Lehrstuhl Prof.em. Dr. rer. nat. Eberhard G. SCHMIDT Universität Essen, FB 9: Grundvorlesung BIOLOGIEDIDAKTIK, Bearbeitungsstand vom 20.1.2001 Kap.6: Geschichte der Biologiedidaktik 6— 1 6. Zur Geschichte des Biologieunterrichtes in Deutschland 6.0 Vorbemerkungen Geschichtlichkeit ist ein Kennzeichen des Lebendigen wie auch der Welt überhaupt (WAHLERT 1975). Der heutige Biologieunterricht und damit die Biolodiedidaktik sind – wie alle anderen Kulturleistungen der Menschheit auch – nur aus ihrer Geschichte zu verstehen. Kultur ist immer auch Ausdruck der jeweiligen Epoche und ihrer Vergangenheit (vgl. WILHELM 1967: 51ff.). So ist die Geschichte der Biologiedidaktik zum Verständnis der heutigen Situation unerläßlich. Die Geschichte des Biologieunterrichtes und damit die der Biologiedidaktik ist in die Geschichte der Pädagogik (vgl. z.B. BLÄTTNER 1966) über die frühen Didaktiker (wie COMENIUS, FRANCKE, ROUSSEAU sowie KERSCHENSTEINER) eingebettet. Auf die Geschichte der Pädagogik (und ihre Verknüpfung mit der Philosophie bis zur Mitte dieses Jahrhunderts) wird hier nicht eingegangen, sie ist Gegenstand der Erziehungswissenschaften (vgl. z.B. BLÄTTNER 1966, WILHELM 1967). Geschichtliche Analyse ist oft subjektiv geprägt. Ein besonderes Gewicht erhalten im Folgenden das industrielle Zeitalter am Ende des 19. Jahrhunderts/ zur Jahrhundertwende um 1900 (LÜBEN & LEUNIS, JUNGE, SCHMEIL: Einführung des beschreibend morphologisch/ systematischen Arbeitens am Objekt, dann der Wechsel zur biologisch/ funktionalen Artanalyse mit plausiblen Untersuchungen/ Experimenten, aber auch die Etablierung der Buchbiologie im Unterricht; vgl. z.B. NORRENBERG 1904, SCHEELE 1981) und das akademisch/ statistische Curriculum-Paradigma der 70er Jahre des 20. Jahrhunderts. Damit werden die Schwerpunkte etwas anders gesetzt als in den gängigen Didaktiken (vgl. EKR sowie SIEDENTOP 1964, auch z.B. KLAUSING 1968, SCHEELE 1981). Einen historischen Überblick der Naturvorstellungen als Hintergrund für den Biologieunterricht vermittelt TROMMER (1993), darauf wird (ebenso wie z.B. auf die Geschichte der Ökologiebewegung: KNAUT 1993, TREPL 1987) nicht näher eingegangen. Als historischer Überblick ist auch die Geschichte von MNU (Deutscher Verein zur Förderung des mathematischen und naturwissenschaftlichen Unterrichts: KLEIN 1991; zur aktuellen Situation des Gymnasiums vgl. SCHMIDT 1994) anzuführen. Bei dem folgenden Streifzug durch die Geschichte der Biologiedidaktik in Deutschland wird besonders gefragt nach: Wann wurden heute allgemein anerkannte Prinzipien des BU eingeführt? Welchen Stellenwert hatte die direkte Naturerfahrung/ -erforschung in der jeweiligen Epoche? Welche biologischen Arbeitsweisen wurden dabei eingesetzt. Lehrstuhl Prof.em. Dr. rer. nat. Eberhard G. SCHMIDT Universität Essen, FB 9: Grundvorlesung BIOLOGIEDIDAKTIK, Bearbeitungsstand vom 20.1.2001 Kap.6: Geschichte der Biologiedidaktik 6— 2 Abkürzungen zur Kurzcharakteristik der Epochen: Die einzelnen Epochen werden also zusammenfassend gekennzeichnet durch die jeweils charakteristischen der folgenden Stichpunkte: Konz: Konzept zur Stoffauswahl & -ansicht Stoff: Inhaltliche Schwerpunkte Arbw: Bevorzugte biologische Arbeitsweisen Med.: Arbeitsobjekte und besondere Medien Meth: (Unterrichts-) methodische Schwerpunkte/ Innovationen Einst: Besonders geförderte Einstellungen zur belebten Natur Literatur: BLÄTTNER, F: Geschichte der Pädagogik. Quelle & Meyer, Heidelberg, 12.Aufl. 1966. KLAUSING, O.: Biologie in der Bildungsreform, Beltz, Weinheim 1968. KLEIN, A.: Ringen um die mathematisch-naturwissenschaftliche Bildung. Geschichte der Jahre 1945 bis 1990 des Deutschen Vereins zur Förderung des mathematischen und naturwissenschaftlichen Unterrichts. Dümmler, Bonn 1991. KNAUT, A.: Zurück zur Natur! Landschafts- und Heimatschutz im wilhelminischen Zeitalter. Diss. Universität München 1992. Auch unter dem Titel: Zurück zur Natur! Die Wurzeln der Ökologiebewegung. Suppl. 1 zum Jahrbuch f. Naturschutz & Landschatspflege. AG berufl. & ehrenamtl. Naturschutz (ABN), Bonn (in Kommission bei Kilda, Greven) 1993. NORRENBERG, J.: Geschichte des naturwissenschaftlichen Unterrichts in Deutschland. ###, Leipzig, 1904. SCHEELE, I.: Von LÜBEN bis SCHMEIL, die Entwicklung von der Schulnaturgeschichte zum Biologieunterricht zwischen 1830 und 1933. Reimer, Berlin 1981. SCHMIDT, A.: Das Gymnasium im Aufwind. Struktur, Entwicklung, Probleme seiner Oberstufe. Hahner VG, Aachen-Hahn, 2.Aufl. 1994. SIEDENTOP, W.: Methodik und Didaktik des Biologieunterrichts. Quelle & Meyer, Heidelberg 1964, 4.Aufl. 1972. TREPL, L.: Geschichte der Ökologie vom 17. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Athenäum TB, Frankfurt/M. 1987. TROMMER, G.: Natur im Kopf. Geschichte ökologisch bedeutsdamer Naturvorstellungen in deutschen Bildungskonzepten. Deutscher Studienverlag, Weinheim, 2.Aufl. 1993. WAHLERT, G.v.: Die Geschichtlichkeit des Lebendigen als Aussage der Biologie. Ein Beitrag zur Strukturierungsdebatte. S. 46-58 in: KATTMANN & ISENSEE (Hrsg.): Strukturen des Biologieunterrichts. Aulis/ Deubner, Köln 1975. WILHELM, T.: Theorie der Schule. Hauptschule und Gymnasium im Zeitalter der Wissenschaften. Metzler, Stuttgart 1967. 6.1 „Blickpunkt Natur“ (im Schulumfeld): Begründung des neuzeitlichen BU (18. Jahrh.): COMENIUS & Nachfolger; ROUSSEAU Einführung Öffentlicher Unterricht des Mittelalters erfolgte in den Dom- und Klosterschulen und war auf das Lesen der Bibel ausgerichtet. Er wurde in Latein, der Sprache der (römischkatholischen) Kirche und der Wissenschaft, gehalten. Diese Schulen waren damit einer Elite unter dem Bürgertum vorbehalten. Adel und gehobenes Bürgertum hatten Privatlehrer (vgl. den großen Pädagogen HERBART [z.B. 1806: Allgemeine Pädagogik aus dem Zwecke der Erziehung abgeleitet; vgl BLÄTTNER 1966]: *1776 in Oldenburg, Nachfolger von Kant in Königsberg 1809-1833, dann wieder in Göttingen: †1841). Lehrstuhl Prof.em. Dr. rer. nat. Eberhard G. SCHMIDT Universität Essen, FB 9: Grundvorlesung BIOLOGIEDIDAKTIK, Bearbeitungsstand vom 20.1.2001 Kap.6: Geschichte der Biologiedidaktik 6— 3 Wenn schon biologische Fragen im Unterricht aufkamen, so wurden sie dozierend an Hand der Texte von ARISTOTELES (aus Makedonien, 384-322 v.Chr., ein Schüler PLATON's) geklärt. Eigene Anschauung als Grundlage naturwissenschaftlicher Aussagen wurde zwar immer mal wieder gefordert (z.B. vom Dominikaner ALBERTUS MAGNUS, 11931280, aus Köln oder von dem französischen Philosophen und Mathematiker RENÉ DESCARTES, 1596-1650), doch fand das keinen Widerhall. Anstoß zum Wandel gaben Humanismus und Reformation(skriege), das neue Weltbild der Naturwissenschaften (GALILEO GALILEI aus Pisa/ Florenz, 1564-1642). In der Didaktik ist dieser Wandel mit dem Namen COMENIUS verknüpft: COMENIUS (= KOMENSKÝ), JOHANN AMOS, 1592-1670 Er war (seit 1632) Bischof der „böhmischen Brüdergemeinde“ und Leiter ihres Schulwesens und forderte seiner Zeit um ein Jahrhundert voraus u.a. den muttersprachlichen Untericht in den öffentlichen Schulen (7.-12. Lebensjahr, dann für Begabte die Lateinschule, 13.-18. Lebensjahr, und die Akademie, 19.-24. Lebensjahr) und die Einführung von „Realien“ (also von naturwissenschaftlichen Themen). Didactica magna 1632: Lehre soll nicht darin bestehen, die Autoritäten als solche, die großen Schriften (angefangen mit der Bibel) zu zitieren, sondern vielmehr der eigenen Erfahrung und ihrer logischen Verknüpfung den Vorrang geben. Orbis sensualium pictus („Gemalte Welt“) 1658: ein bebildertes Realienbuch, das wichtigste naturkundliche Schulbuch für lange Zeit (mehrsprachig verfaßt, bebilderter Nachfolger der Janua linguarum reserata). Begründung des neuzeitlichen Biologieunterrichts durch Aufnahme der „Realien“ in den Lehrplan in der Form der Arbeit am Naturobjekt und im Freien (statt Unterricht nach dem Buch), wenn auch mit besonderer Betonung der für den Menschen wichtigen Pflanzen und Tiere (wie Nutzpflanzen und Haustiere). Konz: Stoff: Arbw: Med.: Naturerfahrung hat Vorrang vor Buchwissen. Ganzheitliche Sicht: Beachtung der Einbindung in den Zusammenhang: d.h. jedes Ding soll zuerst als Ganzes betrachtet werden und dann erst die Teile des Ganzen. Bewertung nach Nutzen und Schaden für den Menschen: Utilitaristische Betrachtungsweise. Pflanzen und Tiere mit Bezug zum Menschen (wie Nutzpflanzen), Arbeiten am Naturobjekt (als Präparieren), Zoologische Präparatesammlung FRANCKE, AUGUST HERMANN, 1663-1727 Die Umsetzung der umwälzenden Vorstellungen von COMENIUS erfolgte zunächst in einem der kleinen, mehr dem Fortschritt aufgeschlossenen Fürstentümer (vgl. GOETHE, HAECKEL in Sachsen-Weimar!), dem Herzogtum Sachsen-Gotha, mit der Gothaischen Schulordnung (1721). FRANCKE war daran maßgeblich beteiligt. Er war Pietist und führte am Pädagogicum in Halle/Saale ein Heim für zuletzt über 2000 oft verwahrloste Kinder und Jugendliche. Zu dem Pensum gehörte eine regelmäßige naturwissenschaftliche Lehrstuhl Prof.em. Dr. rer. nat. Eberhard G. SCHMIDT Universität Essen, FB 9: Grundvorlesung BIOLOGIEDIDAKTIK, Bearbeitungsstand vom 20.1.2001 Kap.6: Geschichte der Biologiedidaktik 6— 4 Belehrung, jedoch nicht als regulärer Unterricht, sondern als Vermittlung nützlicher Kenntnisse auf Spazier- und Unterrichtsgängen („Recreationsübungen“) oder bei der praktischen Arbeit, im Sommer im Freien in einem dafür angelegten botanischen Garten. Im Winter wurden als praktische Übung zur Morphologie/ Anatomie der Tiere Schlachttiere und Geflügel tranchiert, Tiere (auch Hunde) seziert, z.T. auch präpariert, Vögel ausgestopft (vgl. KLAUSING 1968). Diese Präparate wurden in einem „Naturalienkabinett“ (d.h. einer biologischen Sammlung) aufbewahrt und als Demonstrationsmaterial bei den praktischen Übungen eingesetzt. SALZMANN, CHRISTIAN GOTTHILF (1744-1811) Er hatte (ab 1784) ein eigenes philanthropisches Erziehungsinstitut in ländlicher Umgebung (Schnepfenthal SW Gotha/ Thüringen, damals Herzogtum Sachsen-Gotha) und förderte ebenfalls die die biologische Unterrichtung im Freien verbunden mit der selbsttätigen Anlage eines Schulgartens und von biologischenSammlungen und eigenständigen Naturbeobachtungen, dem Protokollieren, Vergleichen mit bereits Bekanntem und Einordnen in das bereits Bekannte. ROUSSEAU, JEAN-JACQUES, 1712-1778 Nach der Epoche der Aufklärung wurde die Einstellung zur Natur durch ROUSSEAU *1712 in Genf, † 1778 bei Paris) geprägt (vgl. BLÄTTNER 1966). Als „Evangelium der Natur“ wurde die Natur mystisch/ schwärmerisch verklärt (Moderichtung im Rokoko), ROUSSEAU antizipiert damit die Romantik (vgl.: 1750: Discours sur les sciences et les arts mit Thesen wie: „Die Menschheit ist durch die Kultur und Aufklärung aus dem Glück des naturhaften Urzustandes ins Verderben gestürzt worden“, eine Analogie zur biblischen Vertreibung aus dem Paradies). Bleibende Verdienste ROUSSEAUS sind (u.a.): Die Entdeckung des Menschen als Naturwesen, als Einheit von Körper, Empfinden/ Gefühl und Denken/ Wissen (statt des Primats des Geistlichen im Mittelalter, verbunden mit dem Geistigen, der Vernunft, in der Epoche der Aufklärung). Die Entdeckung der eigenständigen Bedürfnisse und eines Eigenrechtes des Kindes mit einer spezifischen Entwicklung ( „Schülerrelevanz“ der 70er Jahre). Die Erziehung zum verantwortlichen Staatsbürger (im Spätwerk!) Kritisches Hinterfragen der Kultur (z.B. als Zeiterscheinung). ROUSSEAU bestimmte mit diesem schwärmerisch verklärendem Naturbild die Zeitströmung Ende des 18. Jahrhunderts bis weit in das nächste Jahrhundert (z.T. bis in dieses Jahrhundert, vgl. die Ökologiebewegung: TREPL 1987, s.o.) hinein. Lehrstuhl Prof.em. Dr. rer. nat. Eberhard G. SCHMIDT Universität Essen, FB 9: Grundvorlesung BIOLOGIEDIDAKTIK, Bearbeitungsstand vom 20.1.2001 Kap.6: Geschichte der Biologiedidaktik 6— 5 Übersicht der Epoche Stoff: „Nützliche Kenntnisse“ Arbw.: Beobachtungen am Lebewesen in der freien Natur Anlage von Gärten, Bewirtschaftung von Beeten als praktische Arbeit Präparieren von Tieren, Untersuchen von Präparaten Med: Anlage biologischer Sammlungen Meth: Geländearbeit auf Spaziergängen oder im Garten (Sommer), Präparierübungen und Untersuchen von Präparaten von Tieren (Winter) Einst: Umsetzung der Naturphilosophie von ROUSSEAU Literatur: BLÄTTNER, F: Geschichte der Pädagogik. Quelle & Meyer, Heidelberg, 12.Aufl. 1966. KLAUSING, O.: Biologie in der Bildungsreform, Beltz, Weinheim 1968. 6.2 Das diagnostisch/ systematisch/ morphologische Artkonzept (um 1830): LÜBEN & LEUNIS Die Beschreibung und Ordnung der Formenmannigfaltigkeit erhielt durch das phänominale Werk von LINNÉ (1735: Systema naturae, mit zahlreichen Auflagen, vgl. LINNAEUS 1758) eine tragfähige Struktur. Die Beschreibung und Ordnung der Formenmannigfaltigkeit stand von dann an bis etwa Anfang/ Mitte des vorigen Jahrhunderts im Mittelpunkt biologischer Forschung. Durch den Kolonialismus jener Zeit wurde auch die tropische Artenvielfalt für die europäischen Museen verfügbar. Dieser Höhepunkt deskriptiv/ systematischer Forschung wurde zum Vorbild für die Schulbiologie (Dominanz der „Fachrelevanz“): Epoche der systematischen Morphologie im Biologieunterricht. Die morphologischen Untersuchungen waren auf das LINNÉsche System ausgerichtet, das Bestimmen hatte einen hohen Stellenwert, konnte zum eigentlichen Ziel des BU werden. Das Beobachten der Lebensweisen wurde dagegen eher ausgeklammert, der Bezug der Pflanzen zu ihrer Umgebung wurde vor allem als Standortlehre behandelt. LÜBEN, AUGUST, 1804-1873: 1832: „Anweisungen zum Unterricht in der Naturgeschichte nach naturgemäßen Grundsätzen für gehobene Volksschulen, Bürgerschulen, Berufsschulen, Schullehrerseminaren und Gymnasien bearbeitet“. Die bis heute aktuelle didaktische Intention LÜBEN‘s macht das folgende Zitat (nach LÜBEN aus HÖRMANN 1965: 26) deutlich (vgl. auch Kap. 2.4: Ethik und formale Bildung naturwissenschaftlichen Arbeitens): „Kenntnis der Natur als eines großen Ganzen, die Erkenntnis des Lebens und der Kräfte in der Natur, die Erkenntnis der Einheit in der Mannigfaltigkeit und der Mannigfaltigkeit in der Einheit, ein Verständnis für die Gesetzmäßigkeit. .... Weit höher als die bloße Brauchbarkeit steht der bildende Einfluß, den dieser Unterricht, planmäßig betrieben, auf den ganzen Menschen ausübt. Er bildet die Sinne, übt das Gedächtnis, beschäftigt die Einbildungskraft, stärkt Urteilskraft, Witz, Scharfsinn und Beobachtungsgabe, Lehrstuhl Prof.em. Dr. rer. nat. Eberhard G. SCHMIDT Universität Essen, FB 9: Grundvorlesung BIOLOGIEDIDAKTIK, Bearbeitungsstand vom 20.1.2001 Kap.6: Geschichte der Biologiedidaktik 6— 6 erweckt und bildet den Schönheitssinn. Den höchsten Wert erhält der Naturgeschichtsunterricht als Mittel, den Menschen zu wahrer, innerer Gottesfurcht zu erheben“. Die praktische Arbeit im Unterricht bestand in morphologischen Untersuchungen an abgepflückten Pflanzen im Sommer und an Tierpräparaten im Winter; sie konnte diesen hohen Bildungszielen damit nicht gerecht werden. LEUNIS, JOHANNES, 1802-1873: 1869.(9. Aufl. 1877): „Schul-Naturgeschichte. Eine analytische Darstellung der Naturreiche.“ Der Unterricht wurde dabei weitgehend reduziert Bestimmungsübungen am Objekt, aber mit selbsttätiger Entwicklung Bestimmungsschlüsseln als kreativem Element, damit haben wir hier den Ansatz forschend/ entdeckenden Lernen. drei auf von zum Didaktische Prinzipien von bleibendem Wert bei LÜBEN & LEUNIS: Vom Einfachen zum Komplizierten; vom Nahen zum Fernen, Vorrang heimischer Arten gegenüber Exoten (Volksschule). Vorrang der mit bloßem Auge erkennbaren Phänomen vor solchen, die Lupe und Mikroskop erfordern. Vorrang für induktive, auf Selbsttätigkeit des Schüler gerichtete Lehrverfahren vor Deduktion und Demonstration; Vorrang der Erfahrung/ von erwiesener Wahrheit gegenüber Hypothesen/ bloßen Vermutungen, Vorrang des Konkret/ Praktischen gegenüber dem Abstrakt/ Wissenschaftlichen. Ziele und Schritte des Arbeitens am Naturobjekt (nach LÜBEN): Förderung der Eigentätigkeit und des selbständigen Arbeitens mit den Schritten [in der Klammer das Stichwort in heutiger Diktion]: (selbständiges) Beobachten (eigene) Erfahrung) (selbständiges) Beschreiben & Zeichnen (Protokollieren) Zusammenfassen zu systematischen Gruppen nach abgestufter Ähnlichkeit [Deutung 1. Stufe] Einordnen in das LINNÉ'sche System [Deutung 2. Stufe: Einordnen in den Theoriezusammenhang] LÜBEN & LEUNIS Konz: Möglichst selbständige Gestaltsbeschreibung für die Einordnung in das (wissenschaftliche) LINNEsche System an didaktisch ausgewählten Arten und exemplarische Formenübersicht: Morphologisch/systematisches Artkonzept. Damit Abkehr vom Nützlichkeitsaspekt [angewandte Biologie im heutigen Sinne] hin zur zweckfreien Biologie [„reine“ Naturwissenschaft im heutigen Sinne]. Stoff: Einführung in die Klassifikation der Arten. Arbw.: Induktiv/ selbsttätiges Arbeiten an ausgewählten Arten, dabei Ausgang von den Arten, die das Kind am leichtesten auffaßt. Med.: Naturobjekte. Meth.: Kindgerechte methodische Prinzipien (s.o.). Lehrstuhl Prof.em. Dr. rer. nat. Eberhard G. SCHMIDT Universität Essen, FB 9: Grundvorlesung BIOLOGIEDIDAKTIK, Bearbeitungsstand vom 20.1.2001 Kap.6: Geschichte der Biologiedidaktik 6— 7 Literatur LINNAEUS, C.: Systema naturae. Regna tria naturae, Tom. (Bd.) I Regnum animale. Salvius, Holmiae (Stockholm), 10.Aufl. 1758. Facsimile-Nachdruck British Museum (Natural History), London 1956. 6.3 Volkstümliche, naturnahe, ganzheitliche Naturbetrachtung (um 1850): ROßMÄßLER Zeitströmung: Romantik. – In der Biologie setzte sich die vergleichend-morphologische („homologisierende“) Arbeitsweise durch. Die ganzheitliche Betrachtungsweise hatte einen hohen Stellenwert (vgl. CUVIER [~1800]: Lebewesen als organische Ganzheit). Experimentelle Arbeiten (Physiologie, auch in Verbindung zur Humanphysiologie/ Medizin) gewannen an Raum. Der Gedanke der ganzheitlichen Einheit der Organismen mit dem Raum („Kosmos“) ist in Deutschland durch A.v.HUMBOLDT (1845, vgl. TROMMER 1993, s.o.) populär geworden, in den exakten Naturwissenschaften steht dem die Vorstellung der strengen Kausalität unter (reduktionistisch/deterministisch) normierten Versuchsbedingungen entgegen. HUMBOLDT weist auch den Weg vom statischen Denken in Strukturen zum dynamischen in Relationen/ Systemen: „Der Reichtum der Naturwissenschaften besteht nicht mehr in der Fülle, sondern in der Verkettung von Tatsachen“ (vgl. das Motto bei JUNGE 1885 sowie Kap. 2.8: Bildung als Verständnis von Zusammenhängen). EMIL ADOLF ROSSMÄSSLER 1806 - 1867 NATURFORSCHER VOLKSLEHRER UND DEMOKRAT aus Leipzig Lehrstuhl Prof.em. Dr. rer. nat. Eberhard G. SCHMIDT Universität Essen, FB 9: Grundvorlesung BIOLOGIEDIDAKTIK, Bearbeitungsstand vom 20.1.2001 Kap.6: Geschichte der Biologiedidaktik 6— 8 ROßMÄßLER, EMIL ADOLF, 1806-1867. Die Biographie als Beispiel für ein Lehrerschicksal der Zeit (Details bei TROMMER 1993): 1806 Geboren in Leipzig; Vater (Kupferstecher) starb früh; mit Hilfe von Almosen Studium der Theologie („billiges“ Fach) trotz biologischer Neigungen. 1827 Hauslehrer in Thüringen. 1836 Professur für Zoologie an der berühmten Forstakademie in Tharant/Sachsen, div. Fachbücher, u.a. ein Mollusken-Handbuch. 1848 Parlamentarier für die Arbeiterpartei in der Paulskirche in Frankfurt/M., (Mitbegründer der deutschen Arbeiterbewegung: Leipziger Arbeiterbildungsverein, später Sozialdemokratische Arbeiterpartei in Eisenach). Nach dem Zusammenbruch der Revolution und Demokratie Anklage wegen Hochverrats. – Trotz Freispruchs Verlust der Professur an der Forstakademie Tharant (b. Dresden). 1849-52 freiberuflich tätig als Reisender mit volkstümlichen Vorträgen über die Natur mit großem Zuspruch (z.B. in Stuttgart, Mainz, Wiesbaden, Frankfurt/M., Magdeburg, Leipzig), wegen des Einbeziehens der DARWINschen Thesen zur Evolution aber anstößig bei den (preußischen) Behörden. Zahlreiche populärwissenschaftliche. Bücher („Geschichte der Erde“, „Süßwasseraquarium“, „Wald“), z.T. zus. mit ALFRED BREHM („Tiere des Waldes“, 1866); Zeitschriften „Aus der Heimath“ (1859-66), „Die Gartenlaube“. 1856: „Der See im Glase“: Das Aquarium als Mittel der naturwissenschaftlich/ heimatkundlichen Volksbildung. 1860: Der naturgeschichtliche Unterricht, Gedanken und Vorschläge zu einer Umgestaltung desselben. In dieser Zeit hatte die außerschulische biologische Bildung bei den Bürgern einen hohen Stellenwert, nicht nur durch ROßMÄßLER, sondern auch durch Sachbücher. Zu erinnern ist an BREHM's „Illustriertes Tierleben“, 6 Bände 1863-69, oder E. HAECKEL's „Kunstformen der Natur“, 1904, aber auch an die gemütvollen Naturschilderungen von WILHELM BÖLSCHE aus Berlin (z.B. „Naturgeheimnis“ 1905) oder von HERMANN LÖNS aus der Lüneburger Heide (s.Kap. 6.5.4). Es wurden lokale naturwissenschaftliche Vereine gegründet (z.B. die „Gesellschaft naturforschender Freunde zu Berlin“ 1773), das Sammeln von Conchylien (vor allem der bizarr geformten und apart gefärbten Molluskenschalen und Korallen aus Übersee) und von Insekten (von Erfassungen der einheimischen Fauna bis zu Ziersammlungen exotischer Großformen unter den Schmetterlingen und Käfern) war verbreitet und lieferte den Grundstock bedeutender Museen (wie dem LÖBBECKE-Museum in Düsseldorf), die „Botanisiertrommel“ (Vorläufer der heutigen Platiktüte in der Botanik) wurde zum Erkennungszeichen der Naturfreunde. Bedeutende systematische Werke erschienen für eine breites Publikum (wie die „Naturgeschichte der Vögel Deutschlands“, 1820-1844 von J.F. NAUMANN, Bauer und Autodidakt aus einem Dorf bei Köthen (nahe Dessau in Anhalt) oder REITTER's „Fauna Germanica, die Käfer des Deutschen Reiches“ in 5 Bänden 1908-16, herausgegeben vom Deutschen Lehrerverein für Naturkunde!). Auch die großen Zoologischen Gärten entstanden, oft aus ehemaligen herrschaftlichen Fasanerien oder Menagerien (wie in Berlin 1844). Lehrstuhl Prof.em. Dr. rer. nat. Eberhard G. SCHMIDT Universität Essen, FB 9: Grundvorlesung BIOLOGIEDIDAKTIK, Bearbeitungsstand vom 20.1.2001 Kap.6: Geschichte der Biologiedidaktik 6— 9 Lehrstuhl Prof.em. Dr. rer. nat. Eberhard G. SCHMIDT Universität Essen, FB 9: Grundvorlesung BIOLOGIEDIDAKTIK, Bearbeitungsstand vom 20.1.2001 Kap.6: Geschichte der Biologiedidaktik 6 — 10 Kennzeichnung von ROßMÄßLER und seiner Epoche: Konz: Ganzheitliche Betrachtung der Organismen. Weg von dem philologisch/weltfremden Reden über Natur, aber auch von der bloß morphologischen Artbeschreibung imSystemkontext hin zum rationalen Erfassen der Lebenserscheinungen & Lebensweisen Arbw: Naturbetrachtung Med: Popularisierung der Aquarien(technik), damit der entspr. Beobachtungsmöglichkeit im (Klassen-) Zimmer. Schautafeln; naturkundliche (Sach-) Bücher (wie Brehms Tierleben) Einst: Schwärmerische Verklärung der Harmonie der Natur mit stark emotionalen Anthropomorphismen; Wecken der Freude an der Natur Literatur: DIETRICH, G.: EMIL ADOLF ROßMÄßLER – ein Wegbereiter des fortschrittlichen Biologieunterrichts. BioS 1979: 518-528 (1979). TROMMER, G.: Natur im Kopf. Die Geschichte ökologisch bedeutsamer Naturvorstellungen in deutschen Bildungskonzepten. Deutscher Studien Verlag, Weinheim, 2.Aufl. 1993. 6.4 Das ökologische Artkonzept: Lebendiger Biologieunterricht im Kontext Lebensraum Teich: FRIEDRICH JUNGE, 1885: Der Dorfteich als Lebensgemeinschaft 6.4.1 Einführung Einen Markstein der Biologiedidaktik setzte F. JUNGE 1885 mit dem Buch Der Dorfteich als Lebensgemeinschaft (1885). Den Blickwandel von der Strukturbeschreibung zum Beziehungsgefüge zeigte schon das bereits zitierte eine Motto des Buches (s.Kap. 7.3). Die ganzheitliche Sicht als Grundprinzip ist dann in dem anderen Motto des Buches: „Die Natur ist in jedem Winkel der Erde ein Abglanz des Ganzen“ aufgezeigt worden. Hierbei folgte er auch wieder ALEXANDER VON HUMBOLDT. Auch der Lebenslauf JUNGE's ist ein Beispiel für ein besonderes Lehrer-Schicksal: JUNGE, FRIEDRICH, 1832-1905. 1832 (8.12.)* in Pölitz bei Oldesloe/Holstein, Vater Schuhmacher, starb kurz nach JUNGE's Geburt, Schule in Oldesloe, Zuverdienst als Präparand. 1851 Seminar (Volksschullehrerausbildung) in Bad Segeberg mit einem Stipendium Oldesloer Bürger. 1854 Schuldienst an verschiedenen Orten in Holstein, Nebenverdienst durch TrichinenFleischbeschau (dafür hatte er sich ein Mikroskop angeschafft); Hauslehrer beim Müller im Dorf Hohenfelde (N Selenter See) mit der Möglichkeit zu ökologischen Studien am Mühlenteich. 1878 Hauptlehrer, später Schulleiter an einer Volksschule („Mädchen-Bürgerschule“) in Kiel. In Kiel Besuch von Lehrerfortbildungskursen an der Universität zur Ökologie (Biozönose) bei Prof. Dr. MOEBIUS; Umsetzung zu: 1885 „Der Dorfteich als Lebensgemeinschaft“ Lehrstuhl Prof.em. Dr. rer. nat. Eberhard G. SCHMIDT Universität Essen, FB 9: Grundvorlesung BIOLOGIEDIDAKTIK, Bearbeitungsstand vom 20.1.2001 Kap.6: Geschichte der Biologiedidaktik 6 — 11 1890 2. Auflage; 3. Aufl. posthum 1907. 1905 † am 28.5. in Kiel, 72 Jahre alt. Literatur: JUNGE, F.: Der Dorfteich als Lebensgemeinschaft. Lipsius & Tischer, Kiel 1885. Nachdruck (der 3. Aufl. von 1907) mit Vorwort/ Einführung von W.JANßEN, W.RIEDEL & G.TROMMER. Lühr & Dircks, St. PeterOrding 1985. 6.4.2 Das Buch „Der Dorfteich als Lebensgemeinschaft“ Es ist gliedert in: Teil I: Ziel und Verfahren des naturgeschichtlichen Unterrichts. Bei aller Akzeptanz der methodischen Grundsätze LÜBEN's (s.o.) wendet sich JUNGE heftig gegen die morphologisch/ systematische Betrachtungsweise als „einem wissenschaftlichen Apparat, der für die Schule nicht Selbstzweck sein kann“. Für die biologische Wissenschaft hielt JUNGE die Systematik für unverzichtbar, für die Schule (S I!) aber für ungeeignet: Systematik sei ein abstraktes Produkt menschlicher Logik, dessen reale Basis schulisch nicht erfaßbar sei. Schule müsse vielmehr die konkrete, lebendige Natur mit den Organismen als harmonischer Ganzheit anschaulich nahe bringen! Die Abstimmung von Gestalt und Lebensweise, ihre Anpassung an den Lebensraum sollen die Schüler aus der Anschauung heraus verstehen lernen, sie müssen daher im Mittelpunkt des Biologieunterrichts stehen. Die wissenschaftliche Trennung der Physiologie und Entwicklungsbiologie von der Morphologie sei dementsprechend aus schulischer Sicht zu verwerfen, die harmonische Einheit von Morphologie und „Biologie“ zu betonen. Hinweis: Diese Problematik ist ist aktuell geblieben. Schulisch ist die BauLeistungs-Verzahungen etabliert, das Hochschulstudium bereitet darauf nicht genügend vor, selbst die LPO trennt die Morphologie (Teilgebiete B1, C1 für SII) von der Physiologie (B2, C2) als alternatv zu studierende Teilgebiete! Die Richtlinien S I im Gymnasium NRW betonen wieder systematische Einordnungen (Schwerpunkt Wirbeltiere), ohne jedoch die Prinzipien des Natürlichen Systems dabei verständlich zu machen! Eine Reihe ökologischer Zusammenhänge wurde von JUNGE (in Anlehnung an LUDWIG KARL SCHMARDA (1853, 1877; vgl. TROMMER in JUNGE 1885/1985) als „Gesetze“ formuliert. Sie sollten den theoretischen Hintergrund für die „biologische“ Betrachtungsweise bilden und daher im Unterricht an Beispielen erarbeitet werden (s.u.). Angefügt wurde eine Reihe didaktisch/ methodischer Handreichungen für einen lebendigen Biologieunterricht, der Beobachtungen in der freien Natur mit Untersuchungen und einfachen, aber schlüssigen Experimenten (zumeist an Wassertieren im Aquarium) im Klassenraum verbindet. Den Abschluß bildete ein Stoffplan für eine Kieler „Mädchen-Bürgerschule“. Lehrstuhl Prof.em. Dr. rer. nat. Eberhard G. SCHMIDT Universität Essen, FB 9: Grundvorlesung BIOLOGIEDIDAKTIK, Bearbeitungsstand vom 20.1.2001 Kap.6: Geschichte der Biologiedidaktik 6 — 12 Teil II: Der Dorfteich als Lebensgemeinschaft. Im einleitenden Kapitel „Zur Orientierung für den Lehrer“ und „ein Jahresbild seines Lebens“ beschreibt JUNGE anschaulich einen norddeutschen Mühlenteich (in Ostholstein, O Kiel) mit seiner Vegetation und den Nutzungen. Es folgen unter „II. Die Glieder“ Artmonographien von Tieren [beginnend mit 1. der Stockente, 2. dem Gelbrandkäfer und weiteren Wasserkäfern, 5. der (Rauch-) Schwalbe, 6. dem Wasserfrosch bis zu 21. „der braune Armpolyp“ Hydra und einem „Rückblick auf das Tierreich“] und von Pflanzen [von 1. der Weide und 2. der Erle bis zu 18. Wasserfäden (Fadenalgen) und 19. der Vielwurzligen Wasserlinse sowie dem Rückblick auf das Pflanzenreich] in didaktischer (nicht in systematischer) Anordnung. Unter „3. Das Nichtorganisierte“ sind die abiotischen Komponenten Wasser und Teichgrund, wieder mit einem Rückblick abgehandelt. Ein „allgemeiner Rückblick auf das Ganze“ bildet den Schluß. In einem Anhang sind einige Erzählungen über Teicharten (als belebende Einschübe für den Unterricht), Kurspläne und als Teil III „Aquarium“ eine Bauanleitung (Geld war knapp, es gab damals auch noch keinen Fachhandel auf dem Lande!) mit Hinweisen zur Pflege des (Heimat-) Aquariums und zum Fang von Tieren dafür angefügt. Diskussion: Teil I liefert somit die didaktisch/ methodische Grundlegung für JUNGE's Konzept, also die Zielvorstellungen, die Kriterien der Stoffauswahl und der biologischen Arbeitsweisen nebst methodischen Handreichungen. Teil I ist damit als JUNGE's Didaktik des Biologieunterrichts anzusehen. Teil II gibt einen detaillierten Stoffplan mit den Schlüsselfragen für das schrittweise Erarbeiten am Objekt und mit Versuchsanleitungen für die experimentelle Kontrolle, damit zugleich die Unterrichtsgliederung. Teil II könnte auch als Arbeitsbuch für die Hand des Schülers eingesetzt werden. Die strikte Ablehnung der systematischen Anordnung (in Teil I) ist nicht nur von der Sachlogik des ökologischen Artkonzeptes geboten, sie soll sicherlich auch den Paradigmawechsel hervorheben; überdies ist das Unterrichtskonzept auf die Sekundarstufe I (in heutiger Sprechweise, insbesondere auf die Haupt- und Realschule) ausgerichtet. Teil II ist allerdings nur für denjenigen, der ebenfalls über eine breite biologische Felderfahrung verfügt, Aquarientechnik und die Unterrichtspraxis zur Materie beherrscht, voll verständlich. Dieser Teil ist dementsprechend in den Diskussionen oft verkannt worden (vgl. Kap. 6.6). 6.4.3 Die „Gesetze“ Die "Gesetze" hatten in der didaktischen Diskussion besondere Aufmerksamkeit gefunden. Sie werden daher hier vorgestellt (die Wortwahl wurde dabei etwas verändert): 1. Das Gesetz der Erhaltungsmäßigkeit: Aufenthalt, Lebensweise und Einrichtung entsprechen einander. Das wird beim Biotopwechsel in der Ontogenie besonders deutlich (vgl. Fig. 29, 30/ S. 118, 120: Stechmücke mit Entwicklung; Fig. 40, 41/ S. 134: Larven & Imago einer Eintagsfliege; Fig. 35, 36 /S. 126, 128: Libellen in verschiedenen Stadien). Lehrstuhl Prof.em. Dr. rer. nat. Eberhard G. SCHMIDT Universität Essen, FB 9: Grundvorlesung BIOLOGIEDIDAKTIK, Bearbeitungsstand vom 20.1.2001 Kap.6: Geschichte der Biologiedidaktik 6 — 13 2. Das Gesetz der organischen Harmonie: Jedes Wesen ist ein Glied des Ganzen: Das entspricht dem Gesetz 1, auf Lebensgemeinschaften angewandt. JUNGE hat dabei maßgeblich die Nahrungsbeziehungen im Blick. 3. Das Gesetz der Anpassung: Lebensweise und Gestalt passen sich bis zu einem gewissen Grade veränderten Verhältnissen an Das wird beim Wechsel von Wasser- und Landformen von Uferpflanzen deutlich (vgl. Wasserknöterich Fig. 69, 70/ S. 197, 198; Heterophyllie beim Wasserhahnenfuß Fig. 56/ S. 184 [Landform nicht abgebildet, aber genannt]. Anzuführen wäre aber auch der Gestaltswechsel von der festsitzenden Uferstaude zum Flugsamen als Verbreitungsorgan oder die Erle mit Windpollen und Flug-/Schwimmsamen (vgl. Zottiges Weidenröschen Fig. 83, 84/ S. 220, 221; Erle Fig. 54/ S. 179 sowie z.B. die Überwinterung bei Laubbäumen mit herbstlichem Laubfall, der winterliche Rückzug in Dauerstadien wie Samen bei anuellen Pflanzen, in Dauereier bei Wasserflöhen oder Winterschlaf bzw. Wegzug bei Warmblütlern). 4. Das Gesetz der arbeitsteiligen Differenzierung der Organe (als Voraussetzung für höhere Leistungsfähigkeit). 5. Das Gesetz der Entwicklung (aus einfachen Stadien im Sinne der Ontogenie); das Gesetz der Gestaltenbildung (Gestaltungsgesetz), d.h. der Wechselwirkungen zwischen den Organen bei der Ontogenie. 6. Das Gestaltungsgesetz Die vorhandenen Teile üben auf die hinzukommenden einen Einfluß aus, so daß ein Körper von einer bestimmten Form entsteht („Warum entsteht aus dem Ei eines Frosches nicht ein Salamander?“). 7. Das Zusammenhangsgesetz Die einzelnen Organe sind von der Gesamtheit und von einander abhängig (vgl. die Stärke der Flugmuskulatur und die Höhe des Brustbeinkammes bei Vögeln). 8. Das Gesetz der Sparsamkeit (Flügel in der Insektenpuppe; je sorgfältiger die Brutpflege, desto geringer die Zahl von Eiern, vgl. Karpfen mit Stichling ). Hinweis: Die Gesetze 1-3 entsprechen Bedingungen der Lebensstrategien, d.h. der Realisierung des ökologischen Potentials an einem konkreten Ort, zu einem konkreten Zeitpunkt unter konkreten Bedingungen und damit der ökologischen Nische, die anderen der Lebensform als ökologischem Artmerkmal bzw. evolutivem Erbe der Art (vgl. SCHMIDT 1991). Die Herleitung der Gesetze im Unterricht ist (am Beispiel von Gesetz 3 /Anpassung an den Lebensraum) in dem Vorwort (zur 3. Aufl., S. XIII, vgl. JUNGE 1885/ 1995) beschrieben worden: „Im Aquarium wird gerade ein Gelbrandkäfer gehalten. Ein Kind bringt zufällig einen Gartenlaufkäfer mit zur Schule. Nun werden beide in ein Glasgefäß gesetzt, herumgezeigt, beide als Käfer erkannt und in ihren Bewegungen auf dem trockenen Boden verglichen. Dann wird der Laufkäfer für einen Augenblick mit dem Gelbrand ins Wasser des Aquariums geworfen, wieder werden die Bewegungen verglichen. Dann fällt einem 10jährigen Kinde, auch wenn es sonst noch keinen biologischen Unterricht erhalten hat, sofort auf, daß die Hinter- & Mittelbeine des Gelbrandes zum Wasser passen, aber nicht für das Trockene, die des Laufkäfers umgekehrt fürs Land, aber nicht fürs Wasser." Lehrstuhl Prof.em. Dr. rer. nat. Eberhard G. SCHMIDT Universität Essen, FB 9: Grundvorlesung BIOLOGIEDIDAKTIK, Bearbeitungsstand vom 20.1.2001 Kap.6: Geschichte der Biologiedidaktik 6 — 14 Dieser Zusammenhang von Gestalt, Lebensweise & Lebensraum soll dann bei jedem Tier, das danach behandelt wird, überprüft werden. Nach dem Prinzip des induktiven Verfahrens wird so von selbst aus der anfänglichen Hypothese eine Gesetzmäßigkeit (hier Nr. 3). Damit wird die Mannigfaltigkeit der biologisch/ ökologischen Zusammenhänge auf Artniveau, die „biologische“ Sicht der Arten, in schulisch umsetzbarer Form zu allgemeineren Aussagen abstrahiert. Eine solche Verallgemeinerung entspricht dem Wesen von Wissenschaft, damit der Wissenschaftspropädeutik im Biologieunterricht. An dem didaktischen Stellenwert dieser Gesetze entzündete sich dann eine heftige Diskussion mit z.T. harscher Kritik am JUNGEschen Konzept. Mit seinem ökologischen Artkonzept und der Verallgemeinerung zu ökologischen Regeln war JUNGE der Wissenschaft seiner Zeit voraus, manches ist inzwischen zu relativieren. Bei der Untersuchung eines komplexen Gegenstandes (wie der Teichökologie) kristallisieren sich oft zunächst faszinierende Gesetzmäßigkeiten heraus, die mit fortschreitender Kenntnis verschwimmen. Die Problematik von Gesetzen in der Ökologie ist überdies bis heute noch nicht gelöst, angesichts der „Chaos“-Struktur von Ökosystemen Ausdruck eines prinzipiellen Dilemmas (Kap. 2.8). So sollten diese „Gesetze“ JUNGE's nicht zu eng gesehen und auch nicht dem insgesamt weitsichtigen Konzept von JUNGE angelastet werden. JUNGE hatte selbst auch schon betont, daß diese Gesetze bei Lebewesen nicht immer einfach zu erkennen, also zu relativieren sind (JUNGE 1885/ 1985: S. 13 oben). Vordergründig ist es überdies, die „Gesetze“ (wie in der „Kampfschrift“ von SCHMEIL 1896/ 1905: Kap. 6.5.2) nur deshalb als sachlich falsch zu verwerfen, weil sie nicht so absolut gelten wie z.B. die Gesetze der Mechanik. JUNGE's Söhne ADOLF & OTTO nahmen dazu im Vorwort der 3. Auflage 1907, also zwei Jahre nach JUNGE's Tod, als Herausgeber Stellung. Man spürt, daß sie die Kritik (insbesondere in der „Kampfschrift“ von SCHMEIL 1896) als überzogen, z.T. als absurd ansahen und damit als schmerzlich empfanden. Als Unterschied zu der damals gängigen evolutiv/ systematischen Sicht auf der Grundlage der (vergleichenden) Morphologie hob JUNGE hervor, daß hier die Merkmale auch für Schüler faszinierend und die Prinzipien plausibel sein sollen. Das begründete für ihn den hohen Bildungswert seines Ansatzes und die Opposition gegen den morphologisch/ systematischen bei LÜBEN & LEUNIS. JUNGE'S Verdienste um die Formulierung und didaktische Umsetzung eines noch heute gültigen ökologischen Artkonzeptes darf das einstige Gerangel um die „Gesetze“ nicht schmälern, wie letztlich auch SCHMEIL schon in der genannten „Kampfschrift“ hervorhebt. Wir sollten sie als Zeiterscheinung abtun. So manchem unserer heutigen Zeitgenossen in Schule und auch in der Hochschule ist JUNGE auch so immer noch voraus. Literatur SCHMEIL, O.: Über die Reformbestrebungen auf dem Gebiete des naturgeschichtlichen Unterrichts. Nägele, Stuttgart 1896, 7.Aufl. 1905, 11.Aufl. 1913. Lehrstuhl Prof.em. Dr. rer. nat. Eberhard G. SCHMIDT Universität Essen, FB 9: Grundvorlesung BIOLOGIEDIDAKTIK, Bearbeitungsstand vom 20.1.2001 Kap.6: Geschichte der Biologiedidaktik 6 — 15 6.4.4 Bezugspunkt Lebensgemeinschaft oder Biocoenose Den Begriff der „Lebensgemeinschaft oder Biocoenose“ hatte der Kieler Ordinarius für Zoologie, MOEBIUS, 1877 am Beispiel der Austernbank hergeleitet, und zwar nach Freilandstudien vor Sylt (wo die Auster wie auch sonst an der deutschen Nordseeküste seit einem ¾ Jahrhundert ausgestorben und nur noch mit den leeren Schalen am Strand präsent ist, aber zunehmend durch einen Einwanderer #### ersetzt wird). MOEBIUS war vor seiner Berufung nach Kiel Gymnasiallehrer in Altona (damals zu Holstein gehörig, heute Ortsteil von Hamburg, „der mit der Reeperbahn“) gewesen. Er hatte seine ökologischen Innovationen auf Fortbildungsveranstaltungen interessierten Lehrern und damit auch JUNGE praktisch vorgeführt. JUNGE hatte sie dann innovativ auf den Teich übertragen, noch bevor die Gewässerökologie, die Limnologie, sich als eigenständige Wissenschaft etabliert hatte (vgl. SCHMIDT 1996). Dabei hatte JUNGE offenbar die Indivualität und die Dynamik, die spezifische Veränderung durch den Menschen eines jeden Ökosystems erkannt. So hat er einen ganz konkreten MühlenTeich (an der Mühlenau in Hohenfelde, N Selenter See) anschaulich beschrieben, Eingriffe wie die Viehtränke oder das Absenken des Wasserspiegels beim Mühlenbetrieb genannt. Das eigentliche Beziehungsgefüge (vgl. Abb. ##, Kap. 4.8.5.6) blieb dabei allerdings eher vage, (so fehlte z.B. eine Korrelation von Ufervegetation mit den genannten Nutzungen, wäre auch der Zeit um fast ein Jahrhundert voraus gewesen). Das zeigte sich schon an dem Begriff „Dorfteich“ für einen am Rande des (Straßen-) Dorfes liegenden Bachstau, dem Mühlenteich, mit Eingriffen in die Wasserführung durch die Nutzung. Dorfteich i.e.S. war zu jener Zeit der Feuerlöschteich im Dorfanger mit einem völlig anderen ökologischen Beziehungsgefüge (wie SCHMEIL in seinen Lebenserinnerungen ohne direkten Bezug zu JUNGE ausführt: SCHMEIL & SEYBOLD 1986). Das Titelbild des Buches (in der Ausgabe von 1985, auch auf S. 010) zeigt übrigens wieder einen völlig anderen Teichtyp, nämlich einen Hofteich als Bacherweiterung. In den heutigen Biologiedidaktiken (wie EKR 1993*:13/ Abb.2-1) wird JUNGE üblicherweise mit dem Etikett „(syn-) ökologische Betrachtungsweise“ versehen und von der „funktionsmorphologischen Betrachtungsweise“ SCHMEIL's abgehoben. Das orientiert sich vordergründig am Begriff „Lebensgemeinschaft“ im Buchtitel und trifft den Kern nicht. JUNGE's bleibendes Verdienst liegt vielmehr in der Innovation einer konsequent funktionalen (damit funktionsmorphologischen), d.h. ökologischen Artbeschreibung die aus dem Kontext eines ausgewählten Lebensraumes als Anpassung/ Angepaßtheit plausibel und am konkreten Objekt nachprüfbar ist. Literatur SCHMEIL, O.: Über die Reformbestrebungen auf dem Gebiete des naturgeschichtlichen Unterrichts. Nägele, Stuttgart 1896, 7.Aufl. 1905, 11.Aufl. 1913. SCHMEIL, O. & A.SEYBOLD: Leben und Werk eines Biologen. ### Lebenserinnerungen. Quelle & Meyer, Heidelberg 1954, 2.Aufl. 1986. SCHMIDT, E.: Ökosystem See. Bd. I: Der Uferbereich des Sees. Biologische Arbeitsbücher 12.1. Quelle & Meyer, Wiesbaden (1974), 5. Aufl. 1996. Lehrstuhl Prof.em. Dr. rer. nat. Eberhard G. SCHMIDT Universität Essen, FB 9: Grundvorlesung BIOLOGIEDIDAKTIK, Bearbeitungsstand vom 20.1.2001 Kap.6: Geschichte der Biologiedidaktik 6 — 16 6.4.5 Das ökologische Artkonzept bei Junge Die Grundeinheiten oder Elemente eines Ökosystems sind die involvierten Arten. Das Beziehungsgefüge im Ökosystem wird von dem ökologischen Potential dieser Arten und von ihrem Einsatz, den Lebensstrategien, bestimmt. Damit ergibt sich ein funktionales Ordnungsraster für eine ökologische Artbeschreibung, das völlig verschieden von dem für eine systematische Artbeschreibung ist (vgl. KINNE 1984, SCHMIDT 1991, 1992, 1996). Das bleibende Verdienst von JUNGE liegt für mich in der praktikablen Herleitung eines solchen funktionalen oder ökologischen Artkonzeptes. Es ist ihm für die Tiere trefflich gelungen, während die Pflanzen vor allem unter dem Aspekt der Fortpflanzungsbiologie gesehen wurden (was angesichts des geringen Kenntnisstandes zur Standortökologie zu seiner Zeit und des mehr phänomenologischen Arbeitens in der Schule auch beachtlich ist). JUNGE's ökologisches Frageraster der Artmonographien der Tiere wurde nicht starr angewendet, sondern dem jeweiligen Objekt angepaßt. Einige Beispiel sollen das veranschaulichen (direkt aus dem Text von JUNGE übernommene Passagen in kursiv). 1. Die Ente (Anas boschas) [JUNGE 1885/ 1995: 50ff.]: 1. Aufenthalt und Körperform nebst Bedeutung. Mit Fragen wie Kälteschutz der Füße („wenig Blut“), Wärme-Isolation durch das Federkleid: Bau der Feder und des Gefieders, Fettschicht Enten-: Hühnerbraten, Vergleich mit dem Frieren von mageren & fetten Menschen, Nässeschutz durch Unbenetzbarkeit des Gefieders/ Einfetten, Auftrieb durch Lufträume im Gefieder, aber auch (wie bei allen Vögeln) im Rumpf & Knochen ( Luftsäcke der Vogellunge). 2. Bewegungen. Ruderfuß beim Schwimmen, hinten angesetzt Watscheln auf dem Land (Vergleich mit Storch, Hahn): Anpassung an das Leben auf dem Wasser. 3. Nahrung (und Aufenthalt) „Schnabbelt Entenflott“ (Wasserlinsen) mit Kleintieren, Gründeln. Seihschnabel mit Tastsinn: Wieder Anpassung an das Wasserleben. Aber auch Fressen an Land, ausgenutzt zur Schneckenvernichtung im Garten, aber mit Vertritt- und Fraßschaden an den Erbsen. 4. Ihre Häuslichkeit (Fortpflanzung) Nest im Stall, Wärmen der Eier, Schlüpfen, Bau & Entwicklung des Eies. Ausbrüten von Enteneiern durch Glucken (große, brutfreudige Hennen) ergibt Entenkücken (trotz der Adoption: Beleg für die Vererbung von Artmerkmalen), die Kücken aus Wildenteneiern sind scheuer (erbliche Veränderung bei der Domestifikation); dazu ein Textbeispiel (S. 59): „Und wie diese ihre Abstammung von wilden Enten nicht verleugnen können, so können die Enten überhaupt ihre Abstammung nicht verleugnen. Sind Enten von einer Henne ausgebrütet, so gehen sie ganz wohlgemut auf den Teich, mag die Henne noch so besorgt ihr „Gluck, gluck“ rufen und bis an den Bauch ins Wasser gehen – sie kümmern sich nicht darum, sie fühlen sich wohl auf dem Wasser, obgleich sie den Teich zu ersten Mal sehen, während die alte Henne ihn kennt, sich aber demselben nicht anvertraut." Lehrstuhl Prof.em. Dr. rer. nat. Eberhard G. SCHMIDT Universität Essen, FB 9: Grundvorlesung BIOLOGIEDIDAKTIK, Bearbeitungsstand vom 20.1.2001 Kap.6: Geschichte der Biologiedidaktik 6 — 17 Hinweis: Hinter diesem Beispiel steckt das Phänomen der Prägung, genauer der Nachlaufprägung der Entenkücken auf die „Mutter“. Es wurde für die Wissenschaft von KONRAD LORENZ erschlossen (LORENZ 1978 sowie IMMELMANN et al. 1996). LORENZ war durch seine Beobachtungen beim Schlüpfen eines künstlich erbrüteten Grauganseies und der Nachfolgereaktionen des Kückens darauf gestoßen (sehr anschauliche, kindgemäße Beschreibung in LORENZ 1949/ 1952). Dabei hatte er die 10 Eier bis zum vorletzten Tag von einer Pute ausbrüten lassen, kannte also sicher die Nachlaufprägung auf die Hühnervogel-(Adoptiv-) Mutter schon von der Anwendung auf dem Hühnerhof her (damit aber in einem anderen Kontext, d.h. in einer anderen „Schublade“)! Rückblick Ente [JUNGE 1885/1995: 60]: 1. Körperform und Bedeckung passen zu dem Leben auf dem Wasser. 2. Die Füße sind geeignet zum Schwimmen, passen also auch zum Leben auf dem Wasser. 3. Die Einrichtung des Schnabels ermöglicht ein Finden der Nahrung im Wasser, der Schnabel paßt also auch zu ihrem Wasserleben. 4. Selbst die jungen Enten zeigen Neigung zum Wasserleben. Also ist die Ente ein rechter Wasservogel. Denken wir uns einmal, die Ente hätte ein Kleid aus Wolle, wie das Schaf - was wäre die Folge, wenn sie einmal untertauchte? Oder sie hätte die Füße einer Henne? Oder den Schnabel einer Taube? Ihre Einrichtung (Organisation) paßt z u ihrem Wasserleben. 5. Die Ente als Glied eines Ganzen [JUNGE 1885/ 1995: 61ff.]. a) Ihre Verwandtschaft. Vergleich mit der Gans („andere“ Nahrung nicht spezifiziert, heute sagen wir: die Graugans weidet mehr im Grünland und hat, dazu passend, einen Rupfschnabel im Gegensatz zum Seihschnabel der Stockente und, noch mehr spezialisiert, der Löffelente). Heute würden wir mit dem Schwan vergleichen. b) Ihre Abhängigkeit Hinweis auf den Zug der (nordischen) Wildenten & -gänse, V-Flugformation dabei. c) Ihr Dienst Verwertung der Ente: Freßfeinde in der Natur, Verwertung von Eiern, Federn und Fleisch durch den Menschen. Analogie zur Nahrungsaufnahme der Ente. Variationen der Gliederung: Bei „2. Gelbrand“ und z.B. „6. Der Grüne Waserfrosch“ ist als „4. die Atmung“ eingefügt, unter Abhängigkeit sind beim Gelbrand das Verlassen des Gewässers bei Nahrungs- und „Wassermangel“ (Austrocknung des Gewässers), die Bedeutung der Vegetation als Zufluchtsraum und die Bedeutung der Temperatur für die Entwicklung (sgeschwindigkeit) angemerkt. Beim Wasserfrosch „gehört die Stimme, der Gesang, ebenso zur Frühlingsnacht wie das Lied der Nachtigall (BREHM)“; ausführlich wird auf die Überwinterung unter Wasser mit Verifikation durch Beboachtung in einem Aquarium am kalten Fenster eingegangen [JUNGE 1885/1995, S. 62ff. bzw. 88ff.]. Lehrstuhl Prof.em. Dr. rer. nat. Eberhard G. SCHMIDT Universität Essen, FB 9: Grundvorlesung BIOLOGIEDIDAKTIK, Bearbeitungsstand vom 20.1.2001 Kap.6: Geschichte der Biologiedidaktik 6 — 18 Bei 10. Wasserschnecke (Große Schlammschnecke Limnaeus stagnalis) ist die Gliederung umgestellt zu [JUNGE 1885/ 1995: 111ff.]: 1. Aufenthalt & Bewegung (einschließlich des Kriechens an der Wasseroberfläche) 2. Bewegungsorgane (mit Angaben von Beobachtungsaufgaben/ Versuchen zur wellenförmigen Muskelbewegung im Fuß, dem Nachweis des Schleimbandes, zur Bedeutung der Oberflächenspannung) 3. Das Gehäuse (mit Kalknachweis) 4. Nahrung & Ernährungsorgane (mit Details zum Abweiden des Aufwuchses und zur Radula, Abb.) 5. Sinneswerkzeuge 6. Atmung (Luftatmung/ Atemhöhle Blut) 7. Die Entwicklung 8. Die Schnecke als Glied des Ganzen Feinde, Ausgleich über Gelegegröße, Verwandte Dieses ökologische Frageraster von JUNGE's Tiermonographien ist (etwas umgestellt) als Grundmuster eines ökologischen Artkonzeptes wieder didaktisch aktuell geworden (vgl. SCHMIDT 1991). Es bildet die Grundlage für das Verständnis des Beziehungsgefüges im Ökosystem, also der Systemökologie im heutigen Sinne. Literatur IMMELMANN, K., E.PRÖVE & R.SOSSINKA: Einführung in die Verhaltensforschung. Pareys Studientexte 13. Blackwell Wissenschaft, Berlin, 4.Aufl. 1996. KINNE, O.: Ökologie – Brennpunkt biologischer Forschung und Schicksalsfrage für die Menschheit. S. 24-37 in PETERS, G. (Hrsg.'): Karl Ritter v. Frisch-Medaille: Wissenschaftspreis 1984 der Dtsch. Zoolog. Ges. [DZG]. Beih.zu Verh.ber. DZG Bd. 77. Fischer, Stuttgart 1984. LORENZ, K.: Tiergeschichten. Er redete mit dem Vieh, den Vögeln und den Fischen. Borotha-Schoeler, Wien 1949, 6.-8. Aufl. 1952. LORENZ, K.: Vergleichende Verhaltensforschung. Grundlagen der Ethologie. Springer, Wien 1978. SCHMIDT, E.: Umdenken beim Ökosystemverständnis. Ökosystemanalyse am praktischen Beispiel nach dem Lebensform-/ Nischenkonzept. S. 1-7 in: GERHARDT-DIRCKSEN & SCHMIDT (Hrsg.): Ökosystem Stadtteich. Themenheft PdB 40 (6). Aulis/ Deubner, Köln 1991. SCHMIDT, E.: Das ökologische Artkonzept (Nischenkonzept) für das Ökosystemverständnis unter angewandten Aspekten. Faun.-Ökol. Mitt (Kiel) 6: 335-341 (1992). SCHMIDT, E.: Ökosystem See. Bd. I: Der Uferbereich des Sees. Biologische Arbeitsbücher 12.1. Quelle & Meyer, Wiesbaden 1974, 5. Aufl. 1996. 6.4.6 Die Freilandarbeit bei JUNGE Die Umsetzung des ökologischen Artkonzeptes beginnt im Gelände. Hier stellen die Dynamik des Jahresganges und die Besonderheiten eines jeden Jahres hohe Anforderungen an den Lehrer. Er muß sich ständig auf dem Laufenden halten, um die Freilandarbeit zu optimieren. Dazu gehören (Teil I, S. 15-17): 1) Ein Plan zum Unterichtsvorhaben schon 1 Jahr im voraus, dabei Auswahl einer übersichtlichen, den Kindern zugänglichen Lebensgemeinschaft 2) Vermittlung eines Gesamteindruckes bei den Schülern: „Dabei werden Blumen gepflückt und benannt, Tiere beobachtet und benannt, vielleicht wird auch gespielt (mit Gelegenheits-Beobachtungen). Der dabei gewonnene Lehrstuhl Prof.em. Dr. rer. nat. Eberhard G. SCHMIDT Universität Essen, FB 9: Grundvorlesung BIOLOGIEDIDAKTIK, Bearbeitungsstand vom 20.1.2001 Kap.6: Geschichte der Biologiedidaktik 6 — 19 Totaleindruck von der Lebensgemeinschaft und ihren Gliedern wird mit einfachen Worten zum Ausdruck gebracht“ (S. 15 Mitte). 6.4.7 Die Kursplanung Kriterien der Kursplanung sind: 1) Auswahl der Objekte nach - dem Interesse bei der Freilandarbeit, - dem zu erwartenden Interesse durch die Behandlung im Unterricht, - dem Wert für das Kursziel. 2) Der Zeitplan Dabei spricht sich JUNGE für den Bezug zur Jahreszeit aus, auch wenn dann verschiedene Phänomene derselben Art zu verschiedenen Zeiten im Untericht zu behandeln sind. Er verweist auf die Lebensnähe dieses Vorgehens. 3) Umfang der Vertiefung (S.22): Sie soll sich nach einem besonderen Interesse der Schüler, nach der Bedeutung für den Menschen und für die Lebensgemeinschaft, nach Besonderheiten in der Lebensweise etc., aber auch nach der Fassungskraft der Schüler und den Möglichkeiten der Veranschaulichung richten, wobei die ästhetische Seite mit zu beachten ist. 6.4.8 Das Beobachten als Arbeitsweise bei JUNGE Hierzu sei JUNGE (1885/1995 T. I, S. 16ff., veränd.) selbst zitiert: „Eine genaue Beobachtung bilde die Grundlage des Unterrichts, er ist nur nach der lebendigen Natur zu erteilen. Dazu muß der Lehrer selbst beobachten, die Standorte der für den Unterricht relevanten Pflanzen und ihre Entwicklung im Jahresgang gut kennen, sie ggf. kultivieren und vielfältige Versuche anstellen. Dazu macht der Lehrer öfter, zumindest alle Woche einmal die Runde, wobei sich vieles mit dem Spazierengehen und Ausruhen dabei verbinden läßt. Wer aber diese Mühe scheut, wird nicht eine Lebensgemeinschaft wie den Dorfteich behandeln können; denn die Bücher lassen uns da vollständig im Stich. Selbst in Monographien müssen wir uns erst durch einen Schwall wissenschaftlicher Erörterungen hindurcharbeiten, bis wir ein Körnchen für uns finden. Ein Unterricht, der sich auf die eigene Erfahrung stützt, ist aber unvergleichlich mit dem nach dem Buch. Darum, frisch ans Werk, Ihr Kollegen! Selbst ihr, die ihr nicht viel Biologie auf demSeminar gelernt habt, die das „unnütze Heusammeln“ anwiderte, könnt doch beobachten, könnt doch denkend die Tatsachen verknüpfen, könnt beim Landmann, beim Fischer etc. für manche Sachen Licht erhalten". „Der Lehrer halte die Kinder zu genauem Beobachten an. Er mache sie auf die Phänomene aufmerksam oder stelle mit ihnen gemeinsam Versuche an. Material bringt der Lehrer mit in die Schule, auch die Kinder bringen etwas mit. Doch darf der Unterricht nicht davon abhängen!“ „Alle Beobachtungen werden kurz notiert. Sie werden in kurzen Sätzen klar ausgesprochen. Immer aber werden die Beobachtungen und die Schlußfolgerungen scharf auseinander gehalten. Das dient der Objektivität und der Allgemeinbildung des Kindes, denn diese Scheidung von Sehen und Meinen wendet es dann auch auf anderen Gebieten an.“ Lehrstuhl Prof.em. Dr. rer. nat. Eberhard G. SCHMIDT Universität Essen, FB 9: Grundvorlesung BIOLOGIEDIDAKTIK, Bearbeitungsstand vom 20.1.2001 Kap.6: Geschichte der Biologiedidaktik 6 — 20 „Daß die Kinder nicht bloß die Organe, sondern auch deren Tätigkeit betrachten sollen, sei zum Schluß noch ausdrücklich hervorgehoben“. Diese Ausführungen zum Beobachten im Biologieunterricht belegen die Aktualität von JUNGE! Lehrstuhl Prof.em. Dr. rer. nat. Eberhard G. SCHMIDT Universität Essen, FB 9: Grundvorlesung BIOLOGIEDIDAKTIK, Bearbeitungsstand vom 20.1.2001 Kap.6: Geschichte der Biologiedidaktik 6 — 21 6.4.9 Das Experimentieren als Arbeitsweise bei JUNGE Als Beispiel für einfache Experimente im Klassenraum sei gewählt (JUNGE 1885/1995 T. II, S. 64, 65): 2. Der Gelbrand (Dytiscus marginalis). 3. Nahrung und Ernährungsorgane. Versuch zur Nahrungswahl : „Halten wir ihn [den Gelbrandkäfer] in einem Glashafen [Aquarium], in welchen wir etwa einen Stein, oder eine Blume oder dgl. gestellt haben. Wir werfen unserm Käfer einige Brotkrumen in sein klares Wassergefäß. Er arbeitet am Grunde umher, wühlt alles auf, verzehrt aber nichts, auch nichts von dem Kraut (Wasserfäden, Wasserlinsen etc.) in dem Wasser. Werfen wir ein Körnchen frisches Fisch- oder Rindfleisch hinein – sogleich hat er es gefaßt. Er genießt Fleischnahrung, nährt sich von Wasserjungferlarven und andern kleinen Wassertieren, von toten Fischen, selbst lebende Fische geht er an, in Fischteichen ist er deshalb nicht gern gesehen.“ Formen wir diesen Versuch in das heute übliche Schema (Kap. 5.1.8) um: Material & Gerät: Gelbrandkäfer; Kleinaquarien (etwa 1-2 l; je eines für 2-4 Schüler) mit abgestandenem Wasser, Kiesgrund und einem Büschel Wasserpflanzen (als Refugium). Ein Stückchen Brot, ein Stückchen frisches (Fisch-) Fleisch (etwa 10 g). Versuchsvorbereitung und -ansatz: Die Gelbrandkäfer werden vor der Unterrichtsstunde in das Aquarium gesetzt. In der Stunde werden die Aquarien ausgeteilt, die diesem Versuch vorangehenden Beobachtungen durchgeführt. Frage: Wovon ernährt sich der Gelbrandkäfer? Versuchsdurchführung: Die Schüler werfen einen Brotkrümel in das Wasser. Beobachtung: Er wird vom Käfer (ebenso wie die Wasserpflanze) nicht beachtet. Hypothese: Der Käfer ist Fleischfresser. Neuer Versuch: Ein Fleischstückchen wird in das Aquarium geworfen. Beobachtung: Der Käfer stürzt sich sogleich auf das Fleischstückchen und frißt es. Deutung: Der Käfer ist Fleischfresser. Er nährt sich (z.B.) von toten Fischen. Transfer auf allgemeinere Zusammenhänge: Der Käfer nährt sich von Kleintieren im Wasser, selbst lebende Fische geht er an, in Fischteichen ist er deshalb nicht gern gesehen. Anmerkung: Dieser Transfer knüpft an gängige Meinungen an, geht aber über das Versuchsergebnis hinaus, nachgewiesen wurde nur die Eigenschaft als Aasfresser („Gesundheitspolizei“). Für die weitergehende Aussage hätte der Käfer in einem größeren Aquarium mit lebenden Kleinfischen zusammengesetz werden müssen. Diese überleben aber in der Regel (SCHMIDT 1996). Richtig ist die Deutung, daß der Käfer Aas gezielt aufsucht, lebende Tiere aber nur bei Verletzung (Duftspur aus der Wunde) oder bei direktem Kontakt angeht. Hinweis: Dieser Zusammenhang wird eigentlich von JUNGE selbst unter dem Stichwort (sinngemäß) „Entfernen aus dem Fischteich“ angesprochen (S. 69): „...er schadet uns, sofern er, und besonders seine Larve, den Fischen im Teich, die wir für uns haben wollen, nachstellt. Deshalb töten wir lieber ihn selbst (wie?), nachdem wir ihn nach totem Fleisch hingelockt und mit einem Kätscher gefangen haben“. Anwendung: Zum Fang von Gelbrandkäfern im Fischteich kann man die Käfer mit einem Stückchen frischen Fleisches anlocken (S. 69). Lehrstuhl Prof.em. Dr. rer. nat. Eberhard G. SCHMIDT Universität Essen, FB 9: Grundvorlesung BIOLOGIEDIDAKTIK, Bearbeitungsstand vom 20.1.2001 Kap.6: Geschichte der Biologiedidaktik 6 — 22 Versuch zur Beuteortung (S. 65): „Füttern wir ihn noch einmal, um zu beobachten, wie er seine Nahrung entdeckt: Er liegt ruhig an der Oberfläche. Ich bringe auf einer Messerspitze etwas geschabtes Fleisch nahe vor seinen Kopf; seine großen Augen bemerken es gar nicht. Berühre ich mit dem Fleisch ganz leise seine langen, fadenartigen Fühler, – sogleich ergreift er es. Die Fühler leisten ihm offenbar denselben Dienst, den andern Tieren ihre Nase leistet. Vergleiche die Weise, wie die Ente sich die Nahrung sucht.“ Dieser Versuch schließt sich direkt an den zur Nahrungswahl an. Auf die Umformung in das heutige Schema (wie vorstehend ausgeführt) wird hier verzichtet. JUNGE hat damit im Grunde den Versuch zum Nachweis des chemischen Beuteschemas beim Gelbrandkäfer (im Gegensatz zum mechanischen bei der Larve!) von TINBERGEN und seiner Schule (vgl. TINBERGEN 1956: 27; EIBL-EIBESFELDT 1987: 141; SCHMIDT 1996: 233ff.) schon vorweg genommen! Literatur EIBL-EIBESFELDT, I.: Grundriß der vergleichenden Verhaltensforschung. Ethologie. Piper, München, 7.Aufl. 1987. SCHMIDT, E.: Ökosystem See. Bd. I: Der Uferbereich des Sees. Biologische Arbeitsbücher 12.1. Quelle & Meyer, Wiesbaden 1974, 5. Aufl. 1996. TINBERGEN, N.: Instinktlehre. Vergleichende Erforschung angeborenen Verhaltens. Parey, Hamburg, 2.Aufl. 1956. 6.4.10 Schwierigkeiten bei der praktischen Umsetzung von JUNGEs Konzept Die Schwierigkeiten, das JUNGE'sche Konzept mit der begrenzten Freilanderfahrung selbst engagierter Biologielehrer umzusetzen, schildert anschaulich MARIA HÖRMANN (1965: 28-29): „SCHMEIL lehnte den Gedanken der „Lebensgemeinschaften“ als in der Schule nicht durchführbar ab. Ihm schloß sich der Seminarlehrer OTTO KOHLMEYER mit seiner Abhandlung über „Das biologische Prinzip im naturkundlichen Unterricht“ an. HEINRICH GRUPE (sen). wurde gerade durch die Ablehnung der Lebensgemeinschaften von seiten SCHMEILs und KOHLMEYERs in seiner Opposition gestärkt und strebte mit Eifer und bewundernswerter Zähigkeit danach, den Gegenbeweis zu liefern. GRUPE erzählt in seiner „Naturkunde in der Volksschule“ (1949), wie er, der erfahrene Naturkundelehrer, mit dem „Dorfteich“ in der Praxis verfuhr: Da lag nun die „Lebensgemeinschaft“ in wunderbarer Abgeschiedenheit vor mir. In den dichten Pflanzenbeständen und im Wasser war reges Tierleben. Zunächst gab ich mich dem Eindruck hin, dann aber drängte der Entschluß, der mich hergetrieben, zur Tat. Ich wollte meine Aufgabe in Angriff nehmen. Ja, aber welche Aufgabe? Ich kannte die JUNGE'schen „Gesetze“ auswendig; hier draußen jedoch waren meinen Augen keine Gesetze sichtbar – ich sah nur Tiere und Pflanzen und Wasser. Gut, an den Lebewesen sollten ja die Gesetze zum Ausdruck kommen. Also heran an die Pflanzen! Aber so ein Röhrichtbestand hat es in sich. Außer Schilf kannte ich nicht gar zu viel davon. Also dann zu den Schwimmpflanzen! Unter ihnen verbargen sich noch mehr Unbekannte. Nun, wenn die Pflanzen widerstrebten, dann heran an die Tiere! Ich fuhr Lehrstuhl Prof.em. Dr. rer. nat. Eberhard G. SCHMIDT Universität Essen, FB 9: Grundvorlesung BIOLOGIEDIDAKTIK, Bearbeitungsstand vom 20.1.2001 Kap.6: Geschichte der Biologiedidaktik 6 — 23 mit einem Netz durch den Bodenschlamm und schüttelte den Inhalt am Ufer aus. Wenn man einem Anfänger beweisen will, daß er nichts kann, so braucht man nur einmal einen solchen Fang vor ihm auszubreiten mit der freundlichen Aufforderung: Nun, was ist das? Äußern Sie Sich doch darüber! Ich äußerte mich durchaus nicht, weil mich niemand dazu aufforderte – und ich hätte mich auch dann nicht geäußert, wenn die neugierig fragenden Jungen dabeigewesen wären, die sich bestimmt zunächst nach dem Gekrabbel und nicht nach ‚biologischen Gesetzen‘ erkundigt hätten. An diesem Nachmittag ging mir an dem verschwiegenen Teich eine Erkenntnis auf: Die Lebensgemeinschaften in den Büchern und diese Lebensgemeinschaft hier draußen in der Gemarkung sind zwei verschiedene Angelegenheiten; die Gedanken in den Büchern bewältigte ich glatt, aber mit den Tatsachen hier draußen war schwer fertig zu werden. Und ich sagte mir sehr ehrlich: Junge du weißt nichts; erst geh hin und lerne die Dinge richtig kennen und dann komme wieder und versuche es mit einem Unterricht, der eine gründliche Sachkenntnis voraussetzt. Mein erster Versuch scheiterte also daran, daß mir das notwendige Sachwissen fehlte. Wortwissen hatte ich in hinreichendem Maße, aber damit war mir draußen nicht gedient. Siebenundzwanzig Jahre später, nach ununterbrochener Arbeit und intensivem Studium unternahm GRUPE den zweiten Versuch, das Ordnen des Stoffes nach „Lebensgemeinschaften“ in die Tat umzusetzen. Vier Wochen wohnte er mit seiner Klasse mitten im Wald. Täglich zweimal wurde der Wald durchforscht, und auf jedem Gang wurde „Neues“ entdeckt. Ergebnis: Den Kindern wurde der Wald innerlich nahegebracht, und sie werden die vier Wochen nie vergessen. Aber den gewaltigen Beziehungsreichtum im Walde zu überblicken, waren die Kinder ihrem Alter nach noch gar nicht in der Lage". Literatur GRUPE, H. (sen.: Heinrich) "Naturkunde in der Volksschule". Schroedel, Hannover 1949. HÖRMANN, M.: Methoden des Biologieunterrichts. Die Bildungsarbeit der Volksschule. Methodik ihrer Stufen und Fächer. Kösel München, 2.Aufl. 1965. 6.4.11 Fazit JUNGE wollte den systematisch/ morphologischen Unterricht am toten Objekt im Sinne von LÜBEN auf das Verständnis des Lebendigen umstellen, die Faszination des Lebendigen didaktisch nutzen. Auch er ging also von Artmonographien aus, fragte aber nach der Einbindung in ihren Lebensraum. Die Arten sollten dabei im Sinne HUMBOLDTs ganzheitlich gesehen werden. Dazu müssen die Lebewesen naturnah für den Unterricht verfügbar sein. Das ist in Aquarien für Stillwassertiere am besten möglich. Die Technik dafür und die Beobachtungsmöglichkeiten hatte ROßMÄßLER populär gemacht. Der Vergleich verschiedener Arten aus einem Lebensraum vertieft dann anschaulich und plausibel den funktionalen Bezug. Der Bezug zum Dorfteich ist also weniger aus dem fachlichen Anliegen der Einführung in die Synökologie erwachsen, vielmehr ist er die Grundlage für die praktische Erarbeitung eines Artkonzeptes, das auf „Biologie“ im Sinne der Beziehungen einer Art zu ihrem Lebensraum (im heutigen Sinne von Habitat) und zu anderen Arten. Dazu gehören morphologische Anpassungen an den Lebensraum im Einklang mit Lebensweise, insbesondere die Nahrungsbeziehungen. JUNGE erfüllt damit so konsequent wie nie zuvor das HUMBOLDTsche Prinzip, daß Verständnis von Lehrstuhl Prof.em. Dr. rer. nat. Eberhard G. SCHMIDT Universität Essen, FB 9: Grundvorlesung BIOLOGIEDIDAKTIK, Bearbeitungsstand vom 20.1.2001 Kap.6: Geschichte der Biologiedidaktik 6 — 24 Naturwissenschaften sich im Verständnis von Beziehungsgefügen, nicht in bloßen Sturkturbeschreibungen zeigt. Diese Pioniertat ist umso höher einzuschätzen, als der biologische Zeitgeist von den Spekulationen zur (Kausalität der) Evolution im Sinne der DARWIN'schen Selektionstheorie und (als Grundlage dafür) von der systematischen (d.h. evolutiv/ geschichtlichen), nicht der funktionalen Sicht der Organismen bestimmt war. JUNGE hat dabei auch in herausragender Weise das Leitziel Verständnis nach dem Prinzip des exemplarischen Lernens (vgl. Kap. 2.8, 2.9) vorgeführt, mit einem offenen Unterricht, der hervorragend Impulse setzt, im Sinne des forschend/ entdeckenden Lernens mit inklusivem Denken bzw. dem Denken in Vernetzungen zu Untersuchungen am Objekt anregt, den Bezug zum Umfeld der Schüler und die Lebensnähe immer wieder herstellt, komplexe Zusammenhänge herausarbeitet. Das Experiment ist bei ihm wirklich eine Frage an die Natur, die Aquarien dienen als modellhafte Simulation der Natur im Klassenraum (die Pionierarbeit von ROßMÄßLER dazu nutzend). Das ökologische, auf direkter Anschauung beruhende Konzept JUNGE's stellt aber hohe Anforderungen an die fachlichen Grundlagen, die praktische Naturerfahrung und das pädagogische Geschick des Lehrers. Sie sind selten erfüllt. JUNGE's Konzept hat daher wohl didaktisch Aufsehen erregt und Anerkennung gefunden, auch dafür gesorgt, daß (nach dem 1. Weltkrieg) der „Lebensraum Teich/See“ (oder Wald) in der Volks- und Realschule, bedingt auch in der Mittelstufe des Gymnasiums seinen festen Platz im Lehrplan gefunden hat. JUNGE's Konzept ist aber nur ausnahmsweise ganz in seinem Sinne realisiert worden. Die Lehrerausbildung vermittelte nicht die erforderlichen praktischen Grundlagen und Befähigungen, führte nicht zu dem erfordrlichen Naturverständnis. JUNGE's Konzept ist also in besonderem Maße schülergerecht, aber nicht lehrergerecht und daher nur sehr bedingt in der Schule umsetzbar. Selbst der hoch engagierte Lehrer Heinrich Grupe (sen.) hatte da (wie oben ausgeführt) zunächst seine Probleme (vgl. aber die hervorragende Einführung in die Naturbeobachtungs mit exzellenten Beobachtungsaufgaben im Sinne JUNGEs in seinem vielfach aufgelegten „Naturkundlichen Wanderbuch“, 1949). Das gilt bis heute. Im Sinne JUNGEs angelegte Großpraktika im Hauptstudium der Lehrerausbildung zur Ökologie („Ökosystem See“, „Ökosystem Stadtteich“, 1970-1999 an den Hochschulen Flensburg, Bonn und Essen) erwiesen sich als eine gute Grundlage für die Lösung des Problems. Sie bleiben aber leider eine Ausnahme in der Lehrerausbildung. JUNGEs Buch ist auch heute noch eine Fundgrube für hoch interessante didaktische, methodische und auch biologische Hinweise und jedem Biologiestudenten und -lehrer sehr zur Lektüre zu empfehlen. Man spürt deutlich, daß es ein reifes Alterswerk ist: JUNGE war 53 Jahre alt und hatte 31 Jahre Unterrichtserfahrung, als die erste Auflage erschien. Sein breites biologisches Wissen hat er sich autodiaktisch im Gelände erworben und erst dann durch die Fachliteratur abgesichert. Eine besondere Anregung bildete die richtungweisende, praktisch/exemplarisch fundierte ökologische Sicht der „Lebensgemeinschaft“ durch MOEBIUS, die JUNGE auf Lehrerfortbildungsveranstaltungen an der Universität Kiel erfahren konnte. Damit hatte er ein tragfähiges Theoriekonzept und einen biologischen Erfahrungshintergrund, mit dem er Schüler ansprechen konnte, zugleich umging er die Scheuklappen der traditionellen wissenschaftlichen Lehre. Lehrstuhl Prof.em. Dr. rer. nat. Eberhard G. SCHMIDT Universität Essen, FB 9: Grundvorlesung BIOLOGIEDIDAKTIK, Bearbeitungsstand vom 20.1.2001 Kap.6: Geschichte der Biologiedidaktik 6 — 25 6.4.12 Kennzeichnung von JUNGE's Ansatz: WENK (1978) nennt die folgenden didaktischen Prinzipien als Fazit von JUNGEs Konzept zum Biologieunterricht (die noch aktuell gültigen werden durch Fettdruck hervorgehoben): 1. Das Prinzip des Exemplarischen, und zwar im Großen wie im Kleinen. 2. Das Prinzip der Lebensnähe im Sinne des Bezugs zur Alltagserfahrung. 3. Das Prinzip der eigenen Beobachtung. 4. Das Prinzip des Arbeitsunterrichts. 5. Das Prinzip der Ganzheit. 6. Das Prinzip der fortschreitenden Komplexität, z.B. als „vom Einfachen oder Bekannten zum Komplizierten oder weniger Bekannten“. 7. Das Prinzip der allgemeinen Naturgesetze. 8. Das Prinzip des Bezugs zum Menschen (und zum Alltag). Eigene Übersicht: Konz: Holismus: Organismus als harmonische Ganzheit in seinem Lebensraum. Artkonzept mit konsequent funktional/ ökologischem Frageraster, d.h. die Gestalt ist immer in Zusammenhang mit seiner Funktion und damit als Anpassung an den Lebensraum und die Lebensweise zu sehen. Es wird realistisch durch den Bezug zu einem konkreten Lebensraum, dem Teich, der überall in Schulnähe verfügbar und den Kindern bekannt ist, der sich leicht in der Schule (in Aquarien) simulieren läßt, und durch die Transparenz des Mediums Wasser besonders einsichtig ist. Denken in dynamischen Beziehungen (funktionale „Biologie“) statt statisch in morphologischen Strukturen und im Kontext des abstrakten (LINNE'schen) Systems Vorbereitung des Denkens in Vernetzungen, insbesondere in ökologischen Beziehungsgefügen im Sinne des Ökosystems im modernen Sinne. Strikte Trennung von Beobachtung und Deutung/Vermutung „Gesetze“ zur organismischen Ordnung als Theoriehintergrund (aus heutiger Sicht als pauschalisierte Gesetzmäßigkeiten zu sehen). Stoff: Tiere & Pflanzen vom Teich im funktionalen Kontext Arbw: Verknüpfung von Freilandarbeit und Untersuchungen im Klassenraum mit Aquariensimulation. Med: Aquarien. Meth: Konsequente Verwirklichung des exemplarischen Prinzips und eines Impulse setzenden Unterrichts mit Hinführung zum entdeckenden/forschenden Lernen. Einst: Gemütvolle Betrachtung der Harmonie in der Natur Lehrstuhl Prof.em. Dr. rer. nat. Eberhard G. SCHMIDT Universität Essen, FB 9: Grundvorlesung BIOLOGIEDIDAKTIK, Bearbeitungsstand vom 20.1.2001 Kap.6: Geschichte der Biologiedidaktik 6 — 26 Literatur: TROMMER, G.: Die Dorfteich-Naturgeschichte. S. 015-053 in F.JUNGE.: Der Dorfteich als Lebensgemeinschaft. Lipsius & Tischer, Kiel, 1885. Nachdruck (der 3. Aufl. von 1907) mit Vorwort/ Einführung von W.JANßEN, W.RIEDEL & G.TROMMER. Lühr & Dircks, St. Peter-Ording 1985. WENK, K.: JUNGEs Dorfteich aus der Sicht des heutigen Biologieunterrichts. S. 98-117 in G.TROMMER & K.WENK: Leben in Ökosystemen. Leitthemen; Beiträge zur Didaktik der Naturwissenschaften. Westermann, Braunschweig 1978. 6.5 Die funktionsmorphologische Artbeschreibung nach dem Schulbuch im systematischen Kontext (um 1900): OTTO SCHMEIL 6.5.1 Lebensweg von SCHMEIL und seine Vorbilder SCHMEIL, OTTO, 1860-1943. 1860 geboren am 3. 2. in Großkugel (preußische Provinz Sachsen, im heutigen Land Sachsen-Anhalt zwischen Halle und Leipzig), der Vater war der Dorfschullehrer (in 2. Generation); er starb schon 5 Jahre später auf einem Schulausflug bei einem unglücklichen Sturz vor den Augen des Jungen; damit ergab sich wirtschaftliche Not. 1870 Übersiedlung nach Halle in ein karg ausgestattetes Waisenhaus/Internat, das mit dem Pädagocicum FRANCKEs (s.o.) verbunden war. Das kümmerliche Taschengeld wurde für eine Käfersammlung verwendet. 1874 Präparandenanstalt (Vorbereitung auf ein Lehrerseminar) in Quedlinburg. 1877 Lehrerseminar in Eisleben, in der Freizeit intensive Naturerkundungen. 1880 Volksschullehrer in der Kleinstadt Zörbig (bei Bitterfeld) Vom Munde abgespart die „Synopsis der Tier- & Pflanzenkunde“ von LEUNIS, BREHMs „Tierleben“. 1882 2. Lehramtsprüfung, dann Lehrer in Halle. Mittelschullehrer- und Rektorenprüfung, jedoch vergebliche Stellensuche in diesen Funktionen, Neben der Schule Besuch zoologischer Kurse an der Universität, wissenschaftliche Studien an Copepoden (Hüpferlingen). 1891 Annahme der (Freizeit-) Copepodenstudien als externe Dissertation an der Universität Leipzig (im benachbarten Königreich Sachsen!) und Promotion summa cum laude als Externer. Stipendium zu Studien an der Biologischen Station Rovigno/ Istrien und in Karsthöhlen. 1894 Rektor an einer Großschule in Magdeburg (1400 Schüler, 40 Lehrkräfte). Fortführen der Copepoden-Studien. Daneben „Pflanzen der Heimat“ (Schreibarbeiten dafür u.a. zwischen 5 Uhr und dem Schulbeginn um 7 Uhr) und Arbeit an einem Unterrichtswerk zur Zoologie unter funktions-morphologischem Aspekt in systematischer Anordnung didaktisch ausgewählter Artmonographien. 1896 „Kampfschrift“ zur Reform des Biologieunterrichts: „Über die Reformbestrebungen auf dem Gebiete des naturgeschichtlichen Unterrichts“, 11.Aufl. 1913 (s.u.). 1898/99 Lehrbuch der Zoologie, 1903 Lehrbuch der Botanik. 1903 (zusammen mit J. FITSCHEN) die „Flora von Deutschland“ Erstellung von Wandtafeln für den Unterricht als Ergänzung zum Schulbuch. Lehrstuhl Prof.em. Dr. rer. nat. Eberhard G. SCHMIDT Universität Essen, FB 9: Grundvorlesung BIOLOGIEDIDAKTIK, Bearbeitungsstand vom 20.1.2001 Kap.6: Geschichte der Biologiedidaktik 6 — 27 1904 Ausscheiden aus dem Schuldienst um volle Kraft für die freiberufliche Arbeit zur ständigen Verbesserung der sehr erfolgreichen Bücher und Medien enrtfalten zu können; beim Ausscheiden wurde ihm der (Ehren-) Professorentitel des Preußischen Staates verliehen; Übersiedlung nach Marburg und Wiesbaden (in Hessen). 1909 Übersiedlung in die „SCHMEILsche Villa“ in Heidelberg. 1933 ff. Politische Ächtung der SCHMEILschen Unterrichtswerke da SCHMEIL nicht bereit war, der Rassenlehre etc (im Sinne der Nationalsozialisten) besonderen Raum zu geben, auch paßte die geringe Würdigung von Lebensräumen nicht zum Zeitgeist. 1941 goldenes Doktor-Diplom, dabei von der Universität Leipzig als „Reformator des biologischen Unterrichts“ geehrt, 1943 † in Heidelberg. Anmerkungen zum Lebenslauf von SCHMEIL: SCHMEIL war wie JUNGE und ROßMÄßLER Halbwaise und hatte eine karge Jugend. Naturbeobachtung und eigenständige Erforschung müssen ihn schon früh fasziniert haben, mit 10 Jahren hatte er bereits eine Käfersammlung. Sobald es ging, kaufte er sich die Lehrbücher der Zeit. Neben dem Beruf als Lehrer führte er intensive biologische Studien in der Freizeit fort, orientierte er sich dabei mehr als JUNGE an den Normen der Wissenschaft. So waren die kleinen Hüpferlinge (Copepoden) sein spezielles Forschungsobjekt in Verbindung mit der Universität Halle. Seine Arbeit darüber wurde im benachbarten Königreich Sachsen, an der Universität Leipzig, als Dissertation angenommen, die Promotion bestand er als Externer mit Auszeichnung (summa cum laude). Für ein Studium fehlte das Geld, so blieb nur die Ausbildung zum Volksschullehrer; die Qualifikation zum Mittelschullehrer und zum Schulrektor machte er nebenberuflich, fand jedoch zunächst keine Anstellung in dieser Position, wurde aber später Rektor einer Großschule in der Provinzial-Hauptstadt Magdeburg. Die Vorbilder von SCHMEIL Die Situation des Biologieunterrichts (nach LÜBEN & LEUNIS) während der Schulzeit von SCHMEIL beschreibt anschaulich das Dichterwort (aus dem „Waldschulmeister“, 1875) von PETER ROSEGGER, das den Lebenserinnerungen SCHMEIL's (SCHMEIL & SEYBOLD 1986) im Vorwort (von dem Freiburger Ethologen HASSENSTEIN) vorangestellt ist: „Ich habe ... aus Büchern herausgelesen, wie die Birken leben und die Heiderosen und andere; und ich habe mit meinen Augen dieselben Pflanzen betrachtet, stunden- und stundenlang, und ich habe keine Beziehung gefunden zwischen dem toten Blatt im Buche und dem lebendigen im Walde ... oh, wenn so eine Pflanze ihre eigene, mit eitel Ziffern gezeichnete Beschreibung selbst lesen könnte, sie müßte auf der Stelle erfrieren“. SCHMEIL's Anliegen war es, von dieser trockenen Buch-/ Kreidebiologie weg zu kommen, den Biologieunterricht lebendiger zu gestalten. Das funktions-morphologische Artkonzept JUNGE'S begeisterte SCHMEIL, ihm möchte er zum Durchbruch verhelfen. So verehrte er vor allem JUNGE, auch ROßMÄßLER als Vorbild dafür. Dabei sollte das möglichst selbsttätige und selbständige Arbeiten am Objekt (im Sinne LÜBEN & LEUNIS wie bei JUNGE) gewährleistet bleiben. Literatur Lehrstuhl Prof.em. Dr. rer. nat. Eberhard G. SCHMIDT Universität Essen, FB 9: Grundvorlesung BIOLOGIEDIDAKTIK, Bearbeitungsstand vom 20.1.2001 Kap.6: Geschichte der Biologiedidaktik SCHMEIL, O. & A.SEYBOLD: Leben und Werk eines Biologen. Heidelberg 1954, 2.Aufl. 1986. 6 — 28 ### Lebenserinnerungen. Quelle & Meyer, Lehrstuhl Prof.em. Dr. rer. nat. Eberhard G. SCHMIDT Universität Essen, FB 9: Grundvorlesung BIOLOGIEDIDAKTIK, Bearbeitungsstand vom 20.1.2001 Kap.6: Geschichte der Biologiedidaktik 6 — 29 6.5.2 SCHMEIL's „Kampfschrift“ von 1896 zur Reform des Biologieunterrichts 1896 formulierte SCHMEIL in einer didaktischen „Kampfschrift“ griffige Thesen zur Reform des Biologieunterrichts (SCHMEIL 1905) und wurde auf einen Schlag bekannt. Die Schrift erreichte dank der starken Nachfrage bis zum 1. Weltkrieg (in 17 Jahren) 11 Auflagen (die kaum verändert wurden), erregte also großes Aufsehen. Sie gibt eine auch heute noch interessante Übersicht der damaligen Diskussion zur Reform des Biologieunterrichts. Gliederung der „Kampfschrift" (nach SCHMEIL 1905): I. Der naturgeschichtliche Unterricht hat ein biologischer zu werden (S.7-44). Hier stellte SCHMEIL das diagnostisch morphologisch/ systematische Artkonzept LÜBEN'S als überholt dar. Dem entsprach in der Biologie der Wandel von dem deskriptiv/ systematischen Ansatz LINNÉ's (Mitte des 18. Jahrhunderts) zum funktionsmorphologischen von CUVIER (um 1800, vgl. JAHN 1990). Als Pionier für die schulische Umsetzung dieser funktionsmorphologischen Betrachtung würdigte SCHMEIL (in einer umfassenden Diskussion der didaktischen Literatur der Zeit) nachdrücklich JUNGE und gab weitere schulrelevante Beispiele. Dabei konkretisierte er am Beispiel des Seehundes und des Mauerpfeffers (in der Form seiner späteren Unterrichtswerke), wie sich Gestalt und Funktion entsprechen. Ein solcher „biologischer“ Unterricht wurde von SCHMEIL als Kernpunkt aller Reformbestrebungen des Biologieunterrichts herausgestellt. Die schwärmerische Verklärung der Naturbeschreibung geißelte er. Dabei bezieht er sich (wie auch an anderen Stellen) auf GOETHE (SCHMEIL 1905: 44): „Das einfach Schöne wird der Kenner schätzen, Verziertes aber spricht der Menge zu“. 2. Über Lebensgemeinschaften (S.44-55) Lebensgemeinschaften wären Ausdruck dafür, daß die Natur ein organisches Ganzes bildet und nicht nur einfach ein Konglomerat ist. Diese Einheit wäre komplex, in ihrer Kausalität aber erst zu erahnen, kaum mit Fakten belegt. Daher sei sie noch nicht reif für die Schule. JUNGE habe diese Problematik verdrängt und werde daher dem Begriff nicht gerecht. Lebensgemeinschaften dürften daher nicht im Mittelpunkt des Biologieunterrichts stehen. 3. Über Gesetze des organischen Lebens (S.56-69). Hier setzte sich SCHMEIL kritisch mit den Gesetzen im Sinne von JUNGE auseinander und relativierte sie zu Regeln. Sie sollten daher nicht im Mittelpunkt der Biologieunterrichts stehen. 4. Über „allgemeine biologische Sätze“ (S.69-74). Sie seien weniger verbindlich als die Gesetze von JUNGE und könnten daher viel eher auch von den Schülern selbst gefunden werden. Dazu gehörten auch die Artdiagnosen, also systematische Sätze (im Gegensatz zu JUNGE). Lehrstuhl Prof.em. Dr. rer. nat. Eberhard G. SCHMIDT Universität Essen, FB 9: Grundvorlesung BIOLOGIEDIDAKTIK, Bearbeitungsstand vom 20.1.2001 Kap.6: Geschichte der Biologiedidaktik 6 — 30 5. Über das Beobachten (S.74-77). Hier belegte SCHMEIL nach Umfragen in seiner Magdeburger Schule, daß ein erheblicher Anteil der Großstadtkinder (u.a.) noch keinen Bienenstock gesehen hatte (95%), noch keine Nachtigall hatte schlagen hören (56%) oder noch keinen lebenden Star beobachtet (48%) oder einen Greifvogel im Fluge gesehen hatte (57%), auch Pilze oder Eichhörnchen im Walde hatten 42% bzw 71% noch nicht gesehen (nach einer Umfrage bei 150 Kindern im Alter von 12-14 Jahren). SCHMEIL ist damit auch ein Pionier der didaktischen Umfragen. Folgerung aus der Umfrage: Der Biologieunterricht muß ein experimenteller werden: „Nur durch fleißiges Beobachten, durch Selbstschauen und Selbstuntersuchen ist es möglich,den schlimmsten Feind alles geistbildenden Unterrichts zu verbannen: den Verbalismus“. 6. Über Konzentration und Konzentrationsversuche (S.78-94) SCHMEIL setzte sich hier mit Bestrebungen auseinander, die schon in damaliger Zeit die Naturwissenschaften zu einem Fach integrieren wollen. Er stellt dabei heraus, daß dann die Spezifika der Biologie zu kurz kämen. Funktionale Biologie im Sinne SCHMEIL's muß allerdings bei den Zusammenhängen auch immer physikalische und chemische Fakten einbeziehen. Schluß (S.94-95) In patriotischer Formulierung (der Kaiserzeit entsprechend) wird der vorstehend geforderte Fortschritt im Biologieunterricht in Verbindung mit dem Wunsch nach einer Spitzenposition Deutschlands in der Welt gebracht. Die Thesen (verkürzt) In Anlehnung an SIEDENTOP (1964: 20ff., aber 17 Punkte auf 9 verkürzt) läßt sich das Hauptanliegen der „Kampfschrift“ formulieren als: [1.] Der Unterricht hat in ein wirkliches Verständnis der Natur einzuführen. [2.] Anstelle der morphologisch-systematischen Betrachtungsweise [LÜBEN's] hat dazu eine morphologisch-physiologische oder kurz biologische Betrachtungsweise [im Sinne von JUNGE] zu treten. [3.] Bau und Lebensweise sollen dabei [im Sinne von JUNGE] in funktionalen Zusammenhang gebracht werden; es kommt nicht auf ein Aufzählen der charakteristischen (morphologischen) Merkmale, sondern auf eine Einführung in das Verständnis [des Beziehungsgefüges] an. [4.] Diese biologische Betrachtungsweise [im Sinne von JUNGE] führt bei den Schülern nicht nur zu wirklichem Naturverständnis, sondern auch zu einer positiven Einstellung zur Natur. [5.] Morphologie/ Physiologie, d.h. die Biologie i.e.S. müssen aber im Unterricht als gleichwertig mit der Systematik betrachtet werden, eine einseitige Betonung der Lehre von der Lebensweise [wie bei JUNGE] ist abzulehnen. [6.] Lebensgemeinschaften zeigen die Natur als Organismus, nicht einfach als Konglomerat. Damit sind sie für den Unterricht wichtig, aber nicht vorrangig. [7.] Die Schüler sollen [im Sinne von LÜBEN & JUNGE] selbständig, elementar forschen, dabei Gesetzmäßigkeiten altersgemäß aufdecken [im Sinne des entdeckenden Lernens in heutiger Sprechweise]; das ist hinsichtlich der funktionalen Lehrstuhl Prof.em. Dr. rer. nat. Eberhard G. SCHMIDT Universität Essen, FB 9: Grundvorlesung BIOLOGIEDIDAKTIK, Bearbeitungsstand vom 20.1.2001 Kap.6: Geschichte der Biologiedidaktik 6 — 31 Zusammenhänge [im Sinne von JUNGE] aber weitaus anspruchsvoller als im rein morphologischen Unterricht [im Sinne von LÜBEN]. Lehrstuhl Prof.em. Dr. rer. nat. Eberhard G. SCHMIDT Universität Essen, FB 9: Grundvorlesung BIOLOGIEDIDAKTIK, Bearbeitungsstand vom 20.1.2001 Kap.6: Geschichte der Biologiedidaktik [8.] [9.] 6 — 32 Der Unterricht soll auf allen Stufen das Kind anleiten, nach dem „Warum?“ und „Wozu?“ zu fragen. Man muß sich jedoch vor Spekulationen und vor Verbalismus hüten, man muß sich vielmehr auf die Fakten beschränken. Dazu ist „fleißiges Beobachten, Selbstschauen & Selbstuntersuchen“ [im Sinne von JUNGE] erforderlich. Ein Unterricht, der vorrangig auf die Ästhetik ausgerichtet ist, ist abzulehnen [SCHMEIL wendet sich damit gegen die schwärmerische Naturromantik]. Die eigene Stellungnahme SCHMEIL's (im Alter) zur „Streitschrift“: Betrachten wir nun SCHMEIL's Bewertung der „Kampfschrift“ im Rückblick in seinen Lebenserinnerungen knapp 60 Jahre später: Zu seiner „Streitschrift“ schreibt er darin nur (SCHMEIL & SEYBOLD 1986: S. 204): „Der naturgeschichtliche Unterricht lag von Ausnahmen abgesehen im vorigen Jahrhundert noch in den Schulen aller Art sehr im argen. Später wurden zwar mehrfach Vorschläge zu einer Reform gemacht, aber eine Besserung nur in wenigen Fällen erreicht. Eine Kritik dieser Vorschläge und meine eigenen Ansichten über die zukünftige Gestaltung des wichtigen Unterrichtsgegenstandes legte ich 1896 in einer Broschüre nieder, die den Titel führte „Über die Reformbestrebungen auf dem Gebiet des naturgeschichtlichen Unterrichts“. Einen so großen Anklang die kleine Arbeit fand, konnte sie wie mir von vornherein bewußt war die gewünschte Umgestaltung des naturkundlichen Unterrichts nicht herbeiführen." Das eigentliche Anliegen der „Streitschrift“ geht aber aus dem Schlußsatz hervor: „Die Lehrer – und zwar aller Schulen –müssen Bücher zur Hand haben, in denen die Reform von der ersten bis zur letzten Zeile durchgeführt ist. Es galt daher, solche Bücher zu schreiben.“ SCHMEIL wollte also mit dieser „Kampfschrift“ vor allem seinen (bereits vorbereiteten) Unterrichtswerken eine Akzeptanz sichern und damit den Markt erschließen! Im Vorwort schon zur 1. Auflage der „Tierkunde“ (1899) wird die „Kampfschrift“ denn auch ausdrücklich als die didaktische Grundlegung der SCHMEIL'schen Unterrichtswerke angeführt. Sie entspricht damit dem Teil I von JUNGE's „Dorfteich“ (1885). Literatur JAHN, I.:Grundzüge der Biologiegeschichte. UTB 1534. Fischer, Jena, 1990. SCHMEIL, O.: Über die Reformbestrebungen auf dem Gebiete des naturgeschichtlichen Unterrichts. Nägele, Stuttgart, (1896, 11.Aufl. 1913), 7.Aufl. 1905. Lehrstuhl Prof.em. Dr. rer. nat. Eberhard G. SCHMIDT Universität Essen, FB 9: Grundvorlesung BIOLOGIEDIDAKTIK, Bearbeitungsstand vom 20.1.2001 Kap.6: Geschichte der Biologiedidaktik 6 — 33 6.5.3 Das „biologische“ Schulbuch SCHMEIL's, ein (wirtschaftlicher) Erfolg sondergleichen Kurz nach der Kampfschrift erschien das „Lehrbuch der Zoologie“ (SCHMEIL 1898/99, 1918) als erstes seiner Unterrichtswerke. Es ist gewissermaßen ein Gegenstück zum Teil II von JUNGE's „Dorfteich“, aber für die Hand des Schülers bestimmt. Im Gegensatz zum lebensnahen „Dorfteich“ ist hier (nach akademischem Prinzip) ein kurzer Abriß der allgemeinen Biologie vorangestellt; dann folgen die Spezielle Zoologie, angeordnet nach der Hierarchie des biologischen Systems in absteigender Reihung, und eine Übersicht der raum-zeitlichen Verteilungsmuster (Paläontologie, Biogeographie) der Arten. Die Großsystematik mit den verwendeten Unterscheidungs-/ Erkennungs-Merkmalen werden hier zur besseren Charakterisierung des SCHMEIL’schen Ansatzes mit aufgenommen (nach der 40. Aufl. von 1918). Im einzelnen gliedert sich das Werk also in: 1. Abschnitt: Allgemeines aus der Tierkunde Zellen & Gewebe (6 S.). Übersichtliche Zusammenstellung der wichtigsten Lebenserscheinungen der Tierwelt (1. Bewegung, 2. Atmung, 3. Verdauung, 4. Wärmebedürfnis, 5. Schutz gegen Feinde, 6. Fortpflanzung; jeweils mit Übersicht der Typen, 2 S.). Die Grundformen der verschiedenen Baupläne der Tiere (3 S.). 2. Abschnitt: Das Tierreich (System der Tiere) I. Körper aus zahlreichen Zellen bestehend: Vielzellige Tiere A. Zweiseitig symmetrische Tiere 1. Mit einem inneren, knöchernen oder knorpeligen Skelett: 1. Kreis Wirbeltiere a) Durch Lungen atmend; behaart; mit Ausnahme der Kloakentiere lebendige Jungen gebärend, die durch Milch ernährt werden: 1. Klasse Säugetiere; 14 Ordnungen. b) Durch Lungen atmend; befiedert; vordere Gliedmaßen sind Flügel; Eier legend: 2. Klasse Vögel; 14 Ordnungen. c) Durch Lungen atmend; mit Horn- oder Knochenschilden bedeckt, meist eierlegend: 3. Klasse Kriechtiere; 4 Ordnungen. d) In der Jugend durch Kiemen, später durch Lungen und Kiemen oder durch Lungen allein atmend, Haut nackt; meist eierlegend: 4. Klasse Luche; 2 Ordnungen. e) Stets durch Kiemen atmend; Haut meist mit Schuppen bedeckt; Gliedmaßen sind Flossen, meist eierlegend: 5.Klasse Fische; 6 Ordnungen (Knochenfische, Schmelzschupper, Lungenfische, Haie & Rochen, Rundmäuler, Röhrenherzen [Lanzettfischchen]). 2. Mit einem äußeren Chitinskelett und gegliederten Gliedmaßen 2.Kreis Gliederfüßler a) Durch Luftröhren atmend. Körper aus drei deutlich geschiedenen Abschnitten bestehend (Kopf, Brust , Hinterleib), 3 Paar Beine, meist geflügelt. 1. Klasse Insekten; 9 Ordnungen (Schmetterlinge, Käfer, Haut-, Zwei-, Neztflügler, Schnabelkerfe, Geradflügler [Heuschrecken, Schaben etc.], Schein-Netzflügler [Libellen, Eintagsfliegen, Termiten!], Flügellose [Apterygota]. b) Durch Luftröhren atmend.; Körper aus zwei Abschnitten bestehend (Kopf und Rumpf); alle Ringe des Rumpfes mit je ein oder zwei Paar Beinen; ungeflügelt. 2. Klasse Tausendflüßler. c) Luftatmend; Körper in der Regel aus zwei Abschnitten bestehend (Kopfbruststück und Hinterleib; 4 Paar Beine; ungeflügelt. 3. Klasse Spinnentiere. Lehrstuhl Prof.em. Dr. rer. nat. Eberhard G. SCHMIDT Universität Essen, FB 9: Grundvorlesung BIOLOGIEDIDAKTIK, Bearbeitungsstand vom 20.1.2001 Kap.6: Geschichte der Biologiedidaktik 6 — 34 d) Durch Kiemen (oder nur durch die Haut) atmend; fast ausschließlich Wassertiere. 4. Klassse Krebse. Lehrstuhl Prof.em. Dr. rer. nat. Eberhard G. SCHMIDT Universität Essen, FB 9: Grundvorlesung BIOLOGIEDIDAKTIK, Bearbeitungsstand vom 20.1.2001 Kap.6: Geschichte der Biologiedidaktik 6 — 35 3. Körper weich; ohne gegliederte Gliedmaßen; mit einem bauchständigen Bewegungswerkzeuge (Fuß); einer oberhalb des Fußes gelegenen Hautfalte (Mantel), die die Atemwerkzeuge überdeckt und meist eine Kalkschale ausscheidet. 3. Kreis Weichtiere a) Unsymmetrische Tiere mit Kopf, sohlenartigem Fuß und meist spiralig gedrehter Schale: 1. Klasse Schnecken. b) Symmetrische Tiere ohne Kopf, mit beilartigem Fuß und zweiklappiger Schale: 2. Klasse Muscheln. c) Symmetrische Tiere mit Kopf, Armen, die den Mundumstellen und trichterförmigem Fuße: 3. Klasse Kopffüßler 4. Ohne gegliederte Gliedmaßen, meit einem Hautmuskelschlauch. 4. Kreis Würmer a) Körper in zahlreiche gleichartige Ringe geteilt: 1. Klasse Ringelwürmer. b) Körper zylindrisch, nicht in Ringe geteilt: 2. Klasse Rundwürmer. c) Körper abgeplattete, nicht in Ringegeteilt: 3. Klasse Plattwürmer (2 Ordnungen: Band- und Saugwürmer B. Radial symmetrische Tiere 5. Fünfstrahlige Tiere mit Hartteilen in der Haut, die sich meist als Stacheln über die Körperoberfläche erheben, mit einem Wassergefäßsystem und mit Leibeshöhle, Darm und Blutgefäßsystem: 5. Kreis Stachelhäuter a) Nicht festsitzende, sternförmige bis 5eckige Tiere, deren Arme in der Regel allmählich in den scheibenförmigen Körper übergehen: 1. Klasse Seeesterne. b) Nicht festsitzende, sternförmige Tiere, deren Arme von dem scheibenförmigen Körper in der Regel deutlich abgesetzt sind: 2. Klasse Schlangensterne. c) Tiere, die während des ganzen Lebens oder wenigstens während der Jugend vermittelst eines Stieles festsitzen: 3. Klasse Haarsterne (Hinweis: die Klasse heißt eigentlich Seelilien, diese festsitzenden Formen sind weitgehend ausgestorben, überlebt haben die sekundär beweglich gewordenen Haarsterne, ihr Merkmal der gefiederten Arme wurde nicht verwendet; der Schlüssel wäre auch einfacher und der Großsystematik näher, wenn diese primär unbeweglichen Seelilien/ Haarsterne [Pelmatozoa] den [sekundär] beweglichen übrigen Stachelhäutern [Eleutherozoa] gegenübergestellt würden) d) Nicht festsitzende Tiere von Kugel-, Herz- oder Schiebenform, ohne Arme. 4. Klasse Seeigel. e) Nicht festsitzende Tiere von Walzenform: 5. Klasse Seewalzen. 6. Vier- oder sechsstrahlige Tiere mit einem einzigen Körperhohlraume, der Leibeshöhle, Darmund Blutgefäßsystem vertritt: 6. Kreis Hohltiere. 1. Hohltiere mit Nesselorganen: 1. Unterkreis Nesseltiere. 2. Hohltiere ohne Nesselorgane: 2. Unterkreis Schwämme Lehrstuhl Prof.em. Dr. rer. nat. Eberhard G. SCHMIDT Universität Essen, FB 9: Grundvorlesung BIOLOGIEDIDAKTIK, Bearbeitungsstand vom 20.1.2001 Kap.6: Geschichte der Biologiedidaktik 6 — 36 II. Körper aus einer einzigen Zelle bestehend: 7. Kreis Urtiere a) Urtiere von bestimmter Körperform, deren Oberfläche ganz oder teilweise mit Wimpern besetzt ist. Mit bestimmter Mund- & Afteröffnung: 1. Klasse Aufgußtierchen oder Infusorien. b) wie Klasse 1, aber mit wenigen langen Wimpern (Geißeln) oder nur mit einem solchen Gebilde: 2. Klasse Geißeltierchen. c) Schmarotzende Urtiere, die bei der Vermehrung in „Sporen“ zerfallen, mit Scheinfüßchen, ohne bestimmte Mund- und Afteröffnung: 3. Klasse Sporentiere. d) Urtiere von unbestimmter Form: 4. Klasse Wurzelfüßler. 3. Klasse Sporentiere. 3. Abschnitt: Die Verbreitung der Tiere. 1. Die Tierwelt früherer Zeiten 2. Die geographische Verbreitung der gegenwärtig lebenden Tiere. A Verbreitung der Tiere im Wasser. B Verbreitung der Tiere auf dem Lande. In dem systematischen Teil wurden zunächst die höheren Taxa charakterisiert. Der angestrebte funktionale Zusammenhang wurde dabei nicht immer konsequent eingebracht (vgl. auch die obige Anmerkung zu den Seelilien): So müßten unter dem Aspekt der Funktionsgestalt bei den Weichtieren die Schnecken als FußsohlenGleitkriecher (mit oder ohne Schutzgehäuse), die Muscheln als ± festsitzende, von einer zweiklappigen Schale umhüllte Filtrierer und die Kopffüßler als räuberische Rückstoßschwimmer mit großen Augen und Fangarmen am Kopf charakterisiert werden. Für jede Ordnung (oder Familie, je nach Differenzierung) wurde eine Art ausführlicher (± nach dem JUNGE'schen Raster) beschrieben und lebensnah gezeichnet; eine Reihe von Farbbildtafeln, (in der 40. Aufl.) auch sw-Fototafeln kamen hinzu. Die Formen wurden also anschaulich (analog zu BREHM's Tierleben, aber mit besonderem Schwerpunkt auf der Biologie) vorgestellt. Im Kleindruck folgt eine Auswahl anderer Arten aus dem Verwandtschaftskreis. Der problemorientierte Fragestil JUNGE's wurde aber nicht übernommen. Bei der Stockente ist das besonders deutlich (SCHMEIL 1918: 240ff.): 11. Ordnung Entenvögel oder Leistenschnäbler (Lamellirostres) Schnabel mit Ausnahme der harten Spitze von weicher Haut überzogen; an den Rändern mit hornigen Querleisten. Beine kurz, Vorderzehen durch Schwimmhäute verbunden (Schwimmfüße!). Wasserbewohner, Nestflüchter. (Bilden mit den 3 folgenden Ordnungen [Ruderfüßler (Pelikan), Langflügler (Möwen, Albatros), Taucher (Haubentaucher nebst Alken, Lummen; Pinguine)] die Gruppe der Schwimmvögel). Die wilde oder Stockente und ihr Abkömmling, die Hausente (Anas boschas & A. domestica) Einführung zur Hausente. A. Die Kälte des Wassers vermag der Ente nicht zu schaden. B. Die Ente durchfurcht leicht das Waser (Schwimmvogel). C. Das Waser liefert der Ente vorwiegend die Nahrung. D. Die Ente und ihre Feinde (mit Vermehrung als Ausgleich für die Verluste). Andere Entenvögel (in Kleindruck) (Löffel-, Spieß-; Knäck-/Krickente; Eiderente; Grau-, Hausgans; Höckerschwan sowie Flamingo) Lehrstuhl Prof.em. Dr. rer. nat. Eberhard G. SCHMIDT Universität Essen, FB 9: Grundvorlesung BIOLOGIEDIDAKTIK, Bearbeitungsstand vom 20.1.2001 Kap.6: Geschichte der Biologiedidaktik 6 — 37 Der Text ist mit 6 sw-Zeichnungen (Entenfamilie am Ufer, Entenfuß, Kopf Stockerpel mit Seihschnabel, Querschnitt durch den Entenschnabel, Kopf Löffelente mit Seihschnabel sowie Flamingogruppe am Nest) und 2 sw-Fotos (Wildgansgruppe am Ufer, Höckerschwanpaar am Nest im Schilf, auf einer Foto-Tafel zus. mit Zwergtaucher und Bläßhuhn, beide brütend) illustriert; die Systematik entspricht dem Stand der Zeit (vgl. HERTWIG 1907). Zum bessern Vergleich mit JUNGE folgt nun die Darstellung SCHMEIL's zum Gelbrandkäfer (nach der 40. Auflage 1918, S. 355 unten): 3. Familie Schwimmkäfer (Dytiscidae). Der Gelbrand (Dytiscus marginalis) Der Gelbrand ist im Gegensatz zu den meisten anderen Käfern ein Wassertier. Um ihn genau kennen zu lernen, bringen wir ihn in ein Aquarium. Berühren wir ihn dabei etwas unsanft, dann läßt er am Vorder- und Hinterrande des Halsschildes eine unangenhm riechende milchweiße Flüssigkeit austreten, durch die er vielleicht manchen seiner Feinde abschreckt. Wie viele andere Wasserbewohner ist er oberseits viel dunkler als unterseits, und wenn er auf dem Grunde des Gewässers oder im Gewirre der Wasserpflanzen ruht, dann ist er nicht leicht zu erkennen (Unterseite gelbbraun, Oberseite dunkelolivgrün; Halsschild und Flügeldecken mit gelben Rändern: Name!). SCHMEIL hat also anders als JUNGE die Abwehrreaktion beim Fang und die Tarnfarbe (?) herausgestellt. Es folgen sehr knapp die Atmung und etwas breiter die Fortbewegung sowie der Gewässerwechsel im Fluge, aber immer als Bericht, nicht als Arbeitsanleitung. Der Hinweis auf die Abdeckung im Aquarium erfolgt auch unvermittelt und ohne Bezug zum vorangehenden Text (wie vor., S. 356 unten): „Versiegt der heimatliche Tümpel ... , dann schwingt er sich mit Hilfe der großen Flügel in die Luft (darum müssen wir das Aquarium überdecken!)“. Zum Beutefang des Gelbrandkäfers heißt es dann (direkt anschließend): „Bringen wir zu unserem Gefangenen andere Wassertiere, dann werden wir ihn bald als einen gefährlichen Räuber kennen lernen. Alles was er vom Fische bis zum Wurme und zur zarten Larve der Eintagsfliege herab bewältigen kann, fällt ihm zur Beute. Selbst größeren Fischen und Fröschen frißt der schnelle und gewandte Käfer mit Hilfe der kräftigen Freßzangen Löcher in den Leib.“ Hier bleibt SCHMEIL theoretisierend, verkürzt den praktischen Ansatz JUNGE's und kolportiert die irrige Meinung über das „Raubtier“ Gelbrandkäfer. SCHMEIL hat ihn offenbar selbst nicht im Aquarium studiert, jedoch die Schulfilme zum Nahrungserwerb des Gelbrandkäfers bis in die 70er Jahre hinein fehlgeleitet. – Ausführlicher als bei JUNGE folgt dann die Beschreibung der (extraintestinalen) Nahrungsaufnahme der Larve (richtig, offenkundig nach eigenen Beobachtungen, jedoch ohne Nennung konkreter Beutearten wie Kaulquappen im Text; abgebildet sind ein Männchen [„nimmt soeben Luft auf“, jedoch falsch gezeichnet] neben einem Weibchen und einer Larve, die [irreal] gemeinsam an einer Kaulquappe fressen), hier ist auch ausnahmsweise eine Versuchsaufforderung beigefügt: „Schlägt die Larve die Zangen in den Leib einer Beute, so tritt durch den Kanal ein Tropfen bräunlichen, giftigen Speichels aus, der das Tier tötet und zugleich dessen Weichteile auflöst. (Laß die Larve in ein Stück Fleisch beißen!). Lehrstuhl Prof.em. Dr. rer. nat. Eberhard G. SCHMIDT Universität Essen, FB 9: Grundvorlesung BIOLOGIEDIDAKTIK, Bearbeitungsstand vom 20.1.2001 Kap.6: Geschichte der Biologiedidaktik 6 — 38 Die Metamorphose, ein wichtiges Thema bei JUNGE für den Gelbrand, bleibt nebensächlich (sie war bei SCHMEIL schon vorher beim Maikäfer behandelt worden): „Die Verpuppung erfolgt außerhalb des Wassers im Boden, in den sich die Larve einwühlt“. SCHMEIL lieferte mit seinen Unterrichtswerken eine griffige, systematisch angeordnete und leicht einzuordnende Artenübersicht. Die Monographien stellten die Biologie der Arten in den Mittelpunkt und waren mit großer Sachkunde und didaktischem Geschick verfaßt, lebendig bebildert, damit anschaulich, gut lesbar und eingängig. Sie beschränkten sich nicht auf die heimische Flora und Fauna, sondern berücksichtigten auch die tropischen Nutzpflanzen, Großtiere und andere schulrelevante Exoten. So entsprachen sie dem Zug der Zeit des industriell/ wirtschaftlichen Aufschwunges vor dem 1. Weltkrieg. Für den Unterricht ermöglichten große, auf die Bücher abgestimmte Wandtafeln ein entwickelndes Unterrichtsgespräch. Damit konnte dem „biologischen“ Artkonzept im verbalen Unterricht zum dem Durchbruch verholfen werden, der dem praxisorientierten Konzept JUNGE's mit seiner orginären Begegnung im forschendentdeckenden Lernen versagt blieb. SCHMEIL's Unterrichtswerke waren eben lehrergerecht! Auch außerhalb der Schule wurden sie bis in die 70er Jahre als griffige Enzyklopädie des Pflanzen- und Tierreiches geschätzt. So wurden sie schnell ein so großer kommerzieller Erfolg, daß SCHMEIL sich schon 1904 (44jährig), 5 Jahre nach dem Erscheinen des Lehrbuches der Zoologie, aus dem Schuldienst zurückziehen konnte, um sich ganz der ständigen Überarbeitung und Verbesserung seiner Werke widmen zu können. Das Lehrbuch der Zoologie (später Tierkunde genannt) erreichte dann auch innerhalb von gut 10 Jahren (1909) beachtliche 25 (!) Auflagen, innerhalb von gut 20 Jahren trotz des Weltkrieges sogar 40 Auflagen (SCHMEIL 1918), insgesamt (wie auch die Pflanzenkunde) rund 200 Auflagen (SCHMEIL & MERGENTHALER 1986, SCHMEIL & KOCH 1986) mit alles in allem mehr als 25 Mio verkauften Exemplaren. Mehr als 90% der Mittelschulen und Gymnasien Deutschlands hatten die SCHMEILschen Unterrichtswerke eingeführt, dazu kamen Übersetzungen in viele Fremdsprachen, auch in die Blindenschrift. SCHMEIL ist damit der unbestrittene Pionier des biologischen Schulbuches und zugleich erfolgreichster Schulbuchautor aller Zeiten! In den 20er Jahren geriet sein Konzept wegen der Anordnung nach dem System, wegen des zur Spekulation verführenden Aspekts der Zweckmäßigkeit und wegen der geringen Anleitung zum praktischen Arbeiten und zum „Hinausgehen in die Natur“ in die Kritik der Reformer. In der NS-Zeit wurde das Unterrichtswerk wegen ungenügender Beachtung des Gedankens der Lebensgemeinschaft und wegen der Abstinenz in der Rassen-Frage des Menschen politisch geächtet, doch weiter gut verkauft. Nach dem Krieg erlebte es wieder eine kurze Renaissance, ehe es mit der Trendwende (weg von dem systematischen Übersicht und ganzheitlichen Formenkunde, hin zu den „Kennzeichen des Lebendigen“ in den 60er Jahren als Unterrichtswerk unterging. Es wurde aber auch danach noch als griffige Enzyklopädie von Naturfreunden nachgefragt. Lehrstuhl Prof.em. Dr. rer. nat. Eberhard G. SCHMIDT Universität Essen, FB 9: Grundvorlesung BIOLOGIEDIDAKTIK, Bearbeitungsstand vom 20.1.2001 Kap.6: Geschichte der Biologiedidaktik 6 — 39 Verbunden ist der Name SCHMEIL mit dem Verlag Quelle & Meyer in Leipzig. Er wurde 1906 als Verlag für Wissenschaft & Schule gegründet, 1926-1968 von OTTO SCHMEIL's Sohn WERNER geleitet, 1943 in Leipzig ausgebombt und 1948 in der SCHMEIL'schen Villa in Heidelberg wieder neu aufgebaut (vgl. SCHMEIL & SEYBOLD 1986). Leider mißglückte der Versuch in den 70er Jahren, die SCHMEIL'schen Lehrbücher mit ihrer systematisch/ enzyklopädischen Anordnung auf ein Nachfolgewerk „Welt der Biologie“ nach den Prinzipien der damals aktuellen „Kennzeichen des Lebendigen“ umzustellen, so daß der Verlag 1984 an die Verlagsgruppe um den Aula-Verlag in Wiesbaden (jetzt Wiebelsheim) überging. Literatur HERTWIG, R.: Lehrbuch der Zoologie. Fischer, Jena, (1891), 8.Aufl. 1907 SCHMEIL, O.: Lehrbuch der Zoologie für höhere Lehranstalten und die Hand des Lehrers sowie für alle Freunde der Natur unter besonderer Berücksichtigung biologischer Verhältnisse. Quelle & Meyer, Leipzig 1. Aufl. 1898/99, 40. Aufl. 1918. SCHMEIL, O. & H. KOCH: SCHMEIL‘s Biologisches Unterrichtswerk. Pflanzenkunde. Quelle & Meyer, Heidelberg, 198.Aufl. 1986. SCHMEIL, O. & W. MERGENTHALER: SCHMEIL‘s Biologisches Unterrichtswerk. Tierkunde. Quelle & Meyer, Heidelberg, 200.Aufl. 1986. SCHMEIL, O. & SEYBOLD, A.: Leben und Werk eines Biologen. ### Lebenserinnerungen. Quelle & Meyer, Heidelberg 1954, 2.Aufl. 1986. 6.5.4 Kritik am Finalismus: Hermann LÖNS In der Tat gibt SCHMEIL selbst zu, daß er bei der Abfassung der Monographien (z.B. zum Elefanten) an die Grenze des ihm verfügbaren Buchwissens gelangte und damit in Gefahr des Spekulierens geriet, auch habe er den Gedanken der Zweckmäßigketi im Sinne der Teleologie oder des Finalismus manchmal zu weit getrieben (was in späteren Auflagen auf Grund der berechtigten Kritik ausgeglichen wurde). Schüler, die nur das Buch (in den anfänglichen Ausgaben) als Quelle hatten, konnten dann – allen guten Beteuerungen und Absichtserklärungen SCHMEIL's zum Trotz – doch mehr spekulieren als sorgsam beobachten. Das hat der „Heidedichter“ HERMANN LÖNS trefflich aufgezeigt. LÖNS, HERMANN, 1866 -1914 Er wurde in Culm/ Westpreußen geboren, wuchs in Münster/ Westfalen auf. Dort wurde er durch Molluskenforschung während des Studiums der Medizin & Naturwissenschaft bekannt. Er setzte das Studium in Greifwald fort, blieb aber ohne Abschluß. Er wurde dann Journalist in Hannover und der bekannte Heide-Naturschriftsteller. LÖNS war aber innerlich zerrüttet, meldete sich (48jährig!) als Kriegsfreiwilliger und fiel gleich in den ersten Tagen an der Westfront. LÖNS hatte mit seiner großen Freilanderfahrung die Auswirkungen eines überzogen spekulativen Zweckmäßigkeits-Gedankens in den SCHMEIL'schen Unterrichtswerke gespürt und sie gut ein Jahrzehnt nach ihrem Erscheinen trefflich karrikiert („Der zweckmäßige Meyer“; Sponholtz Verlag Hannover 1911; man beachte die Anspielung auf den SCHMEIL'schen Verlag Quelle & Meyer! Ein Auszug folgt nachstehend). Diese Kritik wurde in den 20er Jahren gern (als der „zweckmäßige SCHMEIL“) aufgegriffen: Lehrstuhl Prof.em. Dr. rer. nat. Eberhard G. SCHMIDT Universität Essen, FB 9: Grundvorlesung BIOLOGIEDIDAKTIK, Bearbeitungsstand vom 20.1.2001 Kap.6: Geschichte der Biologiedidaktik 6 — 40 Der Zweckmäßige Meyer Meyer schwärmt sehr für die Natur, oder vielmehr, wie er sagt, für Natur, und zwar aus verschiedenen Gründen. Einmal, weil dieser Sport billig ist, denn Meyer ist für das Billige; zweitens, weil er bekömmlich ist, denn Meyer ist für das Bekömmliche; drittens, weil Meyer eine bedeutende naturwissenschaftliche Bildung hat, denn er hat Prima-Reife, ein Vergrößerungsglas, einen ziemlich richtig gehenden Laubfrosch und ist Mitglied des Kosmos. Infolgedessen ist für Meyer die Natur eine leicht erklärbare Sache. Über die Tierseele hat ihn Doktor ZELL, über die Entstehung der Welt der Urania-MEYER, über die Entwicklung des Menschen FRIEDRICH WILHELM BÖLSCHE vollkommen genügend unterrichtet; den Rest denkt er sich selbst zusammen. Meyer und ich gehen oft aus; Meyer redet, und ich höre zu; Meyer erklärt, und ich versuche zu folgen; Meyer lehrt, und ich stelle schüchterne Fragen; wenn er sie nicht beantworten kann, erklärt er sie für zu leicht, als daß er darauf eingehen könnte. „Wie zweckmäßig diese Blume, Hieracium, Habichtskraut heißt sie, eingerichtet ist“, sprach Meyer und zeigte auf eine Blume, die im grünen Grase stand und ob dieser unerwarteten Ansprache fast vom Stengel fiel; „ihre leuchtende Farbe zieht die Insekten an. Wäre sie zum Beispiel rot, so würde sie nicht bemerkt werden“. In diesem Augenblicke kam eine Hummel an, die irgend etwas in den Bart brummte, das wie Kartoffelkopp klang, übersah vollständig das schreiend gelbe Plakat des Habichtskrautes und ließ sich an einer roten Taubnessel nieder. Meyer wandte sich entrüstet ab. Dann zeigte mir Meyer eine Pflanze, die er Wasserhahnenfuß, Batrachium, nannte. „Sehen Sie“, sagte er, „würde dieser Graben fließen, so würde diese Pflanze lauter untergetauchte, aber keine schwimmenden Blätter haben. Da das Wasser aber steht, so bringt sie es zu letzteren. Das ist das Gesetz der Anpassung, das DARWIN entdeckt hat“. Stimmt, sagte ich; es ist dasselbe, als wenn man einen Anarchisten aus den bewegten Wellen des Proletariats in die ruhigen Verhältnisse des Kapitalismus bringt; schon nach fünf Bierminuten wird er konservative Blätter treiben.” „Das ist Unsinn“, sprach Meyer, „geben Sie mir lieber eine Zigarre“. Ich gab sie ihm, und er fuhr fort: „Diese kleinen Käfer, die überall fliegen, sind Aphodien, Mistkäferchen. Die Natur hat sie dazu bestimmt alle exkrementalen Stoffe fortzuräumen. Mit unglaublicher Sicherheit wissen sie jeden Mist aufzufinden und fliegen auf ihn zu“. – „Pfui, Spinne“, sprach er dann und spie eines dieser winzigen Insekten, das ihm in den stets offenen Mund geflogen war, in die Landschaft, und fuhr darauf fort: „Bemerken Sie diese Lerche da?“ Ich bemerkte sie. „Dieselbe hat einen anderen Gesang als die Bachstelze, die überhaupt keinen hat, und diese einen anderen als der Hänfling; das ist deswegen so, damit die Arten sich zusammenfinden, sonst würde es ein heilloses Durcheinander geben“. Entrüstet runzelte er die Stirne, denn besagte Lerche sang eben genau wie ein Hänfling, lockte dann wie eine Bachstelze, schlug darauf wie eine Wachtel, pfiff alsdann wie ein Star und schwirrte zuletzt wie ein Grünfink. „Was sagen Sie dazu?“ fragte ich Meyern. Er schwieg verletzt. Als sich aber im weiteren Verfolg unserer Wanderung eine Haubenlerche auf einem Stück Ödland niederließ, erhellten sich seine finsteren Züge: „Bemerken Sie den Vogel?“ fragte er. Ich bemerkte ihn. „Er ist genau so grau gefärbt wie der Erdboden und dadurch vor den Nachstellungen seitens der Raubvögel völlig geschützt“. Ein Sperbermännchen, das hinter einer krüppeligen Föhre hervorkam, war gegenteiliger Ansicht und bewies sie dadurch, daß es mit der Lerche in den Klauen abging und Meyer mit seiner Theorie aufsitzen ließ. Ich grinste in mich hinein und gab Meyer die dritte Zigarre. Als wir den Wald betraten, wies Meyer mir überzeugend nach, daß die Koniferen, also die Nadelhölzer, aus Gründen der Zweckmäßigkeit Sommer und Winter die Nadeln behielten, was die Laubhölzer nicht könnten, einmal weil sie keine Nadeln hätten, und dann überhaupt und so. Ich fragte ihn darauf, ob die Natur dazu da sei, um von dem Menschen erklärt zu werden, was Lehrstuhl Prof.em. Dr. rer. nat. Eberhard G. SCHMIDT Universität Essen, FB 9: Grundvorlesung BIOLOGIEDIDAKTIK, Bearbeitungsstand vom 20.1.2001 Kap.6: Geschichte der Biologiedidaktik 6 — 41 er als selbstverständlich bezeichnete, und dann fragte ich ihn, warum die drei Lärchen auf der Lichtung, die doch auch Koniferen wären, ihre Nadeln abwürfen, worauf Meyer zu etwas anderem überging und mich um eine neue Zigarre ersuchte, weil die zweckmäßigen Mücken so lästig wären. Mittlerweile kamen wir aus der gedankenbelebenden Kühle des Waldes in das freie Feld und in die Sonne. Meyers Havelock und Lodenhut erwiesen sich nun als eine von der Natur unzweckmäßig eingerichtete Körperbedeckung, so daß er schwieg, bis er im Dorfe zwei Butterbrote mit Harzkäse und zwei Weiße binnen hatte, worauf er wieder zu seiner Zweckmäßigkeitstheorie zurückkam, nachdem er mir meine letzte Zigarre, seine fünfte, abgenommen hatte. Meyer bemerkte gerade, daß es sieben sei, und um acht müsse er zu Hause sein. Er verschob daher weitere Erklärungen auf das nächste Mal. Ich freue mich schon darauf. Literatur LÖNS, H.: Der zweckmäßige Meyer. Sponholtz, Hannover, 1911. Mit Kürzungen in UB H. 80, 7. Jahrg., April 1983. 6.5.5 Das Verhältnis von SCHMEIL ZU JUNGE, die Dialektik von Verehrung und Widerspruch bei SCHMEIL Es gab wohl kaum einen Zeitgenossen JUNGEs, der ihn besser verstanden hatte als SCHMEIL. SCHMEIL kannte den Dorfteich mindestens so gut wie JUNGE, die Vielfalt anderer Stillgewässer sogar viel besser; er war wissenschaftlich als Kenner der Ruderfußkrebse (Copepoden), einer markanten Zooplanktongruppe in Teichen, ausgewiesen, also kein Amateur wie JUNGE, und ebenfalls didaktisch/ pädagogisch erfahren. Kaum ein anderer konnte also JUNGE's Leistung besser beurteilen und würdigen; SCHMEIL war auch in Wahrheit von JUNGE's (ökologischem Art-) Konzept fasziniert. Das zeigte sich auch an der feinfühligen, versteckten Richtigstellung zum Dorfteich in den Lebenserinnerungen von SCHMEIL (SCHMEIL & SEYBOLDT 1986: 30): „Der Dorfteich und sein Anger. Die Überschrift dieses Abschnittes weckt in mir eine doppelte Erinnerung. Erstlich war das Gewässer, das wir mit diesem Namen belegten, samt seiner Umgebung der Ort sonniger Kindertage, und zweitens hat unter diesem Titel „Der Dorfteich“ ein vortrefflicher Mann, Fr. JUNGE, vor mehr als 50 Jahren ein Buch herausgegeben, das auf den naturkundlichen Unterricht und daher auch auf mich, der den Naturwissenschaften sein ganzes, langes Leben gewidmet hat, einen nachhaltigen Eindruck ausübte“. Es folgt eine persönliche, ökologische Charakteristik dieses speziellen Dorfteiches, die nur der Eingeweihte als Darstellung des eigentlichen Dorfteiches, nämlich des Feuerlöschteiches in der Dorfmitte/ im Dorfanger (vgl. auch HÖRMANN 1965: 58) statt des JUNGEschen Mühlenteiches am Dorfrand erkennen kann. SCHMEIL distanziert sich aber in der „Streitschrift“ (1896/1905, die ja seine didaktische Grundlegung darstellt) deutlich von dem Bezug zum Lebensraum, damit auch vom Teich. So ergibt sich eine Dialektik aus Verehrung JUNGE's (als Vorbild für das „biologische Artkonzept“) und aus Widerspruch (hinsichtlich der Akzeptanz des Bezugsrahmens Lebensgemeinschaft Dorfteich). Diese Dialektik gilt es aufzuhellen. Das „biologische“ (oder ökologische) Artkonzept fragt nach realen funktionalen (ökologischen) Zusammenhängen. Sie sind gerade an Analogien oder Konvergenzen, also am Bezugspunkt Lebensraum, besonders gut erkennen. Dieser Bezugspunkt Lebensraum gibt also sachlogisch den angemessenen Ordnungsrahmen für die Arten im ökologischen Kontext. Stillgewässer sind dabei für das praktische Erarbeiten besonders geeignet (vgl. ESCHENHAGEN u.a. 1991, SCHMIDT 1991, 1995, 1996) und von JUNGE am Beispiel seines „Dorfteiches“ vorbildlich didaktisch erschlossen worden. Das (natürliche) System stützt sich dagegen auf die phylogenetische Verwandtschaft. Sie ist oft nur vom Spezialisten mit großer Erfahrung und vorwiegend an Indizien zu erkennen ist. Für den Schüler in der S I bleibt die phylogenetische Verwandtschaft in vielen Fällen ein abstrakt/ theoretischer Bezug, den Lehrstuhl Prof.em. Dr. rer. nat. Eberhard G. SCHMIDT Universität Essen, FB 9: Grundvorlesung BIOLOGIEDIDAKTIK, Bearbeitungsstand vom 20.1.2001 Kap.6: Geschichte der Biologiedidaktik 6 — 42 JUNGE bei seiner Einführung in die Formenkunde als nicht kindgerecht ablehnt (vgl. ESCHENHAGEN et al. 1989, 1992). Lehrstuhl Prof.em. Dr. rer. nat. Eberhard G. SCHMIDT Universität Essen, FB 9: Grundvorlesung BIOLOGIEDIDAKTIK, Bearbeitungsstand vom 20.1.2001 Kap.6: Geschichte der Biologiedidaktik 6 — 43 Warum also distanziert sich dann SCHMEIL von dem Bezug zu einem Lebensraum als schlüssigem Ordnungskriterium für die funktionsmorphologisch/ ökologischen Artmonographien, und stellt sie – sachlich inkonsequent – in die Hierarchie der biologischen Systematik? SCHMEIL kannte aus der Schulpraxis und als Leiter einer großen Schule nicht nur die Fähigkeiten der Lehrer, sondern auch ihre Grenzen. So sah er allein im Lehrbuch mit funktionalen Bezug die Grundlage für eine (inhaltliche) Reform des Biologieunterrichts mit hoher Breitenwirkung bei den auf das Buchwissen geprägten Lehrern (s.Kap.6.5.2). SCHMEIL's schrieb die „Kampfschrift“, als die Arbeit an seinen Lehrbüchern schon weit fortgeschritten war. Sie ist einfach zu verstehen, wenn sie diesen neuen Lehrbüchern und damit dem Schulbuch im Biologieunterricht überhaupt den Boden bereiten sollte. So sucht er (als seine Innovation) den Kompromiß von traditioneller systematischer Anordnung bei LÜBEN & LEUNIS und dem funktionellen Artkonzept von JUNGE, muß dafür den Bezugspunkt Lebensraum über Gebühr zurückstellen und hinnehmen, daß der propagierte hohe Stellenwert praktischen Arbeitens und sein Aktionismus wider den Verbalismus (vgl. die Thesen der „Kampfschrift“!) zu hohlen Phrasen beim Arbeiten mit diesen neuen (und vortrefflich geschriebenen) Büchern (statt am Naturobjekt) werden können. Für die gute Sache, die Durchsetzung des „biologischen“ Artkonzeptes, muß SCHMEIL also eine gewisse Doppelzüngigkeit hinnehmen. So ist das Leben! Literatur: ESCHENHAGEN, D., U.KATTMANN & D.RODI (Hrsg.): Handbuch des Biologieunterrichts S I. Band 1: Phänomen Vielfalt. Aulis/ Deubner, Köln, 1989. Band 2: Lebensformen und Verwandtschaft. Aulis/ Deubner, Köln, 1992. Band 8: Umwelt. Aulis/ Deubner, Köln, 1991. HÖRLIMANN, M.: Methodik des Biologieunterrichts. Kösel, München, 2. Aufl. 1965. LEMKE, W.: Zur Methodik und Praxis des Biologieunterrichts in der Grundschule. Volk & Wissen, Berlin 1948. PASTERNAK, F. & A.STOCKFISCH: Die Natur im Unterricht. Eine Didaktik und Technik des biologischen Unterrichts. Lax, Hildesheim 1953. SCHMIDT, E.: Umdenken beim Ökosystemverständnis. Ökosystemanalyse am praktischen Beispiel nach dem Lebensform-/ Nischenkonzept. S. 1-7 in GERHARDT-DIRCKSEN & SCHMIDT (Hrsg.): Ökosystem Stadtteich. Themenheft PdB 40 (6). Aulis/ Deubner, Köln 1991. SCHMIDT, E.: Ganzheitliche Ökosystemanalyse für den Anwender und Lehrer. S. 466-489 in EULEFELD, G. & JARITZ, L. (HRSG.): Umwelterziehung/ Umweltbildung in Forschung, Lehre und Studium. IPN-Symposium in der PH Erfurt/ Mühlhausen vom 4.-7.10.1994. IPN, Kiel 1995. SCHMIDT, E.: Ökosystem See. Bd. I: Der Uferbereich des Sees. Biologische Arbeitsbücher 12.1. Quelle & Meyer, Wiesbaden. 1974, 5. Aufl. 1996 (in 2 Bänden, Bd. 2 im Druck). 6.5.6 SCHMEIL und DARWIN/ HAECKEL SCHMEIL hat den Zusammenhang von Gestalt und Funktion/Lebensweise als Kausalität (im Gegensatz zur Beschreibenden Morphologie LÜBENs) in den Mittelpunkt seines biologischen Bildungsauftrages gestellt, dabei den Aspekt der Zweckmäßigkeit, der besonderen Angepaßtheit betont, anfangs sogar überbetont. Diese Aspekt legt eigentlich die Verbindung zu der DARWIN’schen Selektionstheorie nahe, die zur Zeit von SCHMEIL von HAECKEL in Jena eifrigst propagiert und publik gemacht worden war. SCHMEIL geht darauf aber gar nicht ein und hält sich auch bei seinen systematischen Übersichten völlig „bedeckt“ gegenüber diesen Selektionsvorstellungen (als Ursache für Zweckmäßigkeit/ Angepaßtheit) und gegenüber phylogenetischen Vorstellungen und Theorien und Zusammenhängen ganz allgemein. Auch das ist eine logische Unstimmigkeit bei SCHMEIL, auf die hier nur kurz hinwiesen werden soll! Lehrstuhl Prof.em. Dr. rer. nat. Eberhard G. SCHMIDT Universität Essen, FB 9: Grundvorlesung BIOLOGIEDIDAKTIK, Bearbeitungsstand vom 20.1.2001 Kap.6: Geschichte der Biologiedidaktik 6 — 44 6.5.7 Kennzeichnung von SCHMEIL'S WIRKEN Konz: „Biologische Betrachtungsweise“: Die Art als funktionelle Einheit aus Gestalt (Bau: Morphologie/ Anatomie), Leistung (Physiologie) und Lebensweise (Biologie i.e.S.)/ Verhalten und Umwelt (Lebensraum), also Funktionsgestalt entsprechend dem JUNGE'schen Raster, aber im systematischen Kontext (in „absteigender Reihung“) an ausgewählten Arten der wichtigsten Taxa. Med: Die SCHMEIL'schen Unterrichtswerke (Schulbuch in Verbindung mit Wandtafeln). Beim Arbeiten mit dem Buch konnte allerdings (anders als am praxisorientierten Ansatz JUNGE's) die Zweckmäßigkeit spekulativ überhöht und damit wirklichkeitsfremd werden (Gefahr des Finalismus). Meth: Bekenntnis zum entdeckenden Lernen (wie bei JUNGE) und zum Verständnis des Lebendigen. Diese Forderung von SCHMEIL kam jedoch bei der bequemen Arbeit mit dem Buch meistens nicht zum Tragen kam. Einst: Wecken von Verständnis durch die Fragen nach dem „Warum?“ und „Wozu?“, also nach der Zeckmäßigkeit (Finalität) von Gestalt und Funktion; heute oft formuliert als Angepaßtheit [von Gestalt/ Funktion/ Lebensweise] an den Lebensraum: Gefahr des Finalismus. 6.6 Vergleichende Würdigung der Leistungen von LÜBEN & LEUNIS, JUNGE & SCHMEIL LÜBEN & LEUNIS, JUNGE & SCHMEIL sind in der Biologiedidaktik wegweisend für die Formenkunde, also für die Einführung in die Formenmannigfaltigkeit an ausgewählten Arten vor dem Hintergrund eines Artkonzeptes. LÜBEN & LEUNIS haben das praktische, möglichst selbsttätige Arbeiten am Objekt didaktisch erschlossen, dabei eine Reihe von Unterrichtsprinzipien herausgestellt. Sie bezogen sich auf das morphologisch/ systematische Artkonzept (bei LEUNIS auch einfach das diagnostische Artkonzept mit dem Bestimmen bzw. der Artunterscheidung als Hauptziel), das in der Lehrerausbildung gut vorbereitet, von LÜBEN & LEUNIS praxisgerecht methodisch aufbereitet und in der Materialbeschaffung und vom Vorbereitungsaufwand her gut zumutbar war (Pflanzenkunde nach Frischmaterial aus dem Schulumfeld bzw. dem -garten im Sommer, Tierkunde nach Schlachtmaterial oder Präparaten aus der Schulsammlung). Das Konzept war damit lehrergerecht, jedoch weniger schülergerecht, und konnte die hohen (formalen) Bildungsziele (wie sie bei LÜBEN formuliert worden waren) nicht erfüllen. Lehrstuhl Prof.em. Dr. rer. nat. Eberhard G. SCHMIDT Universität Essen, FB 9: Grundvorlesung BIOLOGIEDIDAKTIK, Bearbeitungsstand vom 20.1.2001 Kap.6: Geschichte der Biologiedidaktik 6 — 45 JUNGE & SCHMEIL forderten dazu das biologische (funktionsmorphologische oder ökologische) Artkonzept. Hier sollte die Korrelation von Gestalt und Funktion/ Lebensweise, damit die Angepaßtheit an den Lebensraum im Mittelpunkt stehen. Dazu gehört ein ökologisches Frageraster (in aktueller Formulierung): 1 Zusammenspiel von Bewegung, Raumwahrnehmung und Habitatpräferenz bei Tieren, von Wuchsform und Standort bei Pflanzen. 2 Zusammenspiel von Nahrungserwerb (bei Tieren auch Atmung, bei grünen Pflanzen Fotosynthese) und der betreffenen Organausstattung im Raum-/ Zeitbezug. 3 Zusammenspiel von Bedrohung durch Freßfeinde mit Strategien der Feindvermeidung unter Nutzung der spezifischen Organausstattung im Raum/ Zeitbezug. 4 Vermehrungs- und Ausbreitungsstrategien im Raum-/ Zeitbezug. Ein derartiges Frageraster wurde von JUNGE entwickelt und für ein forschendentdeckendes Lernen am Objekt didaktisch aufgearbeitet. Als Ordnungsstruktur für ökologisch ähnliche/ vergleichbare Arten wählte er sachgerecht die Lebensräume und stellte exemplarisch den Lebensraum Teich in den Mittelpunkt, wobei die Untersuchung im Aquarium (verbunden mit einfachen Experimenten) als Systemsimulation im Klassenraum zu deuten ist. Allgemeine ökologische Gesetzmäßigkeiten sollten einen Theoriehintergrund für die Deutungen der Ergebnisse bilden. Dieser Ansatz ist sachlogisch schlüssig, von hohem Bildungswert und für die Schüler faszinierend, also voll schülergerecht. Er stellt aber hohe Anforderungen an die theoretische und vor allem an die praktische Qualifikation des Lehrers, die von der Lehrerausbildung nicht erfüllt werden können. Außerdem erfordert JUNGE's Ansatz auch eine besonders hohes Engagement des Lehrers bei der Lang- und Kurzzeitvorbereitung des praktischen Unterrichts. Damit ist dieses Konzept nur von einer Elite unter den Lehrern umsetzbar, pauschal gesehen also nicht lehrergerecht (oder positiv ausgedrück: Eine Herausforderung an die Lehrerausbildung und für die selbsttätige Fortbildung der Lehrer aus eigenem Antrieb!). SCHMEIL gehörte zwar zu einer derartigen Lehrer-Elite, die das Konzept JUNGE's umsetzen konnte. Er wollte aber dem „biologischen“ Artkonzept zur Breitenwirkung verhelfen. Er sah dazu den Weg über ein passendes Schulbuch als (lehrergerechtes) Medium, das er selbst bereitstellen wollte. Zur Sicherung der Akzeptanz mußte überdies der den Lehrern vertraute (aber nicht sachgerechte) Ordnungsrahmen des biologischen Systems (jedoch unter Aussparung des für SCHMEIL eigentlich aktuellen Phylogenetischen Hintergrundes und erst recht der DARWIN’schen Selektionstheorie) beibehalten werden. So konnte er in der Tat das biologische Artkonzept und das darauf abgestimmte Medium Schulbuch im Biologieunterricht etablieren, mußte aber erhebliche Abstriche bei der praktischen Arbeit am Objekt (die eigentlich wesentlich zu seinem Zielkatalog gehörte), also beim Bildungswert für den Schüler, hinnehmen. SCHMEIL's Ansatz war damit wieder lehrergerecht, aber nur bedingt schülergerecht (ähnlich wie bei LÜBEN & LEUNIS). Der modernen Ansatz beim Artkonzept war nur durch Rückfall bei den Arbeitsweisen (im wahrsten Sinne des Wortes) zu erkaufen. Lehrstuhl Prof.em. Dr. rer. nat. Eberhard G. SCHMIDT Universität Essen, FB 9: Grundvorlesung BIOLOGIEDIDAKTIK, Bearbeitungsstand vom 20.1.2001 Kap.6: Geschichte der Biologiedidaktik 6 — 46 6.7 „Hinaus in die Natur“ und die Arbeitsschulbewegung in der Weimarer Republik (20er Jahre) In den „Gründerjahren“ (um die Jahrhundertwende) mit der rasant steigenden Industrialisierung drängten Menschenmassen in die Städte, vielfach entstanden große Arbeiterviertel mit schlechten Wohnbedingungen. Als Ausgleich zogen die Menschen am Wochenende gern hinaus in die Natur (vgl. die „Milljö“-Studien ZILLE's in Berlin). „Laubenpieper“-Kolonien (Schrebergärten), Freikörperkultur, „Turnvater Jahn“, Wandervogel-Bewegung waren schon mehr Ausdruck einer Gesinnung, einer Naturbewegung (vgl. KNAUT 1993) als bloße Naturverbundenheit. „Hinaus in die Natur“, „Naturgeschichte im Freien“ (SCHMITT 1922 u.a.) wurden dann nach dem 1. Weltkrieg Schlagworte der Biologiedidaktik. Damit ergab sich in den 20er Jahren (im Deutschland der „Weimarer Republik“) wieder ein stärkerer Bezug zu JUNGE (vgl. Kap.6.4.10 mit dem Bericht von GRUPE) und dem Gedanken der Lebensgemeinschaft (der insbesondere in den Volksschulen bis in die 60er Jahre nachgewirkt hat, vgl. z.B. KELLE & STURM 1974), ohne daß das ökologische Artkonzept mit JUNGE's Konsequenz wieder aufgegriffen worden wäre. Das praktische Tun, im Biologieunterricht zunächst als Selbsttätigkeit der Schüler am Objekt, im erweiterten Sinne auch als Arbeit im Schulgarten etc., erhielt damit einen hohen Stellenwert (BROHMER 1922, GRUPE 1921, die tätige Naturkunde propagierend; Details bei GRUPE 1973; vgl. auch GRUPE 1949). Damit ergibt sich auch wieder ein stärkerer Bezug zum Konzept von JUNGE und eine eher kritische Sicht der Schulbuchbiologie von SCHMEIL (s.o.). Populäre Bestimmungsführer, oft praktisch nach Lebensräumen gegliedert kamen auf (s.o., dazu die KOSMOS-Naturführer oder die Lebensraum-Führer von BROHMER oder die „Studienbücher Deutscher Lebensgemeinschaften“: STEINECKE 1940). Das Problem der Schulferne der Lehrerausbildung stellte sich, der Ruf nach Fachdidaktik im Studium kam auf (vgl. STEINECKE 1951). Ein anderes Element war die Arbeitsschulbewegung (Ausgang von KERSCHENSTEINER 1903, vgl. SCHEIBNER 1951) mit den Zielen: Die geistige Arbeit im Unterricht soll mit praktischem Tun (möglichst mit handwerklicher Arbeit) verbunden werden, beide sollen sich wechselseitig befruchten. Das praktische Erleben am Objekt soll eigene Denkanstöße der Schüler fördern. Ziel ist die Erziehung zu selbständiger Tätigkeit und geistiger Verarbeitung mit dem Denken in Zusammenhängen auf anschaulicher Grundlage. Typisch für diese Arbeitsschulbewegung war eine Gruppe von Schülern und Lehrern des Gymnasiums in Berlin-Tegel. Sie ziehen eines Tages hinaus auf eine städtische Insel im Tegeler See, gründen dort in freier Natur die „Schulfarm Scharfenberg" und tragen nach dem Unterricht mit ihrer Hände Arbeit zum Lebensunterhalt bei. Die Schulfarm wurde 1949 (nach einem braun- und dann rot-sozialistischen Kaderschul-Interregnum) unter der Leitung eines ehemaligen Schülers wieder eröffnet, die Ausbildung und die möglichst selbständige handwerkliche Arbeit in einer der 10 „Innungen" (mindestens an einem Nachmittag je Woche und an 10 Tagen in den großen Ferien) gehörte zum damaligen Pensum dieser städtischen Internatsschule in der Form einer kooperativen Gesamtschule mit einem Hauptschul- und einem gymnasialen Zweig (in heutiger Sprechweise). Lehrstuhl Prof.em. Dr. rer. nat. Eberhard G. SCHMIDT Universität Essen, FB 9: Grundvorlesung BIOLOGIEDIDAKTIK, Bearbeitungsstand vom 20.1.2001 Kap.6: Geschichte der Biologiedidaktik 6 — 47 Eine andere (marxistische) Definition der Arbeitsschule stellt die Orientierung an den Problemen industrieller Arbeit und Produktion (polytechnischer Unterricht) in den Vordergrund. Stoff: Synthese früherer Epochen, insbesondere des Bezugs zum Lebensraum (vgl. BROHMER, GRUPE sen., SCHMITT) Meth: Arbeit am Objekt, bevorzugt in der freien Natur Arbw: Starke Betonung des praktischen Tuns, auch der handwerklichen Arbeit: Schulgärten, Arbeitsschulidee Einst: Naturverklärung als Flucht aus den Ballungszentren („Hinaus in die Natur") Literatur: BROHMER, P: Der Naturgeschichtsplan in der Arbeitsschule. ### 1922. GRUPE, H. (sen., Heinrich): Natur und Unterricht. ### 1921. GRUPE, H. (sen., Heinrich): Naturkundliches Wanderbuch. Westermann, Braunschweig, 14.Aufl. 1949. KELLE, A. & STURM, H.: Lebendige Heimatflur, 4. Gewässer, Moor & Heide im Jahreslauf. Unterrichtswerk Biologie für Klassen-, Gruppen & Einzelarbeit. Dümmler, Bonn, 3. Aufl. 1974. KERSCHENSTEINER, G.: Grundfragen der Schulorganisation. Teubner, Berlin 1921. KERSCHENSTEINER, G.: Begriff der Arbeitsschule. Teubner, Leipzig 1903, Oldenbourg, München, 19509, 1961. ## KNAUT, A.: Zurück zur Natur! Landschafts- und Heimatschutz im wilhelminischen Zeitalter. Diss. Universität München 1992. Auch unter dem Titel: Zurück zur Natur! Die Wurzeln der Ökologiebewegung. Suppl. 1 zum Jahrbuch f. Naturschutz & Landschatspflege. AG berufl. & ehrenamtl. Naturschutz (ABN), Bonn (in Kommission bei Kilda, Greven) 1993. SCHEIBNER, O.: Arbeitsschule in Idee und Gestaltung. Gesammelte Abhandlungen. Quelle & Meyer, Heidelberg, 1927 (PETERS & FISCHER: Hrsg.), 3. Aufl. 1951. SCHMITT, C.: Wege zur Naturliebe. 9 Bände (z.B. Bd. 1: Zweisprache mit der Natur, Bd. 2: Wie ich Pflanze & Tier aushorche?, Bd. 4: Naturliebe mein Unterrichtsziel, 1922, Bd. 9: Der Naturbeobachter). Datterer, Freising. SCHMITT, C.: Heraus aus der Schulstube. Naturgeschichte im Freien. Datterer, Freising 1922 STEINECKE, F.: Methodik des biologischen Unterrichts. Quelle & Meyer, Heidelberg 1932, 2. Aufl. 1951. STEINECKE, F.: Der Süßwassersee. Die Lebensgemeinschaften des nährstoffreichen Binnensees. Bd. 1 der Studienbücher Deutscher Lebensgemeinschaften (Hrsg. STEINECKE, F.). Quelle & Meyer, Heidelberg 1940. 6.8 Rassenwahn und Lebensraum- („Blut- & Boden“-) Ideologiein der Zeit der national-sozialistischen Diktatur (1933-1945) Die Schulbiologie geriet unter politischem Druck und Ausrichtung auf Rassismus (mit besonderer Förderung von Genetik und Sozialdarwinismus), auch der Gesundheitslehre. Dabei ist ein biologisch fundierter Rassismus bei einem Volk der Mitte Europa mit erheblichen Wanderbewegungen in den letzten 2000 Jahren und mit offenen und wechselhaften Grenzen sachlich unhaltbar, gemeint war ein Nationalismus mit brutaler Verfolgung ethnisch/ religiöser Minderheiten im Inneren des Reiches. Der Begriff des Lebensraumes wurde aufgewertet, aber umgedeutet („Volk ohne Raum“), von dem Aspekt der Heimatverbundenheit profitierte (ähnlich wie später in der DDR) die Ökologie („Lebensgemeinschaften“). Die Biologie-Stundenzahl wurde (mit einseitiger Schwerpunktsetzung) erhöht. Lehrstuhl Prof.em. Dr. rer. nat. Eberhard G. SCHMIDT Universität Essen, FB 9: Grundvorlesung BIOLOGIEDIDAKTIK, Bearbeitungsstand vom 20.1.2001 Kap.6: Geschichte der Biologiedidaktik 6 — 48 Literatur: BÄUMER, Ä.: NS-Biologie. Hirzel, Stuttgart 1990. BÄUMER-SCHLEINKOFER, Ä.: NS-Biologie und Schule. Lang, Frankfurt/M. 1992. DEICHMANN, U.: Biologen unter Hitler. Campus, Frankfurt/M. 1992. vgl. z.B. auch HEIBER, H.: Universität unterm Hakenkreuz. Teil II. Die Kapitulation der Hohen Schulen. Das Jahr 1933 und seine Themen. 2 Bände, Saur München 1992. ZMARZLIK, H.: Politische Biologie im Dritten Reich. MNU 19: 289-298 (1966). 6.9 Neubesinnung nach dem Krieg in der BR Deutschland (und in West-Berlin) Die NS-Zeit dauerte (den Krieg eingeschlossen) nur ein Dutzend Jahre. Die Mehrzahl der aus dem Krieg zurückkehrenden Lehrer war von den 20er Jahren geprägt worden. Sie konnten und wollten an das Gedankengut ihrer Jugendzeit wieder anknüpfen. Die Ehrfurcht vor dem Leben wurde nach den Exzessen der NS-Zeit besonders betont (vgl. STEINECKE 1951). Das Problem der Zersplitterung der Biologie in Teildisziplinen und das der stark gewachsenen Stoffülle stellte sich in dramatischer Schärfe. Die Formenmannigfaltigkeit wurde auf wenige Beispiele („typische Vertreter“, z.B. Teich-Muschel oder WeinbergSchnecke als Repräsentanten der Weichtiere) reduziert. Die Laborbiologie erhielt Vorrang gegenüber der Freilandbiologie, das Experiment gegenüber der differenzierten Beobachtung. VIRCHOWs Ausspruch „Es sei nicht der materielle Inhalt der naturwissenschafltichen Disziplin, der in erzieherischer Bedeutung interessiere, sondern es sei die Methode“ kam zu neuen Ehren: Methodenlernen statt Faktenwissen. Das entspricht einer Deutung des Prinzips des Exemplarischen (im Sinne von WAGENSCHEIN 1959, 1962, s. Kap. 2.9) oder des Paradigmatischen. Betont wird damit auch der Wert der formalen Bildung (Denk- und Arbeitsweisen der Biologie, Kap. 2.5) oder der kategorialen Bildung (im Sinne von KLAFKI 1959). Den Geist der Zeit spiegelt gut die Didaktik von SIEDENTOP (1964/ 1972) wider, die Leitziele hat LINDER (1957) prägnant herausgestellt. Literatur. LINDER, H.: Leitgedanken zum Unterricht in Biologie an den unteren & mittleren Klassen der Höheren Schulen; eine Methodik auf praktischer Grundlage. Metzler, Stuttgart 1957. SIEDENTOP, W.: Methodik und Didaktik des Biologieunterrichts. Quelle & Meyer, Heidelberg 1964, 4.Aufl. 1972. STEINECKE, F.: Methodik des biologischen Unterrichts an höheren Lehranstalten. Quelle & Meyer, Heidelberg 1932, 2. Aufl.1951. WAGENSCHEIN, M.: Zum Begriff des Exemplarischen Lehrens. (Z. Pädagogik, als Heft 1956). Beltz, Weinheim 1959. WAGENSCHEIN, M.: Erwägungen über das exemplarische Prinzip im Biologieunterricht. MNU 15 (1): 1-9 (1962). Lehrstuhl Prof.em. Dr. rer. nat. Eberhard G. SCHMIDT Universität Essen, FB 9: Grundvorlesung BIOLOGIEDIDAKTIK, Bearbeitungsstand vom 20.1.2001 Kap.6: Geschichte der Biologiedidaktik 6 — 49 6.10 Der ideologische Umbruch der 60er/ 70er Jahre Mit dem raschen Wiederaufbau und dem Wirtschaftswunder wurden der vorherige Kampf um das Überleben und der Zusammenbruch Deutschlands verdrängt. Für die heranwachsende Kriegs- und Nachkriegsgeneration waren dann materielle Probleme nebensächlich. Gesucht wurde der große, intellektuell faszinierende Wurf für die Erziehung und die Unterrichtskonzepte, zugleich der Bruch mit der Vergangenheit, das bedeutete auch Abgrenzung gegen die älteren Generationen und Befreiung von ihren als überholt angesehenen Tabus, wenn auch (für die Betroffenen unmerklich) neue Tabus (in Form von Gruppenzwängen: „Political correctnes“) gesetzt wurden. So liefen verschiedene Richtungen nebeneinander. Wissenschaftliche Rigorosität: Grundideen der Naturwissenschaften fanden (von den angelsächsischen Ländern her kommend) Priorität in den Erziehungswissenschaften, die sich nun strikt empirisch (statt philosophisch) orientierten. Unter dem Aspekt der Objektivität sollten die Zielsetzungen für den Unterricht von (behördlicher) Willkür befreit, die Strukturierung nach objektiven Kriterien ausgerichtet, der Lernerfolg objekt und statistisch gesichert bestimmt werden: Curriculum-Theorie (s.u.; vgl. ROBINSON 1969). Anstoß zur Curriculum-Entwicklung gaben: die Wissensexplosion, also das Problem der Stoffülle, und der Fortschritt der Wissenschaften, also die hohe Dynamik, und der entsprechenden Anpassungsbedarf der Fachdidaktik, das Problem der Lehrer bei knapper Zeit, damit Schritt zu halten, die "Verwissenschaftlichung" des Lebens, die Notwendigkeit einer umfassenden (auch naturwissenschaftlich/technischen) Allgemeinbildung, technische & organisatorische Innovation/Reform des Unterrichts (i.S. der Nutzung der neuen technischen möglichkeiten, insbesondere der elektronischen Geräte/Medien), Verlängerung der Schuldauer (z.B. in der Hauptschule auf 9 Jahre, Abitur nach 13 Schuljahren), Umschichtung zu den längeren Ausbildungszeiten (z.B. statt zur Realschule zum Gymnasium), Maßnahmen "kompensatorischer" Erziehung für sozio-kulturell Benachteiligte ("Ausschöpfen der Bildungsreserven", "Chancengleichheit für alle" durch Abbau schichten- oder geschlechtsspezifischer Benachteiligungen), Anforderungen erhöhter Qualifikationen für die Arbeitnehmer in einer technisierten Wirtschaft. Die individuellen Eigenarten und Schwächen der Lehrer sollten durch den „kybernetischen Unterricht“ mit objektiven Lehrprogrammen (an Lehrmaschinen analog zu den Sprachlabors) eliminiert werden. Zugleich hoffte man mit einer derartig ökonomisch gestalteten Ausbildung dem Lehrermangel der Zeit abzuhelfen, die Wissenexplosion zu bewältigen, das „Lebenslange Lernen“ zu sichern. Auch sozialpolitische Vorstellungen (gleiche Bildung für alle, Zerschlagen der Jahrgangsklassen durch individuelle Einstellung der Lerngeschwindigkeit an jeder Maschine) waren damit verbunden. Ein derartig normierter Unterricht war zugleich die Voraussetzung für gesicherte statistische Analysen, also für die Wissenschaftlichkeit der Lehrstuhl Prof.em. Dr. rer. nat. Eberhard G. SCHMIDT Universität Essen, FB 9: Grundvorlesung BIOLOGIEDIDAKTIK, Bearbeitungsstand vom 20.1.2001 Kap.6: Geschichte der Biologiedidaktik 6 — 50 Erfolgskontrolle. Dabei wurde die klassische Vorstellung. daß die Erziehung von Individuen zu Persönlichkeiten an eine Lehrerpersönlichkeit und deren individuelle Gestaltung des Unterrichts gebunden ist, verdrängt. Zugleich bedeutet es eine Entmündigung des Lehrers (und das in der Zeit, die die Erziehung zum mündigen Bürger besonders propagierte)! Diese kybernetische Pädagogik hat sich denn auch bald wieder totgelaufen (vgl. LINDER 1973 und Kap. 3.5.3.8, programmierter Unterricht im BU). Anthropozentrik: Zur Befreiung von Tabus gehörte auch die Lockerung bis Leugnung religiöser Bekenntnisse und Normen (z.T. zugunsten eines sozial/sozialistischen Menschenbildes), der Pluralismus der Meinungen. Die neue Sozialethik förderte die Sexualerziehung, aber auch die Gesundheits- und Friedenserziehung, überhaupt den Anteil der Menschenkunde im Biologieunterricht, die hemmungslose Industrialisierung führte zu unerträglichen Umweltbelastungen und damit zur Etablierung der Umwelterziehung (Kap. 2.11, 4.8). Stoffstrukturierung in der S I nach den „Kennzeichen des Lebendigen“: Auch im Gymnasium (Unter- & Mitelstufe) wurde dem Problem der Stoffülle dadurch begegnet, daß die systematisch orientierten Formenübersichten völllig gestrichen und durch exemplarische Behandlung nach Kriterien der allgemeinen Biologie, den „Kennzeichen des Lebendigen“ (so direkt der Titel des Schulbuches aus dem Metzeler Verlag, Stuttgart), abgelöst wurde. Allerdings wurden diese „Kennzeichen“ an jeweils anderen Vertretern behandelt, der Gedanke der „Ganzheit“ und damit die Vorstellung vom Zusammenhang der Teile und der Realitätbezug verletzt. Die neuen Richtlinien der S I im Gymnasium NRW (1993) kehrten jedoch zu ausgewählten Artmonographien im ganzheitlichen Kontext zurück. Der Reformwelle Anfang/ Mitte der 70er Jahre folgte eine Stagnation, ein Beharren auch an Fehlentwicklungen, erst jetzt, nach mehr als zwei Jahrzehnten scheint wieder etwas Bewegung aufzukommen. Literatur LINDER, H.: Zehn Jahre Programmierte Instruktion. MNU 26 (8): 477-481 (1973). 6.11 Die Curriculum-Theorie als Ausdruck des Reformansatzes 6.11.1 Zum Begriff Der Begriff Curriculum hat (für die Biologiedidaktik in den 60er Jahren) mit der Curriculum-Theorie einen besonderen Kontext und damit eine neue inhaltliche Bestimmung erfahren (vgl. WERNER 1973, RODI 1975). Ausgang war das Bemühen um Objektivierung (Ausdruck der Entfaltung der Fachdidaktiken als universitärer Wissenschaft, die in dieser Zeit begann) und wissenschaftliche Form der Optimierung von Unterricht in einem Iterationsprozeß: Lehrstuhl Prof.em. Dr. rer. nat. Eberhard G. SCHMIDT Universität Essen, FB 9: Grundvorlesung BIOLOGIEDIDAKTIK, Bearbeitungsstand vom 20.1.2001 Kap.6: Geschichte der Biologiedidaktik 6 — 51 Z I E L V O R G A B E N Randbedingungen kognitive Ziele: Stoffauswahl psychomotorische Ziele: biologische Arbeitsweisen Emotionale Ziele: (Einstellungen) Sozialisierung Bioethik/ -moral Handlungsbezug K O N S T R U K T I O N der UE Ermittlung des Vorwissens (Vortest) Iterative Optimierung E R P R O B U N G der UE E R F O L G S K O N T R O L L E Nachtest - Vortest = Lernerfolg; Ermittlung kurz-/mittel-, langfristig V E R B E S S E R U N G der UE Abb.: ## Prinzipien der Konstruktion und Optimierung eines Curriculums bzw. einer Unterrichtseinheit (UE) Zum Begriff „Curriculum“ sei aus der Einführung in das Curriculum-Konzept, die den IPN-Curricula Biologie vorangestellt ist (EULEFELD et al. 1974: 8), zitiert: „Neue Wörter werden oft für eine alte Sache erfunden. Im Fall „Curriculum“ wurde jedoch ein altes Wort für eine neue Sache wieder eingeführt. Das lateinische Wort curriculum ist während der Aufklärung durch das deutsche Wort „Lehrplan“ ersetzt worden, in einem eingeengten Sinn kommt es heute aus dem angelsächsischen Bereich zu uns zurück. Curriculum kann beschrieben werden als ein System von Lern- und Lehrelementen, in dem bestimmte Lernziele angegeben und der Unterricht beschrieben wird, durch den die Lernziele erreicht werden sollen. Im Gegensatz zu herkömmlichen Lehrplänen nennt das Curriculum also nicht nur allgemeine Ziele oder Richtlinien, sondern gibt neben festgelegten Lernzielen außerdem an, durch welche Unterrichtsmaßnahmen des Lehrers und durch welche Tätigkeiten der Schüler die jeweiligen Lernziele zu verwirklichen sind. Das Curriculum, das die Bedingungen und Aktivitäten (Operationen) des geplanten Unterrichts beschreibt, ist in seinen wesentlichen Teilen spezifizierter Lehrplan. Eine umfasssendere Definition von Curriculum lautet so: Curriculum ist die systematische Darstellung des beabsichtigten Unterrichts über einen bestimmten Zeitraum als konsistentes System mit mehreren didaktischen Bereichen zum Zwecke der optimalen Vorbereitung, Verwirklichung und Evaluation von Unterricht“ (FREY 1971: 50). Lehrstuhl Prof.em. Dr. rer. nat. Eberhard G. SCHMIDT Universität Essen, FB 9: Grundvorlesung BIOLOGIEDIDAKTIK, Bearbeitungsstand vom 20.1.2001 Kap.6: Geschichte der Biologiedidaktik 6 — 52 Die praktische Arbeit an einem Curriculum hat somit die folgenden Schritte (vgl. Abb.##): 1) Spezifizierung der Lernziele 2) Konstruktion einer Unterrichtseinheit nach diesen Zielen mit weitgehender Spezifizierung des Unterrichts z.B. nach Inhalten, Arbeitsverfahren nebst Ausstattung, Unterrichtsmethoden, Medien, so daß Einzelheiten des Unterrichts nachvollziehbar werden, und die Objektivität im Sinne Vergleichbarkeit verschiedener Klassen, Unabhängigkeit von Besonderheiten der Schule, des Lehrer etc. gegeben ist. 3) Evaluierung: Bestimmung des Lernerfolges mit objektivierten Verfahren (standardisierte Tests mit operalisierten Items; Lernerfolg = Nachtest ./. Vortest; Clusteranalysen lassen den Bezug zu den Lernzielen herausarbeiten). 4) Revision der Unterrichtseinheit: Iteration Dieses Grobschema läßt sich noch wie folgt spezifizieren: ) Information über den Stand a) der didaktischen Theorien, b) der bereits vorhandenen Unterrichtsmodelle 1) (neue) Zielvorgaben ( z.T. von außen gesetzt!) Bestimmung von Nebenbedingungen (wie Zeittafel, Vorwissen, besondere örtliche Gegebenheiten) Bestimmung von Parametern wie Stoffauswahl, Beispielwahl, biologische Arbeitsweisen, Medien, Unterrichtsformen, Strukturierung, Spielraum für zusätzliche Lernziele) 2) Abstimmung der Vorgaben und Parameter, Auswahl und Festlegung, Teilerprobungen, Fixierung des machbaren Kompromisses: Auswahl und Operationalisierung der Lernziele, Auswahl daraus der Items für Vor- und Nachtest, Konstruktion & Eichung der Tests, Konstruktion einer Unterrichtseinheit Durchführung des Unterrichts: Erprobung des Curriculums 3) Evaluierung: Bestimmung des Lernerfolges, Differenzierung nach Teilen und Zielgruppen (mit Clusteranalysen) Verbesserungsvorschläge 4) Iteration des Verfahrens mit Revision & Neuerprobung 5) Publikation der Ergebnisse Lehrstuhl Prof.em. Dr. rer. nat. Eberhard G. SCHMIDT Universität Essen, FB 9: Grundvorlesung BIOLOGIEDIDAKTIK, Bearbeitungsstand vom 20.1.2001 Kap.6: Geschichte der Biologiedidaktik 6 — 53 Gesellschaftliche Forderungen Universität Wissen1. 2. schaftler: Entwicklung Revision Revision entwickelte Biologen revidierte revidierte Biologiedidaktiker Pädagogen Psychologen UE UE UE weitere Revision und Evaluation in der Praxis Lehrer Entwicklungsteam veränderte Schulpraxis Schulpraxis Bedeutung der Rückmeldungspfeile: Lehrerprotokoll + Lehrerbericht Unterrichtsbeobachtung durch Dritte Schülertest Abb. ##: Entwicklung der Unterrichtseinheiten, wechselseitige Annäherung von Unterrichtseinheiten (UE) und Unterrichtspraxis (nach SCHAEFER, 1971). Hinweis: Bei Ausrichtung an den Kriterien der Testtheorie (z.B., wenn von deren Erfüllung die Mittelbewilligung abhängt) geht ein hoher Teil des verfügbaren Kräftepotentials in die Formulierung und Operationalisierung der Lernziele und in die Entwicklung, Durchführung und Auswertung der Tests. Für die eigentlichen Unterrichtselemente (wie Feinstrukturen, Alternativen des Zuganges zum und der Herleitung des Thema, der Auswahl von Versuchen mit Erprobung von Alternativen) bleibt dann wenig Zeit. Es können auch Alternativen wegen der hohen Anforderungen an die Stichprobenzahl nicht angemessen erprobt werden (wie das Beispiel IPN in Kiel zeigte, s.u.). Damit bleiben die Innovationen zum Untericht selbst relativ gering. Zugleich wird die Optimierung durch die starken Normierungen der Unterrichtsbedingungen und die hohe Gängelung des Lehrers („Erfüllungsknecht“) beeinträchtigt, ohne daß das am Ergebnis ablesbar wäre! Vergleichbar sind ja nur die Curricula unter sich, nicht Curricula mit „freiem“ Unterricht. Literatur: EULEFELD, G., G.SCHAEFER & K.DYLLA: Biologisches Gleichgewicht. Unterrichtseinheit für die Klassenstufen 6-8. IPN-Einheitenbank (Curriculum) Biologie, Lehrerheft. Aulis/ Deubner, Köln 1974. FREY, K.: Theorien des Curriculums. Beltz, Weinheim 1971. RODI, D. (Hrsg.): Biologie und curriculare Forschung. Beiträge aus Hochschulen und Schulen. Unterrichtshilfen Naturwissenschaften. Aulis/ Deubner, Köln 1975. WERNER, H.: Biologie in der Curriculum-Diskussion, Oldenbourg, München 1973 Lehrstuhl Prof.em. Dr. rer. nat. Eberhard G. SCHMIDT Universität Essen, FB 9: Grundvorlesung BIOLOGIEDIDAKTIK, Bearbeitungsstand vom 20.1.2001 Kap.6: Geschichte der Biologiedidaktik 6 — 54 6.11.2 Lernzieltaxonomien Zur Curriculum-Theorie gehört die Klassifikation von Lernzielen. Diese ist nicht spezifisch für die Biologie und daher ein Thema der Erziehungswissenschaften, hier sollen nur einige Anmerkungen eingebracht werden (vgl. Kap. 2.1). Die Zielbestimmung für den Biologieunterricht wurde vormals in der Regel als Bildungswert bezeichnet und schon immer diskutiert. Im Rahmen der Curriculumdiskussion wurden die Ziele stark formalisiert und strukturiert, sowohl nach den Zielebenen als auch nach den Zielkategorien (Zieltaxonomien) mit 3 Hauptkategorien, den kognitiven Zielen (Wissen), den psycho-motorischen Zielen (biologische Arbeitsweisen und entsprechende Fertigkeiten) und den affektiven Zielen, bei denen auch die sozialen Ziele einzuordnen sind). Nur die kognitiven Ziele eignen sich gut für die Lernerfolgskontrolle im Rahmen der üblichen Verfahren zur Evaluierung von Curricula, sie werden daher bei der Curriculum-Konstruktion bestimmend, ein deutliches Zeichen für die Einseitigkeit des Ansatzes (Kap. 2.2). Auch die Objektivierung der Zielfindung erwies sich als unmöglich. 6.11.3 Die Curriculum-Determinaten Hierunter werden die 3 Bereiche verstanden, aus denen sich (nach der Auffassung dieser Epoche) der Bildungswert des Schulfaches Biologie bestimmt (vgl. Kap. 2.2: Kriterien für die Stoffauswahl!): das Fach Biologie (Wissenschaftsrelevanz), der Bildungswert für den Schüler als späteren Bürger (Gesellschaftsrelevanz) und die aktuelle Bedeutung für den Schüler (Schülerrelevanz). Fach- oder Wissenschaftsrelevanz: Sie orientiert sich an den Anforderungen/ Belangen der Bezugwissenschaft (hier der Biologie), z.B.: Welches Wissen ist notwendig, damit wissenschaftlich/ biologische Aussagen sachgemäß verstanden und angewendet werden können? Hier geht es also vor allem darum, inwieweit die Fachsystematik und -struktur auf das Schulfach übertragen wird, auch um die fachliche Richtigkeit und Tragfähigkeit der Unterrichtsinhalte. Gesellschaftsrelevanz: Welche Qualifikationen (und Einstellungen) braucht der spätere Staatsbürger (nicht der künftige Biologiestudent!) gegenwärtig und voraussichtlich in absehbarer Zeit? Gemeint ist vor allem die Orientierung der Lehrinhalte und -ziele an den Erfordernissen des allgemeinen Berufs- und Alltagslebens und (z.B. politischer) Entscheidungsträger, die von Staats wegen in der Schule zu vermitteln sind (gelegentlich mißverstanden im Sinne von angewandter Biologie). Schülerrelevanz: Bedürfnisse und Interessen des Schülers: Was möchte und was braucht der Schüler jetzt? Hierher gehören auch die lern- und entwicklungspsychologischen Grundlagen der Erziehungs-wissenschaften, eine enge Beziehung besteht zu der affektiven Zieldimension. Anzuführen ist auch die Abstimmung von Stoffauswahl und -darbietung auf die Lernsituation des Schüler der jeweiligen Alters- und Leistungsgruppe, die Stärkung der Motivation und Lernbereitschaft zur Verwirklichung der Gesellschafts- und Fachrelevanz. Lehrstuhl Prof.em. Dr. rer. nat. Eberhard G. SCHMIDT Universität Essen, FB 9: Grundvorlesung BIOLOGIEDIDAKTIK, Bearbeitungsstand vom 20.1.2001 Kap.6: Geschichte der Biologiedidaktik 6 — 55 Ansich müßten aber auch die anderen Aspekte, die in dem „9-Fragen-Katalog“ der Aufgaben der Fachdidaktik zum Ausdruck kommen, zumindest als Nebenbedingungen berücksichtigt werden (vgl. Kap. 2). Eine Übersicht gibt Abb. ##: Struktur der Disziplin Begriffe Verfahren Einstellungen Fachrelevanz (Fachliche Aspekte) Grundphänomene des Lebendigen Biologische Arbeitstechniken bzw. deren Vorformen Objektive und/ oder subjektive Haltungstendenzen Gesellschaftsrelevanz (Sozialkundliche Aspekte) Soziale Bedingungen und Voraussetzungen Soziale Handlungsfähigkeiten Gesellschaftliche Mitverantwortung Schülerrelevanz (Kindbezogene Aspekte) Vorerfahrungen und Vorwissen Handelnde und offene Arbeitsformen Erlebnis- und Umweltbezug Curriculum-Determinanten Abb. ##: Relevanzgitter für biologische Ziele und Inhalte (nach Verfürth 1987: S. 32). EKR 1985 (S. 51) beschreiben die „Curriculum-Determinanten“ wie folgt: „Eine Aufgabe der Curriculumarbeit ist es, die notwendigen Entscheidungen bei der Auswahl von Unterrichtszielen und Unterrichtsinhalten möglichst weitgehend zu begründen und durch die Angabe von Grundsätzen durchsichtig zu machen. Allgemein werden drei Bereiche unterschieden, in denen derartige Entscheidungen für den Unterricht fallen: Wissenschaft, Gesellschaft und Schüler. Diese Aufzählung stammt von TYLER (1973) und wurde von zahlreichen angelsächsischen Curriculumprojekten übernommen (vgl. HUHSE 1968). In der Curriculumentwicklung des IPN wurden sie ebenfalls als Orientierungsgesichtspunkte verwendet und als unterrichtsbezogene Fragen formuliert: (1.) Bedürfnisse und Interessen des Schülers: Was möchte und was braucht der Schüler jetzt? (Schülerrelevanz), (2.) Anforderungen in der Gesellschaft: Welche Qualifikationen braucht der Staatsbürger gegenwärtig und wahrscheinlich in absehbarer Zeit? (Gesellschaftsrelevanz) (3.) Anforderungen der jeweiligen Bezugswissenschaften: Welches Wissen ist für den Schüler notwendig, damit wissenschftliche Aussagen sachgemäß verstanden und angewendet werden können? (Wissenschaftsrelevanz)“ Lehrstuhl Prof.em. Dr. rer. nat. Eberhard G. SCHMIDT Universität Essen, FB 9: Grundvorlesung BIOLOGIEDIDAKTIK, Bearbeitungsstand vom 20.1.2001 Kap.6: Geschichte der Biologiedidaktik 6 — 56 6.11.4 Lineare Strukturierungsprinzipien für den BU Unbeschadet der gewachsenen Einsicht in die Komplexität biologischer Systeme (insbesondere von Ökosystemen) gab es in den 70er Jahren Bemühungen, den Biologieunterricht nach nur einem Prinzip zu strukturieren, aber die verschiedenen Ansätze neben einander zu stellen (Abb.###; vgl. KATTMANN & ISENSEE 1975). Strukturierungsformen des Biologieunterrichts Grundformen: Ansätze: (mit einem Vertreter) Anthropologische Konzepte Humanzentrierter Ansatz (KATTMANN 1977) Ökologische Konzepte Fachübergreifender Ansatz (EULEFELD u. a. 1981) Systemtheoretische Konzepte Systemtheoretisches Konzept (BAYRHUBER ²1977) Situationsbezogene Konzepte Situationsanalytischer Ansatz (BOJUNGA 1978) Wissenschaftsstrukturierte Konzepte Prozeßorientierter Ansatz (MARQUARDT ²1977) ÖkosystemKonzept (ZACHARIAS 1978) Ethologischer Ansatz (MEMMERT ²1977) Evolutionsökologischer Ansatz (WAHLERT ²1977) Biokybernetischer Ansatz (SCHAEFER 1978) Situativ-anwendungsbezogener Ansatz (DRUTJONS 1982) Kritischer Ansatz (EWERS 1979) Abb. ##: Lineare Strukturierungsansätze für den BU in der S I. (aus: VERFÜRTH 1978: 27) Nach EKR (1985, S. 118) ergeben sich die folgenden Anforderungen an Strukturierungsansätze: - Der Strukturierungsansatz ermöglicht die Beurteilung von biologischen Inhalten für den Schulunterricht. Er gibt also Gesichtspunkte, Kriterien und Auswahlrichtlinien an. - Der Strukturierungsansatz schafft die Verbindung der einzelnen Themenbereiche im Curriculum. Er stiftet das zusammenhängende Verständnis bzw. die verschiedenen Interpretationszusammenhänge. Der Strukturierungsansatz vermeidet somit die bloße Summierung von Einzelaspekten zu einem Curriculum. - Der Strukturierungsansatz muß die Kraft haben, biologische Fachinhalte und andere Informationen (z. B. soziale Fragen, Geschichte oder Verhaltensprobleme von Schülern) zu sinnvollen Unterrichtsinhalten zu vereinen. In der gleichen Weise muß er z. B. in der Lage sein, eine Unterrichtsstunde oder -einheit so aufzubauen, daß dabei die fachimmanenten Strukturen von Teilbereichen der Biologie hinsichtlich allgemeiner Ziele des Unterrichts organisiert werden. - Ein Strukturierungsansatz besitzt eine solche Nähe zu biologischen Erkenntnissen und Methoden, daß die tatsächlichen Angebote der Naturwissenschaft Biologie erschlossen und für den Untericht genutzt werden können. Lehrstuhl Prof.em. Dr. rer. nat. Eberhard G. SCHMIDT Universität Essen, FB 9: Grundvorlesung BIOLOGIEDIDAKTIK, Bearbeitungsstand vom 20.1.2001 Kap.6: Geschichte der Biologiedidaktik 6 — 57 - Der Strukturierungsansatz erlaubt eine Berücksichtigung a) der Struktur und der Fachwissenschaft Biologie, b) der Interessen der Schüler, c) der gegenwärtigen gesellschaftlichen Lage Mit dem „humanzentrierten Ansatz“ lebte dabei die utiliaristische Biologie von 1800 wieder auf, der „evolutions-ökologische Ansatz“ betonte die Geschichtlichkeit des Lebendigen, auch die Dynamik lebender Systeme. Wäre es zu einer Einigung auf ein Prinzip gekommen, hätte sich die Stoffauswahl bei der Curiculum-Konstruktion in der Tat besser objektivieren lassen, wäre aber einseitig geworden. Das Bestreben, die Inhalte des Biologieunterrichtes nach einem durchgängigen Prinzip zu strukturieren, ist zwar intellektuell faszinierend, aber Ausdruck eines abstrakt/typologisch/-reduktionistischen Denkens in deterministischen Systemen. Dieses wird der real synergetisch-komplexten Struktur sowohl des Lebendigen und ihren vielfältigen Erforschungsansätzen als auch der entsprechenden Struktur des Biologieunterrichts und der Biologiedidaktik nicht gerecht. Von einander unabhängig sind allein schon die Ebene der funktionellen Fragestellungen (wie Physiologie und Ökologie) und die historische Dimension ("Geschichtlichkeit") des Lebendigen. Insgesamt erschient diese sehr akademische Diskussion am grünen Tisch daher wie eine Flucht vor dem Kompromiß mit der realen Pluralität. Im Gefolge dieser Diskussionen (vor allem am IPN in Kiel) in den 70er Jahren versuchte dann SCHAEFER (1990, zu der Zeit Leiter der Abt. Biologie am IPN) einen synthetischen Ansatz nach 12 „universellen Lebensprinzipien“ in der Form von Begriffspaaren: 1. Polarität, genauer aktive Polaritätsüberwindung bzw. -integration 2. Verwandlung / Fixierung 3. Ordnung / Unordnung 4. Selbständigkeit / Abhängigkeit, d.h. das Autonomieprinzip 5. Grenzöffnung / -schließung, d.h. das Begrenzungsprinzip 6. Ver- / Entflechtung, d.h. das Komplexitätsprinzip 7. Variabilität / Uniformität, d.h. das Variabilitätprinzip 8. Anpassung / Beharrung, d.h. das Adaptationsprinzip 9. Auf- / Abwertung, d.h. das Bewertungprinzip 10. Bewegung / Ruhe, d.h. das Bewegungprinzip 11. Bedeutungsbildung / -abbau, d.h. das semantische Prinzip 12. Informationsspeicherung / -löschung, d.h. das Reproduktionsprinzip. Diese Prinzipien erinnern an die „Gesetze“ JUNGE's oder die „Kennzeichen des Lebendigen“ und sind eher Hintergrund als Ordnungskriterium für Richtlinien (aller Art). Literatur: KATTMANN, U. & W.ISENSEE (Hrsg.): Strukturen des Biologieunterichts. Bericht über das 6. IPN-Symposium 1974. Aulis/ Deubner, Köln 1975. SCHAEFER, G.: Die Entwicklung von Lehrplänen für den Biologieunterricht auf der Grundlage universeller Lebensprinzipien, MNU 43: 471-480 (1990). VERFÜRTH, M.: Kompendium Didaktik Biologie. Eine Biologiedidaktik für naturnahen Unterricht von der Vorschule bis zur Sekundarstufe II. Ehrenwirth, München 1987. Lehrstuhl Prof.em. Dr. rer. nat. Eberhard G. SCHMIDT Universität Essen, FB 9: Grundvorlesung BIOLOGIEDIDAKTIK, Bearbeitungsstand vom 20.1.2001 Kap.6: Geschichte der Biologiedidaktik 6 — 58 6.11.5 Das Spiralmodell Eine andere Idee zur inhaltlichen Strukturierung von Curricula über die Jahrgangsstufen hinweg war die Betonung der schrittweisen Vertiefung bestimmter Fragestellungen von Jahrgangsstufe zu Jahrgangsstufe. Dieses (an sich altbekannte Phänomen) wurde mit dem Begriff „Spiralmodell“ belegt (vgl. Kap. 4.4.6, dort war auch das nachstehende Beispiel etwas verändert eingebracht worden) Beispiel für ein Spiral-Curriculum zum Thema Ökologie (Ökosystem Teich/See): Grundschule: Erleben und Be-„handeln“ von Pflanzen und Tieren im ökologischen Bezug (wie Schwertlilie und Seerose, Goldfisch und Libelle am Gartenteich) Orientierungsstufe: Pflanzen und Tiere als Organismen, die an ihre Umwelt angepaßt sind (z.B. für ein Gewässer): Fischotter/ Biber/ Bisam; Rohrsänger (Kuckuck), Teich-/ Bläßralle, Schwan/ Stock-/ Reiherente, Haubentaucher; Plötze/ Karpfen/ Bitterling/ Barsch/ Hecht als Wasser-Wirbeltiere am See (zur Methodik vgl. JUNGE 1885/ 1995). Sekundarstufe I: Eingangsklassen Ergänzung durch Wirbellose, Protozoen und Algen; einfache Zweierbeziehungen (über Räuber-Beute hinaus), am Wasser z.B. der Brutparasitismus des Kuckucks; bei der Teichmuschel der Schutzraum für Bitterlingsbrut, der Parasitismus mit Ferntransport ihrer Larven an Fischen, die Ausrottung durch den Bisam im Winter. Jahrgangsstufe 9/10: Ökosystem Stadtparkteich mit einfachem Beziehungsgefüge Studienstufe: Vertiefte, systemtheoretisch fundierte Ökosystemanalyse eines komplexen Systems und seiner vielfältigen Veränderungen durch den Menschen (zum Bach vgl. FEY 1993, 1996, zum See SCHMIDT 1995, 1996; vgl. auch: DYLLA 1977, KÖHLER & KLAUTKE 1990. Literatur: DYLLA, K.: Ansätze zu einem Spiralcurriculum Verhaltenslehre (Primarstufe - S I), entwickelt im Rahmen des Modellversuchs Regionale Lehrerfortbildung - Hessen. MNU 30: 15-23 (1977). FEY, M.: Der Stadtbach im Ökologieunterricht der Oberstufe. Verh.GfÖ. 22: 359-364 (1993). FEY, M.: Biologie am Bach. Praktische Limnologie für Schule und Naturschutz. Biologische Arbeitsbücher 48, Quelle & Meyer, Wiesbaden 1996. JUNGE, F.: Der Dorfteich als Lebensgemeinschaft. Lipsius & Tischer, Kiel, 1885. Nachdruck (der 3. Aufl. von 1907) mit Vorwort/ Einführung von JANßEN, W, W.RIEDEL & G.TROMMER. Lühr & Dircks, St. PeterOrding 1985. KÖHLER, K & S.KLAUTKE: Projekt Kompostierung – ein experimenteller, handlungsorientierter Ansatz zur Umwelterziehung. S. 311-314 in KILLERMANN & STAECK (Hrsg.): Methoden des BU. Tagung der Sektion Fachdidaktik im VdBiol in Herrsching 1989. Aulis/ Deubner, Köln 1990. SCHMIDT, E. (unter Mitarbeit von ESCHENHAGEN, D.): III Ökosysteme. 4. Binnengewässer. S. 170-215 in: ESCHENHAGEN, KATTMANN & RODI (Hrsg.): Handbuch des Biologieunterrichts S I, Band 8, Umwelt (gesondert auch als „Umwelt im Unterricht“). Aulis/ Deubner, Köln 1991. SCHMIDT, E.: Ganzheitliche Ökosystemanalyse für den Anwender und Lehrer. S. 466-489 in EULEFELD & JARITZ (HRSG.): Umwelterziehung/ Umweltbildung in Forschung, Lehre und Studium. IPN-Symposium in der PH Erfurt/ Mühlhausen vom 4.-7.10.1994. IPN, Kiel 1995. SCHMIDT, E.: Ökosystem See. Bd. I: Der Uferbereich des Sees. Biologische Arbeitsbücher 12.1. Quelle & Meyer, Wiesbaden 1974, 5. Aufl. 1996. Lehrstuhl Prof.em. Dr. rer. nat. Eberhard G. SCHMIDT Universität Essen, FB 9: Grundvorlesung BIOLOGIEDIDAKTIK, Bearbeitungsstand vom 20.1.2001 Kap.6: Geschichte der Biologiedidaktik 6 — 59 6.11.6 Die Operationalisierung von Lernzielen und ihre Folgen Den Anspruch der Wissenschaftlichkeit bestimmten die Normen der gerade aufblühenden (in den USA bereits etablierten) Testpsychologie. Die Form der Tests mußte dabei die Testpsychologen kontrollieren, sie aber konnten nicht die Validität, d. h. die Konformität mit den Zielsetzungen garantieren. die war von dem von dem Didaktiker zu sichern. Dafür waren bereits die Lernziele in Form von abfragbaren Aufgaben, als operationalisierte Lernziele zu formulieren (vgl. Kap. 2.2). Die Testpsychologen bestimmten dann nach ihren Regeln die Auswahlkriterien und die Auswahl für Vortest, Test und Behaltenstest. Sie forderten auch die statistische Absicherung, also eine hinreichend hohe Zahl von Schülern (mindestens 1000, d. h. etwa 30-35 Klassen in der S I). Das wiederum bedingte die Computerauswertung und damit die computergerechte Testgestaltung (Auswahlantwortverfahren/ multiple choice). Überdies mußte der Unterricht für die 30-35 Klassen so normiert werden, daß die Vergleichbarkeit gesichert war. Der Unterricht war dementsprechend spezifiziert vorzugeben und mit genormten Materialien auszustatten (Zu grundsätzlichen Fragen der Evaluierung vgl. Kap. 2.4.3). Die Operationalisierung ist bei einfachen Wissens- und Sachfragen zwar mühsam, aber relativ einfach, Verständnisfragen und nicht-kognitive (insbesondere affektive) Ziele sind jedoch schwer in eine operationalisierte Form zu bringen und damit computergerecht abzufragen. Mit dem Training im Operationalisieren werden letztere immer mehr reduziert und treten daher bei der Curriculum-Entwicklung in den Hintergrund (Tab. ##): 6.11.7 Zusammenfassende Würdigung Die Curriculum-Theorie und -konstruktionen haben die Fachdidaktiken für die Erfordernisse der differenzierten Lernzielformulierungen sensibilisiert, den Gedanken der Unterrichtsoptimierung vorangebracht. Sie machten also den Charakter der Fachdidaktik als eine Form angewandter Wissenschaft und ihre Brückenfunktion zwischen dem Fach und den Erziehungswissenschaften deutlich. Der Bezugspunkt Unterrichtspraxis ist damit auch stärker als bei den akademisch orientierten Erziehungswissenschaften. Der Stellenwert des Lernerfolges ist jedoch in der Praxis weniger bedeutsam, Evaluation ist hier mehr auf die Schülerbenotung ausgerichtet. Die Erfordernisse der Testtheorie bedingen die Normierung des Unterrichts (Primat der statistischen Sicherung!). Das ist jedoch dem didaktischen Prinzip der bestmöglichen Anpassung an die individuelle Unterrichtssituation diametral entgegen gesetzt. Sie widersprechen damit zugleich dem Grundsatz akademischer Berufspraxis: Die akademische Ausbildung soll ja den Praktiker dazu befähigen, die komplexe, nicht von einfachen Regeln erfaßbare individuelle Situation angemessen zu erkennen, zu bewerten und zu behandeln (individuelle Diagnose und Therapie). Das gilt für den Patienten des Mediziners gleichermaßen wie für den Klienten des Rechtsanwaltes oder den Delinquenten vor dem Richter, hier für die Unterrichtsstunde des Lehrers. Das erklärt Lehrstuhl Prof.em. Dr. rer. nat. Eberhard G. SCHMIDT Universität Essen, FB 9: Grundvorlesung BIOLOGIEDIDAKTIK, Bearbeitungsstand vom 20.1.2001 Kap.6: Geschichte der Biologiedidaktik 6 — 60 die geringe praktische Resonanz der verfügbaren Biologie-Curricula (s.u.) bei den Fachlehrern. Lehrstuhl Prof.em. Dr. rer. nat. Eberhard G. SCHMIDT Universität Essen, FB 9: Grundvorlesung BIOLOGIEDIDAKTIK, Bearbeitungsstand vom 20.1.2001 Kap.6: Geschichte der Biologiedidaktik 6 — 61 Sachlich unerklärlich ist die Forderung mancher Studienseminare (und verschiedener fachdidaktischen Publikationen) nach operationalisierten Lernzielkatalogen für Lehrproben (also für eine individuelle Unterrichtssituation) im vergangenen Jahrzehnt : viele wertvolle Arbeitskraft wurde so verschwendet! Die empirische Arbeit in Form von statistischen Erhebungen hat im Gefolge der Curriculum-Euphorie auch in der Biologiedidaktik einen hohen Stellenwert erhalten. Dazu zählen Lernerfolgsanalysen biologischer Arbeitsweisen und des Medieneinsatzes, Interessen- und Motivationserhebungen oder der Umfang von Freiland- oder Experimentalunterricht. Dabei ist oftmals die testtheoretische Basis ungenügend, insbesondere die Validität unzureichend gesichert. So sind diese Untersuchungen im Einzelfall kritisch zu hinterfragen. 6.11.8 Curriculum-Beispiele Die Entwicklung von Curricula ist außerordentlich aufwendig und damit an besondere Institutionen gebunden. Vorbild waren Curricula zur Reform des Biologieunterrichts in den USA und in Großbritannien (BSCS 1963 bzw. NUFFIELD Biology 1970, vgl. MOSTLER u.a. 1975, WERNER 1973 sowie PALM ##). In Deutschland hat das Institut für die Pädagogik der Naturwissenschaften in Kiel (IPN, vgl. Kap. 1.4) zahlreiche Curricula für den naturwissenschaftlichen Unterricht in der S I entwickelt (z.B. EULEFELD u.a. 1974, KATTMANN & STANGE-STICH 1974). Die Einführung zu diesen IPN-Curricula gibt einen instruktiven Überblick zur Curriculum Idee (zur Übersicht der dortigen Lernziele für ein Curriculum vgl. Kap. 2.2.2). Literatur BSCS: Biological Sciences Curriculum Study, ### 3.Aufl. 1963. EULEFELD, G., G.SCHAEFER & K.DYLLA: Biologisches Gleichgewicht. Unterrichtseinheit für die Klassenstufen 6-8. IPN-Einheitenbank (Curriculum) Biologie, Lehrerheft. Aulis/ Deubner, Köln 1974. KATTMANN, U. & S.STANGE-STICH: DER Mensch und DIE Tiere. Unterrichtseinheit für die Oreintierungsstufe (Klassenstufe 5 & 6). IPN-Einheitenbank (Curriculum) Biologie, Lehrerheft. Aulis/ Deubner, Köln 1974. MOSTLER, G., D.KRUMWIEDE & G.MEYER: Methodik und Didaktik des Biologieunterrichts. Quelle & Meyer, Heidelberg 1975. NUFFIELD: Advanced Science, Biological Science. Study Guide: Evidence and Deduction in Biological Science. Penguin, Harmondsworth 1970. PALM, W.: Nuffield und wir? MNU 24: 492-499 (###). WERNER, H.: Biologie in der Curriculum-Diskussion, Oldenbourg, München 1973 Lehrstuhl Prof.em. Dr. rer. nat. Eberhard G. SCHMIDT Universität Essen, FB 9: Grundvorlesung BIOLOGIEDIDAKTIK, Bearbeitungsstand vom 20.1.2001 Kap.6: Geschichte der Biologiedidaktik 6 — 62 6.11.9 Kurzkennzeichnung der Reformbewegung der 70er Jahre: Curriculare Epoche Zeitströmung: Emanzipationsbewegung, Freigabe der Sexualität, „Wirtschaftswunder“ mit Maximierung der Umweltbelastung Ressourcenverschwendung. und Sachlage in der Biologie: Höhepunkt der („LORENZ-“) Ethologie, Auftrieb für die (Syn-) Ökologie Forschungsschwerpunkt Molekularbiologie. Didaktische Tendenz: Curriculares Denken (i.w.S.) Konz.: Allgemeine Biologie als Strukturierungsprinzip auch in der S I & Grundschule (Stichwort: Problemorientierter Unterricht nach den Kennzeichen des Lebendigen) Stoff: Ausmerzen der Artmonographien (Untergang des „SCHMEIL“) Ausweitung von Ethologie, Ökologie & Umweltschutz, Molekularbiologie; starke Erweiterung und Vorverlegung der Humanbiologie, insbesondere der Sexualität des Menschen (z.B. Eizelle und damit Zellenlehre in Klasse 5), Arbw.: Ausweitung des Einsatzes von Medien zu Lasten der Arbeit am Objekt und im Gelände, Med.: Film, Folien & Arbeitsbögen, Modelle Meth.: Curriculum-Idee; detaillierte Lernzielkataloge (z.B. bei Lehrproben) Einst.: Wecken des Umweltbewußtseins und der Handlungsbereitschaft (sofern der eigene Freiraum [z.B. Elektronik, Auto/ Moped] nicht tangiert wird) 6.12 Aktuelle Tendenzen Auf den idealistisch-weltfremden Umbruch der 60er/70er Jahre folgte eine Periode der Stagnation. Ihre Realitäts-Schwächen wurden wohl ± deutlich wahrgenommen und eher dezent ausgeglichen, eine deutlich faßbare „Gegenbewegung“ oder proklamatorische Alternative gab es jedoch nicht. Viele Didaktiker bemühten und bemühen sich (wie wir) um eine Verbesserung/ Optimierung in ausgewählten Teilgebieten, geben das aber nicht als „Aufbruch zu neuen Ufern“ aus. Selbst die „Didaktische Rekonstruktion“ als TheorieKonzept für die Umsetzung vom Fach Biologie in das Schulfach Biologie hat nicht den deklamatorischen Stellenwert wie die Henningsche kladistische Theorie der Phylogenetischen Systematik, obwohl die Didaktische Rekonstruktion in ähnlicher Weise wie die Phylogentische Systematik ein bislang schon praktiziertes Paradigma (hier bei Lehrstuhl Prof.em. Dr. rer. nat. Eberhard G. SCHMIDT Universität Essen, FB 9: Grundvorlesung BIOLOGIEDIDAKTIK, Bearbeitungsstand vom 20.1.2001 Kap.6: Geschichte der Biologiedidaktik 6 — 63 der Phylogenetischen Systematik die Rekonstruktion von Phylogenie/ natuürliche Verwandtschaft aus rezenten Formen) formgerecht gefaßt hat. Lehrstuhl Prof.em. Dr. rer. nat. Eberhard G. SCHMIDT Universität Essen, FB 9: Grundvorlesung BIOLOGIEDIDAKTIK, Bearbeitungsstand vom 20.1.2001 Kap.6: Geschichte der Biologiedidaktik 6 — 64 Für die Biologiedidaktik im Studium ist die Bedeutung wohl an den Prüfungsordnungen abzulesen, die Umsetzung in den Stellenplänen und Einrichtungen, damit die Realisierung im Lehr- und Prüfungskanon bleibt jedoch vielerorts widersprüchlich und unzureichend. Von der 2. Phase wird das auch nicht angemahnt. Ein Zeichen sind auch die Prioritäten bei den Forschungsschwerpunkten. Die für die Schulpraxis bitter nötige Optimierung der Didaktischen Rekonstruktion an ausgewählten aktuellen Kursthemen wird wegen der von der Sache her problematischen Evaluierungsmöglichkeiten diskriminiert, die für die Praxis und das Theorieverständnis weniger bedeutsame „emprische Unterrichtsforschung“, die sich maßgeblich auf die Instrumente (und deren wissenschaftliche Reputation) stützt (wie schon beim IPN Kiel in den 60er Jahren), wird eher als wissenschaftlich anerkannt. Damit können auch Drittmittel eingeworben werden, während für didaktische Rekonstruktionen keine außeruniversitären Geldtöpfe bereit stehen. Insgesamt zeichnet sich ein Trend zu höheren Leistungsanforderungen und Bildungsansprüchen (im Sinne von Verständnis von Zusammenhängen) durch die Gesellschaft an die Schulen ab mit entsprechenden Forderungen an die Lehrerausbildung. Praxisbezug und entsprechend qulifizierte Ausbildung (mit dem entsprechenden Theorie-Hintergrund) gewinnen damit an Gewicht in der öffentlichen Diskussion. Konsequenzen für die Schulorganisation und die Lehrerausbildung sind aber erst in einzelnen Kultusministerien (z.B. in Baden-Württemberg, noch nicht in NRW!) ansatzweise zu erkennen. Ein Umdenken scheint sich so anzubahnen. Zeitströmung: Bewußtsein der Umweltkrise, des Verfalls der Werte/Ideen der 70er Jahre, der Theorielastigkeit von Schule und Studium; Ökologiebewegung. Sachlage Biologie: Dominanz der molekularen Ebene bei extremer Spezialisierung, damit Verlust der großen Zusammenhänge und der Schulnähe; Untergang der etablierten Systematik (aber Theorie der Phylogenetischen Systematik); Auftrieb für die Angewandte Ökologie. Aktuelle Herausforderung: Synergetische Systemeinsicht („Chaos“-Theorie); Umweltkrise. Didaktische Tendenzen: Innovationen zur Ökologie/Umwelterziehung, besonders im affektiv/ emotionalen Bereich („Natur erleben mit allen Sinnen“) und zu Symptomen (wie Pestizide, Waldsterben, Klimakatastrophe), Bemühen um eine Umweltethik und um umweltgerechtes Verhalten. Hygiene (Herausforderungen wie Aids, BSE). Angewandte Biologie (wie Bio-/ Gentechnologie).