabei für das praktische
Erarbeiten besonders geeignet (vgl. ESCHENHAGEN u.a. 1991, SCHMIDT 1991, 1995, 1996) und von JUNGE am
Beispiel seines „Dorfteiches“ vorbildlich didaktisch erschlossen worden.
Das (natürliche) System stützt sich dagegen auf die phylogenetische Verwandtschaft. Sie ist oft nur
vom Spezialisten mit großer Erfahrung und vorwiegend an Indizien zu erkennen ist. Für den Schüler in
der S I bleibt die phylogenetische Verwandtschaft in vielen Fällen ein abstrakt/ theoretischer Bezug, den
Lehrstuhl Prof.em. Dr. rer. nat. Eberhard G. SCHMIDT Universität Essen, FB 9:
Grundvorlesung BIOLOGIEDIDAKTIK, Bearbeitungsstand vom 20.1.2001
Kap.6: Geschichte der Biologiedidaktik
6 — 42
JUNGE bei seiner Einführung in die Formenkunde als nicht kindgerecht ablehnt (vgl. ESCHENHAGEN et al.
1989, 1992).
Lehrstuhl Prof.em. Dr. rer. nat. Eberhard G. SCHMIDT Universität Essen, FB 9:
Grundvorlesung BIOLOGIEDIDAKTIK, Bearbeitungsstand vom 20.1.2001
Kap.6: Geschichte der Biologiedidaktik
6 — 43
Warum also distanziert sich dann SCHMEIL von dem Bezug zu einem Lebensraum als schlüssigem
Ordnungskriterium für die funktionsmorphologisch/ ökologischen Artmonographien, und stellt sie –
sachlich inkonsequent – in die Hierarchie der biologischen Systematik?
SCHMEIL kannte aus der Schulpraxis und als Leiter einer großen Schule nicht nur die Fähigkeiten
der Lehrer, sondern auch ihre Grenzen. So sah er allein im Lehrbuch mit funktionalen Bezug die
Grundlage für eine (inhaltliche) Reform des Biologieunterrichts mit hoher Breitenwirkung bei den auf das
Buchwissen geprägten Lehrern (s.Kap.6.5.2).
SCHMEIL's schrieb die „Kampfschrift“, als die Arbeit an seinen Lehrbüchern schon weit fortgeschritten
war. Sie ist einfach zu verstehen, wenn sie diesen neuen Lehrbüchern und damit dem Schulbuch im
Biologieunterricht überhaupt den Boden bereiten sollte. So sucht er (als seine Innovation) den Kompromiß
von traditioneller systematischer Anordnung bei LÜBEN & LEUNIS und dem funktionellen Artkonzept von
JUNGE, muß dafür den Bezugspunkt Lebensraum über Gebühr zurückstellen und hinnehmen, daß der
propagierte hohe Stellenwert praktischen Arbeitens und sein Aktionismus wider den Verbalismus (vgl. die
Thesen der „Kampfschrift“!) zu hohlen Phrasen beim Arbeiten mit diesen neuen (und vortrefflich
geschriebenen) Büchern (statt am Naturobjekt) werden können. Für die gute Sache, die Durchsetzung des
„biologischen“ Artkonzeptes, muß SCHMEIL also eine gewisse Doppelzüngigkeit hinnehmen. So ist das
Leben!
Literatur:
ESCHENHAGEN, D., U.KATTMANN & D.RODI (Hrsg.): Handbuch des Biologieunterrichts S I.
Band 1: Phänomen Vielfalt. Aulis/ Deubner, Köln, 1989.
Band 2: Lebensformen und Verwandtschaft. Aulis/ Deubner, Köln, 1992.
Band 8: Umwelt. Aulis/ Deubner, Köln, 1991.
HÖRLIMANN, M.: Methodik des Biologieunterrichts. Kösel, München, 2. Aufl. 1965.
LEMKE, W.: Zur Methodik und Praxis des Biologieunterrichts in der Grundschule. Volk & Wissen, Berlin
1948.
PASTERNAK, F. & A.STOCKFISCH: Die Natur im Unterricht. Eine Didaktik und Technik des biologischen
Unterrichts. Lax, Hildesheim 1953.
SCHMIDT, E.: Umdenken beim Ökosystemverständnis. Ökosystemanalyse am praktischen Beispiel nach dem
Lebensform-/ Nischenkonzept. S. 1-7 in GERHARDT-DIRCKSEN & SCHMIDT (Hrsg.): Ökosystem
Stadtteich. Themenheft PdB 40 (6). Aulis/ Deubner, Köln 1991.
SCHMIDT, E.: Ganzheitliche Ökosystemanalyse für den Anwender und Lehrer. S. 466-489 in EULEFELD, G. &
JARITZ, L. (HRSG.): Umwelterziehung/ Umweltbildung in Forschung, Lehre und Studium. IPN-Symposium
in der PH Erfurt/ Mühlhausen vom 4.-7.10.1994. IPN, Kiel 1995.
SCHMIDT, E.: Ökosystem See. Bd. I: Der Uferbereich des Sees. Biologische Arbeitsbücher 12.1. Quelle &
Meyer, Wiesbaden. 1974, 5. Aufl. 1996 (in 2 Bänden, Bd. 2 im Druck).
6.5.6 SCHMEIL und DARWIN/ HAECKEL
SCHMEIL hat den Zusammenhang von Gestalt und Funktion/Lebensweise als Kausalität
(im Gegensatz zur Beschreibenden Morphologie LÜBENs) in den Mittelpunkt seines
biologischen Bildungsauftrages gestellt, dabei den Aspekt der Zweckmäßigkeit, der
besonderen Angepaßtheit betont, anfangs sogar überbetont. Diese Aspekt legt eigentlich
die Verbindung zu der DARWIN’schen Selektionstheorie nahe, die zur Zeit von SCHMEIL
von HAECKEL in Jena eifrigst propagiert und publik gemacht worden war. SCHMEIL geht
darauf aber gar nicht ein und hält sich auch bei seinen systematischen Übersichten
völlig „bedeckt“ gegenüber diesen Selektionsvorstellungen (als Ursache für
Zweckmäßigkeit/ Angepaßtheit) und gegenüber phylogenetischen Vorstellungen und
Theorien und Zusammenhängen ganz allgemein. Auch das ist eine logische
Unstimmigkeit bei SCHMEIL, auf die hier nur kurz hinwiesen werden soll!
Lehrstuhl Prof.em. Dr. rer. nat. Eberhard G. SCHMIDT Universität Essen, FB 9:
Grundvorlesung BIOLOGIEDIDAKTIK, Bearbeitungsstand vom 20.1.2001
Kap.6: Geschichte der Biologiedidaktik
6 — 44
6.5.7 Kennzeichnung von SCHMEIL'S WIRKEN
Konz: „Biologische Betrachtungsweise“: Die Art als funktionelle Einheit aus Gestalt
(Bau: Morphologie/ Anatomie), Leistung (Physiologie) und Lebensweise (Biologie
i.e.S.)/ Verhalten und Umwelt (Lebensraum),
also Funktionsgestalt entsprechend dem JUNGE'schen Raster, aber im systematischen
Kontext (in „absteigender Reihung“) an ausgewählten Arten der wichtigsten Taxa.
Med:
Die SCHMEIL'schen Unterrichtswerke (Schulbuch in Verbindung mit
Wandtafeln).
Beim Arbeiten mit dem Buch konnte allerdings (anders als am praxisorientierten Ansatz
JUNGE's) die Zweckmäßigkeit spekulativ überhöht und damit wirklichkeitsfremd werden
(Gefahr des Finalismus).
Meth: Bekenntnis zum entdeckenden Lernen (wie bei JUNGE) und zum Verständnis
des Lebendigen.
Diese Forderung von SCHMEIL kam jedoch bei der bequemen Arbeit mit dem Buch
meistens nicht zum Tragen kam.
Einst: Wecken von Verständnis durch die Fragen nach dem „Warum?“ und „Wozu?“,
also nach der Zeckmäßigkeit (Finalität) von Gestalt und Funktion; heute oft
formuliert als Angepaßtheit [von Gestalt/ Funktion/ Lebensweise] an den
Lebensraum: Gefahr des Finalismus.
6.6 Vergleichende Würdigung der Leistungen von LÜBEN & LEUNIS,
JUNGE & SCHMEIL
LÜBEN & LEUNIS, JUNGE & SCHMEIL sind in der Biologiedidaktik wegweisend für die
Formenkunde, also für die Einführung in die Formenmannigfaltigkeit an ausgewählten
Arten vor dem Hintergrund eines Artkonzeptes.
LÜBEN & LEUNIS haben das praktische, möglichst selbsttätige Arbeiten am Objekt
didaktisch erschlossen, dabei eine Reihe von Unterrichtsprinzipien herausgestellt. Sie
bezogen sich auf das morphologisch/ systematische Artkonzept (bei LEUNIS auch einfach
das diagnostische Artkonzept mit dem Bestimmen bzw. der Artunterscheidung als
Hauptziel), das in der Lehrerausbildung gut vorbereitet, von LÜBEN & LEUNIS
praxisgerecht methodisch aufbereitet und in der Materialbeschaffung und vom
Vorbereitungsaufwand her gut zumutbar war (Pflanzenkunde nach Frischmaterial aus
dem Schulumfeld bzw. dem -garten im Sommer, Tierkunde nach Schlachtmaterial oder
Präparaten aus der Schulsammlung). Das Konzept war damit lehrergerecht, jedoch
weniger schülergerecht, und konnte die hohen (formalen) Bildungsziele (wie sie bei
LÜBEN formuliert worden waren) nicht erfüllen.
Lehrstuhl Prof.em. Dr. rer. nat. Eberhard G. SCHMIDT Universität Essen, FB 9:
Grundvorlesung BIOLOGIEDIDAKTIK, Bearbeitungsstand vom 20.1.2001
Kap.6: Geschichte der Biologiedidaktik
6 — 45
JUNGE & SCHMEIL forderten dazu das biologische (funktionsmorphologische oder
ökologische) Artkonzept. Hier sollte die Korrelation von Gestalt und Funktion/
Lebensweise, damit die Angepaßtheit an den Lebensraum im Mittelpunkt stehen. Dazu
gehört ein ökologisches Frageraster (in aktueller Formulierung):
1 Zusammenspiel von Bewegung, Raumwahrnehmung und Habitatpräferenz bei
Tieren, von Wuchsform und Standort bei Pflanzen.
2 Zusammenspiel von Nahrungserwerb (bei Tieren auch Atmung, bei grünen
Pflanzen Fotosynthese) und der betreffenen Organausstattung im Raum-/
Zeitbezug.
3 Zusammenspiel von Bedrohung durch Freßfeinde mit Strategien der
Feindvermeidung unter Nutzung der spezifischen Organausstattung im Raum/ Zeitbezug.
4 Vermehrungs- und Ausbreitungsstrategien im Raum-/ Zeitbezug.
Ein derartiges Frageraster wurde von JUNGE entwickelt und für ein forschendentdeckendes Lernen am Objekt didaktisch aufgearbeitet. Als Ordnungsstruktur für
ökologisch ähnliche/ vergleichbare Arten wählte er sachgerecht die Lebensräume und
stellte exemplarisch den Lebensraum Teich in den Mittelpunkt, wobei die Untersuchung
im Aquarium (verbunden mit einfachen Experimenten) als Systemsimulation im
Klassenraum zu deuten ist. Allgemeine ökologische Gesetzmäßigkeiten sollten einen
Theoriehintergrund für die Deutungen der Ergebnisse bilden. Dieser Ansatz ist
sachlogisch schlüssig, von hohem Bildungswert und für die Schüler faszinierend, also
voll schülergerecht. Er stellt aber hohe Anforderungen an die theoretische und vor allem
an die praktische Qualifikation des Lehrers, die von der Lehrerausbildung nicht erfüllt
werden können. Außerdem erfordert JUNGE's Ansatz auch eine besonders hohes
Engagement des Lehrers bei der Lang- und Kurzzeitvorbereitung des praktischen
Unterrichts. Damit ist dieses Konzept nur von einer Elite unter den Lehrern umsetzbar,
pauschal gesehen also nicht lehrergerecht (oder positiv ausgedrück: Eine
Herausforderung an die Lehrerausbildung und für die selbsttätige Fortbildung der
Lehrer aus eigenem Antrieb!).
SCHMEIL gehörte zwar zu einer derartigen Lehrer-Elite, die das Konzept JUNGE's
umsetzen konnte. Er wollte aber dem „biologischen“ Artkonzept zur Breitenwirkung
verhelfen. Er sah dazu den Weg über ein passendes Schulbuch als (lehrergerechtes)
Medium, das er selbst bereitstellen wollte. Zur Sicherung der Akzeptanz mußte überdies
der den Lehrern vertraute (aber nicht sachgerechte) Ordnungsrahmen des biologischen
Systems (jedoch unter Aussparung des für SCHMEIL eigentlich aktuellen
Phylogenetischen Hintergrundes und erst recht der DARWIN’schen Selektionstheorie)
beibehalten werden. So konnte er in der Tat das biologische Artkonzept und das darauf
abgestimmte Medium Schulbuch im Biologieunterricht etablieren, mußte aber erhebliche
Abstriche bei der praktischen Arbeit am Objekt (die eigentlich wesentlich zu seinem
Zielkatalog gehörte), also beim Bildungswert für den Schüler, hinnehmen. SCHMEIL's
Ansatz war damit wieder lehrergerecht, aber nur bedingt schülergerecht (ähnlich wie bei
LÜBEN & LEUNIS). Der modernen Ansatz beim Artkonzept war nur durch Rückfall bei den
Arbeitsweisen (im wahrsten Sinne des Wortes) zu erkaufen.
Lehrstuhl Prof.em. Dr. rer. nat. Eberhard G. SCHMIDT Universität Essen, FB 9:
Grundvorlesung BIOLOGIEDIDAKTIK, Bearbeitungsstand vom 20.1.2001
Kap.6: Geschichte der Biologiedidaktik
6 — 46
6.7 „Hinaus in die Natur“ und die Arbeitsschulbewegung
in der Weimarer Republik (20er Jahre)
In den „Gründerjahren“ (um die Jahrhundertwende) mit der rasant steigenden
Industrialisierung drängten Menschenmassen in die Städte, vielfach entstanden große
Arbeiterviertel mit schlechten Wohnbedingungen. Als Ausgleich zogen die Menschen am
Wochenende gern hinaus in die Natur (vgl. die „Milljö“-Studien ZILLE's in Berlin).
„Laubenpieper“-Kolonien (Schrebergärten), Freikörperkultur, „Turnvater Jahn“,
Wandervogel-Bewegung waren schon mehr Ausdruck einer Gesinnung, einer
Naturbewegung (vgl. KNAUT 1993) als bloße Naturverbundenheit. „Hinaus in die Natur“,
„Naturgeschichte im Freien“ (SCHMITT 1922 u.a.) wurden dann nach dem 1. Weltkrieg
Schlagworte der Biologiedidaktik. Damit ergab sich in den 20er Jahren (im Deutschland
der „Weimarer Republik“) wieder ein stärkerer Bezug zu JUNGE (vgl. Kap.6.4.10 mit dem
Bericht von GRUPE) und dem Gedanken der Lebensgemeinschaft (der insbesondere in
den Volksschulen bis in die 60er Jahre nachgewirkt hat, vgl. z.B. KELLE & STURM 1974),
ohne daß das ökologische Artkonzept mit JUNGE's Konsequenz wieder aufgegriffen
worden wäre.
Das praktische Tun, im Biologieunterricht zunächst als Selbsttätigkeit der Schüler
am Objekt, im erweiterten Sinne auch als Arbeit im Schulgarten etc., erhielt damit einen
hohen Stellenwert (BROHMER 1922, GRUPE 1921, die tätige Naturkunde propagierend;
Details bei GRUPE 1973; vgl. auch GRUPE 1949). Damit ergibt sich auch wieder ein
stärkerer Bezug zum Konzept von JUNGE und eine eher kritische Sicht der
Schulbuchbiologie von SCHMEIL (s.o.). Populäre Bestimmungsführer, oft praktisch nach
Lebensräumen gegliedert kamen auf (s.o., dazu die KOSMOS-Naturführer oder die
Lebensraum-Führer
von
BROHMER
oder
die
„Studienbücher
Deutscher
Lebensgemeinschaften“: STEINECKE 1940). Das Problem der Schulferne der
Lehrerausbildung stellte sich, der Ruf nach Fachdidaktik im Studium kam auf (vgl.
STEINECKE 1951).
Ein anderes Element war die Arbeitsschulbewegung (Ausgang von KERSCHENSTEINER
1903, vgl. SCHEIBNER 1951) mit den Zielen:
 Die geistige Arbeit im Unterricht soll mit praktischem Tun (möglichst mit
handwerklicher Arbeit) verbunden werden, beide sollen sich wechselseitig
befruchten.
 Das praktische Erleben am Objekt soll eigene Denkanstöße der Schüler fördern.
 Ziel ist die Erziehung zu selbständiger Tätigkeit und geistiger Verarbeitung mit dem
Denken in Zusammenhängen auf anschaulicher Grundlage.
Typisch für diese Arbeitsschulbewegung war eine Gruppe von Schülern und Lehrern des
Gymnasiums in Berlin-Tegel. Sie ziehen eines Tages hinaus auf eine städtische Insel im Tegeler
See, gründen dort in freier Natur die „Schulfarm Scharfenberg" und tragen nach dem Unterricht
mit ihrer Hände Arbeit zum Lebensunterhalt bei. Die Schulfarm wurde 1949 (nach einem
braun- und dann rot-sozialistischen Kaderschul-Interregnum) unter der Leitung eines
ehemaligen Schülers wieder eröffnet, die Ausbildung und die möglichst selbständige
handwerkliche Arbeit in einer der 10 „Innungen" (mindestens an einem Nachmittag je Woche
und an 10 Tagen in den großen Ferien) gehörte zum damaligen Pensum dieser städtischen
Internatsschule in der Form einer kooperativen Gesamtschule mit einem Hauptschul- und
einem gymnasialen Zweig (in heutiger Sprechweise).
Lehrstuhl Prof.em. Dr. rer. nat. Eberhard G. SCHMIDT Universität Essen, FB 9:
Grundvorlesung BIOLOGIEDIDAKTIK, Bearbeitungsstand vom 20.1.2001
Kap.6: Geschichte der Biologiedidaktik
6 — 47
Eine andere (marxistische) Definition der Arbeitsschule stellt die Orientierung an den
Problemen industrieller Arbeit und Produktion (polytechnischer Unterricht) in den
Vordergrund.
Stoff:
Synthese früherer Epochen, insbesondere des Bezugs zum Lebensraum (vgl.
BROHMER, GRUPE sen., SCHMITT)
Meth: Arbeit am Objekt, bevorzugt in der freien Natur
Arbw: Starke Betonung des praktischen Tuns, auch der handwerklichen Arbeit:
Schulgärten, Arbeitsschulidee
Einst: Naturverklärung als Flucht aus den Ballungszentren („Hinaus in die Natur")
Literatur:
BROHMER, P: Der Naturgeschichtsplan in der Arbeitsschule. ### 1922.
GRUPE, H. (sen., Heinrich): Natur und Unterricht. ### 1921.
GRUPE, H. (sen., Heinrich): Naturkundliches Wanderbuch. Westermann, Braunschweig, 14.Aufl. 1949.
KELLE, A. & STURM, H.: Lebendige Heimatflur, 4. Gewässer, Moor & Heide im Jahreslauf. Unterrichtswerk
Biologie für Klassen-, Gruppen & Einzelarbeit. Dümmler, Bonn, 3. Aufl. 1974.
KERSCHENSTEINER, G.: Grundfragen der Schulorganisation. Teubner, Berlin 1921.
KERSCHENSTEINER, G.: Begriff der Arbeitsschule. Teubner, Leipzig 1903,
Oldenbourg, München, 19509, 1961. ##
KNAUT, A.: Zurück zur Natur! Landschafts- und Heimatschutz im wilhelminischen Zeitalter. Diss. Universität
München 1992. Auch unter dem Titel: Zurück zur Natur! Die Wurzeln der Ökologiebewegung. Suppl. 1
zum Jahrbuch f. Naturschutz & Landschatspflege. AG berufl. & ehrenamtl. Naturschutz (ABN), Bonn
(in Kommission bei Kilda, Greven) 1993.
SCHEIBNER, O.: Arbeitsschule in Idee und Gestaltung. Gesammelte Abhandlungen. Quelle & Meyer,
Heidelberg, 1927 (PETERS & FISCHER: Hrsg.), 3. Aufl. 1951.
SCHMITT, C.: Wege zur Naturliebe. 9 Bände (z.B. Bd. 1: Zweisprache mit der Natur, Bd. 2: Wie ich Pflanze &
Tier aushorche?, Bd. 4: Naturliebe  mein Unterrichtsziel, 1922, Bd. 9: Der Naturbeobachter). Datterer,
Freising.
SCHMITT, C.: Heraus aus der Schulstube. Naturgeschichte im Freien. Datterer, Freising 1922
STEINECKE, F.: Methodik des biologischen Unterrichts. Quelle & Meyer, Heidelberg 1932, 2. Aufl. 1951.
STEINECKE, F.: Der Süßwassersee. Die Lebensgemeinschaften des nährstoffreichen Binnensees. Bd. 1 der
Studienbücher Deutscher Lebensgemeinschaften (Hrsg. STEINECKE, F.). Quelle & Meyer, Heidelberg
1940.
6.8 Rassenwahn und Lebensraum- („Blut- & Boden“-) Ideologiein der
Zeit der national-sozialistischen Diktatur (1933-1945)
Die Schulbiologie geriet unter politischem Druck und Ausrichtung auf Rassismus (mit
besonderer Förderung von Genetik und Sozialdarwinismus), auch der Gesundheitslehre.
Dabei ist ein biologisch fundierter Rassismus bei einem Volk der Mitte Europa mit
erheblichen Wanderbewegungen in den letzten 2000 Jahren und mit offenen und
wechselhaften Grenzen sachlich unhaltbar, gemeint war ein Nationalismus mit brutaler
Verfolgung ethnisch/ religiöser Minderheiten im Inneren des Reiches.
Der Begriff des Lebensraumes wurde aufgewertet, aber umgedeutet („Volk ohne
Raum“), von dem Aspekt der Heimatverbundenheit profitierte (ähnlich wie später in der
DDR) die Ökologie („Lebensgemeinschaften“). Die Biologie-Stundenzahl wurde (mit
einseitiger Schwerpunktsetzung) erhöht.
Lehrstuhl Prof.em. Dr. rer. nat. Eberhard G. SCHMIDT Universität Essen, FB 9:
Grundvorlesung BIOLOGIEDIDAKTIK, Bearbeitungsstand vom 20.1.2001
Kap.6: Geschichte der Biologiedidaktik
6 — 48
Literatur:
BÄUMER, Ä.: NS-Biologie. Hirzel, Stuttgart 1990.
BÄUMER-SCHLEINKOFER, Ä.: NS-Biologie und Schule. Lang, Frankfurt/M. 1992.
DEICHMANN, U.: Biologen unter Hitler. Campus, Frankfurt/M. 1992.
vgl. z.B. auch
HEIBER, H.: Universität unterm Hakenkreuz. Teil II. Die Kapitulation der Hohen Schulen. Das Jahr 1933 und
seine Themen. 2 Bände, Saur München 1992.
ZMARZLIK, H.: Politische Biologie im Dritten Reich. MNU 19: 289-298 (1966).
6.9 Neubesinnung nach dem Krieg
in der BR Deutschland (und in West-Berlin)
Die NS-Zeit dauerte (den Krieg eingeschlossen) nur ein Dutzend Jahre. Die Mehrzahl der
aus dem Krieg zurückkehrenden Lehrer war von den 20er Jahren geprägt worden. Sie
konnten und wollten an das Gedankengut ihrer Jugendzeit wieder anknüpfen. Die
Ehrfurcht vor dem Leben wurde nach den Exzessen der NS-Zeit besonders betont (vgl.
STEINECKE 1951).
Das Problem der Zersplitterung der Biologie in Teildisziplinen und das der stark
gewachsenen Stoffülle stellte sich in dramatischer Schärfe. Die Formenmannigfaltigkeit
wurde auf wenige Beispiele („typische Vertreter“, z.B. Teich-Muschel oder WeinbergSchnecke als Repräsentanten der Weichtiere) reduziert. Die Laborbiologie erhielt Vorrang
gegenüber der Freilandbiologie, das Experiment gegenüber der differenzierten
Beobachtung. VIRCHOWs Ausspruch „Es sei nicht der materielle Inhalt der
naturwissenschafltichen Disziplin, der in erzieherischer Bedeutung interessiere, sondern
es sei die Methode“ kam zu neuen Ehren: Methodenlernen statt Faktenwissen. Das
entspricht einer Deutung des Prinzips des Exemplarischen (im Sinne von WAGENSCHEIN
1959, 1962, s. Kap. 2.9) oder des Paradigmatischen. Betont wird damit auch der Wert
der formalen Bildung (Denk- und Arbeitsweisen der Biologie, Kap. 2.5) oder der
kategorialen Bildung (im Sinne von KLAFKI 1959). Den Geist der Zeit spiegelt gut die
Didaktik von SIEDENTOP (1964/ 1972) wider, die Leitziele hat LINDER (1957) prägnant
herausgestellt.
Literatur.
LINDER, H.: Leitgedanken zum Unterricht in Biologie an den unteren & mittleren Klassen der Höheren
Schulen; eine Methodik auf praktischer Grundlage. Metzler, Stuttgart 1957.
SIEDENTOP, W.: Methodik und Didaktik des Biologieunterrichts. Quelle & Meyer, Heidelberg 1964, 4.Aufl.
1972.
STEINECKE, F.: Methodik des biologischen Unterrichts an höheren Lehranstalten. Quelle & Meyer, Heidelberg
1932, 2. Aufl.1951.
WAGENSCHEIN, M.: Zum Begriff des Exemplarischen Lehrens. (Z. Pädagogik, als Heft 1956). Beltz, Weinheim
1959.
WAGENSCHEIN, M.: Erwägungen über das exemplarische Prinzip im Biologieunterricht. MNU 15 (1): 1-9
(1962).
Lehrstuhl Prof.em. Dr. rer. nat. Eberhard G. SCHMIDT Universität Essen, FB 9:
Grundvorlesung BIOLOGIEDIDAKTIK, Bearbeitungsstand vom 20.1.2001
Kap.6: Geschichte der Biologiedidaktik
6 — 49
6.10 Der ideologische Umbruch der 60er/ 70er Jahre
Mit dem raschen Wiederaufbau und dem Wirtschaftswunder wurden der vorherige
Kampf um das Überleben und der Zusammenbruch Deutschlands verdrängt. Für die
heranwachsende Kriegs- und Nachkriegsgeneration waren dann materielle Probleme
nebensächlich. Gesucht wurde der große, intellektuell faszinierende Wurf für die
Erziehung und die Unterrichtskonzepte, zugleich der Bruch mit der Vergangenheit, das
bedeutete auch Abgrenzung gegen die älteren Generationen und Befreiung von ihren als
überholt angesehenen Tabus, wenn auch (für die Betroffenen unmerklich) neue Tabus
(in Form von Gruppenzwängen: „Political correctnes“) gesetzt wurden. So liefen
verschiedene Richtungen nebeneinander.
Wissenschaftliche Rigorosität: Grundideen der Naturwissenschaften fanden (von den
angelsächsischen Ländern her kommend) Priorität in den Erziehungswissenschaften,
die sich nun strikt empirisch (statt philosophisch) orientierten. Unter dem Aspekt der
Objektivität sollten die Zielsetzungen für den Unterricht von (behördlicher) Willkür
befreit, die Strukturierung nach objektiven Kriterien ausgerichtet, der Lernerfolg objekt
und statistisch gesichert bestimmt werden: Curriculum-Theorie (s.u.; vgl. ROBINSON
1969).
Anstoß zur Curriculum-Entwicklung gaben:
 die Wissensexplosion, also das Problem der Stoffülle, und der Fortschritt der
Wissenschaften, also die hohe Dynamik, und der entsprechenden
Anpassungsbedarf der Fachdidaktik, das Problem der Lehrer bei knapper Zeit,
damit Schritt zu halten,
 die "Verwissenschaftlichung" des Lebens, die Notwendigkeit einer umfassenden (auch
naturwissenschaftlich/technischen) Allgemeinbildung,
 technische & organisatorische Innovation/Reform des Unterrichts (i.S. der Nutzung
der neuen technischen möglichkeiten, insbesondere der elektronischen
Geräte/Medien),
 Verlängerung der Schuldauer (z.B. in der Hauptschule auf 9 Jahre, Abitur nach 13
Schuljahren), Umschichtung zu den längeren Ausbildungszeiten (z.B. statt zur
Realschule zum Gymnasium), Maßnahmen "kompensatorischer" Erziehung für
sozio-kulturell Benachteiligte ("Ausschöpfen der Bildungsreserven",
"Chancengleichheit für alle" durch Abbau schichten- oder geschlechtsspezifischer
Benachteiligungen),
 Anforderungen erhöhter Qualifikationen für die Arbeitnehmer in einer technisierten
Wirtschaft.
Die individuellen Eigenarten und Schwächen der Lehrer sollten durch den
„kybernetischen Unterricht“ mit objektiven Lehrprogrammen (an Lehrmaschinen
analog zu den Sprachlabors) eliminiert werden. Zugleich hoffte man mit einer derartig
ökonomisch gestalteten Ausbildung dem Lehrermangel der Zeit abzuhelfen, die
Wissenexplosion zu bewältigen, das „Lebenslange Lernen“ zu sichern. Auch
sozialpolitische
Vorstellungen
(gleiche
Bildung
für
alle,
Zerschlagen
der
Jahrgangsklassen durch individuelle Einstellung der Lerngeschwindigkeit an jeder
Maschine) waren damit verbunden. Ein derartig normierter Unterricht war zugleich die
Voraussetzung für gesicherte statistische Analysen, also für die Wissenschaftlichkeit der
Lehrstuhl Prof.em. Dr. rer. nat. Eberhard G. SCHMIDT Universität Essen, FB 9:
Grundvorlesung BIOLOGIEDIDAKTIK, Bearbeitungsstand vom 20.1.2001
Kap.6: Geschichte der Biologiedidaktik
6 — 50
Erfolgskontrolle. Dabei wurde die klassische Vorstellung. daß die Erziehung von
Individuen zu Persönlichkeiten an eine Lehrerpersönlichkeit und deren individuelle
Gestaltung des Unterrichts gebunden ist, verdrängt. Zugleich bedeutet es eine
Entmündigung des Lehrers (und das in der Zeit, die die Erziehung zum mündigen
Bürger besonders propagierte)! Diese kybernetische Pädagogik hat sich denn auch bald
wieder totgelaufen (vgl. LINDER 1973 und Kap. 3.5.3.8, programmierter Unterricht im
BU).
Anthropozentrik: Zur Befreiung von Tabus gehörte auch die Lockerung bis Leugnung
religiöser Bekenntnisse und Normen (z.T. zugunsten eines sozial/sozialistischen
Menschenbildes), der Pluralismus der Meinungen. Die neue Sozialethik förderte die
Sexualerziehung, aber auch die Gesundheits- und Friedenserziehung, überhaupt den
Anteil der Menschenkunde im Biologieunterricht, die hemmungslose Industrialisierung
führte zu unerträglichen Umweltbelastungen und damit zur Etablierung der
Umwelterziehung (Kap. 2.11, 4.8).
Stoffstrukturierung in der S I nach den „Kennzeichen des Lebendigen“: Auch im
Gymnasium (Unter- & Mitelstufe) wurde dem Problem der Stoffülle dadurch begegnet,
daß die systematisch orientierten Formenübersichten völllig gestrichen und durch
exemplarische Behandlung nach Kriterien der allgemeinen Biologie, den „Kennzeichen
des Lebendigen“ (so direkt der Titel des Schulbuches aus dem Metzeler Verlag,
Stuttgart), abgelöst wurde. Allerdings wurden diese „Kennzeichen“ an jeweils anderen
Vertretern behandelt, der Gedanke der „Ganzheit“ und damit die Vorstellung vom
Zusammenhang der Teile und der Realitätbezug verletzt. Die neuen Richtlinien der S I
im Gymnasium NRW (1993) kehrten jedoch zu ausgewählten Artmonographien im
ganzheitlichen Kontext zurück.
Der Reformwelle Anfang/ Mitte der 70er Jahre folgte eine Stagnation, ein Beharren auch
an Fehlentwicklungen, erst jetzt, nach mehr als zwei Jahrzehnten scheint wieder etwas
Bewegung aufzukommen.
Literatur
LINDER, H.: Zehn Jahre Programmierte Instruktion. MNU 26 (8): 477-481 (1973).
6.11 Die Curriculum-Theorie als Ausdruck des Reformansatzes
6.11.1 Zum Begriff
Der Begriff Curriculum hat (für die Biologiedidaktik in den 60er Jahren) mit der
Curriculum-Theorie einen besonderen Kontext und damit eine neue inhaltliche
Bestimmung erfahren (vgl. WERNER 1973, RODI 1975). Ausgang war das Bemühen um
Objektivierung (Ausdruck der Entfaltung der Fachdidaktiken als universitärer
Wissenschaft, die in dieser Zeit begann) und wissenschaftliche Form der Optimierung
von Unterricht in einem Iterationsprozeß:
Lehrstuhl Prof.em. Dr. rer. nat. Eberhard G. SCHMIDT Universität Essen, FB 9:
Grundvorlesung BIOLOGIEDIDAKTIK, Bearbeitungsstand vom 20.1.2001
Kap.6: Geschichte der Biologiedidaktik
6 — 51
Z I E L V O R G A B E N
Randbedingungen
kognitive Ziele:
Stoffauswahl
psychomotorische Ziele:
biologische Arbeitsweisen
Emotionale Ziele:
(Einstellungen)
Sozialisierung
Bioethik/
-moral
Handlungsbezug
K O N S T R U K T I O N
der UE
Ermittlung des Vorwissens (Vortest)
Iterative
Optimierung
E R P R O B U N G
der UE
E R F O L G S K O N T R O L L E
Nachtest - Vortest = Lernerfolg; Ermittlung kurz-/mittel-, langfristig
V E R B E S S E R U N G
der UE
Abb.: ## Prinzipien der Konstruktion und Optimierung eines Curriculums bzw.
einer Unterrichtseinheit (UE)
Zum Begriff „Curriculum“ sei aus der Einführung in das Curriculum-Konzept, die den
IPN-Curricula Biologie vorangestellt ist (EULEFELD et al. 1974: 8), zitiert:
„Neue Wörter werden oft für eine alte Sache erfunden. Im Fall „Curriculum“ wurde
jedoch ein altes Wort für eine neue Sache wieder eingeführt. Das lateinische Wort
curriculum ist während der Aufklärung durch das deutsche Wort „Lehrplan“ ersetzt
worden, in einem eingeengten Sinn kommt es heute aus dem angelsächsischen
Bereich zu uns zurück.
Curriculum kann beschrieben werden als ein System von Lern- und Lehrelementen, in
dem bestimmte Lernziele angegeben und der Unterricht beschrieben wird, durch den die
Lernziele erreicht werden sollen. Im Gegensatz zu herkömmlichen Lehrplänen nennt das
Curriculum also nicht nur allgemeine Ziele oder Richtlinien, sondern gibt neben
festgelegten Lernzielen außerdem an, durch welche Unterrichtsmaßnahmen des Lehrers
und durch welche Tätigkeiten der Schüler die jeweiligen Lernziele zu verwirklichen sind.
Das Curriculum, das die Bedingungen und Aktivitäten (Operationen) des geplanten
Unterrichts beschreibt, ist in seinen wesentlichen Teilen spezifizierter Lehrplan.
Eine umfasssendere Definition von Curriculum lautet so: Curriculum ist die
systematische Darstellung des beabsichtigten Unterrichts über einen bestimmten
Zeitraum als konsistentes System mit mehreren didaktischen Bereichen zum Zwecke der
optimalen Vorbereitung, Verwirklichung und Evaluation von Unterricht“ (FREY 1971: 50).
Lehrstuhl Prof.em. Dr. rer. nat. Eberhard G. SCHMIDT Universität Essen, FB 9:
Grundvorlesung BIOLOGIEDIDAKTIK, Bearbeitungsstand vom 20.1.2001
Kap.6: Geschichte der Biologiedidaktik
6 — 52
Die praktische Arbeit an einem Curriculum hat somit die folgenden Schritte (vgl.
Abb.##):
1) Spezifizierung der Lernziele
2) Konstruktion einer Unterrichtseinheit nach diesen Zielen mit weitgehender
Spezifizierung des Unterrichts z.B. nach Inhalten, Arbeitsverfahren nebst
Ausstattung, Unterrichtsmethoden, Medien, so daß Einzelheiten des Unterrichts
nachvollziehbar werden, und die Objektivität im Sinne Vergleichbarkeit
verschiedener Klassen, Unabhängigkeit von Besonderheiten der Schule, des Lehrer
etc. gegeben ist.
3) Evaluierung: Bestimmung des Lernerfolges mit objektivierten Verfahren
(standardisierte Tests mit operalisierten Items; Lernerfolg = Nachtest ./. Vortest;
Clusteranalysen lassen den Bezug zu den Lernzielen herausarbeiten).
4) Revision der Unterrichtseinheit: Iteration
Dieses Grobschema läßt sich noch wie folgt spezifizieren:
) Information über den Stand
a) der didaktischen Theorien,
b) der bereits vorhandenen Unterrichtsmodelle
1) (neue) Zielvorgaben
( z.T. von außen gesetzt!)
 Bestimmung von Nebenbedingungen
(wie Zeittafel, Vorwissen, besondere örtliche Gegebenheiten)
 Bestimmung von Parametern wie Stoffauswahl, Beispielwahl, biologische
Arbeitsweisen, Medien, Unterrichtsformen, Strukturierung, Spielraum für
zusätzliche Lernziele)
2) Abstimmung der Vorgaben und Parameter, Auswahl und Festlegung, Teilerprobungen,
Fixierung des machbaren Kompromisses:
 Auswahl und Operationalisierung der Lernziele,
Auswahl daraus der Items für Vor- und Nachtest, Konstruktion & Eichung der
Tests,
 Konstruktion einer Unterrichtseinheit
 Durchführung des Unterrichts: Erprobung des Curriculums
3) Evaluierung: Bestimmung des Lernerfolges, Differenzierung nach Teilen und
Zielgruppen (mit Clusteranalysen)

 Verbesserungsvorschläge 
4) Iteration des Verfahrens mit Revision & Neuerprobung
5) Publikation der Ergebnisse
Lehrstuhl Prof.em. Dr. rer. nat. Eberhard G. SCHMIDT Universität Essen, FB 9:
Grundvorlesung BIOLOGIEDIDAKTIK, Bearbeitungsstand vom 20.1.2001
Kap.6: Geschichte der Biologiedidaktik
6 — 53
Gesellschaftliche
Forderungen
Universität
Wissen1.
2.
schaftler:
Entwicklung
Revision
Revision
entwickelte
Biologen
revidierte
revidierte
Biologiedidaktiker
Pädagogen
Psychologen
UE
UE
UE
weitere
Revision und
Evaluation
in der
Praxis
Lehrer
Entwicklungsteam
veränderte
Schulpraxis
Schulpraxis
Bedeutung der Rückmeldungspfeile:
Lehrerprotokoll + Lehrerbericht
Unterrichtsbeobachtung durch Dritte
Schülertest
Abb. ##: Entwicklung der Unterrichtseinheiten, wechselseitige Annäherung von
Unterrichtseinheiten (UE) und Unterrichtspraxis (nach SCHAEFER, 1971).
Hinweis: Bei Ausrichtung an den Kriterien der Testtheorie (z.B., wenn von deren
Erfüllung die Mittelbewilligung abhängt) geht ein hoher Teil des verfügbaren
Kräftepotentials in die Formulierung und Operationalisierung der Lernziele und in die
Entwicklung, Durchführung und Auswertung der Tests. Für die eigentlichen
Unterrichtselemente (wie Feinstrukturen, Alternativen des Zuganges zum und der
Herleitung des Thema, der Auswahl von Versuchen mit Erprobung von Alternativen)
bleibt dann wenig Zeit. Es können auch Alternativen wegen der hohen Anforderungen an
die Stichprobenzahl nicht angemessen erprobt werden (wie das Beispiel IPN in Kiel
zeigte, s.u.). Damit bleiben die Innovationen zum Untericht selbst relativ gering. Zugleich
wird die Optimierung durch die starken Normierungen der Unterrichtsbedingungen und
die hohe Gängelung des Lehrers („Erfüllungsknecht“) beeinträchtigt, ohne daß das am
Ergebnis ablesbar wäre! Vergleichbar sind ja nur die Curricula unter sich, nicht
Curricula mit „freiem“ Unterricht.
Literatur:
EULEFELD, G., G.SCHAEFER & K.DYLLA: Biologisches Gleichgewicht. Unterrichtseinheit für die
Klassenstufen 6-8. IPN-Einheitenbank (Curriculum) Biologie, Lehrerheft. Aulis/ Deubner,
Köln 1974.
FREY, K.: Theorien des Curriculums. Beltz, Weinheim 1971.
RODI, D. (Hrsg.): Biologie und curriculare Forschung. Beiträge aus Hochschulen und Schulen.
Unterrichtshilfen Naturwissenschaften. Aulis/ Deubner, Köln 1975.
WERNER, H.: Biologie in der Curriculum-Diskussion, Oldenbourg, München 1973
Lehrstuhl Prof.em. Dr. rer. nat. Eberhard G. SCHMIDT Universität Essen, FB 9:
Grundvorlesung BIOLOGIEDIDAKTIK, Bearbeitungsstand vom 20.1.2001
Kap.6: Geschichte der Biologiedidaktik
6 — 54
6.11.2 Lernzieltaxonomien
Zur Curriculum-Theorie gehört die Klassifikation von Lernzielen. Diese ist nicht
spezifisch für die Biologie und daher ein Thema der Erziehungswissenschaften, hier
sollen nur einige Anmerkungen eingebracht werden (vgl. Kap. 2.1).
Die Zielbestimmung für den Biologieunterricht wurde vormals in der Regel als
Bildungswert bezeichnet und schon immer diskutiert. Im Rahmen der
Curriculumdiskussion wurden die Ziele stark formalisiert und strukturiert, sowohl nach
den Zielebenen als auch nach den Zielkategorien (Zieltaxonomien) mit 3
Hauptkategorien, den kognitiven Zielen (Wissen), den psycho-motorischen Zielen
(biologische Arbeitsweisen und entsprechende Fertigkeiten) und den affektiven Zielen,
bei denen auch die sozialen Ziele einzuordnen sind).
Nur die kognitiven Ziele eignen sich gut für die Lernerfolgskontrolle im Rahmen der
üblichen Verfahren zur Evaluierung von Curricula, sie werden daher bei der
Curriculum-Konstruktion bestimmend, ein deutliches Zeichen für die Einseitigkeit des
Ansatzes (Kap. 2.2). Auch die Objektivierung der Zielfindung erwies sich als unmöglich.
6.11.3 Die Curriculum-Determinaten
Hierunter werden die 3 Bereiche verstanden, aus denen sich (nach der Auffassung dieser
Epoche) der Bildungswert des Schulfaches Biologie bestimmt (vgl. Kap. 2.2: Kriterien für
die Stoffauswahl!): das Fach Biologie (Wissenschaftsrelevanz), der Bildungswert für den
Schüler als späteren Bürger (Gesellschaftsrelevanz) und die aktuelle Bedeutung für den
Schüler (Schülerrelevanz).
Fach- oder Wissenschaftsrelevanz:
Sie orientiert sich an den Anforderungen/ Belangen der Bezugwissenschaft (hier der
Biologie), z.B.: Welches Wissen ist notwendig, damit wissenschaftlich/ biologische
Aussagen sachgemäß verstanden und angewendet werden können? Hier geht es also vor
allem darum, inwieweit die Fachsystematik und -struktur auf das Schulfach übertragen
wird, auch um die fachliche Richtigkeit und Tragfähigkeit der Unterrichtsinhalte.
Gesellschaftsrelevanz:
Welche Qualifikationen (und Einstellungen) braucht der spätere Staatsbürger (nicht der
künftige Biologiestudent!) gegenwärtig und voraussichtlich in absehbarer Zeit? Gemeint
ist vor allem die Orientierung der Lehrinhalte und -ziele an den Erfordernissen des
allgemeinen Berufs- und Alltagslebens und (z.B. politischer) Entscheidungsträger, die
von Staats wegen in der Schule zu vermitteln sind (gelegentlich mißverstanden im Sinne
von angewandter Biologie).
Schülerrelevanz:
Bedürfnisse und Interessen des Schülers: Was möchte und was braucht der Schüler
jetzt? Hierher gehören auch die lern- und entwicklungspsychologischen Grundlagen der
Erziehungs-wissenschaften, eine enge Beziehung besteht zu der affektiven
Zieldimension. Anzuführen ist auch die Abstimmung von Stoffauswahl und -darbietung
auf die Lernsituation des Schüler der jeweiligen Alters- und Leistungsgruppe, die
Stärkung der Motivation und Lernbereitschaft zur Verwirklichung der Gesellschafts- und
Fachrelevanz.
Lehrstuhl Prof.em. Dr. rer. nat. Eberhard G. SCHMIDT Universität Essen, FB 9:
Grundvorlesung BIOLOGIEDIDAKTIK, Bearbeitungsstand vom 20.1.2001
Kap.6: Geschichte der Biologiedidaktik
6 — 55
Ansich müßten aber auch die anderen Aspekte, die in dem „9-Fragen-Katalog“ der
Aufgaben der Fachdidaktik zum Ausdruck kommen, zumindest als Nebenbedingungen
berücksichtigt werden (vgl. Kap. 2).
Eine Übersicht gibt Abb. ##:
Struktur der
Disziplin
Begriffe
Verfahren
Einstellungen
Fachrelevanz
(Fachliche
Aspekte)
Grundphänomene des Lebendigen
Biologische Arbeitstechniken
bzw. deren Vorformen
Objektive und/
oder subjektive
Haltungstendenzen
Gesellschaftsrelevanz
(Sozialkundliche Aspekte)
Soziale Bedingungen und Voraussetzungen
Soziale Handlungsfähigkeiten
Gesellschaftliche Mitverantwortung
Schülerrelevanz
(Kindbezogene Aspekte)
Vorerfahrungen
und Vorwissen
Handelnde und
offene Arbeitsformen
Erlebnis- und
Umweltbezug
Curriculum-Determinanten
Abb. ##: Relevanzgitter für biologische Ziele und Inhalte (nach Verfürth 1987: S. 32).
EKR 1985 (S. 51) beschreiben die „Curriculum-Determinanten“ wie folgt:
„Eine Aufgabe der Curriculumarbeit ist es, die notwendigen Entscheidungen bei der
Auswahl von Unterrichtszielen und Unterrichtsinhalten möglichst weitgehend zu
begründen und durch die Angabe von Grundsätzen durchsichtig zu machen.
Allgemein werden drei Bereiche unterschieden, in denen derartige Entscheidungen für
den Unterricht fallen: Wissenschaft, Gesellschaft und Schüler. Diese Aufzählung
stammt von TYLER (1973) und wurde von zahlreichen angelsächsischen
Curriculumprojekten übernommen (vgl. HUHSE 1968). In der Curriculumentwicklung
des IPN wurden sie ebenfalls als Orientierungsgesichtspunkte verwendet und als
unterrichtsbezogene Fragen formuliert:
(1.) Bedürfnisse und Interessen des Schülers: Was möchte und was braucht der
Schüler jetzt? (Schülerrelevanz),
(2.) Anforderungen in der Gesellschaft: Welche Qualifikationen braucht der
Staatsbürger
gegenwärtig
und
wahrscheinlich
in
absehbarer
Zeit?
(Gesellschaftsrelevanz)
(3.) Anforderungen der jeweiligen Bezugswissenschaften: Welches Wissen ist für den
Schüler notwendig, damit wissenschftliche Aussagen sachgemäß verstanden und
angewendet werden können? (Wissenschaftsrelevanz)“
Lehrstuhl Prof.em. Dr. rer. nat. Eberhard G. SCHMIDT Universität Essen, FB 9:
Grundvorlesung BIOLOGIEDIDAKTIK, Bearbeitungsstand vom 20.1.2001
Kap.6: Geschichte der Biologiedidaktik
6 — 56
6.11.4 Lineare Strukturierungsprinzipien für den BU
Unbeschadet der gewachsenen Einsicht in die Komplexität biologischer Systeme
(insbesondere von Ökosystemen) gab es in den 70er Jahren Bemühungen, den
Biologieunterricht nach nur einem Prinzip zu strukturieren, aber die verschiedenen
Ansätze neben einander zu stellen (Abb.###; vgl. KATTMANN & ISENSEE 1975).
Strukturierungsformen des Biologieunterrichts
Grundformen:
Ansätze:
(mit einem
Vertreter)
Anthropologische
Konzepte
Humanzentrierter
Ansatz
(KATTMANN
1977)
Ökologische
Konzepte
Fachübergreifender Ansatz
(EULEFELD
u. a. 1981)
Systemtheoretische
Konzepte
Systemtheoretisches Konzept
(BAYRHUBER
²1977)
Situationsbezogene
Konzepte
Situationsanalytischer Ansatz
(BOJUNGA
1978)
Wissenschaftsstrukturierte
Konzepte
Prozeßorientierter Ansatz
(MARQUARDT
²1977)
ÖkosystemKonzept
(ZACHARIAS
1978)
Ethologischer
Ansatz
(MEMMERT ²1977)
Evolutionsökologischer Ansatz
(WAHLERT ²1977)
Biokybernetischer
Ansatz
(SCHAEFER 1978)
Situativ-anwendungsbezogener
Ansatz
(DRUTJONS 1982)
Kritischer Ansatz
(EWERS 1979)
Abb. ##: Lineare Strukturierungsansätze für den BU in der S I.
(aus: VERFÜRTH 1978: 27)
Nach EKR (1985, S. 118) ergeben sich die folgenden
Anforderungen an Strukturierungsansätze:
- Der Strukturierungsansatz ermöglicht die Beurteilung von biologischen Inhalten für den
Schulunterricht. Er gibt also Gesichtspunkte, Kriterien und Auswahlrichtlinien an.
- Der Strukturierungsansatz schafft die Verbindung der einzelnen Themenbereiche im
Curriculum. Er stiftet das zusammenhängende Verständnis bzw. die verschiedenen
Interpretationszusammenhänge. Der Strukturierungsansatz vermeidet somit die bloße
Summierung von Einzelaspekten zu einem Curriculum.
- Der Strukturierungsansatz muß die Kraft haben, biologische Fachinhalte und andere
Informationen (z. B. soziale Fragen, Geschichte oder Verhaltensprobleme von Schülern)
zu sinnvollen Unterrichtsinhalten zu vereinen. In der gleichen Weise muß er z. B. in der
Lage sein, eine Unterrichtsstunde oder -einheit so aufzubauen, daß dabei die
fachimmanenten Strukturen von Teilbereichen der Biologie hinsichtlich allgemeiner Ziele
des Unterrichts organisiert werden.
- Ein Strukturierungsansatz besitzt eine solche Nähe zu biologischen Erkenntnissen und
Methoden, daß die tatsächlichen Angebote der Naturwissenschaft Biologie erschlossen
und für den Untericht genutzt werden können.
Lehrstuhl Prof.em. Dr. rer. nat. Eberhard G. SCHMIDT Universität Essen, FB 9:
Grundvorlesung BIOLOGIEDIDAKTIK, Bearbeitungsstand vom 20.1.2001
Kap.6: Geschichte der Biologiedidaktik
6 — 57
- Der Strukturierungsansatz erlaubt eine Berücksichtigung
a) der Struktur und der Fachwissenschaft Biologie,
b) der Interessen der Schüler,
c) der gegenwärtigen gesellschaftlichen Lage
Mit dem „humanzentrierten Ansatz“ lebte dabei die utiliaristische Biologie von 1800
wieder auf, der „evolutions-ökologische Ansatz“ betonte die Geschichtlichkeit des
Lebendigen, auch die Dynamik lebender Systeme. Wäre es zu einer Einigung auf ein
Prinzip gekommen, hätte sich die Stoffauswahl bei der Curiculum-Konstruktion in der
Tat besser objektivieren lassen, wäre aber einseitig geworden.
Das Bestreben, die Inhalte des Biologieunterrichtes nach einem durchgängigen Prinzip
zu strukturieren, ist zwar intellektuell faszinierend, aber Ausdruck eines
abstrakt/typologisch/-reduktionistischen Denkens in deterministischen Systemen.
Dieses wird der real synergetisch-komplexten Struktur sowohl des Lebendigen und ihren
vielfältigen Erforschungsansätzen als auch der entsprechenden Struktur des
Biologieunterrichts und der Biologiedidaktik nicht gerecht. Von einander unabhängig
sind allein schon die Ebene der funktionellen Fragestellungen (wie Physiologie und
Ökologie) und die historische Dimension ("Geschichtlichkeit") des Lebendigen. Insgesamt
erschient diese sehr akademische Diskussion am grünen Tisch daher wie eine Flucht vor
dem Kompromiß mit der realen Pluralität.
Im Gefolge dieser Diskussionen (vor allem am IPN in Kiel) in den 70er Jahren versuchte
dann SCHAEFER (1990, zu der Zeit Leiter der Abt. Biologie am IPN) einen synthetischen
Ansatz nach 12 „universellen Lebensprinzipien“ in der Form von Begriffspaaren:
1. Polarität, genauer aktive Polaritätsüberwindung bzw. -integration
2. Verwandlung / Fixierung
3. Ordnung / Unordnung
4. Selbständigkeit / Abhängigkeit, d.h. das Autonomieprinzip
5. Grenzöffnung / -schließung, d.h. das Begrenzungsprinzip
6. Ver- / Entflechtung, d.h. das Komplexitätsprinzip
7. Variabilität / Uniformität, d.h. das Variabilitätprinzip
8. Anpassung / Beharrung, d.h. das Adaptationsprinzip
9. Auf- / Abwertung, d.h. das Bewertungprinzip
10. Bewegung / Ruhe, d.h. das Bewegungprinzip
11. Bedeutungsbildung / -abbau, d.h. das semantische Prinzip
12. Informationsspeicherung / -löschung, d.h. das Reproduktionsprinzip.
Diese Prinzipien erinnern an die „Gesetze“ JUNGE's oder die „Kennzeichen des
Lebendigen“ und sind eher Hintergrund als Ordnungskriterium für Richtlinien (aller Art).
Literatur:
KATTMANN, U. & W.ISENSEE (Hrsg.): Strukturen des Biologieunterichts. Bericht über das 6. IPN-Symposium
1974. Aulis/ Deubner, Köln 1975.
SCHAEFER, G.: Die Entwicklung von Lehrplänen für den Biologieunterricht auf der Grundlage universeller
Lebensprinzipien, MNU 43: 471-480 (1990).
VERFÜRTH, M.: Kompendium Didaktik Biologie. Eine Biologiedidaktik für naturnahen Unterricht von der
Vorschule bis zur Sekundarstufe II. Ehrenwirth, München 1987.
Lehrstuhl Prof.em. Dr. rer. nat. Eberhard G. SCHMIDT Universität Essen, FB 9:
Grundvorlesung BIOLOGIEDIDAKTIK, Bearbeitungsstand vom 20.1.2001
Kap.6: Geschichte der Biologiedidaktik
6 — 58
6.11.5 Das Spiralmodell
Eine andere Idee zur inhaltlichen Strukturierung von Curricula über die
Jahrgangsstufen hinweg war die Betonung der schrittweisen Vertiefung bestimmter
Fragestellungen von Jahrgangsstufe zu Jahrgangsstufe. Dieses (an sich altbekannte
Phänomen) wurde mit dem Begriff „Spiralmodell“ belegt (vgl. Kap. 4.4.6, dort war auch
das nachstehende Beispiel etwas verändert eingebracht worden)
Beispiel für ein Spiral-Curriculum zum Thema Ökologie (Ökosystem Teich/See):
Grundschule:
Erleben und Be-„handeln“ von Pflanzen und Tieren im ökologischen Bezug (wie
Schwertlilie und Seerose, Goldfisch und Libelle am Gartenteich)
Orientierungsstufe:
Pflanzen und Tiere als Organismen, die an ihre Umwelt angepaßt sind
(z.B. für ein Gewässer): Fischotter/ Biber/ Bisam;
Rohrsänger (Kuckuck), Teich-/ Bläßralle, Schwan/ Stock-/ Reiherente, Haubentaucher;
Plötze/ Karpfen/ Bitterling/ Barsch/ Hecht
als Wasser-Wirbeltiere am See (zur Methodik vgl. JUNGE 1885/ 1995).
Sekundarstufe I:
Eingangsklassen
Ergänzung durch Wirbellose, Protozoen und Algen;
einfache Zweierbeziehungen (über Räuber-Beute hinaus),
am Wasser z.B. der Brutparasitismus des Kuckucks;
bei der Teichmuschel der Schutzraum für Bitterlingsbrut,
der Parasitismus mit Ferntransport ihrer Larven an Fischen,
die Ausrottung durch den Bisam im Winter.
Jahrgangsstufe 9/10:
Ökosystem Stadtparkteich mit einfachem Beziehungsgefüge
Studienstufe:
Vertiefte, systemtheoretisch fundierte Ökosystemanalyse eines
komplexen Systems und seiner vielfältigen Veränderungen durch den Menschen
(zum Bach vgl. FEY 1993, 1996, zum See SCHMIDT 1995, 1996; vgl. auch: DYLLA 1977,
KÖHLER & KLAUTKE 1990.
Literatur:
DYLLA, K.: Ansätze zu einem Spiralcurriculum Verhaltenslehre (Primarstufe - S I), entwickelt im Rahmen des
Modellversuchs Regionale Lehrerfortbildung - Hessen. MNU 30: 15-23 (1977).
FEY, M.: Der Stadtbach im Ökologieunterricht der Oberstufe. Verh.GfÖ. 22: 359-364 (1993).
FEY, M.: Biologie am Bach. Praktische Limnologie für Schule und Naturschutz. Biologische Arbeitsbücher 48,
Quelle & Meyer, Wiesbaden 1996.
JUNGE, F.: Der Dorfteich als Lebensgemeinschaft. Lipsius & Tischer, Kiel, 1885. Nachdruck (der 3. Aufl. von
1907) mit Vorwort/ Einführung von JANßEN, W, W.RIEDEL & G.TROMMER. Lühr & Dircks, St. PeterOrding 1985.
KÖHLER, K & S.KLAUTKE: Projekt Kompostierung – ein experimenteller, handlungsorientierter Ansatz zur
Umwelterziehung. S. 311-314 in KILLERMANN & STAECK (Hrsg.): Methoden des BU. Tagung der Sektion
Fachdidaktik im VdBiol in Herrsching 1989. Aulis/ Deubner, Köln 1990.
SCHMIDT, E. (unter Mitarbeit von ESCHENHAGEN, D.): III Ökosysteme. 4. Binnengewässer. S. 170-215 in:
ESCHENHAGEN, KATTMANN & RODI (Hrsg.): Handbuch des Biologieunterrichts S I, Band 8, Umwelt
(gesondert auch als „Umwelt im Unterricht“). Aulis/ Deubner, Köln 1991.
SCHMIDT, E.: Ganzheitliche Ökosystemanalyse für den Anwender und Lehrer. S. 466-489 in EULEFELD &
JARITZ (HRSG.): Umwelterziehung/ Umweltbildung in Forschung, Lehre und Studium. IPN-Symposium in
der PH Erfurt/ Mühlhausen vom 4.-7.10.1994. IPN, Kiel 1995.
SCHMIDT, E.: Ökosystem See. Bd. I: Der Uferbereich des Sees. Biologische Arbeitsbücher 12.1. Quelle &
Meyer, Wiesbaden 1974, 5. Aufl. 1996.
Lehrstuhl Prof.em. Dr. rer. nat. Eberhard G. SCHMIDT Universität Essen, FB 9:
Grundvorlesung BIOLOGIEDIDAKTIK, Bearbeitungsstand vom 20.1.2001
Kap.6: Geschichte der Biologiedidaktik
6 — 59
6.11.6 Die Operationalisierung von Lernzielen und ihre Folgen
Den Anspruch der Wissenschaftlichkeit bestimmten die Normen der gerade
aufblühenden (in den USA bereits etablierten) Testpsychologie. Die Form der Tests
mußte dabei die Testpsychologen kontrollieren, sie aber konnten nicht die Validität, d. h.
die Konformität mit den Zielsetzungen garantieren. die war von dem von dem Didaktiker
zu sichern. Dafür waren bereits die Lernziele in Form von abfragbaren Aufgaben, als
operationalisierte Lernziele zu formulieren (vgl. Kap. 2.2).
Die Testpsychologen bestimmten dann nach ihren Regeln die Auswahlkriterien und die
Auswahl für Vortest, Test und Behaltenstest. Sie forderten auch die statistische
Absicherung, also eine hinreichend hohe Zahl von Schülern (mindestens 1000, d. h.
etwa 30-35 Klassen in der S I). Das wiederum bedingte die Computerauswertung und
damit die computergerechte Testgestaltung (Auswahlantwortverfahren/ multiple choice).
Überdies mußte der Unterricht für die 30-35 Klassen so normiert werden, daß die
Vergleichbarkeit gesichert war. Der Unterricht war dementsprechend spezifiziert
vorzugeben und mit genormten Materialien auszustatten (Zu grundsätzlichen Fragen der
Evaluierung vgl. Kap. 2.4.3).
Die Operationalisierung ist bei einfachen Wissens- und Sachfragen zwar mühsam,
aber relativ einfach, Verständnisfragen und nicht-kognitive (insbesondere affektive) Ziele
sind jedoch schwer in eine operationalisierte Form zu bringen und damit
computergerecht abzufragen. Mit dem Training im Operationalisieren werden letztere
immer mehr reduziert und treten daher bei der Curriculum-Entwicklung in den
Hintergrund (Tab. ##):
6.11.7 Zusammenfassende Würdigung
Die Curriculum-Theorie und -konstruktionen haben die Fachdidaktiken für die
Erfordernisse der differenzierten Lernzielformulierungen sensibilisiert, den Gedanken der
Unterrichtsoptimierung vorangebracht. Sie machten also den Charakter der
Fachdidaktik als eine Form angewandter Wissenschaft und ihre Brückenfunktion
zwischen dem Fach und den Erziehungswissenschaften deutlich. Der Bezugspunkt
Unterrichtspraxis ist damit auch stärker als bei den akademisch orientierten
Erziehungswissenschaften.
Der Stellenwert des Lernerfolges ist jedoch in der Praxis weniger bedeutsam,
Evaluation ist hier mehr auf die Schülerbenotung ausgerichtet.
Die Erfordernisse der Testtheorie bedingen die Normierung des Unterrichts (Primat
der statistischen Sicherung!). Das ist jedoch dem didaktischen Prinzip der bestmöglichen
Anpassung an die individuelle Unterrichtssituation diametral entgegen gesetzt. Sie
widersprechen damit zugleich dem Grundsatz akademischer Berufspraxis: Die
akademische Ausbildung soll ja den Praktiker dazu befähigen, die komplexe, nicht von
einfachen Regeln erfaßbare individuelle Situation angemessen zu erkennen, zu bewerten
und zu behandeln (individuelle Diagnose und Therapie). Das gilt für den Patienten des
Mediziners gleichermaßen wie für den Klienten des Rechtsanwaltes oder den
Delinquenten vor dem Richter, hier für die Unterrichtsstunde des Lehrers. Das erklärt
Lehrstuhl Prof.em. Dr. rer. nat. Eberhard G. SCHMIDT Universität Essen, FB 9:
Grundvorlesung BIOLOGIEDIDAKTIK, Bearbeitungsstand vom 20.1.2001
Kap.6: Geschichte der Biologiedidaktik
6 — 60
die geringe praktische Resonanz der verfügbaren Biologie-Curricula (s.u.) bei den
Fachlehrern.
Lehrstuhl Prof.em. Dr. rer. nat. Eberhard G. SCHMIDT Universität Essen, FB 9:
Grundvorlesung BIOLOGIEDIDAKTIK, Bearbeitungsstand vom 20.1.2001
Kap.6: Geschichte der Biologiedidaktik
6 — 61
Sachlich unerklärlich ist die Forderung mancher Studienseminare (und
verschiedener
fachdidaktischen
Publikationen)
nach
operationalisierten
Lernzielkatalogen für Lehrproben (also für eine individuelle Unterrichtssituation) im
vergangenen Jahrzehnt : viele wertvolle Arbeitskraft wurde so verschwendet!
Die empirische Arbeit in Form von statistischen Erhebungen hat im Gefolge der
Curriculum-Euphorie auch in der Biologiedidaktik einen hohen Stellenwert erhalten.
Dazu zählen Lernerfolgsanalysen biologischer Arbeitsweisen und des Medieneinsatzes,
Interessen- und Motivationserhebungen oder der Umfang von Freiland- oder
Experimentalunterricht. Dabei ist oftmals die testtheoretische Basis ungenügend,
insbesondere die Validität unzureichend gesichert. So sind diese Untersuchungen im
Einzelfall kritisch zu hinterfragen.
6.11.8 Curriculum-Beispiele
Die Entwicklung von Curricula ist außerordentlich aufwendig und damit an besondere
Institutionen gebunden. Vorbild waren Curricula zur Reform des Biologieunterrichts in
den USA und in Großbritannien (BSCS 1963 bzw. NUFFIELD Biology 1970, vgl. MOSTLER
u.a. 1975, WERNER 1973 sowie PALM ##). In Deutschland hat das Institut für die
Pädagogik der Naturwissenschaften in Kiel (IPN, vgl. Kap. 1.4) zahlreiche Curricula für
den naturwissenschaftlichen Unterricht in der S I entwickelt (z.B. EULEFELD u.a. 1974,
KATTMANN & STANGE-STICH 1974). Die Einführung zu diesen IPN-Curricula gibt einen
instruktiven Überblick zur Curriculum Idee (zur Übersicht der dortigen Lernziele für ein
Curriculum vgl. Kap. 2.2.2).
Literatur
BSCS: Biological Sciences Curriculum Study, ### 3.Aufl. 1963.
EULEFELD, G., G.SCHAEFER & K.DYLLA: Biologisches Gleichgewicht. Unterrichtseinheit für die Klassenstufen
6-8. IPN-Einheitenbank (Curriculum) Biologie, Lehrerheft. Aulis/ Deubner, Köln 1974.
KATTMANN, U. & S.STANGE-STICH: DER Mensch und DIE Tiere. Unterrichtseinheit für die Oreintierungsstufe
(Klassenstufe 5 & 6). IPN-Einheitenbank (Curriculum) Biologie, Lehrerheft. Aulis/ Deubner, Köln
1974.
MOSTLER, G., D.KRUMWIEDE & G.MEYER: Methodik und Didaktik des Biologieunterrichts. Quelle & Meyer,
Heidelberg 1975.
NUFFIELD: Advanced Science, Biological Science. Study Guide: Evidence and Deduction in Biological
Science. Penguin, Harmondsworth 1970.
PALM, W.: Nuffield  und wir? MNU 24: 492-499 (###).
WERNER, H.: Biologie in der Curriculum-Diskussion, Oldenbourg, München 1973
Lehrstuhl Prof.em. Dr. rer. nat. Eberhard G. SCHMIDT Universität Essen, FB 9:
Grundvorlesung BIOLOGIEDIDAKTIK, Bearbeitungsstand vom 20.1.2001
Kap.6: Geschichte der Biologiedidaktik
6 — 62
6.11.9 Kurzkennzeichnung der Reformbewegung der 70er Jahre:
Curriculare Epoche
Zeitströmung: Emanzipationsbewegung, Freigabe der Sexualität,
„Wirtschaftswunder“
mit
Maximierung
der
Umweltbelastung
Ressourcenverschwendung.
und
Sachlage in der Biologie: Höhepunkt der („LORENZ-“) Ethologie,
Auftrieb für die (Syn-) Ökologie
Forschungsschwerpunkt Molekularbiologie.
Didaktische Tendenz: Curriculares Denken (i.w.S.)
Konz.: Allgemeine Biologie als Strukturierungsprinzip
auch in der S I & Grundschule
(Stichwort: Problemorientierter Unterricht
nach den Kennzeichen des Lebendigen)
Stoff:
Ausmerzen der Artmonographien (Untergang des „SCHMEIL“)
Ausweitung von Ethologie, Ökologie & Umweltschutz,
Molekularbiologie;
starke Erweiterung und Vorverlegung der Humanbiologie,
insbesondere der Sexualität des Menschen
(z.B. Eizelle und damit Zellenlehre in Klasse 5),
Arbw.: Ausweitung des Einsatzes von Medien
zu Lasten der Arbeit am Objekt und im Gelände,
Med.:
Film, Folien & Arbeitsbögen, Modelle
Meth.: Curriculum-Idee; detaillierte Lernzielkataloge
(z.B. bei Lehrproben)
Einst.: Wecken des Umweltbewußtseins
und der Handlungsbereitschaft
(sofern der eigene Freiraum [z.B. Elektronik, Auto/ Moped]
nicht tangiert wird)
6.12 Aktuelle Tendenzen
Auf den idealistisch-weltfremden Umbruch der 60er/70er Jahre folgte eine Periode
der Stagnation. Ihre Realitäts-Schwächen wurden wohl ± deutlich wahrgenommen und
eher dezent ausgeglichen, eine deutlich faßbare „Gegenbewegung“ oder proklamatorische
Alternative gab es jedoch nicht. Viele Didaktiker bemühten und bemühen sich (wie wir)
um eine Verbesserung/ Optimierung in ausgewählten Teilgebieten, geben das aber nicht
als „Aufbruch zu neuen Ufern“ aus. Selbst die „Didaktische Rekonstruktion“ als TheorieKonzept für die Umsetzung vom Fach Biologie in das Schulfach Biologie hat nicht den
deklamatorischen Stellenwert wie die Henningsche kladistische Theorie der
Phylogenetischen Systematik, obwohl die Didaktische Rekonstruktion in ähnlicher Weise
wie die Phylogentische Systematik ein bislang schon praktiziertes Paradigma (hier bei
Lehrstuhl Prof.em. Dr. rer. nat. Eberhard G. SCHMIDT Universität Essen, FB 9:
Grundvorlesung BIOLOGIEDIDAKTIK, Bearbeitungsstand vom 20.1.2001
Kap.6: Geschichte der Biologiedidaktik
6 — 63
der Phylogenetischen Systematik die Rekonstruktion von Phylogenie/ natuürliche
Verwandtschaft aus rezenten Formen) formgerecht gefaßt hat.
Lehrstuhl Prof.em. Dr. rer. nat. Eberhard G. SCHMIDT Universität Essen, FB 9:
Grundvorlesung BIOLOGIEDIDAKTIK, Bearbeitungsstand vom 20.1.2001
Kap.6: Geschichte der Biologiedidaktik
6 — 64
Für die Biologiedidaktik im Studium ist die Bedeutung wohl an den
Prüfungsordnungen abzulesen, die Umsetzung in den Stellenplänen und Einrichtungen,
damit die Realisierung im Lehr- und Prüfungskanon bleibt jedoch vielerorts
widersprüchlich und unzureichend. Von der 2. Phase wird das auch nicht angemahnt.
Ein Zeichen sind auch die Prioritäten bei den Forschungsschwerpunkten. Die für die
Schulpraxis bitter nötige Optimierung der Didaktischen Rekonstruktion an
ausgewählten aktuellen Kursthemen wird wegen der von der Sache her problematischen
Evaluierungsmöglichkeiten diskriminiert, die für die Praxis und das Theorieverständnis
weniger bedeutsame „emprische Unterrichtsforschung“, die sich maßgeblich auf die
Instrumente (und deren wissenschaftliche Reputation) stützt (wie schon beim IPN Kiel in
den 60er Jahren), wird eher als wissenschaftlich anerkannt. Damit können auch
Drittmittel eingeworben werden, während für didaktische Rekonstruktionen keine
außeruniversitären Geldtöpfe bereit stehen.
Insgesamt zeichnet sich ein Trend zu höheren Leistungsanforderungen und
Bildungsansprüchen (im Sinne von Verständnis von Zusammenhängen) durch die
Gesellschaft an die Schulen ab mit entsprechenden Forderungen an die
Lehrerausbildung. Praxisbezug und entsprechend qulifizierte Ausbildung (mit dem
entsprechenden Theorie-Hintergrund) gewinnen damit an Gewicht in der öffentlichen
Diskussion. Konsequenzen für die Schulorganisation und die Lehrerausbildung sind
aber erst in einzelnen Kultusministerien (z.B. in Baden-Württemberg, noch nicht in
NRW!) ansatzweise zu erkennen. Ein Umdenken scheint sich so anzubahnen.
Zeitströmung: Bewußtsein der Umweltkrise,
des Verfalls der Werte/Ideen der 70er Jahre,
der Theorielastigkeit von Schule und Studium;
Ökologiebewegung.
Sachlage Biologie: Dominanz der molekularen Ebene bei extremer Spezialisierung,
damit Verlust der großen Zusammenhänge und der Schulnähe;
Untergang der etablierten Systematik
(aber Theorie der Phylogenetischen Systematik);
Auftrieb für die Angewandte Ökologie.
Aktuelle Herausforderung:
Synergetische Systemeinsicht („Chaos“-Theorie);
Umweltkrise.
Didaktische Tendenzen:
Innovationen zur Ökologie/Umwelterziehung,
besonders im affektiv/ emotionalen Bereich
(„Natur erleben mit allen Sinnen“)
und zu Symptomen (wie Pestizide, Waldsterben, Klimakatastrophe),
Bemühen um eine Umweltethik und um umweltgerechtes Verhalten.
Hygiene (Herausforderungen wie Aids, BSE).
Angewandte Biologie (wie Bio-/ Gentechnologie).
Herunterladen