02 Ziele BU - bei DuEPublico

Werbung
Lehrstuhl Prof.em. Dr. rer. nat. Eberhard G. SCHMIDT Universität Essen, FB 9:
Grundvorlesung BIOLOGIEDIDAKTIK, Bearbeitungsstand vom 20.1.2001
Kap. 2, Ziele BU
2— 1
2
Ziele des Biologieunterrichts
2.1 Begriff und Taxonomien
2.1.1 Unterrichtsziele als die Axiome des (Biologie-) Unterrichts
Die Schule ist eine Bildungseinrichtung mit staatlich fixiertem Bildungsauftrag. Er ist
in den Zielsetzungen festgelegt. Diese Ziele lassen sich nicht objektiv herleiten,
sondern sind Vorgaben, so wie die Axiome in der Mathematik (als gesetzte
Grundannahmen, aus denen nach den Regeln des logischen Schließens das Gefüge
der mathematischen Sätze und Aussagen abgeleitet werden). Eine der wesentlichen
Aufgaben der didaktischen Diskussion ist es, die jeweils vorgegebenen Ziele zu
aktualisieren, somit zu hinterfragen, zu ergänzen oder zu modifizieren (vgl. STAECK
1979).
Der Bildungsauftrag der Schule umfaßt dabei nicht nur Fragen der Inhalte, ihrer
Auswahl und Anordnung, sondern auch die Formen der Erkenntnisgewinnung und
die Unterrichts-Prinzipien. Bildung bedeutet im Kern Verständnis und Verstehen von
Zusammenhängen, das Bedenken der Vernetzungen bei Eingriffen an einer Stelle und
ihrer Auswirkung an ganz anderer Stelle, das Abwägen und Gewichten
konkurrierender Vorstellungen. Bildung ist damit das Gegenteil von Faktenwissen,
muß aber am konkreten Beispiel erfahren werden.
Dieser Bildungsauftrag der Schule ist auch mit dem Erziehungsauftrag verzahnt.
Dabei geht es im Kern um die soziale Verantwortung des Menschen und um den
Aspekt der Nachhaltigkeit. Es sollen die Einstellungen/ Geisteshaltungen,
Wertevorstellung (Ethik) und ihre Umsetzung in Handlungen (Moral), die in einem
freiheitlich-demokratisch/ liberalen (pluralistisch-toleranten) Gemeinwesen (von der
Familie bis zum Staat) für das geordnete Zusammenleben unerläßlich sind, den
Schülern als Grundwerte vermittelt, gestärkt und gefestigt werden. Dabei geht es vor
allem um Verantwortung für die Folgen des eigenen Wollens und Tuns, also um
Mündigkeit, und damit um Einschränkungen des vordergründigen Egoismus
(Lustmaximierung/ Vorteilnahme zu Lasten anderer) zugunsten der Nachhaltigkeit
und des Gemeinsinns.
Das wurde klassisch in dem lateinischen Spruch zusammengefaßt:
Quidquid agis, prudenter agas et respice finem!
Das heißt:
Was auch immer Du tust, handle weise und bedenke die Folgen!
Das entspricht dem KANT’schen Kategorischen Imperativ (als absolute Forderung
der Vernunft in der „Praktischen Philosophie“ [= Ethik], 1785, 1788; KANT 1724-1804,
Transzendental-Philosoph aus und in Königsberg, Professor seit 1770):
„Handle so, daß die Maxime deines Willens jederzeit zugleich als Prinzip einer
allgemeinen Gesetzgebung gelten können“
Kinder lernen das (vereinfacht) mit dem Spruch:
„Was du nicht willst, daß man dir tu, das füg‘ auch keinem andern zu!“
Lehrstuhl Prof.em. Dr. rer. nat. Eberhard G. SCHMIDT Universität Essen, FB 9:
Grundvorlesung BIOLOGIEDIDAKTIK, Bearbeitungsstand vom 20.1.2001
Kap. 2, Ziele BU
2— 2
Hinzu kommen das Menschenbild und das naturwissenschaftliche (hier biologische)
Weltbild, die erkenntnistheoretische Diskussion der naturwissenschaftlichen
Aussagen unter Achtung der Glaubensfreiheit (bzw. der Freiheit zum Atheismus).
Bildung ist also auf den Erwachsenen, auf später gerichtet, muß aber dem Schüler als
Kind und Jugendlichem, als Heranwachsendem, also in einem Lebensabschnitt
vermittelt werden, in dem der Bildungswert noch nicht (voll) verständlich ist. Bildung
muß daher immer auch altersgerecht vermittelt werden. Im Skript wird dabei vom
Bezug auf den „Adressaten“ gesprochen, da nicht nur die Altersstufe, sondern auch
die Schulart zu berücksichtigen ist. Diese Prinzipien der adressaten-gerechten
Vermittlung sind mit dem Bildungsauftrag verzahnt und unterliegen ebenfalls
axiomatischen Zielvorstellungen. Beide werden daher nicht strikt getrennt.
Für eine Reihe von Zielen (wie dem Primat der Originalerfahrung im
Biologieunterricht) hat sich mit der Zeit (Kap. 6) ein Konsens ergeben, andere stehen
im Kontext des Zeitgeistes oder der politischen Meinungsbildung. Dafür ist zu
sensibilisieren.
Die Grundsätze der Bildungsziele und des Erziehungsauftrages werden mit diesem Skript in
diesem Kapitel „Ziele“ als Leit- oder Richtziele zusammengefaßt und somit vorangestellt (nicht mehr in
unterschiedliche Sachkapitel integriert). Diese Ziele gelten z.T. fächerübergreifend, z.T. sind sie
spezifisch für den Biologieunterricht.
Nach Klärung des Begriffes „Unterrichtsziele“ und der Ziel-Taxonomien sowie der Problematik
„operationalisierter Unterrichtsziele werden die Richtlinien NRW als staatliche Vorgabe für die Lehrer
des Landes herausgestellt, dann eine Reihe allgemeiner Leitziele des Biologieunterrichtes in
Deutschland spezifiziert.
Literatur:
STAECK, L. (Hrsg.): Texte zur Didaktik der Biologie. Erziehung & Didaktik. Westermann, Braunschweig
1979.
2.1.2 Zum Begriff Unterrichtsziele
Die Unterscheidung in Lehrziele und in Lernziele differenziert nach den Positionen von
Lehrer und Schüler. Es sind zwei Seiten derselben Medaille. Hier wird daher auf die
Unterscheidung von Lehr- & Lernzielen nicht näher eingegangen, vielmehr wird (in
Anlehnung an EKR 1996, S. 172) der Begriff Unterrichtsziel als Oberbegriff für alle
Typen, Kategorien und Dimensionen von Zielen im BU verwendet.
(Anm.: Dieses MS ist noch nicht auf die einheitliche Anwendung der Begriffe hin überprüft worden!).
Beispiele für Lehrziele (auf Leitziel-Ebene) sind:
 Förderung der Kommunikationsfähigkeit, der Sozialisation
Gruppenarbeit).
 Konzentration auf das Prinzipielle an ausgewählten Beispielen (als
Methodenlernen oder nach den Kennzeichen des Lebendigen).
(z.B.
in
Lehrstuhl Prof.em. Dr. rer. nat. Eberhard G. SCHMIDT Universität Essen, FB 9:
Grundvorlesung BIOLOGIEDIDAKTIK, Bearbeitungsstand vom 20.1.2001
Kap. 2, Ziele BU
2— 3
oder (verändert nach SCHAEFER 1972, S.5/6):
 Aktualität des Stoffes: Aufbereitung der gegenwärtigen biologischen
Informationsflut und Vorbereitung auf eine Zukunft wachsender biotechnischer
Probleme.
 Komplexität des Denkens: Übung im Umgang mit Lebewesen als hochkomplexen
Systemem, deren Verhalten sich von dem einfacher mechanischer Systeme meist
erheblich unterscheidet
 Formensehen: Öffnung des Blickes für biologische Gestalten und Strukturen.
Natur „Sehen lernen“ als wirksames Training für eine empirische Grundhaltung.
 Objektivität: Saubere Trennung von naturwissen-schaftlich-objektivem und
erlebnismäßig-subjektivem „Verstehens“ von Lebewesen/Natur mit situationsgerechter Anwendung der beiden Blickrichtungen (bei SCHAEFER: Methodenbewußtsein:

Kenntnis der kalkülisierenden und der introspektiven (hermeneutischen) Art des
„Verstehens“ von Lebewesen; saubere Trennung und situationsgerechte Anwendung der
beiden Methoden), ferner kritische Trennung von kausaler und finaler Begründung
Fächerintegration: Biologie als „Konvergenzfach“ mit notwendig
fächerverbindender Betrachtung am gemeinsamen Objekt (z.B. der Mensch) und
mit gemeinsamen Begriffen (z.B. Energie, Information).
Literatur:
SCHAEFER, G.: Kybernetik & Biologie. Metzler, Stuttgart 1972.
2.1.3 Gliederung nach Zielebenen
 Leitziele: Sie repräsentieren die oberste Zielebene und umfassen die gesamte
Erziehung/Schulbildung. Sie werden auch Funktionsziele, allgemeine oder
Globalziele genannt.
Die klassischen Bildungsziele gehören auch hierher, z.B.:
 Der für Beruf und Gesellschaft gebildete, selbständig denkende und handelnde
Mensch;
 Erziehung zum Verantwortungsbewußtsein (heute oft mißverständlich „Erziehung
zur Mündigkeit“ genannt, Mündigkeit ist aber nur das Einstehen für das eigene
Tun, auch wenn es unverantwortlich ist);
 Erziehung zum Demokraten,
 Erziehung zum naturwissenschaftlichen Denken (Kap. 2.4).
 Richtziele: umfassen breite Lerngebiete (z.B. die Humanbiologie in der S I),
 Grobziele: umfassen Teilthemen (z.B. die Verdauung des Menschen),
 Feinziele: sie beziehen sich auf einzelne Lernschritte (z.B. die Funktion des
Magens).
Eine genaue Ranghöhe der Zielebenen ist jedoch allgemein nicht festzulegen
oder abzugrenzen, sie kann nur an einem konkreten Beispiel (hier für die Richt- bis
Feinziel-Ebene nach Fakten aus der Humanbiologie) angegeben werden.
Lehrstuhl Prof.em. Dr. rer. nat. Eberhard G. SCHMIDT Universität Essen, FB 9:
Grundvorlesung BIOLOGIEDIDAKTIK, Bearbeitungsstand vom 20.1.2001
Kap. 2, Ziele BU
2— 4
Leitziele können mehr die kognitive, die psycho-motorische oder die affektiv/soziale
Dimension betreffen. Eine Reihe von Leitzielen werden am Ende dieses Kapitels
ausgeführt. Hier werden einige Beispiele in Form der Prinzipien des
Biologieunterrichts bzw. von Bildungszielen aufgezählt:
 Ethik des naturwissenschaftlichen Arbeitens
 Vermeiden von Sachfehlern bei der didaktischen Reduktion
 Individuelle Optimierung des Unterrichts
 Anknüpfen an der Erfahrungswelt der Adressaten (Schüler)
 Ausgang vom Anschaulichen
 Primat der Erfahrung (der Beobachtung, des Untersuchens, des Experiments)
 Anleitung zum selbständigen Arbeiten
 Das ganzheitlich/inklusive Denken in Zusammenhängen
 Das Prinzip des Exemplarischen
 Transfer auf den Alltag, Einordnen in größere Zusammenhänge
 Kritisches Hinterfragen der Ergebnisse und Deutungen
 Die staatsbürgerliche Bildung/Erziehung
 Der fächerübergreifend orientierte Biologie-Unterricht
 Die Erziehung zur Verantwortung für
 den eigenen Körper (Gesundheit)
 den Partner und werdendes Leben (Sexualität)
 die intakte Umwelt
2.1.4 Ziel-Taxonomien
Taxonomie bedeutet Klassifikation. Im engeren Sinne ist die Gliederung der
Unterrichtsziele in 3 Kategorien oder Dimensionen und deren Untergliederungen
gemeint.
Schon PESTALOZZI (*1746 in Zürich, †1827) sah in der Erziehung und dem Lernen
drei Kräfte zusammenwirken (vgl. BLÄTTNER 1966):
 die Kraft des Kopfes („Kopf“: Wissen, intellektuelle Bildung),
 die Kraft des Körpers („Hand“: Können, physisch-handwerkliche Bildung),
 die Kraft des Herzens („Herz“: Wollen, religiös/ sittliche Bildung).
Diese 3 Kategorien wurden mit der Curriculum-Diskussion (der 60eer/ 70er Jahre,
vgl. Kap. 6) aufgegriffen und (dem Zeitgeist entsprechend) wissenschaftlich
formalisiert. Sie haben unter dem Aspekt der „Lernzieltaxonomie“, d.h. der
Klassifikation der Unterrichtsziele nach Dimensionen (z.B. nach BLOOM et al. 1972,
vgl. EKR 1996, S.172 ff., MAGER 1965), einen besonderen Stellenwert erhalten (zur
Konkretisierung vgl. Tab. ##).
Die Hauptkategorien oder -dimensionen lassen sich umschreiben mit:
1. Wissen/ intellektuelle Fertigkeiten/Denkvermögen:
Kognitive Dimension.
2. (Praktische/s) Fertigkeiten/ Können
Psycho-motorische Dimension.
3. Einstellungen/ Überzeugungen/ soziales Bewußtsein:
Affektiv/ soziale Dimension.
Lehrstuhl Prof.em. Dr. rer. nat. Eberhard G. SCHMIDT Universität Essen, FB 9:
Grundvorlesung BIOLOGIEDIDAKTIK, Bearbeitungsstand vom 20.1.2001
Kap. 2, Ziele BU
2— 5
Die Begriffe decken sich allerdings nicht ganz. Unterschiedlich ist auch die Zuordnung
geistiger Fertigkeiten (meistens wie oben zum kognitiven Bereich, seltener zum
psycho-motorischen, der üblicherweise auf manuelle Anteile eingeschränkt wird), beim
Experimentieren beispielsweise wird die Verzahnung besonders deutlich (Kap. 3.2).
Die übliche Dimension der affektiven Ziele ist heute um die sozialen Ziele zu erweitern.
Sie wird hier mit der affektiven Dimension vereint, um nicht eine 4. Dimension neu
einzuführen. Die affektiv/ sozialen Ziele werden gesondert (Kap. 2.1.7) behandelt, da
sie dem Fach Biologie fremd und somit spezifisch für die Biologiedidaktik sind.
Hinweis: Der Begriff der „Lernziel-Dimension“ paßt zu dem Begriff Dimension in der Mathematik/
Physik (hier sind die n Dimensionen [eines n-dimensionalen Vektorraumes der Mathematik bzw. die 4
Dimensionen des dreidimensionalen geometrischen Raumes in Verbindung mit der Zeit als 4.
Dimension in der Physik] aufgespannt durch je einen linear unabhängigen Vektor, d.h. – in die
Alltagssprache übertragen – frei mit einander kombinierbar), da auch bei den Ziel-Dimensionen der
Lerntheorie die kognitiven, die psycho-motorischen und die affektiven Ziele unabhängig von einander
gesetzt und frei mit einander kombiniert werden können.
Statt einer Diskussion der unterschiedlichen Einteilungen werden einige Beispiele
gegeben:
Ein Beispiel aus dem Bereich der Wirtschaft (nach BIGALKE 1969, ergänzt) sind die
folgenden Bildungskategorien:
 Sachwissen und seine Erweiterung („Forschung“) und Lernqualifikationen
(logisches und sachsystemarisches Denken, Befähigung zum Problemlösen, zur
Kreativität)  kognitive Lernziele
 Naturwissenschaftliche Arbeitsweisen  psychomotorische Lernziele
 Grundeinstellungen (Ethik/Moral; Motivationen)  affektiv/ soziale Lernziele
Für die kognitive Dimension formulierte Der Deutsche Bildungsrat 1970 die
folgenden Anforderungsstufen (EKR 1985, S. 81):
 1) Reproduktion: Wiedergabe von Sachverhalten aus dem Gedächtnis.
 2) Reorganisation: Selbständige Neuordnung bekannter Sachverhalte zu einer
neuen, komplexen Struktur.
 3) Transfer: Übertragen von bekannten Zusammenhängen auf eine Struktur neuer
Sachverhalte.
 4) Problemlösen:
Lösen neuartiger Aufgaben bzw.
Finden neuartiger Erklärungen für bekannte Sachverhalte,
konstruktive Kritik bekannter Lösungsvorschläge.
Literatur
BIGALKE, ##: Fachdidaktik und Forschung & Lehre. MNU 22: 257-264 (1969).
BLÄTTNER, F.: Geschichte der Pädagogik. Quelle & Meyer, Heidelberg, 12. Aufl. 1966.
BLOOM, B. et al.: Taxonomie vorn Lernzielen im kognitiven Bereich. Beltz, Weinheim 1972.
KRATHWOHL, D. et al.: Taxonomy of educational objectives: Affective domain. Handb.2. Longman, New
York 1964.
MAGER, R.: Lernziele und Programmierter Unterricht. Beltz, Weinheim 1965.
MEYER, H.: Trainingsprogramm zur Lernzielanalyse. Fischer-TB (FAT 3101). Fischer, Frankfurt,1974.
Lehrstuhl Prof.em. Dr. rer. nat. Eberhard G. SCHMIDT Universität Essen, FB 9:
Grundvorlesung BIOLOGIEDIDAKTIK, Bearbeitungsstand vom 20.1.2001
Kap. 2, Ziele BU
2— 6
2.1.5 Untergliederung der 3 Zieldimensionen auf Richtzielebene
Die Untergliederung der 3 Zieldimensionen auf Richtziel-Ebene wird an einem Beispiel
spezifiziert (Tab. ###; nach EKR 1996, S.175).
Tab. ##: Gliederung der Unterrichtsziele für die 3 Zieldimensionen auf Richtzielebene
(nach EKR 1996, S.175).
Kognitive Dimension
(vgl. BLOOM u.a. 1972)
1. Kenntnisse
1.1 von konkreten
Einzelheiten: Begriffe,
Einzelfakten
1.2 von Wegen und Mitteln
für den Umgang mit
konkreten Einzelheiten:
Übereinkünf-te, Trends
und Abfolgen;
Klassifikationen und
Kate-gorien; Kriterien,
Methodologie
1.3 der Universalien und
Abstraktionen eines
Gebiets: Prinzipien,
Generalisationen;
Theorien, Strukturen
2. Verständnis
2.1 Übertragung
2.2 Extrapolation
3. Anwendung
4. Analyse von
4.1 Elementen;
4.2 Beziehungen;
4.3 Organisationsprinzipien
5. Synthese
5.1 Schaffen einer
einheitlichen
Kommunikation;
5.2 Entwerfen eines Plans
oder Programms für eine
Reihe von Operationen;
5.3 Ableitung einer Reihe
abstrakter Beziehungen
6. Beurteilung (Evaluation)
6.1 nach innerer Klarheit;
6.2 nach äußeren Kriterien
Affektive Dimension
(vgl. KRATHWOHL u.a. 1972)
1. Aufmerksamwerden,
Beachten
1.1 Bewußtsein davon
1.2 Bereitwilligkeit dazu
1.3 ausgew. Aufmerksamkeit
2. Reagieren
2.1 Einwilligung ins
Reagieren;
2.2 Bereitwilligkeit zum R.
2.3 Befriedigung beim R.
3. Werten
3.1 Akzeptieren eines Wertes
3.2 Bevorzugen eines Wertes
3.3 Verpflichtung dem Wert
4. Organisation
4.1 Begreifen eines Wertes
4.2 Organisation eines Wertsystems
5. Charakterisierung durch
einen Wert oder eine
Wertstruktur
5.1 Allgemeine Einstellung
5.2 Charakterisierung
Psychomotorische
Dimension
(DAVE, vgl. MEYER 1974)
1. Imitation
1.1 Imitationsimpulse
1.2 beobachtbare
Wiederholung
2. Manipulation
2.1 Befolgen einer Anweisung
2.2 Selektion
2.3 Festigung eines
Handlungsablaufes
3. Präzision
3.1 Reproduzieren
3.2 Steuerung
4. Handlungsgliederung
4.1 Sequenz
4.2 Harmonie
5. Naturalisierung
5.1 Automatisierung
5.2 Interiorisierung
Lehrstuhl Prof.em. Dr. rer. nat. Eberhard G. SCHMIDT Universität Essen, FB 9:
Grundvorlesung BIOLOGIEDIDAKTIK, Bearbeitungsstand vom 20.1.2001
Kap. 2, Ziele BU
2— 7
2.1.6 Eine pragmatische Leitziel-Konkretisierung
Für die Ebenen der Leit-/ Richtziele wird hier der folgende Vorschlag für Leitziel im
Biologieunterricht mit Gliederung nach den Ziel-Dimensionen (als eine pragmatische
Konkretisierung) eingebracht:
1) Kognitive Dimension
 Formenkenntnis einer Artenauswahl (einschließlich deren Biologie & Ökologie)
 Biologisches Verständnis von funktionalen Beziehungsgefügen
  auf den verschiedenen Organisationsebenen
   molekulare Ebene (Zytologie, Molekulargenetik),
   Ebene der Organe & Organismen (funktionelle Morphologie oder
morphologische Physiologie);
   Ebene der Ökosysteme
   Globale Ebene: Erdball
und unter Einschluß der Eingriffe des Menschen
 Verständnis der Dynamik und Geschichtlichkeit des Lebendigen,
insbesondere der Evolution der Arten
und der phylogenetischen Systematik
als Stammbaum-Rekonstruktion aus rezenten Taxa
 Hintergrundverständnis
(wie Erkenntnistheorie, Naturphilosophie)
2) Biologische Techniken und Arbeitsweisen
(psychomotorische Dimension, vgl. Kap. 3.2)
3) Affektiv/ soziale Dimension (vgl. die Erziehungsaufgaben)
 Emotionaler Bezug zu den Lebewesen
(Ehrfurcht vor dem Leben, Freude am Naturerleben,
Freude an der verantwortungsvollen Pflanzen-, Tierpflege),
 Natur-/Umweltethik & -moral,
 Handlungsbezug von Wissen und Moral,
 Erziehung zur Selbständigkeit und Eigenverantwortung in der Gemeinschaft
(auch in der Gruppenarbeit oder bei der inneren Differenzierung
 Förderung von Schüleraktivitäten (einzeln und in Gruppen)
durch Unterrichtsformen wie Unterrichtsgespräch, forschender Unterricht,
projektorientierter Unterricht, Arbeitsunterricht, außerschulische Aufgaben:
innere Differenzierung (etc.)
Lehrstuhl Prof.em. Dr. rer. nat. Eberhard G. SCHMIDT Universität Essen, FB 9:
Grundvorlesung BIOLOGIEDIDAKTIK, Bearbeitungsstand vom 20.1.2001
Kap. 2, Ziele BU
2— 8
2.1.7 Anmerkungen zu affektiv/sozialen Leitzielen
Die affektiv/soziale Dimension der Lernziel-Taxonomien wird in den „objektiven“
Naturwissenschaften bewußt ausgespart. Sie ist aber ein wesentlicher Parameter im
Schulunterricht auch der naturwissenschaftlichen Fächer und damit ein spezifisches
Thema
der
Fachdidaktik
und
eine
Verbindungsstelle
zu
den
Erziehungswissenschaften.
Die empirische Basis für die didaktische Forschung zu affektiv/ sozialen
Parametern und Unterrichtszielen wurde von der Psychologie entwickelt. Das betrifft
sowohl statistische Vorhaben (Testpsychologie) als auch die individuelle Diagnose (und
ggf. Therapie: Psychotherapie).
Affektiv/ soziale Ziele enthalten immer auch Wertungen, damit eine Ethik und
Moral, die in einer pluralistischen und liberalen Demokratie im öffentlichen
Schulwesen mit Schulpflicht nur in den absolut unstrittigen Bereichen zulässig sind.
Der Lehrer, den sich die Schüler ja nicht aussuchen können, muß das besonders
beachten; Ideologisierungen sind abzuwenden. Zur Vertiefung sei besonders auf die
(einführenden Kapitel) in den Richtlinien NRW hingewiesen. Die vier Richtlinien zu
den Schularten in der S I setzen sehr unterschiedliche Schwerpunkte und sollten
hierzu sorgfältig (in Eigenarbeit ergänzend zur Vorlesung und dem individuell
ausgewählten Lehrbuch zur Biologiedidaktik) studiert werden.
Hier sei nur hervorgehoben, daß in dem Bereich der affektiv/ sozialen Ziele des
Biologieunterrichts heterogene Komponenten vereint sind:
 die Motivation und das Interesse für die Unterrichtsgegenstände und für die
biologischen Arbeitsweisen als Grundlage effektiven Lernens;
 das Naturerlebnis als emotionaler Hintergrund für den Biologieunterricht und als
Voraussetzung für die "Ehrfurcht vor dem Lebendigen", den pfleglichen Umgang
mit der Natur und allgemein für Tier- und Naturschutz;
 die Einstellungsänderungen (Ethik) und die Handlungsbereitschaft gemäß dieser
Ethik (Moral) durch die Erziehungsaufgaben des BU:
 Ethik und Moral des naturwissenschaftlichen Arbeitens
 Ethik und Moral, d.h. Verantwortlichkeit im Umgang mit
  dem eigenen Körper: Gesundheitserziehung
  dem Sexualpartner (und ggf. dem eigenen oder angenommenen Kind):
Sexualerziehung,
  den Mitmenschen: Friedenserziehung,
  der Natur: Umwelterziehung;
 und die Motivation zum Handeln, also der tätigen Umsetzung der Moral im
Rahmen der demokratischen Struktur des Gemeinwesens
(staatsbürgerliche Erziehung).
 die soziale Komponente (Lernen in der Klassen-/ Kursgemeinschaft, in
Arbeitsgruppen, aber auch die Form der persönlichen Interaktion von Schüler
und Lehrer [einschließlich des Komplexes der Motivation zum Lernen durch die
persönliche Ausstrahlung des Lehrers bzw. der Lernblockaden durch
Animositäten]);
Lehrstuhl Prof.em. Dr. rer. nat. Eberhard G. SCHMIDT Universität Essen, FB 9:
Grundvorlesung BIOLOGIEDIDAKTIK, Bearbeitungsstand vom 20.1.2001
Kap. 2, Ziele BU
2— 9
Anzuführen wären hier auch die allgemeinen (nicht an die einzelnen Schulfächer
gebundenen) Leitziele zur Persönlichkeitsentwicklung der Schüler und zur Erziehung
zum „mündigen“ (gemeint ist verantwortungsbewußten) Staatsbürger einer
freiheitlichen Demokratie (Details in den Richtlinien, vgl. Kap. 2,10 Staatsbürgerliche
Erziehung).
Literatur:
DULITZ, B. & U.KATTMANN: Bioethik. Fallstudien für den Unterricht. Stuttgart 1990.
ERHARD; R., U.GÜTH, H.ROTH & W.WICHARD: Akzente. Materialien zur Ethik im BU. Aulis/ Deubner, Köln
1992.
HEDEWIG, R. & W.STICHMANN (Hrsg.): Biologieunterricht und Ethik. Bericht der Tagung Sektion
Fachdidaktik im VDBiol in Iserlohn 1987. Aulis/ Deubner, Köln 1988.
MOHR, H.: Natur und Moral. Ethik in der Biologie. Wiss. Buchges., Darmstadt 1987.
MOHR, H.: Biologie und Ethik aus der Sicht der Naturwissenschaften. S. 24-31 in: HEDEWIG, R. &
STICHMANN, W. (Hrsg.): Biologieunterricht und Ethik. Aulis/ Deubner, Köln 1988.
2.2 Die Problematik der „operationalisierten“ Unterrichtsziele
2.2.1 Der Begriff „operationalisierte“ Unterrichtsziele
Den Anspruch der Wissenschaftlichkeit der Biologiedidaktik bestimmten in den 60er
und 70er Jahren die Normen der gerade aufblühenden (in den USA bereits etablierten)
empirischen (d.h. statistisch gesicherten) Curriculum-Forschung und -Entwicklung
(Kap. 6.11). Wesentlich war die Lernerfolgs-Kontrolle der Curricula nach den Regeln
der Testpsychologie. Die Form der Tests mußten dabei erfahrene Testpsychologen
kontrollieren, sie aber konnten nicht die Validität, d. h. die Konformität der Tests mit
den Zielsetzungen garantieren; diese war von den Didaktikern dadurch zu sichern,
daß die (Fein-) Lernziele in Form von abfragbaren Aufgaben, als „operationalisierte
Lernziele“ zu formulieren waren. Zu den Anforderungen an die Operationalisierung
von Lernzielen zitiere ich aus der Einführung in das Curriculum-Konzept, die den IPNCurricula Biologie vorangestellt ist (z.B. EULEFELD 1974, S. 8):
„Auch in älteren Lehrplänen hat es Angaben darüber gegeben, welche Ziele ein
Unterricht erreichen soll. Die Formulierungen waren jedoch fast immer zu allgemein, um
Maßstäbe anzugeben, die es erlaubt hätten, das Erreichen der Ziele zu überprüfen. Auch
aus diesem Grunde stand in der Curriculum-Entwicklung lange Zeit die Forderung im
Vordergrund, Lernziele müßten in jedem Falle so formuliert werden, daß ihr Erreichen
objektiv überprüfbar sei.
MAGER (1969) stellte folgende Kennzeichen für operationalisierte Lernziele auf:
a) Beschreibung des (beobachtbaren) angestrebten Verhaltens der Schülers,
b) Bezeichnungen des Gegenstandes, an dem das Verhalten gezeigt werden soll,
c) notwendige Bedingungen zum Erfüllen des Verhaltens.
Diesen Kriterien entspricht z.B. das Lernziel: „Eine Nachweisreaktion für Zucker
nennen können (rostroter Niederschlag nach dem Kochen mit Fehling'scher Lösung)“.
Lehrstuhl Prof.em. Dr. rer. nat. Eberhard G. SCHMIDT Universität Essen, FB 9:
Grundvorlesung BIOLOGIEDIDAKTIK, Bearbeitungsstand vom 20.1.2001
Kap. 2, Ziele BU
2 — 10
Lernziele gelten im Sinne von MAGER nur dann als operationalisiert, wenn ein
beobachtbares und also meßbares Schülerverhalten angegeben wird. Nur vermutete
oder subjektiv erschließbare Vorgänge wie „Erkennen“ oder „Fühlen“ erfüllen diese
Kriterien nicht.
Die Testpsychologen bestimmten dann nach ihren Regeln die Auswahlkriterien und
die Auswahl für Vortest, Test und Behaltenstest. Sie forderten auch die statistische
Absicherung, also eine hinreichend hohe Zahl von Schülern (mindestens 1000, d. h.
etwa 30-35 Klassen in der S I). Das wiederum bedingte die Computerauswertung und
damit die computergerechte Testgestaltung (Auswahlantwortverfahren/ multiple
choice). Überdies mußte der Unterricht für die 30-35 Klassen so normiert werden, daß
die Vergleichbarkeit gesichert war. Der Unterricht war dementsprechend spezifiziert
vorzugeben und mit genormten Materialien auszustatten (Zu grundsätzlichen Fragen
der Evaluierung vgl. Kap. 2.5.3).
2.2.2 Formulierung von Leitzielen in operationalisierter Form in IPN-Curricula
Das Institut für die Pädagogik der Naturwissenschaften an der Universität Kiel wurde
in den 60er Jahren (mit Mitteln der VW-Stiftung) als länderübergreifendes
Forschungsinstitut eingerichtet und dann als Einrichtung der Bundesländer
fortgeführt. Am Anfang stand die Curriculumsentwicklung mit empirisch gesicherter
Evaluierung des Lernerfolges im Mittelpunkt. Dazu gehörten die eingehend
spezifizierten Lernziel-Kataloge. Sie sollen hier als ein konkretes Beispiel angeführt
werden.
Bei der lernzielorientierten Curriculumentwicklung gab es jedoch zahlreiche
verschiedene Ansätze mit unterschiedlichen Ordnungsprinzipien/ -schemata oder
Taxonomien für die Lernziel-Kataloge (vgl. dazu den früheren Direktor des IPN, Prof.
Dr. K. FREY, z.B. 1971). Zu einer Einigung auf eine allgemeine und allgemein
anerkannte, für alle Lernzielbereiche überzeugende Taxonomie von Lernzielen kam es
aber nicht.
So wurde für die IPN-Unterrichts-Einheitenbank „Curriculum Biologie“
beschlossen, verschiedene Taxonomien auf einer etwas einfacheren Stufe zu
kombinieren und praxisgerecht zu spezifizieren (vgl. SCHAEFER 1973). Dabei sollten
zunächst fächer-übergreifend die allgemeinen (nicht fachgebundenen) Fertigkeiten
und Einstellungen formuliert werden. Sie geben im Sinne von Leitzielen die
Intentionen der geplanten Curricula für naturwissenschaftliche Schulfächer an (vgl.
SCHAEFER 1971). Diese Lernziel-Kataloge entstanden nach Diskussionen auf
internationalen und regionalen Tagungen. Sie sind den IPN-Curricula Biologie im
Rahmen einer Einführung in das Curriculum-Konzept im allgemeinen und in die
gewählte Lernzieltaxonomie im besonderen vorangestellt. Eine wird hier als Beispiel
zitiert (Tab. ##, nächste Seite; aus EULEFELD u.a. 1974, S. 15; ähnlich ist die Tab. 7-1,
S. 179 in EKR 1996):
Lehrstuhl Prof.em. Dr. rer. nat. Eberhard G. SCHMIDT Universität Essen, FB 9:
Grundvorlesung BIOLOGIEDIDAKTIK, Bearbeitungsstand vom 20.1.2001
Kap. 2, Ziele BU
2 — 11
2.2.3 Auswirkung der Lernziel-Operationalisierung auf die Zielauswahl:
Die Operationalisierung ist bei einfachen Wissens- und Sachfragen zwar mühsam,
aber relativ einfach, Verständnisfragen und nicht-kognitive (insbesondere affektive)
Ziele sind jedoch schwer in eine operationalisierte Form zu bringen und damit
computergerecht abzufragen. Mit dem Training im Operationalisieren werden letztere
daher immer mehr reduziert und treten damit bei der Curriculum-Entwicklung in den
Hintergrund (Tab. ##).
Tab. ##: :Spezifizierung von operationalisierten Lernzielen nach Zieldimensionen
gegliedert für die IPN-Curricula Biologie
(aus EULEFELD u.a. 1974, S. 15):
Allgemeine Fertigkeiten auf der rein kognitiven Ebene
(mit steigender Komplexität):
B
Beobachten können (ohne Deutung registrieren)
A
Abstrahieren können (Superzeichenbildung)
T
Transfer vollziehen können
(Übertragung abstrahierter Strukturen auf neue Sachverhalte)
S
Systematisieren können (ordnen, klassifizieren)
L
Logisch schließen können
F
Form und Funktion verknüpfen können
P
Problem lösen können:
(1. Problem erkennen; 2. Lösungshypothese aufstellen; 3. Konsequenzen aus
der Hypothese deduzieren; 4. Wege zur empirischen Kontrolle der Konsequenzen
finden; 5. Prüfung der Hypothese anhand der Konsequenzen)
Fertigkeiten auf der gemischt-pragmatischen Ebene:
D
Diagramme anfertigen und lesen können
J
Informationen beschaffen können ("wissen, wo")
R
Situationen rasch bewältigen können
(umschließt B bis P einschließlich des Zeitfaktors)
U
Umweltbezug herstellen können (Einordnung des Wissens und Könnens in
den Gesamtzusammenhang des täglichen Lebens)
V
Verbalisieren können (sich sprachlich sachgemäß ausdrücken)
M
Manuell operieren können (handwerkliche und künstlerische Techniken)
Allgemeine Einstellungen:
a
Aktivität (Bereitschaft zur Mitarbeit)
e
Entscheidungsfreudigkeit (Mut zum Setzen von Prioritäten und Wertungen)
g
Positive Einstellung zum Leben in der Gemeinschaft (Kommunikations- und
Kooperationsbereitschaft, Toleranz gegen Andersdenkende)
k
Aufgeschlossenheit für die Belange des eigenen Körpers (Bereitschaft zur
Anwendung von Kenntnissen auf Körperhaltung und Körperpflege)
l
Bereitschaft zum ständigen Lernen und Umlernen
o
Offenheit zum sinnlichen Erleben (Ausgleich für die einseitig rationale
Beanspruchung des Menschen in der technisierten Welt)
s
Bereitschaft zur Selbstkritik (Einsicht in die eigene Unzulänglichkeit; Bereitschaft,
eigene Fehler und Irrtümer zu korrigieren)
Lehrstuhl Prof.em. Dr. rer. nat. Eberhard G. SCHMIDT Universität Essen, FB 9:
Grundvorlesung BIOLOGIEDIDAKTIK, Bearbeitungsstand vom 20.1.2001
Kap. 2, Ziele BU
2 — 12
Tab. ##: Häufigkeit von Lernzielinhalten vor und nach dem Training von Lehrern im
Operationalisieren (aus EULEFELD/ u.a. 1974:14).
Inhalte/Zielkategorien
Anteile vor dem Training
Anteile nach dem Training
Rohwerte
%
Rohwerte
7
4%
%
Ethische Ziele
31
21%
Pflanzenkunde
allg. Pflanzenkunde
einzelne Gattungen
18
8
10
12%
5%
6%
70
47
23
42%
28%
14%
Tierkunde
Allgemeine Tierkunde
einzelne Gattungen
16
7
9
11%
5%
6%
56
37
19
33%
22%
11%
9
9
6%
6%
14
7
8%
4%
12
9
21
14
4
4
8%
6%
14%
10%
3%
3%
2
2
-9
-3
1%
1%
-5%
-2%
Menschenkunde
Technik
Naturverständnis
Natur- u. Gewässerschutz
Formale Ziele
Fächerübergreifende Ziele
Ästhetische Ziele
Andere
Summe affektiv/formale
Zielkategorien
Summe
kognitive Zielkategorien
Summe insgesamt
78
52%
11
6%
70
48%
159
94%
147
100%
170
100%
2.2.4 Zusammenfassende Würdigung
Der Schulunterricht ist auf individuelle Optimierung und intuitive Bewertung des
Unterrichtserfolges ausgerichtet, eine Evaluation (als statistisch gesicherte Ermittlung)
des Lernerfolges ist in der Schulpraxis nicht durchführbar. Entscheidend ist die
Benotung (als individuelle Bewertung der Leistungen [nicht des Lernerfolges!) der
Schüler. Eine Operationalisierung von Unterrichtszielen ist daher Huldigung eines
Mode-Schlagwortes, sachlich unnötig und nur belastend.
Sachlich unerklärlich (und Zeichen mangelnder Einsicht in die Belange der
Operationalisierung) ist daher die Forderung mancher Studienseminare (und
verschiedener
fachdidaktischer
Publikationen)
nach
operationalisierten
Lernzielkatalogen für Lehrproben (also für eine individuelle Unterrichtssituation) im
vergangenen Jahrzehnt (vereinzelt sogar bis heute); viele wertvolle Arbeitskraft wurde
so verschwendet!
Lehrstuhl Prof.em. Dr. rer. nat. Eberhard G. SCHMIDT Universität Essen, FB 9:
Grundvorlesung BIOLOGIEDIDAKTIK, Bearbeitungsstand vom 20.1.2001
Kap. 2, Ziele BU
2 — 13
Literatur
EULEFELD, G., G. SCHAEFER & K. DYLLA: IPN-Einheitenbank Curriculum Biologie. Biologisches
Gleichgewicht. Unterrichtseinheit für die Klassenstufen 6-8. Lehrerheft, Aulis/ Deubner, Köln 1974.
FREY, K.: Theorien des Curriculums. Beltz, Weinheim 1971.
SCHAEFER, G.: Probleme der Curriculum-Konstruktion. BU 7 (4): 6-17 (1971).
SCHAEFER, G.: Informationstheoretische Bemerkungen zur Ableitung von Unterrichtszielen. PdB 22: 1-6
(1973).
2.3 Die Richtlinien als amtliche Leitziel-Setzungen
und Rahmenpläne der Verbände
2.3.1 Richtlinien(& Lehrpläne) Biologie NRW
Für die allgemeinbildenden Schulen werden die Unterrichtsziele politisch bestimmt.
Zuständig sind in Deutschland die Bundesländer mit ihren Kultusministerien, die sich
aber in gewissem Rahmen auf Bundesebene („Kultusminister-Konferenz“ KMK)
abstimmen und zunehmend auch EG-Richtlinien zu beachten haben.
Die Leitziel-Vorgaben für die Schulen sind in den Richtlinien (gesondert nach
Schulstufen und -arten) als Verordnung festgelegt. Sie enthalten i.d.R. eine breite
Begründung und Spezifizierung der (Leit-) Ziele (sowie weitere Hinweise und
Erläuterungen sowie die Stoffpläne (Kap. 4). Die Richtlinien sind damit eine wertvolle
und anregende Ergänzung der Lehr- und Handbücher zur Biologiedidaktik.
Diese sind i.d.R. Minimalpläne, die ein Pflichtpensum ausweisen. Es läßt dem
Lehrer noch Freiräume für die Vertiefung von Pflichtthemen oder für eigene
Schwerpunkte (vgl. HEDEWIG 1980, HEDEWIG & RODI 1982).
Von Lehramtsstudierenden kann die Anschaffung der Richtlinien aus dem
angestrebten Lehramt (bei SI zu SII beispielsweise die Richtlinien Gymnasiale
Oberstufe und zumindest SI im Gymnasium) erwartet werden, damit sie jederzeit zum
Nachschlagen bereit stehen. Die Kenntnis und Verfügbarkeit der Richtlinie ist zugleich
eine gute Vorbereitung auf das Referendariat. Hier werden die Richtlinien nicht weiter
diskutiert.
Die Richtlinien NRW sind erschienen in der Reihe: Die Schule in Nordrhein-Westfalen.
[Bis 1993 Zusatz: Eine Schriftenreihe des Kultusministers]. Herausgeber: Ministerium
für Schule und Weiterbildung, Wissenschaft und Forschung (MSWWF) NRW (bis 1993
Kultusministerium), Völklinger Str. 49, 40 221 Düsseldorf.
Druck und Verlag: Ritterbach-Verlag, Rudolf-Diesel-Str. 5-7, (ab 1999; davor
Ritterbach-Verlagsges., Rudolf-Diesel-Str. 10-12), 50 226 Frechen (sofern nicht anders
vermerkt).
Lehrstuhl Prof.em. Dr. rer. nat. Eberhard G. SCHMIDT Universität Essen, FB 9:
Grundvorlesung BIOLOGIEDIDAKTIK, Bearbeitungsstand vom 20.1.2001
Kap. 2, Ziele BU
2 — 14
Aktuell gültige Richtlinien NRW:
Sekundarstufe II: Gymnasium/ Gesamtschule. Richtlinien und Lehrpläne Biologie.
Richtlinien und Lehrpläne für die Sekundarstufe II  Gymnasium/ Gesamtschule in
Nordrhein-Westfalen, 1999.
Schriftenreihe Schule in NRW, Heft 4722. 1. Aufl. 1999. DM 16,80.
Gültig bis 1999:
Richtlinien Biologie. Gymnasiale Oberstufe. 1989
(unveränderter Nachdruck der 1.Aufl. von 1981).
Materialien zur Leistungsbewertung Biologie Gymnasiale Oberstufe. 1989
(unveränderter Nachdruck).
Richtlinien und Lehrpläne Biologie Gymnasium S I, 1993
(unveränderter Nachdruck der Neubearbeitung von 1991, sie ersetzt die vorläufigen Richtlinien von
1978), DM 16,10. Best.Nr. 3413
Richtlinien und Lehrpläne Biologie Realschule, 1993
(Neubearbeitung), DM 12,80. Best.Nr. 3309 (geringfügige Überarbeitung 1999)
Richtlinien Naturwissenschaften Gesamtschule SI, 1980
(unveränd. Nachdruck der Fassung von 1990), DM 14,30. Best.Nr. 3108
Unterrichtsempfehlungen für den Wahlpflichtbereich I, Naturwissenschaften
Gesamtschule, 1982,
(unveränderter Nachdruck der Fassung von 1991), DM 8,40. Best.Nr. 31081
Richtlinien Biologie (Lernbereich Naturwissenschaften) Hauptschule, 1992
(veränderter Nachdruck der 1. Aufl. von 1989), DM 14,90. Best.Nr. 3204/1
Empfehlung Naturwissenschaften (Kl. 9&10) Hauptschule, 1980
(Greven Verlag Köln). Best.Nr. 32043
Literatur:
HEDEWIG, R.: Biologielehrpläne im Wandel. S. 15-26 in: BEYER, L., D.ESCHENHAGEN & A.MEFFERT (Hrsg.):
Biologieunterricht als Realität. Themenheft UB 48/49, 1980.
HEDEWIG, R. & D.RODI (Hrsg.): Biologielehrpläne und ihre Realisierung. Bericht über die Tagung der
Sektion Fachdidaktik im VDBiol in Hofgeismar 1981 mit dem Thema: BU, Lehrpläne, Didaktische
Modelle und ihre Realisierung. Aulis/ Deubner, Köln 1982.
Lehrstuhl Prof.em. Dr. rer. nat. Eberhard G. SCHMIDT Universität Essen, FB 9:
Grundvorlesung BIOLOGIEDIDAKTIK, Bearbeitungsstand vom 20.1.2001
Kap. 2, Ziele BU
2 — 15
2.3.2 Rahmenpläne und Resolutionen der Fachverbände
Die Fachverbände (wie VdBiol, MNU) bemühen sich ebenfalls um die Aktualisierung
und Optimierung der Leitziele und Rahmenbedingungen des Unterrichts. So hat
gerade der Deutsche Philologenverband, der Berufsverband der Gymnasiallehrer,
einen Reformvorschlag für die gymnasiale Oberstufe vorgelegt (GLASER 1995; zur
Geschichte und dem Anteil von MNU vgl. KLEIN 1991). Hier soll darauf nicht weiter
eingegangen werden. Hingewiesen sei exemplarisch auf ASSELBORN 1993, BERCK &
GRAF 1987, SCHAEFER 1973, WEIGELT & GRABINSKI 1992.
Literatur:
ASSELBORN, W. (Hrsg.): Positionen zum Unterricht in Mathematik, in den Naturwissenschaften und in
Informatik. Beilage zu MNU 46 (8): IV-XXVI (Dez. 1993.
BERCK, K. & D.GRAF (Hrsg.): Rahmenplan des Verband Deutscher Biologen für das Schulfach Biologie.
VdBiol. 7, Bremen, 1987.
GLASER, H.: Notoperation am Abitur. Ein Reformvorschlag des Deutschen Philologenverbandes.
Forschung & Lehre (Hochschulverband) 1995: 66-68 (1995).
KLEIN, A.: Ringen um die mathematisch-naturwissenschaftliche Bildung. Geschichte der Jahre 1945-1990
des Vereins MNU. Dümmler, Bonn, 1991.
SCHAEFER, G. (Hrsg. f.d. VdBIOL, Schulausschuß): Rahmenplan des Verbandes Deutscher Biologen für
das Schulfach Biologie. MNU 26: 202-211 (1973).
WEIGELT, C. & E.GRABINSKI: Pro Biologie. VDBiol-Schulumfrage: Leistungsfähigkeit und Handlungsbedarf.
Biologie heute 402: 1-4 (Okt. 1992);
(ausführlichere Fassung im Selbstverlag der Autorinnen).
2.4 Leitziel Ethik & formale Bildung des naturwissenschaftlichen
Arbeitens; Vermeiden von Sachfehlern bei der didaktischen
Reduktion (Vereinfachung)
2.4.1 Ethik und formale Bildung des naturwissenschaftlichen Arbeitens
Naturwissenschaft ist zwar prinzipiell wertfrei, dennoch gibt es Grundeinstellungen,
also ethische Normen zum wissenschaftlichen Arbeiten. Sie sind als Leitziele auf die
Schulbiologie zu übertragen. Hier gehören sie zum Erziehungsauftrag der
naturwissenschaftlichen Schulfächer und werden von den Fachdidaktiken besonders
herausgestellt, weit mehr als in den Naturwissenschaften selbst. Manche Studierende
hören erst in der Fachdidaktik davon.
Ethik und formale Bildungsziele des naturwissenschaftlichen Arbeitens/
Unterrichts wurde schon bei LÜBEN vor über 150 Jahren formuliert (vgl. das Zitat in
Kap. 6.2 nach HÖRMANN 1965: 26) und in den 50er Jahren als „Wesen und Wert des
naturwissenschaftlichen Unterrichts“ (so der Titel eines viel beachteten Buches von
KERSCHENSTEINER 1953) oder als Bildungswert des Biologieunterrichts intensiv
diskutiert (vgl. SIEDENTOP 1964: 11/12):
„Reifere Schüler gewinnen wirksame Hinweise für ihre menschliche Haltung aus
der Einsicht in die biologischen Gesetze, denen sie selbst unterworfen sind. Aus der
Erkenntnis, daß sie Glieder einer Lebenskette sind, erwächst das Gefühl der
Verpflichtung gegenüber kommenden Generationen. Das Erfahren der Begrenztheit
unserer menschlichen Erkenntnis verhindert geistigen Hochmut und erzieht zur
Bescheidenheit“.
Lehrstuhl Prof.em. Dr. rer. nat. Eberhard G. SCHMIDT Universität Essen, FB 9:
Grundvorlesung BIOLOGIEDIDAKTIK, Bearbeitungsstand vom 20.1.2001
Kap. 2, Ziele BU
2 — 16
„Der Biologieunterricht wirkt bei der geistigen Formung der Schüler mit. Wie jede
naturwissenschaftliche Betätigung bildet er, indem er zu sachlicher Haltung erzieht.
Das Naturobjekt ist vorgegeben. Der Beobachter muß von sich selbst, seinen
Ansichten und Wünschen Abstand gewinnen und versuchen, vorurteilsfrei durch
Beobachtung, Zeichnung und Beschreibung [bzw. planvolles Experimentieren] den
Sachverhalt zu erfassen; er erfährt dabei den Wert sorgfältigen, geduldigen und
kritischen Bemühens.“
„Wer beobachtete Tatsachen richtig verknüpft, lernt folgerichtig zu denken. Von
hohem Bildungswert ist dabei, daß die biologischen Schlußfolgerungen und Aussagen
stets im Prinzip durch die Erfahrung nachprüfbar sein müssen. Wer denkt, kann sich
also jederzeit von der Richtigkeit seiner Schlüsse überzeugen, unredliches Denken
läßt sich leicht entlarven.“
Zur Ethik des naturwissenschaftlichen Arbeitens gehören somit:
 Sachbezogenheit,
d.h. absoluter Vorrang der Naturerfahrung, der Kontrolle jeder Aussage an der
Natur (statt an Lehrmeinungen: recht hat nicht die Autorität, es zählt allein die
Übereinstimmung mit der Realität).
 Strikte Trennung von Natur-Wahrnehmung (Beobachtung, Meßergebnisse) und
Schlußfolgerung (Deutung/ Diskussion im Sinne von Theoriebezug).
Das hatte schon JUNGE (1885/1907: 18) angemahnt: „Immer aber werden
Beobachtung und Schlußfolgerung, also das, was das Kind gesehen hat, und das,
was es sich denkt, scharf auseinander gehalten“.
 Objektivität,
d.h. das Ausklammern der eigenen Befindlichkeit (und überhaupt von Ego-/
Anthropozentrik) beim Erkennen der Natur.
 Aufdecken (und Hinterfragen) der Grenzen der Aussagen
(z.B. durch die Angabe der Bedingungen der Erkenntnisgewinnung: Kap. „Material
& Methoden“ in wissenschaftlichen .Arbeiten).
 Überprüfbarkeit (Verifikation/ Falsifikation/ Modifikation) der Ergebnisse
durch die Allgemeinheit.
 Universalität,
d.h. Beschränkung auf allgemein gültige Phänomene und Aussagen, zufällige
Ereignisse und Phänomen sind nicht Gegenstand von Naturwissenschaft.
 Sachlogik.
 Engagierte, aber emotionsfreie Faktendiskussion,
gemeint ist die unvoreingenommene Diskussion verschiedener, zur Faktenbasis
passender Hypothesen („Fragekultur“ als Dialektik von These und Antithese mit
dem Ziel der Synthese bzw. als Ringen um die Wahrheit), ohne daß die
Entscheidung für oder gegen eine Variante auch eine emotionale Bewertung ihrer
Verfechter, also eine Entscheidung für oder gegen deren Vertreter (im Sinne von
gut/schlecht oder fähig/unfähig) mit sich bringen darf.
 Vorläufigkeit aller Forschungsergebnisse,
also Gültigkeit nur solange, bis neue Fakten eine Revision (als Modifikation oder
Falsifikation) erfordern;  vgl. das Zitat von Max PLANCK: „Die Endlosigkeit des
wissenschaftlichen Ringens sorgt unablässig dafür, daß dem forschenden
Menschengeist seine beiden edelsten Antriebe erhalten bleiben: die Begeisterung und
die Ehrfurcht“.
Lehrstuhl Prof.em. Dr. rer. nat. Eberhard G. SCHMIDT Universität Essen, FB 9:
Grundvorlesung BIOLOGIEDIDAKTIK, Bearbeitungsstand vom 20.1.2001
Kap. 2, Ziele BU
2 — 17

Redlichkeit und Bescheidenheit,
Ächtung von Eitelkeit als Konsequenz.  „In der Wissenschaft gleichen wir alle nur
Kindern, die am Rande des Wissens hier und da einen Kiesel aufheben, während
sich der weite Ozean des Unbekannten vor unseren Augen erstreckt“ (ISAAK NEWTON).
Nicht besonders hervorheben möchte ich die Erziehung zu Gewissenhaftigkeit,
Sorgfalt
und
Ausdauer,
die
Wissenschaft
und
das
Arbeiten
im
naturwissenschaftlichen Unterricht generell auszeichnen sollten (zur Vertiefung vgl.
KATTMANN u.a. 1988, VOLLMER 1990, 1993).
2.4.2 Zur Verantwortung des Naturwissenschaftlers über das Fach hinaus
(soziale Verantwortung der Wissenschaft)
Aus den vorstehenden ethischen Prinzipien der Biologie erwächst die Frage nach der
Verantwortung des Naturwissenschaftlers über die Biologie als Naturwissenschaft
hinaus. Naturwissenschaft kann sich damit nicht mehr auf die wertfreie und
positivistische Beschränkung auf das Erfahrbare (d.h. mit den Mitteln der
Naturwissenschaft erforschbare), nur verpflichtet des sachlichen Richtigkeit (der
„Wahrheit“) berufen, denn auch Naturwissenschaft ist eingebettet in das soziale
Umfeld! Die Frage „was können wir tun?“ ist also zu ergänzen um die Frage „was
dürfen wir tun?“ (vgl. z.B. MOHR 1993). Besonders brisant ist diese Frage derzeit in
der Gen- und Biotechnologie.
Besonderheiten der Biologie sind dabei:
 die Dialektik von Universalität und der Einmaligkeit (Individualität) in Raum und
Zeit (Dynamik) komplexer, synergetischer lebender Systeme (wie Arten oder
Ökosysteme),
 die Dialektik von reduktionistisch/ deterministisch/ typologischem Paradigma mit
dem ganzheitlich/ synthetischen Erfassen komplexer Systeme (Kap. ##),
 das Denken in Vernetzungen und in Bandbreiten mit individuellem
Entscheidungsspielraum,
 die Dimension der Geschichtlichkeit und Unumkehrbarkeit, die oft nur
Indizienschlüsse und semiquantitative Aussagen zuläßt.
Diese Systembiologie hat aber Modellcharakter und einen hohen formalen
Bildungswert für die ähnlich strukturierten, aber noch komplexeren menschlichen
Sozialsysteme.
Nicht vergessen werden darf dabei die Dialektik von Bildung und Fachwissen (nach
SCHLEICHER 1991):
„Bildung ohne Fachwissen ist ohnmächtig,
Fachwissen ohne Bildung ist gefährlich!“
Lehrstuhl Prof.em. Dr. rer. nat. Eberhard G. SCHMIDT Universität Essen, FB 9:
Grundvorlesung BIOLOGIEDIDAKTIK, Bearbeitungsstand vom 20.1.2001
Kap. 2, Ziele BU
2 — 18
2.4.3 SpektakuläreVerstöße gegen die Redlichkeit in der biologischen Forschung
In der Frage der Redlichkeit ist in jüngerer Zeit eine Aufweichung der Normen bei
verschiedenen Wissenschaftlern zu beobachten (vgl. Kap. ##8.7##). Damit möchte ich
nicht darauf anspielen, daß in einigen wenigen Einzelfällen vorsätzlich
Forschungsergebnisse gefälscht (d.h. geschönt) worden sind, um die eigenen Chancen
(in der Karriere oder für die Mitteleinwerbung) zu erhöhen (####).
Es beginnt schon damit, daß das Überschreiten des eigenen Kompetenzbereiches
nicht sorgfältig beachtet wird (vgl. MOHR 1993, aaO.), daß man sich also nicht in
einem Bereich, in dem man nicht richtig kompetent ist, mit dem Anschein des
Fachmannes äußert (heute verbreitet in Umweltfragen).
Auch wird beim Zitieren in einer wissenschaftlichen Arbeit nicht selten eine
Auswahl nach Freundes- oder Gesinnungskreisen getroffen („Zitier-Kartelle“), man
kann (als Kenner) dann schon aus dem Literaturverzeichnis diese ablesen (vgl. Kap.
3.3.3, die dort genannten Arbeiten zum Nervenfunktionsmodell zitieren die
ursprünglichen Arbeiten von SCHAEFER nicht). Es können Textpassagen, erst recht
Abbildungen übernommen werden, ohne daß der Ursprung angegeben wird (z.B.
Abb. 3 in MUDRACK & KUNST 1988, ohne jedes Zitat [und ohne jede Absprache mit dem
Autor] übernommen aus SCHMIDT, E. Ökosystem See, 1974).
In unseren Seminaren wird bei den Literaturzitaten und noch mehr bei den
Quellenangaben zu Abbildungsvorlagen oft gesündigt: Wissenschaft lebt (im Gegensatz
zur Wirtschaft mit Patentschutz) von der Publikation und unentgeltlichen Benutzung
der Ergebnisse anderer, doch ist der Ursprung anzugeben! Das technisch einfache
Abrufen aus dem Internet hat diese Problematik des geistigen Diebstahls noch
verschärft!
2.4.4 Fatale Folgen von Fahrlässigkeit bei wissenschaftlichem Arbeiten
Einführung.
Vorsatz oder Fahrlässigkeit beim wissenschaftlichen Arbeiten haben verschiedentlich
zu fatalen Folgen für die menschliche Gesellschaft geführt. Die großen
Errungenschaften der Naturwissenschaften dürfen den Blick dafür nicht versperren,
die besondere Sorgfaltspflicht für die Langzeit-Folgen muß eingefordert werden.
Das Beispiel Bisam (und andere Aussetzungen weltweit).
## Aussetzen aus jagdlichen Gründen, wird noch ausgeführt ##.
Für Probleme durch von Europäern importierte oder eingeschleppte Tiere aus ihrer
Heimat (aus Nostalgie oder zur Jagd) oder durch verwilderte Haustiere gibt es
Legionen von Beispielen (Katzen, Ratten z.B. auf Galapagos; Kaninchen, Pferde,
Dromedare z.B. in Australien). Auch militante „Tier-, Natur-Schützer“ liefern
unrühmlich Beispiele (z.B. Aufbrechen von Käfigen von Mink-Farmen in
Westfalen/Lippe und Freilassen großer Zahl von Zuchttieren in eine für sie
unpassende Umwelt). Selbst das Aussetzen der an sich gefährdeten Kleinfischart
Moderlieschen durch den Naturschutz in Naturschutzgebieten kann durch
Massenvermehrung der Fische, die hier keine Freßfeinde (wie Hechte) haben, dann die
effektiven Großfiltrierer (wie Wasserflöhe) eliminieren, damit Wasserblüten
(Massenvermehrung von Planktonalgen) erzeugen und so z.B. die submerse Vegetation
vernichten, also den Schutzzweck konterkarieren!
Lehrstuhl Prof.em. Dr. rer. nat. Eberhard G. SCHMIDT Universität Essen, FB 9:
Grundvorlesung BIOLOGIEDIDAKTIK, Bearbeitungsstand vom 20.1.2001
Kap. 2, Ziele BU
2 — 19
Selbst die starke Verbreitung des Riesenbärenklaus (z.B. in den Ruhrauen in
Essen), der durch „Verbrennungen“ (bei Berührung im Sonnenschein) Kinder und
Freizeitnutzunger extrem gefährdet, soll auf Ansalbungen von Imkern zurückgehen,
die über die großen Doldenblüten die hochsommerliche Bienenweide verbessern
wollten. Mit dem Flußwasser werden dann die Samen flußabwärts ausgebreitet und
können die Überschwemmungsbereiche flächendeckend besiedeln. Das dürfte auch
für das Indische Springkraut (eine Gartenpflanze und Bienen-/ Hummelblume) gelten,
die sich ebenfalls nicht nennenswert flußaufwärts ausbreiten kann.
Das Beispiel Verseuchung der Honigbiene mit der ostasiatischen Varroa-Milbe.
Fahrlässigkeit in der Forschung (hier in der Bienenforschung) verursachte die
Verseuchung der europäischen Bienenstöcke mit der ostasiatischen Varroa-Milbe,
einem gefährlichen Parasiten unserer Honigbiene, die an diesen Fremdling nicht
angepaßt ist. ### noch auszuführen ###.
Das Beispiel Verseuchung der Menschheit mit HIV (AIDS) durch ärztliche
Maßnahmen/ Forschung & Entwicklung: AIDS, die oft tödliche Immunschwäche,
eine Virus-Erkrankung (HIV: Human Immunodeficiency Virus), ist die größte aktuelle
Herausforderung für die Infektionsmedizin (zu Details und zur Grundlage der
nachstehenden Ausführungen vgl. FELDMEIER 2000). Die Infektion erfolgt über
Blutkontakt oder Geschlechtsverkehr. Die Ansteckung durch Geschlechtsverkehr ist
wirksam durch Kondome und Vermeidung von Promiskuität auszuschalten, die
Übertragung von infizierten Schwangeren an ihr Kind im Mutterleib kann mit
Medikamenten verhindert werden. Dennoch gab es 1999 ~35 Mio Infizierte, >5 Mio
Neuinfektionen, und >2,5 Mio AIDS-Tote! Besonders betroffen ist Tropisch-Afrika mit
fatalen Folgen für die betroffenen Staaten.
Infektionen durch ärztliche Maßnahmen kamen selbst in Europa bei
Bluttransfusionen in Krankenhäusern durch verseuchte Blutproben (aus
Entwicklungsländern bei ungenügender Kontrolle) vor, das dürfte in Europa
inzwischen „im Griff“ sein. In Entwicklungsländern bleibt das Risiko der Infektion
über mangelhaft sterilisierte Spritzen.
Das HI-Vorläufer-Virus ist ein Blutvirus bei afrikanischen Affen (wie
Schimpansen), Infektionen von Affenjägern über das Blut erlegter Affen (auch beim
Verzehr?) kamen bei afrikanischen Naturvölkern gelegentlich vor, sie breiteten sich
aber wegen der Übertragung allein über Blutkontakte und der gefestigten,
 geschlossenen,  immobilen Gruppenstruktur der Naturvölker praktisch nicht aus.
Inzwischen hat das Virus aber auch den Infektionsweg über den Geschlechtskontakt
erschlossen und die Virulenz gesteigert. Im Afrika der Nachkriegszeit ist die Mobilität
aus den entlegenen Gegenden vor allem bei den jüngeren Männern durch den
Straßenbau/ LKW-Verkehr, in die Ballungsräume zur Arbeitssuche oder auch durch
die Rekrutierung für den Militärdienst mit zentraler Kasernierung extrem angestiegen.
Gleichzeitig wurden Promiskuität und Prostitution üblich. Damit konnten selbst
einzelne im Busch „auf natürlichem Weg“ infizierte Männer AIDS flächendeckend
ausbreiten.
Lehrstuhl Prof.em. Dr. rer. nat. Eberhard G. SCHMIDT Universität Essen, FB 9:
Grundvorlesung BIOLOGIEDIDAKTIK, Bearbeitungsstand vom 20.1.2001
Kap. 2, Ziele BU
2 — 20
EDWARD HOOPER, Journalist und UN-Mitarbeiter in Zentralafrika, kamen aus
einer guten Kenntnis der Verhältnisse vor Ort Zweifel an dem „natürlichen Ursprung“
von AIDS: Er sammelte überzeugendes Indizien-Material dafür, daß AIDS die Folge
eines eklatanten ärztlichen Fehlers bei der Entwicklung und Erprobung eines
Impfstoffes gegen die Kinderlähmung ist, so daß dann ein glanzvoller Erfolg im Kampf
gegen eine Seuche eine andere schlimme Seuche zum Problem gemacht hat!
Bei der Entwicklung des Polio-Impfstoffes Anfang der 50er Jahre konkurrierten
2 Forscher aus den USA. Die Kultur von Polioviren konnte damals nur auf AffenNierenzellen erfolgen. Der eine der beiden Forscher, HILARY KOPROWSKI, benutzte dafür
Tiere (wohl auch einzelne infizierte Schimpansen) aus seiner Station im Kongo (damals
Belgisch-Kongo). Der Impfstoff wurde in Philadelphia hergestellt und an der
erwachsenen Bevölkerung im Kongo (Kongo, Ruanda, Burundi) mit zwangsweiser
Schluckimpfung erprobt (~1 Mio Menschen 1957-60). Am gleichen Ort zur gleichen
Zeit traten dann die ältesten belegten AIDS-Fälle auf. Die Epidemologie paßt zu
diesem Infektionsherd, auch wenn sichere Beweise nicht mehr zu erbringen sind (u.a.
weil die Versuchsprotokolle untergegangen sind).
Ethisch verwerflich ist im übrigen auch schon die Benutzung der ahnungslosen
Eingeborenen als „Versuchskaninchen“.
So ist gerade bei der medizinischen Forschung eine besondere Sorgfaltspflicht
auch hinsichtlich der Nebenwirkungen einzufordern (vgl. Kap. 2.1.1: „Was auch immer
Du tust, handle weise und bedenke die Folgen!“).
Literatur
FELDMEIER, H.: AIDS  eine durch ärztliche Maßnahmen bedingte Infektion? Edward Hooper’s provokante
These über den Ursprung der Immunschwäche in Afrika. Naturw. Rundschau 53 (11): 569-571
(2000).
2.4.5 Gravierende Sachfehler in Schulbüchern und in didaktischen Quellen
Einführung: Die didaktische Reduktion (Vereinfachung im Blick auf die
Adressatengruppe) und damit die didaktischen Rekonstruktion der fachlichen Inhalte
kann so weit gehen, daß die Aussagen/ Beispiele sachlich falsch werden. Das
widerspricht unstrittig den Prinzipien des Bildungswertes. Es erstaunt, wie oft sich
dennoch gravierende Sachfehler in die didaktischen Materialien, selbst in die
Richtlinien einschleichen. Die Lehrer sind daher (schon im Studium) aufgerufen, die
Materialien für ihren Unterricht stets kritisch zu hinterfragen.
Einfach und wirksam ist es, Querverbindungen herzustellen, also die
Funktionalität von Zusammenhängen zu prüfen und die eigenen biologischen
Erfahrungen aus anderem Kontext, insbesondere aus dem Alltag, mit heranzuziehen.
Das wird ja sowieso von den Schülern verlangt, also sollte der Lehrer bei sich selbst
bei der Unterrichts-Vorbereitung beginnen. An einigen wenigen Beispielen soll das
Vorgehen aufgezeigt werden.
Lehrstuhl Prof.em. Dr. rer. nat. Eberhard G. SCHMIDT Universität Essen, FB 9:
Grundvorlesung BIOLOGIEDIDAKTIK, Bearbeitungsstand vom 20.1.2001
Kap. 2, Ziele BU
2 — 21
Irreale Nahrungsketten/ Nahrungsnetze: Ein einfaches Beispiel für Sachfehler sind
viele der üblichen Grafiken zu Nahrungsbeziehungen (wie Nahrungsketten/-netze).
Dabei will ich gar nicht ansprechen, daß ungewichtete Pfeile ökologisch nichts
bedeuten (vgl. REMMERT, H.: Ökologie. Ein Lehrbuch. Springer, Berlin, 5.Aufl. 1992),
wesentlich ist vielmehr nur, ob durch den Fraß die Nahrungsquelle in ihrem Bestand
deutlich verändert wird. Selektiver Fraß bevorzugter Pflanzen schaltet diese aus (z.B.
Bergahorn-Jungwuchs
im
Flachland
durch
Rehe),
Arten
mit
hohem
Regenerationsvermögen
werden
gefördert,
insbesondere
wenn
überlegene
Konkurrenten durch den Fraß zurückgedrängt werden (Laubbaum-Nachwuchs in der
Koppel), Fraßvermeidung bedeutet Förderung (Disteln & -Dorngebüsche in der
Koppel).
Oft werden (in der didaktischen Literatur) in den Nahrungsketten Arten
verbunden, die sich wohl fressen könnten, sich aber in der freien Natur praktisch
nicht begegnen (vgl. das Beispiel aus STAECK [1987, S. 112]: „Grünalge“  Wasserfloh
 Gelbrandkäferlarve  Gründling  Hecht  Möwe): Der Begriff Grünalge ist hier zu
vage, oft mit Fadenalgen assoziiert und dann nicht Nahrung für Wasserflöhe; große
Gelbrandkäferlarven lauern Kaulquappen und Insektenlarven auf, aber nicht
Wasserflöhen; Gründlinge sind Bodenfische offener Bereiche und treffen dort nicht auf
Gelbrandkäferlarven oder Hechte, die wiederum nicht von Möwen erreicht/überwältigt
werden können; so stimmt das Beispiel von vorn bis hinten nicht!
Die BERGMANN‘sche Regel bei Pinguinen: Verdummung der Schüler als Chance zur
ökologischen Vertiefung: Ausgang: STAECK (19874: 251), zum fachlichen Hintergrund
vgl. URANIA-TIERREICH, Leipzig, [Bände Vögel, Tiergeographie 1995], als fachlich
hervorragendes Sachbuch REINKE-KUNZE, C.: Pinguine. Westermann, Braunschweig,
1993, dito, aber als Kinderbuch mit guter Bebilderung und didaktisch wertvollem
Frageschema: CULIK, B.: Pinguine. „Was ist was? – Band 107, Tessloff, Nürnberg
1998).
Die BERGMANN'sche Regel (Größenzunahme von [terrestrischen] Warmblütlern zu
den Polen hin) ist direkt plausibel (mit der Größe nimmt relativ das Volumen
[Fähigkeit, Wärme zu erzeugen] zu, die Oberfläche [Wärmeverluste] ab, zugleich wird
der Grundstoffwechsel ökonomischer).
Das Beispiel Pinguine mit der linearen Abstufung vom Kaiserpinguin (1,2 m) auf
dem antarktischen Festland bis zum Galapagos-Pinguin (0,5 m) am Äquator (W
Ecuador) scheint gut zu passen und ist so in vielen Schulbüchern zu finden, oft zum
Thema Evolution. Nun gibt es zu den fantastischen Anpassungen der Pinguine an den
extremen Brutplatz in der Antarktis auch ausgezeichnete Naturfilme im Fernsehen,
die viele Schüler kennen: Neben dem Kaiserpinguin (1,2 m) wird im Film auch die
zweite, viel kleinere Art der Antarktis, der Adelie-Pinguin (0,7 m), gezeigt. Er paßt
nicht in das Schema und wird in den Schulbüchern einfach unterdrückt. Das ist
schlicht unredlich (Verdummung der Schüler) und widerspricht den Prinzipien der
Didaktischen Rekonstruktion! Querdenker unter den Schülern müßten daher
unbequem nachfragen. Zum Glück für die Lehrer bleiben die beiden Schubladen
(Alltagserfahrung der Fernsehfilme und Schulunterricht) getrennt. Dabei wäre die
Querverbindung spannend: Offenbar gibt es einen anderen wesentlichen Faktor
(Nahrungserwerb/ Feindschutz), der die kleinere Art in der Antarktis begünstigt. Auch
für den Inselring um die Antarktis (mit Falkland-Insel, Südgeorgien, Kerguelen) herum
wird nur der zweitgrößte Pinguin, der Königspinguin (0,96 m) genannt. Dabei brütet er
Lehrstuhl Prof.em. Dr. rer. nat. Eberhard G. SCHMIDT Universität Essen, FB 9:
Grundvorlesung BIOLOGIEDIDAKTIK, Bearbeitungsstand vom 20.1.2001
Kap. 2, Ziele BU
2 — 22
mit verschiedenen anderen Arten (wie Eselpinguin, 0,76 m, Goldschopfpinguin,
0,71 m und Felsenpinguin, 0,63 m) zusammen. Die kleinste Pinguinart, der
Zwergpinguin (0,4 m, mit eigentümlicher Brutbiologie und Tagesperiodik), wird im
übrigen „natürlich“ auch nicht einbezogen, dabei liegen seine Brutplätze an der SKüste von Australien und auf Neuseeland auf der gleichen Breite wie die der deutlich
größeren Esel-/Zügel-P. [0,76 m, z.T. dort zusammen mit dem Königs-P.!]. Brillen-P.
[0,65 m, S-Afrika] und Humboldt-Pinguine [0,68 m, Chile]
Das Pinguin-Beispiel ist jedoch auch schon deshalb kritisch, weil die Pinguine
generell nur in Kaltwasserströmen (die über auftreibendes, nährstoffreiches Wasser
plankton- und damit fischreich sind) vorkommen. Auch der Vorstoß bis zum Äquator
bei den Galapagos-Inseln ist an den Perustrom gebunden. So ist die Zuordnung zum
Klima unklar.
Die Kritik muß das Pinguin-Beispiel auch als prinzipiell ungeeignet ansehen,
denn die BERGMANN'sche Regel gilt nur für Unterarten ein und derselben Art, nicht für
verschiedene Arten einer Ordnung (wie bei den Pinguinen): So sind bei der Art
Braunbär die Unterarten Kodiakbär (Alaska) und der Kamtschatka-Bär (Ostsibirien)
mit 3 m Länge in der Tat die größten Braunbären, größer als der Grizzly-Bär
Nordamerikas (2,3 m); besonders klein sind der Isabellbär aus Südsibirien, dem
Kaukasus und Kleinasien oder der Alpenbär (beide 1,8 m).
So gesehen ist die schulübliche Darstellung der Pinguine als Beispiel für die
BERGMANN'sche Regel nur als Verdummung der Schüler zu brandmarken. Sie kann
aber auch als Herausforderung zu einer ökologischen Vertiefung angenommen
werden:
Sie erfordert eine Anschauungsbasis. Gut geeignet ist dafür der Zoo. Es werden
(in offenen Anlagen) üblicherweise Brillen-Pinguine (Afrikanischer B., Humboldt-P.)
gezeigt. Als Schutz gegen die Luftverschmutzungen hält z.B. der Zoo Wuppertal die
empfindlichen Esels- und den Königspinguin in verglasten Hallen, im LöbbeckeMuseum Aquazoo Düsseldorf sind Eselspinguine im Kühlhaus zu sehen. Zu erarbeiten
sind vor Ort die Gestalt, das aufrechte Gehen, das Schwimmen und Tauchen (Antriebe
über die Flügel, Wendigkeit durch Füße/Schwanz), die systematische & geografische
Einordnung der Art (vgl. Arbeitsbogen). Aus dem Verbreitungsbild der Pinguine ergibt
sich ein Arten-Maximum von mittelgroßen Arten rund um den Südpol in der
Packeiszone (ein 2. Artenmaximum liegt weiter nördlich im Raum S-Neuseeland/
S Australien/ Tasmanien; am weitesten nördlich lebt dort der Zwerg-P. als
Höhlenbrüter, der nur nachts an Land (zu seinem Nest) geht; diese Arten sind nicht
bei uns in den Zoos). Nach Norden hin paßt in Südamerika die umgekehrt formulierte
BERGMANN'sche Regel (Kleinerwerden zum Äquator hin, dazu Brüten in Höhlen) für die
3 Brillenpinguin-Arten, also in einem Verwandtschaftskreis.
Interessant ist der Vergleich der Antarktis-Brüter, also vom großen Kaiser- und
vom kleineren Adelie-Pinguin. Sie stellen allein auf Grund ihrer Größe 2 verschiedene
Ökotypen dar. Der Kaiserpinguin taucht tiefer, länger nach Fischen, der Adelie-P.
nach Krill. Der Adelie-Pinguin legt 2 Eier auf das schneefreie antarktische Festland,
die Jungen werden noch im kurzen antarktischen Sommer „flügge“ (schwimmfähig).
Für den großen Kaiserpinguin reicht der antarktische Sommer nicht dafür. Er brütet
in Festlandnähe auf dem im Winter mehrere 100 km breiten Eis. Paarung und
Eiablage erfolgen im Herbst/ zu Beginn des Winters, die  kehren dann ins Meer
zurück, die  sind im Trupp ohne Nahrungsaufnahme dem extremen Polarwinter im
Lehrstuhl Prof.em. Dr. rer. nat. Eberhard G. SCHMIDT Universität Essen, FB 9:
Grundvorlesung BIOLOGIEDIDAKTIK, Bearbeitungsstand vom 20.1.2001
Kap. 2, Ziele BU
2 — 23
Dauerdunkel ausgesetzt. Das überstehen sie nur dank ihrer Größe. Kaiserpinguine
haben kein Nest, das Ei liegt auf den Füßen, überwallt von einer Bruttasche: Damit
bleibt der brütende Pinguin mobil (kann z.B. brütend vom eisigen Rand des Trupps in
die wärmere Mitte wechseln), eine einmalige Angepaßtheit bei Vögeln! Kurz nach dem
Schlüpfen des Jungen wird es noch vom  mit einem Sekret gefüttert, dann sollte das
 wieder mit Futter für 1 Monat zurückkehren und das  ablösen. Zum Hochsommer
hin löst sich die Eisscholle und treibt mit den noch nicht schwimmfähigen, aber schon
mobilen Jungen aufs Meer hinaus; meistens löst sie sich erst auf, wenn die Jungen in
das schwimmfähige Federkleid gewechselt sind.  Auch beim Königspinguin reicht der
Sommer nicht für das Flüggewerden der Jungen. Hier beginnt die Brut auf dem
Festland im Frühjahr, die riesigen, fetten Dunenjungen müssen im Trupp den
Polarwinter „ausstehen“, nur gelegentlich von den Eltern gefüttert, erst im nächsten
Sommer werden sie schwimmfähig. Die beiden großen Pinguin-Arten können so nur
2 Bruten in 3 Jahren aufziehen, dazu müssen sie an Land den Polarwinter
überstehen, das ist nur dank der Größe möglich, ein interessanter Zusammenhang,
zu dem die Auseinandersetzung mit der  hier nicht gültigen BERGMANN'schen Regel 
führen kann. Aus der verwerflichen Schülerverdummung wird damit ein spannendes
Kapitel Ökologie.
Die ALLEN’sche Regel: Die gleiche Kritik gilt im übrigen für die ALLEN'sche Regel (mit
der umgekehrten Aussage über die Proportionen der Extremitäten) hinsichtlich des
Beispiels Füchse, denn der Wüstenfuchs (Fenek) mit seinen großen Ohren ist
ökologisch nicht mit unserem Fuchs oder dem Polarfuchs vergleichbar. Auch haben
innerhalb der Gattung Equus z.B. das Wildpferd aus den mongolischen Kaltsteppen
und das Steppenzebra aus den tropischen Savannen Afrikas bei gleicher Lebensweise
etwa gleich kleine Ohren, Afrikanischer Wildesel und Grevy-Zebra aus der gleichen
Region aber deutlich größere. Der Schneehase hat zwar kleinere Ohren als der
Feldhase, aber viel größere als der Polarfuchs. Unter den Bären hat der tropische
Malayenbär extrem kleine Ohren. Auch die ALLEN'sche Regel ist eben nicht auf
(ökologisch) verschiedene Arten anwendbar!
Literatur:
HÖRMANN, M.: Methoden des BU. Die Bildungsarbeit der Volksschule. Methodik ihrer Stufen und
Fächer. Kösel München, 2.Aufl. 1965.
JUNGE, F.: Der Dorfteich als Lebensgemeinschaft. Lipsius & Tischer, Kiel, 1885. Nachdruck (der 3. Aufl.
von 1907) mit Vorwort/ Einführung von JANßEN, W, W. RIEDEL & G. TROMMER. Lühr & Dircks,
St. Peter-Ording 1985.
KATTMANN, U., E.JUNGWIRTH. & D.WITTE: Beachten logischer Strukturen im BU. UB 139: 42-46, 1988.
KERSCHENSTEINER, G.: Wesen und Wert des naturwissenschaftlichen Unterrichts. Oldenbourg, München,
1953, 5. Aufl. 1959.
MOHR, H.: Die besondere Verantwortung des Wissenschaftlers  was steckt eigentlich dahinter? Biologen
in unserer Zeit (VdBiol.) Nr. 405 [1993 (2)]: 20-22 (1993).
MUDRACK, K. & S.KUNST: Biologie der Abwasserreinigung. Fischer, Stuttgart 1988
SCHLEICHER, K: Umweltbildung, Umweltverantwortung, Umwelthandeln. S. 107-143 in: GÄRTNER, H. &
M.HOEBEL-MÄVERS, (Hrsg.): Umwelterziehung - ökologisches Handeln in Ballungsräumen. Krämer,
Hamburg 1991.
SIEDENTOP, W.: Methodik & Didaktik des Biologieunterrichts. Quelle & Meyer, Heidelberg 1964.
VOLLMER, G.: Naturwissenschaft Biologie . Aufgaben und Grenzen I, II. Biologie heute (VdBiol.) Nr. 371
(1990 [1]): 3-7, Nr. 372 [1990 [2]): 1-4 (1990).
VOLLMER, G.: Warum haben wir keine Frage-Kultur? Wissenschaft lebt von Problemen. Forschung &
Lehre (Hochschulverband) 1993: 148-152 (1993).
Lehrstuhl Prof.em. Dr. rer. nat. Eberhard G. SCHMIDT Universität Essen, FB 9:
Grundvorlesung BIOLOGIEDIDAKTIK, Bearbeitungsstand vom 20.1.2001
Kap. 2, Ziele BU
2 — 24
2.5 Leitziel individuelle Unterrichtsoptimierung
statt Curriculum-Normierung
2.5.1 Einzelfall-Optimierung als Ziel akademischer Ausbildung
Die Erfordernisse der Testtheorie bedingen die Normierung des Unterrichts (Primat der
statistischen Sicherung!). Das ist jedoch dem didaktischen Prinzip der bestmöglichen
Anpassung an die individuelle Unterrichtssituation diametral entgegen gesetzt. Sie
widersprechen damit zugleich dem Grundsatz akademischer Berufspraxis: Die
akademische Ausbildung soll ja den Praktiker dazu befähigen, die komplexe, nicht von
einfachen Regeln erfaßbare individuelle Situation angemessen zu erkennen, zu
bewerten und zu behandeln (individuelle Diagnose und Therapie). Das gilt für den
Patienten des Mediziners gleichermaßen wie für den Klienten des Rechtsanwaltes oder
den Delinquenten vor dem Richter, hier für die Unterrichtseinheit des Lehrers. In den
60er und 70er Jahren hatte die akademische Fachdidaktik diese Grundsätze aus
Gründen formaler Kriterien für die Anerkennung als empirische Wissenschaft
zurückgestellt. Auch beim IPN (Kap. 2.2) war die formgerechte Evaluation des
Lernerfolg der entscheidende Maßstab für die Gutachter die Sicherung der InstitutsFinanzierung durch die VW-Stiftung.
Zur Realisierung des Bildungsauftrages der Schule müssen aber die Adressaten,
Kinder und Heranwachsende, optimal angesprochen und zur Mitarbeit motiviert
werden. Dazu müssen sie als individuelle Persönlichkeiten gesehen und ihre
besonderen Neigungen, Erfahrungen und Umfeldbezüge berücksichtigt werden. Dazu
gehört auch das spezifische Beziehungsgefüge in der jeweiligen Lerngruppe. Auch
aktuelle Bezüge sind in das Unterrichtskonzept mit einzuarbeiten. Jede (gelungene)
Unterrichtsstunde zu dem gleichen Thema und in der gleichen Schule, aber mit
verschiedenen Klassen muß daher verschieden sein.
Normierte Unterrichtseinheiten (wie die IPN-Curricula, z.B. EULEFELD et al. 1974,
KATTMANN et al. 1974 sowie ELLENBERGER 1993, MOSTLER et al. 1975) hatten
verständlicherweise daher auf Dauer nur eine geringe Resonanz bei den Fachlehrern
2.5.2 Evaluation der Qualität einer Unterrichtseinheit, Utopie oder Realität?
Im Sinne der empirischen Lehr-/Lernforschung ergibt sich bei der Konstruktion von
Unterrichtseinheiten das Dilemma der Dialektik vom hier obligatorischen Prinzip der
Allgemeingültigkeit und der individuellen Optimierung. Die für die statistische
Sicherung notwendige Normierung des Unterrichts (z.B. für 1000 Schüler) und die
Relativierung der Lehrerpersönlichkeit stehen in eklatantem Gegensatz zur
individuellen Optimierung des Unterrichts (vgl. ELLENBERGER 1993). Bei dieser muß
daher aus prinzipiellen Gründen eine objektive (empirisch gesicherte) Evaluation
Utopie blieben. Das zeigt sich auch an den IPN-Unterrichtseinheiten (SCHROOTEN
1971), bei denen der hohe Entwicklungs-Aufwand vorwiegend in die Sicherung des
Testapparates gegangen ist, während die Qualität der diesen Curricula zu Grunde
liegenden inhaltlichen und methodischen Innovationen begrenzt bleiben mußte und
mit der (wegen der Operationalisierung der Lernziele weitgehend auf die kognitiven
Items beschränkten) Lernerfolgsmessung auch gar nicht objektiv und vergleichbar
Lehrstuhl Prof.em. Dr. rer. nat. Eberhard G. SCHMIDT Universität Essen, FB 9:
Grundvorlesung BIOLOGIEDIDAKTIK, Bearbeitungsstand vom 20.1.2001
Kap. 2, Ziele BU
2 — 25
bestimmt werden konnte. Überdies macht das individuelle Lernziel-Paket eines jeden
Curriculums die statistisch gesicherten Lernerfolgs-Werte schon unter verschiedenen
Curricula unvergleichbar. Diese Curriculums-Evaluationen waren damit vor allem
akademisch interessant.
In der empirischen Lehr-/Lernforschung wird dieses Problem dadurch
umgangen, daß die Einstellungen der Schüler in den Mittelpunkt gestellt und (ggf.
gesondert vom Schulunterricht: KATTMANN Nov. 1999 auf einem Kolloquiumsvortrag in
der Chemiedidaktik der Uni Essen) empirisch untersucht werden. Der Erfolg von
Einstellungsänderungen hängt allerdings von dem konkreten Unterricht (z.B. von der
Optimierung der Anschauung am Objekt und des genetischen Prinzips) ab und kann
ohne dessen Details nicht objektiviert werden. Beim entwickelnd-problemlösenden
Unterricht erkennt der Lehrer im übrigen sehr wohl Schüler-Einstellungen und ihre
Veränderung (wenn auch vornehmlich bei den Wortführern und nicht im
repräsentativen Querschnitt der Lerngruppe).
Die (statistisch gesicherte, objektive) Evaluation der Qualität einer
Unterrichtseinheit ist damit eine Utopie. Sie kann nur intuitiv vom erfahrenen Lehrer
erfaßt und über die verschiedenen Rückmeldungen der Schüler gesichert werden. Die
Problematik der nur intuitiven Erfolgskontrolle sollte nicht zu hoch gespielt werden,
denn auch in der Biologie gibt es Bereiche mit intuitiven Komponenten (z.B. bei
faunistischen oder vegetationskundlichen Erfassungen oder taxonomischen
Einordnungen oder bei Fragen der phylogenetischen Systematik).
Literatur zu 2.4.1 & 2.4.2
ELLENBERGER, W. (Hrsg.): Ganzheitlich-kritischer Biologieunterricht. Für das Leben lernen. Cornelsen,
Berlin 1993.
EULEFELD, G., G.SCHAEFER & K.DYLLA: Biologisches Gleichgewicht. Unterrichtseinheit für die
Klassenstufen 6-8. IPN-Einheitenbank (Curriculum) Biologie, Lehrerheft. Aulis/ Deubner, Köln
1974.
KATTMANN, U. & S.STANGE-STICH: DER Mensch und DIE Tiere. Unterrichtseinheit für die
Oreintierungsstufe (Klassenstufe 5 & 6). IPN-Einheitenbank (Curriculum) Biologie, Lehrerheft.
Aulis/ Deubner, Köln 1974.
MOSTLER, G., D.KRUMWIEDE & G.MEYER: Methodik und Didaktik des Biologieunterrichts. Quelle & Meyer,
Heidelberg, 1975.
SCHROOTEN, G. (Hrsg.): IPN-Curriculum-Entwicklung. Themenheft BU 7 (4). Klett, Stuttgart 1971.
2.5.3. Lernerfolgskontrolle (Evaluation) : Benotung
Die Lernerfolgskontrolle oder Evaluierung ist ein wesentlicher Bestandteil der
Curriculumsentwicklung (s. Kap. 6.11), denn der Lernerfolg ist das Maß für die
Optimierung von curricularen Unterrichtseinheiten. Zur Sicherung der Validität
müssen die Testaufgaben (Items) dabei in operationalisierter Form erstellt werden. Die
Auswertung ist ökonomisch zu gestalten. Das begünstigt Antwortauswahlverfahren
(„multiple choice“-Items). Dadurch werden einfache Wissensfragen begünstigt,
psychomotorische
oder
affektive Ziele
und
das
Verständnis
komplexer
Zusammenhänge sind fast nicht überprüfbar. Bei diesen Lernerfolgsbestimmungen
kommte es nur auf den Durchschnitt der Schülergruppe an, die Tests können also
anonym abgeben werden. Damit lassen sich auch Korrelationen im Lösungserfolg
zwischen verschiedenen Testaufgaben bestimmen, nicht aber die Leistungen den
Individuen zuordnen. – Eine Sammlung von Test-Items zur Biologie, insbesondere zur
Ökologie liefern PERROTT et al. (1979).
Lehrstuhl Prof.em. Dr. rer. nat. Eberhard G. SCHMIDT Universität Essen, FB 9:
Grundvorlesung BIOLOGIEDIDAKTIK, Bearbeitungsstand vom 20.1.2001
Kap. 2, Ziele BU
2 — 26
Einige grundlegende testtheoretische Begriffe seien hier angeführt:
Objektivität: Übereinstimmung der Ergebnisse verschiedener Erhebungen (z.B. mit
einer Kontrolluntersuchung) unter gleichen Bedingungen; gemessen wird, inwieweit
der Test wirklich unabhängig ist von der Testdurchführung (z.B. dem Verhalten des
Testleiters) und vom Auswerter (Durchführungs- & Auswertungs-Objektivität). Dazu
verhelfen genaue Durchführungs-Anweisungen, die Objektivität ist an einigen
Stichproben zu kontrollieren.
Zuverlässigkeit oder Reliabilität: Grad der Genauigkeit, mit der der Test ein
Merkmal mißt („Meßgenauigkeit“).
Gültigkeit oder Validität: Kriterium dafür, inwieweit der Test wirklich das mißt, was
gewünscht ist (vgl. die Operationalisierung der Lernziele als Sicherung der Validität
von Lernerfolgstest).
Testaufgabe: Frage, Aufgabe oder z.B. ein „multiple-choice“- (Antwortauswahl-) Block
Item: Der Teil einer Aufgabe, für die es einen Punkt (ggf. eine Punkteinheit z.B. bei
Vergabe halber Punkte, ggf. auch die ganze Aufgabe, wenn sie genau einen Punkt
erhält) gibt.
Schwierigkeitsindex eines Items: Prozentualer Anteil der richtigen Lösungen des
Items an der Zahl der Testteilnehmer, d.h. vergebene Punktezahl für das Item im
prozentualen Verhältnis zur möglichen Punktezahl in dem Test bzw. einfach der
(relative) Lösungserfolg des Items.
Trennschärfe eines Items: Korrelation des Lösungserfolgs eines Items mit dem des
Tests insgesamt. Sie ist hoch, wenn die Schüler es gut lösen, die insgesamt gut
abgeschnitten haben und umgekehrt.
Lernerfolg eines Items: Verbesserung des Schwierigkeitsindex bei einer zweiten
Testdurchführung mit der derselben Gruppe (z.B. vor und nach dem Unterricht
zum Testgegenstand). Ein Lernerfolg von 60% ergibt sich beispielsweise bei einem
Anstieg der richtigen Lösungen des Items bei 20% der Testteilnehmer im Vortest
und 80% im Nachtest.
Statistisch relevante Lernerfolgsmessungen werden vorzugsweise (aus ökonomischen
Gründen) mit Testaufgaben nach dem Antwort-Auswahlverfahren („multiple choice“)
vorgenommen. Sie erfordern einen hohen Aufwand für die Erstellung, sind aber (z.B.
mit einem Rechner) einfach auszuwerten. Sie lohnen sich also nur bei einer hohen
Teilnehmerzahl. Gegen einen hohen Lösungserfolg schon beim rein zufälligen
Ankreuzen helfen eine hohe Anzahl von Alternativen und die (vorher bekannt zu
gebende) Möglichkeit, daß mehrere oder auch gar keine Alternative richtig sein
können. Interessant sind gegenläufige Stellungnahmen zu diesem Verfahren bei den
Medizinern (vgl. TROST 1995 bzw. WUNDERLICH 1995). Ähnliche Verfahren wurden auch
zur Überprüfung des Wissensstandes von Schulabgängern bzw. Studienanfängern
eingesetzt (vgl. HESSE 1981 bzw. SCHILKE 1975). Die Problematik der Validität stellt
sich besonders bei komplexen Zusammenhängen (wie bei LEICHT ###; vgl. Kap. 7.9).
Die Lernerfolgskontrolle ist im Schulalltag unbedeutend. Hier geht es um
die Notendifferenzierung auf Grund der individuellen Schülerleistung: Die Grenze
zum Mangelhaften ist für die Versetzung von besonderer Bedeutung und muß daher
besonders herausgearbeitet und (justitiabel) gesichert werden. Einen hohen
Stellenwert hat auch die Notendifferenzierung von „Gut“ und „Sehr gut“, die durch
abgestuft anspruchsvolle Leistungs-anforderungen zu ermitteln ist.
Lehrstuhl Prof.em. Dr. rer. nat. Eberhard G. SCHMIDT Universität Essen, FB 9:
Grundvorlesung BIOLOGIEDIDAKTIK, Bearbeitungsstand vom 20.1.2001
Kap. 2, Ziele BU
2 — 27
Die Notenbestimmung kann vielfältig vorgenommen werden. Die Bewertung der
Mitarbeit im Unterricht läßt viele Zweifelsfälle (z.B. bei „stillen“ Schülern) offen, gerade
wenn der Lehrer die Klasse in der S I nur aus 2 Wochenstunden kennt (hilfreich ist
ein 2. (Korrektur-) Fach in der Klasse mit hoher Stundenzahl (wie Mathematik). Das
punktuelle Abfragen von Wissen ist bei Lehrern beliebt, kostet aber relativ viel
Unterrichtszeit und ist mit Zufällen behaftet. Klausuren mit  freien Antworten und
Darstellungen ( informellen Tests, vgl. ZÖLLER 1973), experimentelle oder
Untersuchungsaufgaben, Sonderleistungen sichern die Benotungsbasis, machen aber
mehr Arbeit.
Einen Vorschlag zur Objektivierung durch ein Punkte-Verfahren lieferte HEMMER
(1979):
 Schriftliche Tests von etwa 20 min mit je 6 Punkten;
 zusammenhängende mündliche Reproduktions- und
Reorganisations-Leistung
zu unmittelbar vorausgegangenem Unterricht („Abhören“)
mit 1 Punkt bei zufriedenstellender, 0,5 Punkten bei mäßiger
und 0 Punkten bei nicht ausreichender Leistung;
 besondere Leistungen im Unterrichtsgespräch
(wesentliche weiterführende Impulse, gute Transferleistungen,
problemlösendes Denken mit 1 Punkt je Beitrag;
 freiwillige Hausarbeiten mit abgestuftem Punkteschlüssel;
 freiwillige Referate mit abgestuftem Punkteschlüssel;
 sonstige für den Unterricht wertvolle Leistungen
(wie Materialbeschaffung, Aquarienpflege);
Noten nach geometrischem Punkteschlüssel, werden mit den Schülern besprochen.
Diese Punkteschlüssel lassen sich auch nach Binomialverteilungen normieren (vgl.
HÄFNER 1977).
Beispiele zu Bildtests zu morphologischen Kursthemen (wie Pflanzenanatomie,
abgestuft nach Realität wie bei Mikrofotos bzw. Abstraktion wie bei Schemata) mit
Formblättern für Auswertungsbögen, die die Vergleichbarkeit der Bepunktung sichern
und zugleich den Lernerfolg mit erkennen lassen (vgl. SCHMIDT 1974) wurden in der
Vorlesung demonstriert. Muster für Abituraufgaben sind im Handel erhältlich, den
Richtlinien (wie bei denen für die gymnasiale Oberstufe NRW, vgl. auch die Materialien
zur Leistungsbewertung dazu: Kap. 1), können Beispiele beigefügt sein (vgl.auch LIEB
1981).
Literatur zur Lernerfolgs- & Leistungsmessung:
BÖHMER, M. (Hrsg.): Lernerfolgskontrolle. Scriptor, Königstein/Ts. 1979
HÄFNER, P.: Testmodelle zur objektivierten Leistungsmessung; MNU 30: 460-464 (1977).
HEMMER, H.: Ein Punktsystem zur Leistungsbewertung im Biologieunterricht der S I; MNU 32: 173-176
(1979).
HESSE, M.: Wird CO2 in der Photosynthese reduziert oder oxidiert? Ein Beitrag zur Stellung der Chemie im
Biologieverständnis von Studienanfängern. PdB 1981: 268-276 (1981).
KLINCK, R. & K.ULLRICH: Leistungsprognose, Leistung & Sozialstatus in der Orientierungsstufe.
Untersuchungen am Hans-Geiger-Gymnasium in Kiel. Kultusministerium, Kiel 1974.
KULTUSMINISTERIUM SH (Hrsg.): Lehrer messen Leistung. Möglichkeiten, Grenzen, Entwicklungen.
Kultusministerium, Kiel 1971.
LEICHT, W.: Lebende Objekte (Tiere) und Tonbildreihen im BU. Biol.didact. 6 (2): 5-37, ###.
Lehrstuhl Prof.em. Dr. rer. nat. Eberhard G. SCHMIDT Universität Essen, FB 9:
Grundvorlesung BIOLOGIEDIDAKTIK, Bearbeitungsstand vom 20.1.2001
Kap. 2, Ziele BU
2 — 28
LIEB, E.: BU & formale Bildung. Lassen sich die Anforderungen von Klausuraufgaben aus dem BU der
Leistungskurse mit den Anforderungen anderer Fächer vergleichen? PdB 30: 129-134, 224 (1981).
PERROTT, E., D.HUGHES-EVANS & D.CAMPELLI.: Resource book of test items in biology. Murray, London
1979.
ROYL, W. (Hrsg.): Lernerfolgsmessung im Schulversuch. Didaktische Informationen aus Schulversuchen.
Westermann, Braunschweig 1975.
SCHILKE, K.: Der ökologische Anteil im biologischen Wissen von Schulabgängern  erste Ergebnisse einer
empirischen Untersuchung. Verh. GfÖ Erlangen 1974: 291-306 (1975).
SCHMIDT, E.: Bilddeutungen als informelle Tests zu morphologisch/anatomischen Übungen. NiU 22 (2):
80-87 (1974).
TROST, G.: Als Meßinstrument unverzichtbar; "Multiple-Choice" gewährleistet hohes Leistungsniveau
Forschung & Lehre (Hochschulverband) 1995 (3): 153-155 (1995).
WUNDERLICH, P.: Non vitae sed scholae discimus; Faktenwissen und Denkvermögen. Forschung & Lehre
(Hochschulverband) 1995 (3): 156-157 (1995).
ZÖLLER, W.: Testähnliche Verfahren zur Ermittlung des Lehr- & Lernerfolges im BU. MNU 26: 501-506
(1973).
2.6 Leitziel der originären Begegnung und der Anschaulichkeit
2.6.1 Leitziel der orginären Begegnung mit dem Naturobjekt
und des Arbeitens am Naturobjekt
„Wer zur Quelle gehen kann, gehe nicht zum Wassereimer“ sagte schon das
Universalgenie LEONARDO DA VINCI vor 500 Jahren (um 1500). Das Lernen an der Natur
statt nach dem Buch kennzeichnet den Wechsel zum modernen Biologieunterricht.
Originäre Naturerfahrung statt Buchwissen forderte (um 1630)  seiner Zeit weit
voraus  schon COMENIUS. Das praktische Arbeiten am Naturobjekt arbeiteten LÜBEN
(um 1830) und LEUNIS (um 1870) in bis heute gültiger Form didaktisch auf, im
Sommer für die Untersuchung frischer Pflanzen aus dem Umfeld der Schule und aus
dem Schulgarten, im Winter wurde an Tierpräparaten aus der Schulsammlung, dem
„Naturalien-Kabinett, gearbeitet; überholt hat sich lediglich die damals
vorherrschende systematische Fragestellung (als Bestimmen und Einordnen in das
LINNÉsche System). Das praktische Arbeiten wurde von dann JUNGE (1885) in den
anspruchvollen funktionalen (biologisch/ ökologischen) Zusammenhang am Beispiel
von repräsentativen Wassertieren und Ufer-/ Wasserpflanzen eines norddeutschen
Dorf-/ Mühlenteichs gestellt und didaktisch bis heute vorbildlich erschlossen (Kap. 6).
So hat das Arbeiten am Naturobjekt schon damals didaktisch absoluten Vorrang im
Biologieunterricht erhalten,
Begründet wird das heute damit, daß zum Verständnis von Biologie als
Naturwissenschaft nicht nur die Vermittlung der Fakten (Inhalte: kognitive Lernziele)
gehört, sondern auch die der Arbeitsverfahren, mit denen sie gewonnen worden sind.
Konsens besteht auch darin, daß es nicht ausreicht, diese Arbeitsverfahren nur
kognitiv in den Unterricht einzubringen, sondern daß sie wirklich am konkreten
Beispiel angewendet werden und zu biologischer Originalerfahrung führen müssen
(Kap. 4).
Eine treffliche Karrikatur der „Kreide“-Biologie so manchen naturfernen BiologieLehrers liefert das folgende Gedicht zum Bach im Unterricht:
Lehrstuhl Prof.em. Dr. rer. nat. Eberhard G. SCHMIDT Universität Essen, FB 9:
Grundvorlesung BIOLOGIEDIDAKTIK, Bearbeitungsstand vom 20.1.2001
Kap. 2, Ziele BU
2 — 29
Der Bach
von HEINRICH SCHULMANN
Der Lehrer nimmt den Bach durch.
Er zeigt ein Bild.
Er zeigt an die Wandtafel.
Er beschreibt. Er schildert. Er erzählt.
Er schreibt auf. Er diktiert ins Heft.
Er gibt eine Hausaufgabe.
Er macht eine Prüfung.
Hinter dem Schulhaus
fließt munter der Bach vorbei.
Vorbei.
Nach Leo HACKE, Pausenplätze machen Schule, Hitzkirch 1981 (Überschrift verändert), S. 369. [zit. nach
WILHELMI 1993; vgl. auch FEY 1996, S.1].
Auch im Lehramtsstudium Biologie haben die Praktika/ praktischen Übungen und die
Exkursionen einen festen Platz neben den Vorlesungen und Seminaren. So ist es
eigentlich unverständlich, wenn das praktische Arbeiten im Biologieunterricht (anders
als in der Chemie oder Physik) immer wieder in der Praxis des Schulalltages aus
Bequemlichkeit oder wegen mangelnder Erfahrung des Lehrers (d.h. Mängel in seiner
Qualifikation!) oder einfach aus Bequemlichkeit unterbleibt. Chemie und Physik
können allerdings ihre im Vergleich zu biologischen Untersuchungen und
Experimenten einfachen Schulversuche aus den Labormaterialien bestreiten. Die
Vorbereitung liegt also eher auf dem Anspruchsniveau von LÜBEN und LEUNIS, weit
unter dem von JUNGE.
2.6.2 Regeln für den Umgang mit der Natur und mit Lebewesen im BU
Das praktische Arbeiten am Naturobjekt ist typisch ein Arbeiten in der Natur oder mit
Lebewesen im Kursraum. Die Bevölkerung, gerade auch die Schüler (oder zumindest
einzelne in jeder Klasse/ in jedem Kurs), sind heute für einen pfleglichen Umgang mit
der Natur und den Lebewesen sensibilisiert. Durch die Umwelterziehung wird das
noch verstärkt. In den Kursen und auf den Exkursionen der Universität wird das
nicht so beachtet. Lehrer sind jedoch stärker in der Pflicht als die Universität. So wird
beispielsweise das Einfangen von Insekten mit dem weißen Fangnetz (z.B. in den
Ruhrauen) von der Bevölkerung nicht mehr interessiert betrachtet, nicht einmal mehr
hingenommen, sondern geächtet. Ein Lehrer, der sich mit seiner Klasse darüber
hinwegsetzt, wird in Argumentationsnöte geraten und riskiert den Verlust des
Ansehens (und Anzeigen). Es sind inzwischen auch nicht nur ethische
Verpflichtungen im BU wirksam, denn es ist der gesetzliche Schutz stark ausgeweitet
worden. Lehrer müssen als Bürger und als Beamte diese Gesetze kennen und als
Lehrer sie vorbildlich beachten! Das Befolgen dieser Schutzgesetze berührt gravierend
die Glaubwürdigkeit im Hinblick auf die Umwelterziehung (vgl. Kap. 4.8) und ist schon
damit ein wesentlicher Faktor für den Einsatz der biologischen Arbeitsweisen im BU.
Lehrstuhl Prof.em. Dr. rer. nat. Eberhard G. SCHMIDT Universität Essen, FB 9:
Grundvorlesung BIOLOGIEDIDAKTIK, Bearbeitungsstand vom 20.1.2001
Kap. 2, Ziele BU
2 — 30
Die Erziehung zur Achtung vor dem Naturgeschöpf und der intakten Natur ist
ein altes ethisches Gebot der Schule. Sie war ursprünglich als Achtung vor der
Schöpfung Gottes in die Religion eingebunden. Heute ist sie ein Gebot der
nachhaltigen Nutzung der Erde, der Verantwortung für die Weitergabe der Tier- und
Pflanzenarten und ihrer Lebensräume an die künftigen Generationen. Tier-, Baum-,
Arten- Umweltschutz sind daher gesetzlich oder durch Verordnungen geregelt. Der
Biologieunterricht muß sie beachten.
Das Tierschutzgesetz (vgl. LORZ 1992) schützt Tiere (insbesondere Wirbeltiere)
vor Schmerzen und ähnlichem Streß vor allem bei der Haltung und bei der Arbeit mit
den Tieren. Es wird bei der Massentierhaltung relativ großzügig, bei Labortieren für
Forschung und Lehre aber inzwischen sehr restriktiv ausgelegt und schließt
zahlreiche klassische Experimente für den Schulunterricht aus.
Im Bundesnaturschutzgesetz (letzte Änderung 22.4.1993; Rahmengesetz für die
entsprechenden Gesetze der Länder wie das Landschaftsgesetz NRW; vgl. EBERT &
BAUER 1993) sind inzwischen eine Reihe von Biotoptypen (wie Röhrichte und
naturnahe Ufer) generell geschützt und damit der Geländearbeit mit Schulklassen
entzogen. Viele bekannte Tiergruppen (wie alle Amphibien, Großlaufkäfer, Wildbienen,
Libellen, fast alle Tagfalter) stehen unter dem besonderen Artenschutz und dürfen
auch zur Betrachtung nicht mehr gefangen werden. Damit entfallen die klassischen
Untersuchungen zur Metamorphose von Grasfrosch oder Erdkröte oder zum
Beutefangverhalten von Libellenlarven (was auch neue Didaktiken oft negieren, z.B.
EKR 1996: S.306/307). Dabei sind eine Reihe von Artenschutz-Bestimmungen, die
z.B. für scheue von den menschlichen Nachstellungen bedrohten Vogelarten
notwendig sind, bei Amphibien oder Wirbellosen sachlich unsinnig, denn diese Arten
haben eine völlig andere Fluchtdistanz und Reproduktion, sind weniger von direkten
Nachstellungen als von Eingriffen in den Lebensraum bedroht. Besonders deutlich ist
das bei der Entnahme von Froschlaich für die Untersuchung der Metamorphose in der
Schule: Bei sachgemäßer Haltung erreichen fast alle Kaulquappen das
Jungfroschstadium und können dann ausgesetzt werden, während im Naturraum die
Mehrheit vorher Freßfeinden (wie Fischen oder Gelbrandkäferlarven) zum Opfer
gefallen ist. Selbst Frösche im Gartenteich unterliegen den Artenschutzbestimmungen.
In Verlegenheit kommt der Lehrer schon, wenn auf einem Schulausflug Schüler
begeistert einem Frosch nachstellen, ihn fangen, um ihn aus der Nähe zu betrachten,
und sich in eine wünschenswerte Begeisterung über das Tier steigern, dabei aber mit
dem Gesetz in Konflikt geraten (vgl. SCHMIDT 1994). Der Lehrer muß aber als Beamter
und staatsbürgerliches Vorbild für die Schüler auch unsinnige Gesetze einhalten!
Besondere Schutzbestimmungen gelten beispielsweise für Naturdenkmale,
Naturschutzgebiete, Nationalparke, Biosphären-gebiete.
Den Fischfang, die Jagd sind durch besondere Gesetze geregelt, in vielen Städten
gelten z.B. Baumsatzungen.
Die besser bekannten „Roten Listen“ der gefährdeten Pflanzen- und Tierarten
haben dagegen keine Gesetzeskraft, sind jedoch als moralische Verhaltensnorm vom
Lehrer zu beachten.
Lehrstuhl Prof.em. Dr. rer. nat. Eberhard G. SCHMIDT Universität Essen, FB 9:
Grundvorlesung BIOLOGIEDIDAKTIK, Bearbeitungsstand vom 20.1.2001
Kap. 2, Ziele BU
2 — 31
Die gesetzlichen oder ethischen Beschränkungen beim Arbeiten in der Natur oder
am lebenden Organismus können bedingt durch den Medieneinsatz kompensiert
werden (vgl. z.B. BLUME u.a. 1971, BURGHAGEN 1984, KUHN 1966, SCHMALE & ZÖLLRERT
1974). Besser ist die Nutzung käuflicher Exoten (z.B. Krallenfrosch statt
einheimischer
Froschlurch-Arten
oder
Kampffisch
statt
Stichling
oder
Schmuckschildkröten als Beispiel für ein [durch Aussetzungen von Heimtieren]
häufiges Reptil im Ballungsraum: SCHMIDT et al. 1999), was angesichts des
submediterranen Klimas in der Stadt und des (vor allem im Winterhalbjahr)
subtropischen Klimas in den Räumen auch ökologisch angebracht ist.
Bei der Geländearbeit erhält die „Stille Beobachtung“ (im Sinne einer
Beobachtung unbemerkt vom Objekt) mit Fernglas und Kamera (statt quantitativer
Erfassungen mit „Flurschaden“) einen besonderen Stellenwert (vgl. SCHMIDT 1996). Im
Ballungsraum senkt sie auch das Risiko, durch die Geländearbeit bei anderen, für
den Naturschutz sensibilisierten Menschen keinen Anstoß zu erregen. Sie hat
didaktisch den besonderen Vorteil, besser die Lebensweise und die ökologischen
Zusammenhänge der beobachteten Arten erkennen zu lassen. Das belegt schon der
große, aktuell gebliebene wissenschaftlichen Erfolg des dänischen Naturforschers
WESENBERG-LUND (1943, Vorwort, S.2/3), der bereits Anfang des Jahrhunderts das
stille Beobachten propagiert hat:
„Dieses Buch sollte vor allem ein Buch über die Natur sein. Es ist von einem Naturfreund
geschrieben, der sie in Sturm und Stille kennen gelernt hat. Es ist auf Beobachtungen
aufgebaut, die jeder machen kann, wenn er nur mit offenen Augen durch Feld und Wald
streift. Nicht die langen Wege, bei denen die Muskeln ermüden, sondern das lange Verweilen
an einer Stelle ergeben die meisten biologischen Resultate. Ein paar (Fang-, Beobachtungs-)
Gläser, eine gute Lupe* und ein Kescher ist alles, was man als Instrumentarium braucht; je
älter ich wurde, um so weniger benutzte ich den Kescher. Die meisten meiner Beobachtungen
kamen bei wachem Ausruhen mit angespannten Sinnen ... zustande. Es kommt darauf an,
nicht zu jagen, nicht zu töten, nicht mit einem Schmetterlingsnetz herumzurennen, nicht den
Frieden der Natur zu stören. - Es sind auch keineswegs die zahlreichen Exkursionen zu vielen
verschiedenen Fundorten, sondern viele, regelmäßig wiederholte Exkursionen zu einem oder
ein paar Fundorten, die sichere Ergebnisse zeitigen. Mehr als anatomische Untersuchungen
erfordern die biologischen Beobachtungen die Wiederholung.“
*Anm.: Heute sind Fernglas (8-10fach mit Nahpunkt bei 0,5-1 m) und Fotoapparat/
Videokamera hinzuzufügen!
Heute wird vor allem in der Ornithologie dieses Stille Beobachten propagiert (vgl.
ARDLEY & HAWKES 1979, BERTHOLD u.a. 1980, BEZZEL 1991, JOREK 1980, SPILLNER &
ZIMDAHL 1990 oder Witt 1993 sowie LOVEGROVE & BARRET 1985, MEIER-PEITHMANN u.a.
1989), Stadtparks bieten (dank der hohen Dichte und der Vertrautheit vieler Arten)
überraschend interessante Beobachtungsmöglichkeiten (z.B. an den Stockenten:
SCHMIDT 1988, 1991), selbst Libellen können an passenden Stadtteichen "hautnah"
und dennoch ungestört (ganz im Sinne der „Stillen Beobachtung“) studiert werden
(SCHMIDT 1990).
Lehrstuhl Prof.em. Dr. rer. nat. Eberhard G. SCHMIDT Universität Essen, FB 9:
Grundvorlesung BIOLOGIEDIDAKTIK, Bearbeitungsstand vom 20.1.2001
Kap. 2, Ziele BU
2 — 32
Dieses „Stille Beobachten“ bringt Abstriche bei der Artbestimmung von
Kleintieren mit sich, dafür ergibt sich der Vorteil, die Organismen im funktionalen
Kontext zu erleben und zu erkennen. Bei Insekten auf Blüten läßt sich wirklich (mit
dem Nahglas) der Einsatz der Mundwerkzeuge bzw. des Pollensammelapparates, der
genaue Zugang zur Blüte und der Stil von An- und Abflug analysieren, damit die
Angepaßtheit differenziert zu deuten. Dank der Geräteausstattung kommen auch
unzugängliche und sonst kaum beachtete Objekte (wie Blüten von Bäumen) in den
Blickpunkt und können (wie Anfängerexkursionen an der Uni belegen) für
Überraschungensorgen. Damit überwiegen gerade im Ballungsraum die Vorteile. Auch
bei WESENBERG-LUND war es ja nicht der Druck einer Naturschutz-Ethik, die ihn zum
"stillen Beobachten" brachte, sondern der Gewinn beim Analysieren ökologischer
Beziehungsgefüge.
Dieses „Stille Beobachten“ gewinnt von der Kombination mit der
Fotodokumentation (Kap. ##). Dabei ist die Dokumentation mit einer (Amateur-)
Videokamera einfacher, lebendiger und preiswerter als die Fotodokumentation, aber
an die Bildschirmprojektion gebunden.
Literatur:
ARDLEY, N. & B.HAWKES: Vögel beobachten. Maier, Ravensburg 1979.
BERTHOLD, P., E.BEZZEL & G.THIELCKE: Praktische Vogelkunde. Ein Leitfaden für Feldornithologen.
Empfehlungen für die Arbeit von Avifaunisten & Feldornithologen. Kilda, Greven (1974), 1980.
BEZZEL, E.: Vögel beobachten. Praktische Tips, Vogelschutz, Nisthilfen, Fotografie. BLV, München,
3. Aufl. 1991.
BLUME, D., G.THEILACKER & N.HERRMANN: Attrappenversuche beim Kleiber. Droh- & Angriffsverhalten
gegen Nestfeinde. FWU- S 8- Farbfilm, FWU, Grünwald 1971.
(Schemata dazu bei BLUME, D: So verhalten sich die Vögel. Neue Brehmbücherei 342. Ziemsen,
Wittenberg 1971: 43, 105; 3. Aufl. 1973 unter dem Titel Ausdrucksformen unserer Vögel. Ein
ethologischer Leitfaden: 43, 104-105).
BURGHAGEN, H.: Neuroethologie des Beutefangs bei Kröten; eine quantitative Filmanalyse. PdB '84: 373384 (1984).
EBERT, A. & E.BAUER: Naturschutzrecht. Bundesnaturschutzgesetz, Washingtoner Artenschutzabkommen
mit Zustimmungsgesetz und allgemeinen,. Bundesartenschutzverordnung,
Landesnaturschutzgesetze. Textausgabe mit Sachverzeichnis und einer Einführung. Beck,
München, 6. Aufl. 1993.
JOREK, N.: Vogelschutz-Praxis. Herbig, München 1980.
KUHN, W.: Exemplarische Biologie in Unterrichtsbeispielen (1. Unterrichtsbeispiel: "Die Kinderstube des
Drosselrohrsängers"; der Einsatz des Filmes im BU, S. 16 ff.). List, München 1966.
LORZ, A.: Tierschutzgesetz. Beck, München, 4. Aufl. 1992.
LOVEGROVE, R. & P.BARRETT: „Folg ich der Vögel wundervollen Flügen...". Vogelbetrachtungen im
Jahreslauf. Gerstenberg, Hildesheim, 2.Aufl. 1985.
MEIER-PEITHMANN, W., F.NEUSCHULZ & W.PLINZ: Lebensbilder aus der Vogelwelt zwischen Elbe und
Drawehn. Avifaunist. AG Lüchow/ Dannenberg, Lüchow, 2.Aufl. 1989.
SCHMALE, E. & W.ZÖLLRERT: Die Präparation von Rana temporaria im Unterricht - dargestellt anhand
einer Diaserie. MNU 27: 178-180 (1974).
SCHMIDT, E.: Stockenten auf Stadtteichen. Öko-ethologische Problematik der anthropogenen Massierung
einer Wildvogelart (Anas platyrhynchos) in der Stadt. Tier & Museum (Bonn): 29-41 (1988).
SCHMIDT, E.: Libellenbeobachtungen in der Stadt: Der Botanische Garten in Bonn. Tier & Museum (Bonn)
2: 42-52 (1990).
SCHMIDT, E.: Ethologie am Stadtparkteich: Die Stockentenbalz. Biol. Schule 40: 409-417, Bildbeilage: 1-8
(1991).
SCHMIDT, E.: Naturschutz & Formenkunde - Konflikte und ihre Bewältigung am Beispiel von
Gewässeruntersuchungen durch Schüler. S. 297-301 in: BAYRHUBER, H., K.ETSCHENBERG,
K.-H.GEHLHAAR, O.GRÖNKE, R.KLEE, H.KÜHNEMUND & J.MAYER (Hrsg.): Interdisziplinäre
Themenbereiche und Projekte im Biologieunterricht. 9. Fachtagung der Sektion Fachdidaktik im
VDBiol 1993 in Ludwigsfelde (bei Potsdam). IPN, Kiel 1994.
Lehrstuhl Prof.em. Dr. rer. nat. Eberhard G. SCHMIDT Universität Essen, FB 9:
Grundvorlesung BIOLOGIEDIDAKTIK, Bearbeitungsstand vom 20.1.2001
Kap. 2, Ziele BU
2 — 33
SCHMIDT, E.: Ökosystem See; Bd.I: Der Uferbereich des Sees. Quelle & Meyer, Wiesbaden, 5.Aufl. 1996.
SCHMIDT, E., K.BLOMENKAMP & J.KAMINSKI: Schmuckschildkröten im Vivarium. Unterrichtsmodell für die
Sekundarstufe I (6./. Schülerjahrgang). UB 248 (23.Jahrg.): 21-26 (1999).
SPILLNER, W. & W.ZIMDAHL: Feldornithologie. Eine Einführung. Dt. Landwirtschaftsverlag, Berlin 1990.
WESENBERG-LUND, C.: Biologie der Süßwasserinsekten. Springer, Berlin 1943.
WITT, R.: Vogelbeobachtungen durch das Jahr. Grundwissen, Projekte für jeden Monat, zahlreiche Tips,
Vogelschutz. Mosaik/ Bertelsmann, München 1993.
2.6.3 Leitziel Formenkenntnis für den Biologieunterricht
############### wird noch ausgeführt #############
2.7 Leitziele zur schüler-orientierten Stoffauswahl und zur
Selbsttätigkeit und Gruppenarbeit der Schüler
2.7.1 Leitziel „am Schüler orientierte Prinzipien
zur Stoffauswahl/ -anordnung im Biologieunterricht“
In den letzten 150 Jahren haben sich die folgenden allgemeinen Prinzipien zur
Stoffauswahl im BU herauskristallisiert und sind unstrittig geworden:

Vom Bekannten zum Unbekannten, vom Einfachen zum Schwierigen, vom
(für den Schüler) Nahen zum (für den Schüler) Fernen (vgl. LÜBEN/ LEUNIS,
Kap. 6.2).
Zu beachten ist also, daß die Maßstäbe bei Kindern anders liegen können als bei
Lehrern, auf dem Lande anders als in der Stadt: Dort können z.B. derzeit bei
Schülern der Orientierungsstufe Dinosaurier besser bekannt sein als Feldhasen,
[Zoo-] Elefanten besser als Igel.

Anknüpfung an die Erfahrungswelt des Schülers, das Prinzip der Lebensnähe.
Dazu muß der Lehrer muß die Erfahrungswelt der Schüler aber kennen; Prinzip
der Lebensnähe bedeutet auch den Bezug zur Anwendung der Biologie im
täglichen Leben und im Berufsleben, z.B. in Gärtnerei, Land- & Forstwirtschaft,
Freizeitangeln/ Fischerei (vgl. Kap. 6.4 zu JUNGE 1885, S. 17: „Ihr Kollegen ... könnt
beim Landmann, beim Fischer, beim Jäger etc. für manche Sachen Licht erhalten“).

Die Anschauung muß Fundament der (naturwissenschaftlichen) Erkenntnis
sein,
auch wenn Verbalismus und „Kreide“-Biologie für den Lehrer viel einfacher sind
(vgl. Kap. 6: COMENIUS, PESTALOZZI, LÜBEN, JUNGE und die Problematik der
SCHMEIL'schen Biologiebücher).

Prinzip der originalen Begegnung,
Vorrang für das Beobachten in der freien Natur und für Untersuchungen an
lebenden Organismen, zumindest an Naturobjekten.
Lehrstuhl Prof.em. Dr. rer. nat. Eberhard G. SCHMIDT Universität Essen, FB 9:
Grundvorlesung BIOLOGIEDIDAKTIK, Bearbeitungsstand vom 20.1.2001
Kap. 2, Ziele BU
2 — 34


Das „Pflegerische“ als Leitidee der Schule
Im BU soll nicht nur am lebenden Objekt gearbeitet, die Schüler sollen auch für
den pfleglichen Umgang mit den Pflanzen und Tieren motiviert werden. Dazu
gehört die verantwortungsvolle, sachkundige Pflege sowohl im Schulgebäude als
auch draußen (z.B. im Schulgarten; vgl. WINKEL 1978, 1995).
Begriffliche, logische und methodische Klarheit der Aussagen.
Diese Unterrichtsprinzipien bedeuten wieder in erster Linie, daß die Fachstruktur
von ihnen überformt und verändert wird. Das Schulfach unterscheidet sich damit
nicht nur durch die didaktische Transformation und Rekonstruktion vom Fach,
sondern auch und maßgeblich durch die am Schüler orientierte Anordnung der
Inhalte.
Der letzte Punkt (begriffliche Klarheit) kann durch kontroversen Begriffsgebrauch
(ggf. schon bei verschiedenen Fachdisziplinen) Schwierigkeiten bereiten (nähere
Ausführungen im Kap. Sprache 3.4). Als Beispiel angeführt sei:
Der Begriff Biotop
 Biotop als die abiotische, Biozönose als die biotische Komponente eines
Ökosystems (z.B. BICK 1989: 17).
 Röhrichte, Sumpfwälder, Zwergstrauch,-/ Wacholderheiden (u.a. Vegetationseinheiten) als besonders geschützte Biotope (Bundesnaturschutzgesetz § 20c).
 Biotop im Sinne des Gartenteiches in der Umgangssprache.
 „Der“ Biotop im Sinne der klassischen Ökologie, „das“ Biotop im Sinne der „political
correctness“.
Literatur:
BICK, H.: Ökologie. Grundlagen, terrestrische und aquatische Ökosysteme, angewandte Aspekte. Fischer,
Stuttgart 1989 (2. Aufl. 1993)
JUNGE, F.: Der Dorfteich als Lebensgemeinschaft. Lipsius & Tischer, Kiel 1885. Nachdruck (der 3. Aufl.
von 1907) mit Vorwort/ Einführung von W.JANßEN, W. RIEDEL & G. TROMMER. Lühr & Dircks,
St. Peter-Ording 1985.
WINKEL, G.: Das Pflegerische als Leitidee der Schule unter besonderer Berücksichtigung des
Biologieunterrichts. NiU 26 (6): 163-170 (1978).
WINKEL, G.: Umwelt und Bildung. Denk- und Praxisanregungen für eine ganzheitliche Natur- und
Umwelterziehung. Kallmeyer, Seelze 1995.
2.7.2 Leitziele zur Selbsttätigkeit und Gruppenarbeit der Schüler
Kreative Selbsttätigkeit der Schüler im sozialen Kontext sind hochrangige, aber nicht
immer im Alltag einfach umzusetzende Leitziele des Biologieunterrichts:



Leitziel Selbsttätigkeit der Schüler
Leitziel forschend-entdeckendes Lernen
Leitziel Gruppenarbeit der Schüler
Diese Leitziele werden hier nur genannt und im Kap. 3.5 ausgeführt. Dazu gehören:
3.5.1.1 Arbeitsunterricht
3.5.1.2 Forschend-entdeckendes Lernen im Unterricht
3.5.1.3 Handlungsorientierter Unterricht
3.5.1.4 Projektunterricht
3.5.1.6 Sonderaufgaben/ innere Differenzierung
3.5.2
Sozialformen des BU
3.5.3.5 Impulse /Denkanstöße) setzendes Unterrichtsgespräch
Lehrstuhl Prof.em. Dr. rer. nat. Eberhard G. SCHMIDT Universität Essen, FB 9:
Grundvorlesung BIOLOGIEDIDAKTIK, Bearbeitungsstand vom 20.1.2001
Kap. 2, Ziele BU
2 — 35
2.8 Leitziele Verständnis statt enzyklopädischer Faktenanhäufung, inklusives statt exklusives Denken
2.8.1 Leitziel „Verständnis von komplexen Zusammenhängen“
durch „inklusives Denken“
Einführung: Die Forderung, die Schule soll mehr leisten, mehr Wissen vermitteln, ist
hoch aktuell. Im internationalen Vergleich sollen die deutschen Schüler zu schlecht
abschneiden („TIMM-Studie“). Dabei wird die Schule von der Faktenfülle erdrückt.
Doch enzyklopädisches Faktenwissen hilft nicht in einer komplexen Welt. Wichtiger ist
vielmehr die Fähigkeit, ein komplexes Beziehungsgefüge zu erkennen und zu
verstehen. Das einfache lineare, formale Denken in starren Begriffen und Regeln, in
Typologien und Schemata („Schubladen“), das Denken in isolierten Ausschnitten mit
schematisiert-typologischer Zuordnung nach statischen Strukturmerkmalen mit
Beschränkung auf den Augenblick, also das „exklusive (mechanistisch/
deterministische) Denken“ im Sinne von SCHAEFER (1978), reicht dafür nicht aus.
Gefordert ist vielmehr das Denken in Vernetzungen (VESTER 1991), in funktionalen
Beziehungsgefügen, das „inklusive (systemische) Denken“ im Sinne von SCHAEFER
(1978)
Inklusives Denken ist gekennzeichnet durch ganzheitlich „vernetztes“ Denken in
Zusammenhängen,
durch
konkret
differenzierte
Individualanalyse
unter
Berücksichtigung der Dynamik von synergetischen (Chaos-) System-Beziehungen
(s.u.) und dem Aspekt der Nachhaltigkeit (s.o.). Dieses inklusive Denken ist
unbequem, aber als Leitziel des Biologieunterrichts unerläßlich.
Die „Bau-Leistungs-Verschränkung“ als Beispiel für inklusives Denken: Bislang
war undifferenziert vom inklusiven Denken als Denken in Zusammenhängen
gesprochen worden. Gemeint sind damit in der Regel funktionale (unter Einschluß
ökologischer) Zusammenhänge. Sie beginnen bei der organismischen Ebene.
Exklusives Denken zeigt sich hier daran, daß (wie im Hochschul-Studium)
Morphologie und Physiologie strikt (als verschiedene, alternative Teilgebiete!) getrennt
werden. Inklusives Denken sucht dagegen der Zusammenhang von Gestalt und
Funktion, der in der Biologiedidaktik mit dem Stichwort „Bau-LeistungsVerschränkung“ als ein hochrangiges Leitziel eingestuft ist. So ist in der Schule die
Morphologie immer mit der Funktion zu verbinden. Das beginnt bei mikroskopischen
Untersuchungen von Pflanzenorganen mit der Beschriftung der Zeichnungen, sie sind
auch möglichst mit physiologischen Versuchen zu kombinieren (vgl. z.B. SCHMIDT
1996 zur Seerose). Dazu paßt das Leitwort in MOLISCH & HÖFLER (1954, erster Satz
sinngemäß umgestellt): „Das Leben der Pflanze kann allein aus ihrem Bau nicht
verstanden werden. Struktur und Leistung stehen regelmäßig im Einklang sowohl bei
dem mikroskopischen Einzeller als auch bei dem turmhohen Mammutbaum“!
Eine derartige morphologische Analyse im funktionalen Zusammenhang wird
jedoch vom Hochschul-Studium viel zu wenig vorbereitet. Hier dominiert die
Vermengung mit der Ebene der Systematik/ Evolutionsbiologie. Für diese ist die
historische Dimension wesentlich, es geht um phylogenetische Zusammenhänge.
Dazu gehört das Homologisieren von Gestaltsmerkmalen (wie Organen, vgl. z.B. das
Praktikumsbuch zur Zoologie von „KÜKENTHAL“ 1996 mit dem von SCHOENICHEN 1930).
Lehrstuhl Prof.em. Dr. rer. nat. Eberhard G. SCHMIDT Universität Essen, FB 9:
Grundvorlesung BIOLOGIEDIDAKTIK, Bearbeitungsstand vom 20.1.2001
Kap. 2, Ziele BU
2 — 36
Im „KÜKENTHAL“ (1996) erfolgt bedauerlicherweise keine klare Trennung von Begriffen, die
homologisieren (z.B. Oberkiefer/ Mandibel bei Insekten) und der Funktions-Angabe (wie beißende,
Mundwerkzeuge, Saug-, Stechrüssel mit funktionaler Differenzierung, z.B. beim Stechrüssel der
Stechmücken-Weibchen in 4 dünne Stechborsten [Ober-, Unterkiefer], Blutsaugrohr [Oberlippe],
Speichel-„Spuckrohr“ [Innenlippe = Hypopharynx], kräftige Schutzhülle [Unterlippe]; nach SCHOENICHEN
1930). Konsequent funktional ist z.B. die Gestaltanalyse von Mückenlarven im ökologischen Kontext bei
ESCHENHAGEN et al. (1991: 203-205; zu Kleintieren auf dem Stein im Bach vgl. FEY 1996).
Inklusives Denken bedeutet hier also die saubere Trennung von funktionalen und
phylogenetischen Zusammenhängen. Das ist keine neue Forderung, denn das
konsequent funktionale Denken in Zusammenhängen bei Biologischen Arbeitsweisen
zur Formenkunde hatte bereits JUNGE (1885) hervorragend didaktisch aufgearbeitet!
Exklusives und inklusives Denken sei am Beispiel der Untersuchung eines
Stadtbachs im Ökologiekurs erläutert: Beim exklusiven Denkansatz wird der Bach
zunächst einem Gewässertyp zugeordnet, dann werden Meßdaten zu physikalischen
und chemischen Parametern gesammelt und als Selbstwert genommen, Artenlisten
(unbeschadet der Bestimmungsprobleme für Schüler) aufgenommen und aus diesen
Daten mit Hilfe passender Listen Saprobienindices zu einem Wert für die
Gewässergüte errechnet. Diese Daten („umsonst“ erhalten) mögen vielleicht den
Bürgermeister des Ortes erfreuen, ökologische Zusammenhänge wurden nicht erfaßt.
Beim inklusiven Denkansatz (vgl. FEY 1996) wird der Bach zunächst
ganzheitlich in den Zusammenhang der Siedlung/ Nutzungen gestellt (z.B.
Auswirkung der Nutzungen auf die Uferstrukturen, Gestalt der Aue mit Rückwirkung
auf den Bach am Untersuchungsabschnitt). Dann wird ein überschaubares Teilsystem
wie „das Kompartiment Stein im Bach oder am Ufer“ ausgewählt und auf die
Einbettung in die Strömung untersucht, das Strömungsmuster am Stein registriert
und dem Verteilungsmuster der auf dem Stein sitzenden nach Gestalt und Häufigkeit
auffallenden Tieren der cm-Größenordnung („Makro-Evertebraten“) zugeordnet. Hinzu
kommen die unten am/ unter dem Stein sitzenden beweglichen Tiere. Diese Tiere
werden als Lebensformtyp im Kursraum näher auf die Raum-Einnahme (Anheftung
am Substrat bzw. ihrer Bewegungsmöglichkeit am überströmten Stein bzw. der
Bevorzugung strömungsarmer Regionen), ihrer Nahrungspräferenz (Filtrierer, die die
Drift nutzen, oder Weidegänger am Aufwuchs oder Zerkleinerer als Vertilger von
Fallaub oder „Räuber“ mit verschiedenen Strategien) und der Art der
Nahrungsaufnahme und dem Feindschutz (bei festsitzenden Formen z.B. durch
Gehäuse) untersucht und in den Kontext gestellt. Hohe Anteile von Filtrieren/
Driftfängern stehen in Zusammenhang mit der Erhöhung der Driftfracht z.B. durch
Einleitung von geklärtem Abwasser oder Zufluß aus einem Wasserblüten-Fischteich,
ein hoher Anteil von Zerkleinerern (wie Bachflohkrebse) ergibt sich bei Fallaub-Eintrag
durch Ufererlen. Die chemischen Parameter werden auf die Funktion als limitierende
Faktoren in den ökologischen Zusammenhang gestellt. Das Einwirken des Menschen
ergibt sich dabei als Faktor der ökologischen Nische dieser Tiere. Für die Weidegänger
ist der Aufwuchs näher zu untersuchen, für die beweglichen Formen sind überlegene,
nur kurzfristig anwesende, aber das System kontrollierende Räuber der Spitze der
Nahrungspyramide (wie Fische oder die Wasseramsel) mit einzubeziehen. Damit
erhalten die Schüler einen Einblick in das ökologische Beziehungsgefüge, das auch
Naturschutz-Maßnahmen ableiten läßt, sie lernen also Ökologie im realistischen
Kontext, auch die Auswirkungen nur kurzfristiger Einwirkungen des Menschen (wie
bei Einleitungen z.B. aus der Mischkanalisation)!
Lehrstuhl Prof.em. Dr. rer. nat. Eberhard G. SCHMIDT Universität Essen, FB 9:
Grundvorlesung BIOLOGIEDIDAKTIK, Bearbeitungsstand vom 20.1.2001
Kap. 2, Ziele BU
2 — 37
Literatur
ESCHENHAGEN; D., U.KATTMANN & D RODI (Hrsg.): Umwelt im Unterricht. (auch unter dem Titel: Handbuch
des Biologieunterrichts Sekundarbereich I, Band 8: Umwelt). Aulis/Deubner, Köln 1991.
FEY, J.: Biologie am Bach. Praktische Limnologie für Schule und Naturschutz. BAB 48. Quelle & Meyer,
Wiesbaden 1996.
FEY, J. & R.MÜLLER (Schriftleitg): Die Ruhr. Elf flußbiologische Exkursionen. Naturschutzzentrum
Märkischer Kreis (Hrsg.) & Galunder, Wiehl 1998.
KÜKENTHAL, W. (Begründer), V. STORCH & U.WELSCH (Bearbeiter): Leitfaden für das Zoologische
Praktikum. Fischer, Stuttgart, 22.Aufl. 1996.
JUNGE, F.: Der Dorfteich als Lebensgemeinschaft. Lipsius & Tischer, Kiel 1885. Nachdruck der 3.Aufl.
von 1907 [m. Einf. d. Hrsg. W. RIEDEL & G. TROMMER u. Vorwort v. W. JANßEN] bei Lühr & Dircks,
St. Peter-Ording 1985)
SCHMIDT, E.: Ökosystem See, Bd. 1: Der Uferbereich des Sees. BAB 12/1. Bd. 2:Freiwasserraum
(Pelagial) und Tiefenzone (Profundal). Quelle & Meyer, Wiesbaden, 5.Aufl. 1996, 2000.
SCHMIDT, E. & J.KAMINSKI: Wasserblüten  eine Ökosystem-Simulation im Aquarium.Unterrichtsmodell für
die Sekundarstufe I/II (8.-13. Schülerjahrgang). UB 248 (23 Jahrg.): 40-42 (1999).
SCHOENICHEN, W.: Praktikum der Insektenkunde nach biologisch-ökologischen Gesichtspunkten. 3. Aufl.
Fischer, Jena 1930.
2.8.2 Naturphilosophisch/ erkenntnistheoretischer Hintergrund für
inklusives Denken
Der Denkansatz des Forschers bestimmt die Fragestellung und den Arbeitsansatz: Wir
sehen die Natur immer durch die Brille unserer Vorstellungen. Die biologischen
Arbeitsweisen stehen damit im Kontext mit Vor-Urteilen und Paradigmen. Das formale
Bildungsziel des kritischen Hinterfragens naturwissenschaftlicher Aussagen ist nur in
Verbindung mit erkenntnistheoretisch/ naturphilosophischen Reflexionen zu erfüllen.
Naturphilosophie müßte daher den naturwissenschaftlichen Unterricht ergänzen und
schon in das Biologiestudium integriert sein (vgl. KATTMANN 1971). Die Dialektik des
deterministischen
(„exakt
naturwissenschaftlichen“)
und
des
ganzheitlich/
systemischen Denkens (des analytischen und systemischen Ansatzes bei ELLENBERGER
1993, vgl. SCHMIDT 1991) gehört daher zu den Leitzielen des Biologieunterrichtes.
Die bestechende Klarheit und Berechenbarkeit hat die klassische Physik NEWTONs (mit
Mechanik und Astronomie) zum Vorbild für die "exakten" Naturwissenschaften und –
mit der Etablierung der Physiologie – auch für die Biologie gemacht. Das begründete
die Ideologie des Mechanismus bzw. Reduktionismus, also des Glaubens daran, daß
auch die komplexen biologischen Phänomene und Systeme letzlich auf einfache
physikalische oder chemische Vorgänge zurückgeführt werden können, in Verbindung
mit dem Determinismus, also dem Glauben daran, daß die Natur im Kern auf klaren,
d.h. mathematisch faßbaren Kausalitäten beruht und damit letztlich berechenbar ist.
Die Natur ist danach nur analytisch, aus dem isolierten Teil heraus zu verstehen;
dabei ist idealistisch und typologisch von den individuellen Eigenschaften abzusehen,
das Generelle aus dem Gemeinsamen der Teile zu abstrahieren.  Es gab aber stets
auch Philosophen und Naturwissenschaftler, die in dem Ganzen (eines Organismus,
eines Ökosystems, der Natur) mehr sahen als die Summe der Teile, die in der
unberechenbaren Dynamik ("alles fließt": HERAKLIT) oder dem Beziehungsgefüge (A.v.
HUMBOLDT), nicht in der strukturellen Organisation den Schlüssel zum
Naturverständnis suchten, die also den ganzheitlichen Zugang als Gegenstück zur
Detailsanalyse unter normierten Bedingungen postulierten (Holismus, vgl. z.B.
THIENEMANN 1956, in der Didaktik z.B. VERFÜHRT 1987 oder VERBEEK 1978, aber auch
die Gestaltswahrnehmung: BÄSSLER 1991), z.T. auch eine Kraft annahmen, die der
Lehrstuhl Prof.em. Dr. rer. nat. Eberhard G. SCHMIDT Universität Essen, FB 9:
Grundvorlesung BIOLOGIEDIDAKTIK, Bearbeitungsstand vom 20.1.2001
Kap. 2, Ziele BU
2 — 38
Natur (Entelechie bei ARISTOTELES) oder wenigstens dem Lebendigen zu einer
Sonderstellung im Vergleich zum Anorganischen verhilft (Vitalismus: DRIESCH, vgl.
WENZL 1951, der Vitalismus ist auf die Biologie beschränkter Holismus; Synthese mit
dem Mechanismus ist die organismische Auffassung v. BERTALANNFYs, vgl. KATTMANN
1971, SACHSSE 1968, sowie EKR 1993;). Sie lassen den Positivismus (die
Beschränkung auf das Erfahrbare als Grundeinstellung der Naturwissenschaftler),
ggf. auch einen Mechanismus nur innerhalb der wissenschaftlichen Arbeit gelten und
sind als Mensch aber der Metaphysik (der Philosophie des Transzendenten, d.h. des
jenseits des Erfahrbaren liegenden) aufgeschlossen oder glauben an einen Gott (und
seine Offenbarungen über das Jenseits und den Zugang dahin, wie ILLIES 1977 oder
BIRCH 1986, vgl. auch das Schicksal des als Ketzer verurteilten GALILEO GALILEIs
(1564-1642; vgl. CROMBIE 1977 sowie RICHTER 1994, WALDENFELS 1994; GALILEI wurde
erst 1992 vom Papst Johannes Paul II rehabilitiert). Diese Dialektiken sind
anschaulich in dem Festvortrag von dem Kollegen MARKL (1993) zum 175.
Stiftungsjubiläum der Senckenbergischen Naturforschenden Gesellschaft zu
Frankfurt/M. dargestellt worden.
Dieser Denkansatz wirkt sich auch auf die bevorzugten Arbeitsweisen aus (z.B.
Systemsimulation : Systemmodellierung; vgl. Kap. 4 sowie BAUHOFF 1976, HÄFNER
1988, HIERING 1988, 1990, KAISER 1985, KÖHLER 1985, KREMMETER 1972).
2.8.3 Synergetisches Systembild („Chaos-System“) als Hintergrund
für inklusives Denken
Nun steht die Physik aber selbst unter dem Schock der Erfahrung der Grenzen der
deterministischen Ordnung. Dabei hatte sich die Atomphysik schon vor mehr als 100
Jahren mit statistischen, nicht mehr individuell zuordenbaren Aussagen (wie beim
radioaktiven Atomzerfall) begnügen müssen, inzwischen erwiesen sich selbst so
einfach erscheinende Phänomene wie der Rauch einer ausgepusteten Kerze im
Lufthauch oder die Strömungsmuster im steinigen Bachbett beim Wechsel der
Wasserführung als nicht mehr deterministisch, als „Chaos-System“.
Das führte zu einem Paradigmawechsel, zur Theorie der („nicht-linearen“)
synergetischen, der „Chaos“-Systeme. Zahlreiche Fernsehbeiträge und Sach-/
Fachbücher bzw. didaktische Aufsätze haben sie inzwischen didaktisch einem breiten
Publikum und damit eigentlich auch der didaktischen Umsetzung erschlossen (z.B.
BACKHAUS & SCHLICHTING 1990, BRIGGS & PEAT 1990, GEROK u.a. 1990, HASS 1991,
1992, SEIFRITZ 1989, VOLLMER 1988). Hier ist jedoch noch viel aufzuarbeiten. Der
klassische Denkansatz für das naturwissenschaftliche Experiment (Kap. 5.1.6) steht
immer noch als Idol über dem Denken in komplexen, nicht genau quantifizierbaren,
nur ganzheitlich zu verstehenden synergetischen Beziehungsgefügen (wie in
naturnahen Ökosystemen). Nun sind diese chaotischen Strukturen von biologischen
Kommunikations- und Ökosystemen prinzipiell anders und komplexer als die
gängigen Beispiele aus der Physik, auch als das Wetter, dessen Unvorhersagbarkeit
(trotz hohen Aufwandes für Datenbeschaffung und Computermodellierung) wir allzuoft
erleben, und als mathematische Konstrukte (wie fraktale Geometrien). Damit droht
wieder die Gefahr, daß die komplexen und eigenartig evolvierten biologischen Systeme
durch die enge Brille der mathematischen Konstrukte und anorganischen Systeme
gesehen und dann in ihrem Wesen nicht angemessen verstanden wird. Die
unermeßliche und faszinierende Vielfalt an Schutz- & Abwehrstrategien der
Lehrstuhl Prof.em. Dr. rer. nat. Eberhard G. SCHMIDT Universität Essen, FB 9:
Grundvorlesung BIOLOGIEDIDAKTIK, Bearbeitungsstand vom 20.1.2001
Kap. 2, Ziele BU
2 — 39
Organismen,
an
Überlebensstrategien
in
Belastungssituationen
und
an
Rückwirkungen auf die Kontrahenten geht zwar zunehmend in die ökologischen
Lehrbücher ein, wird aber noch nicht zu einer synergetischen Systemsicht
zusammengefügt, liefert noch keine Modelle für die praktische Beherrschung
lebendiger Chaossysteme (zum Transfer auf neuartige Waldschäden vgl. KULL 1993).
Dabei ergäben sich (im Sinne formaler Bildung) Transfermöglichkeiten zu den
ähnlichen (aber noch komplexeren) Ordnungsprinzipien in Wirtschafts-, Sozial- &
Kultursystemen der Menschheit, auch in der Sprache (Kap. 3.4).
Zu bedenken ist noch, daß deterministische Ordnung und unkalkulierbares
Chaos die Pole eines kontinuierlichen Spektrums sind und in dialektischer Weise sich
gegenseitig bedingen (MEYER-ABICH in HESKE u.a. 1954; Tab. ##). Reale Chaossysteme
(wie das Wetter, Organismen oder Ökoysteme in ihrer Dynamik, vgl. REMMERT 1989,
SCHUBERT 1991) sind unter bestimmten Bedingungen oder bei Betrachtung sehr
kurzer Zeitabschnitte durchaus angemessen deterministisch zu erfassen; auch
Laborversuche
unter
normierten
Bedingungen,
die
computergesteuerte
Massentierhaltung und standardisierte Laborkulturen sind Beispiel dafür. Sie lassen
sich für die Computermodellierung (Kap. 5.1.9) durchaus didaktisch nutzen, jedoch
ist das erkenntniskritische Hinterfragen der Aussagegrenzen besonders wichtig, aber
auch besonders anspruchsvoll (vgl. BÄSSLER 1991). Einsicht in die eigentliche
synergetische Systemstruktur ist jedoch dann unabdingbar, wenn die Ergebnisse in
die komplexe Wirklichkeit übertragen werden sollen. Hier ist noch viel didaktisch
aufzuarbeiten!. Dabei ist Unterricht selbst ein Chaossystem, das sich dem eher
deterministischen Curriculum-Ansatz versperrt, das mit individuellen Fallstudien
besser zu verstehen ist als mit den (wissenschaftlich eher akzeptierten) statischen
Studien mit Kollektivaussage (Kap. ##)!
Wir müssen uns damit der Dialektik von reduktionistisch/ idealistisch/
nomographisch / typologischem und von synergetisch/ holistisch (ganzheitlichem)/
pragmatisch auf das individuelle und auf seine Dynamik (Geschichtlichkeit)
bezogenem Denken in Chaosstrukturen stellen. Sie zeigte sich schon in der Dialektik
der klassischen Philosophien von EUKLID und SOKRATES, in der klassischen Physik
später der von NEWTON und GALILEI. Das entspicht der Dialektik von exaktem
(mechanistischem), Experiment mit Faktorenmanipulation und normierten /
standardisierten Bedingungen, die sicher reproduzierbar die Kausalität aufdeckt, und
von ganzheitlich-/ funktionalem Vergleichen naturnah komplexer Systeme unter
naturnahen Bedingungen. Diese Arbeitsweisen sind an die Dialektik der zugehörenden
Denkweisen gebunden, an das exklusive, statisch auf Systemstrukturen bzw. an das
inklusive, auf dynamische Beziehungsgefüge ausgerichtete Denken in Vernetzung.
Pädagogisch entspricht dem die Dialektik von (linear) darstellendem, bis ins Detail
vorgeplantem Unterrichten (extrem in einer Vorlesung) und von genetisch
forschendem, weitgehend offenem Unterricht nach dem exemplarischen Prinzip
(WAGENSCHEIN 1973, vgl. Kap. 6.2.1; vgl. auch die Dialektik von Fallstudien und
statistischen Studien mit Kollektivaussage: Kap. 2.3). Eine Übersicht vermittelt
Tab. ##.
Lehrstuhl Prof.em. Dr. rer. nat. Eberhard G. SCHMIDT Universität Essen, FB 9:
Grundvorlesung BIOLOGIEDIDAKTIK, Bearbeitungsstand vom 20.1.2001
Kap. 2, Ziele BU
2 — 40
Tab. ## : Schema zur Dialektik in den Systemtheorien.
(Einige Begriffe in Anlehnung an SCHAEFER 1978*, WAHLERT 1975**, WAGENSCHEIN 1975***,
BEGON u.a. 1991, KRATOCHWIL 1991****)
Ordnungsstruktur,
System-„Philosophie“
Denkansatz
Deterministischer
KOSMOS
selektiv,
reduktionistisch/ kausal,
summativ;
idealistisch/ typologisch;
Systemgrenzen
Gültigkeitsanspruch
Differenzierung
Darstellung
eher statisch/strukturell
± geschlossenes System
objektiv, universell
vorwiegend exakt quantitativ
exakte, verifizierbare,
 mathematisierte Formeln/
Regeln; komplexe Systeme als
Computer-Simulation
Typisierung
diskrete Klassenbildung und
abstrakte Schemata
optimal für
Detailanalysen,
Lehrbuchschemata
Anwendung
Klassische
Autoritäten
Lehr/Lernmethoden***
Denkweise*
gerichtet auf
Beispiel: Definition
Ökosystem
akademische Lehre
EUKLID/ NEWTON
darstellend
exklusiv
Systemstruktur
Interaktion aus Biotop &
Biozönose****
Synergetisches
„C H A O S“
integrativ,
holistisch (ganzheitlich)funktional/ systemorientiert;
pragmatisch/auf das
INDIVIDUELLE bezogen;
geschichtlich/ dynamisch,
in Beziehungsgefügen
offenes System
exemplarisch
vorw. qualitativ/
semiquantitativ
wegen Erfassungsunschärfen
± intuitiv bewertetes, konkretes
Interaktionsgefüge mit seiner
individuellen Dynamik und
Geschichtlichkeit**
tritt zurück gegenüber der
Individualisierung
Verstehen von komplexen
Zusammenhängen am
konkreten Beispiel
Praxis: Diagnose/ Therapie
im konkreten Einzelfall
SOKRATES/ GALILEI
genetisch/forschend
inklusiv
Systemfunktion, -dynamik
offenes System mit den
Arten als Elementen und ihren
ökologischen Nischen als den
Relationen (Nischengefüge als
Beziehungsgefüge)
Lehrstuhl Prof.em. Dr. rer. nat. Eberhard G. SCHMIDT Universität Essen, FB 9:
Grundvorlesung BIOLOGIEDIDAKTIK, Bearbeitungsstand vom 20.1.2001
Kap. 2, Ziele BU
2 — 41
Wir müssen uns damit der Dialektik von reduktionistisch/ idealistisch/
nomographisch / typologischem und von synergetisch/ holistisch (ganzheitlichem)/
pragmatisch auf das individuelle und auf seine Dynamik (Geschichtlichkeit)
bezogenem Denken in Chaosstrukturen stellen. Sie zeigte sich schon in der Dialektik
der klassischen Philosophien von EUKLID und SOKRATES, in der klassischen Physik
später der von NEWTON und GALILEI. Das entspicht der Dialektik von exaktem
(mechanistischem), Experiment mit Faktorenmanipulation und normierten /
standardisierten Bedingungen, die sicher reproduzierbar die Kausalität aufdeckt, und
von ganzheitlich-/ funktionalem Vergleichen naturnah komplexer Systeme unter
naturnahen Bedingungen. Diese Arbeitsweisen sind an die Dialektik der zugehörenden
Denkweisen gebunden, an das exklusive, statisch auf Systemstrukturen bzw. an das
inklusive, auf dynamische Beziehungsgefüge ausgerichtete Denken in Vernetzung.
Pädagogisch entspricht dem die Dialektik von (linear) darstellendem, bis ins Detail
vorgeplantem Unterrichten (extrem in einer Vorlesung) und von genetisch
forschendem, weitgehend offenem Unterricht nach dem exemplarischen Prinzip
(WAGENSCHEIN 1973, vgl. Kap. 6.2.1; vgl. auch die Dialektik von Fallstudien und
statistischen Studien mit Kollektivaussage: Kap. 2.3). Eine Übersicht vermittelt Tab.
##.
Literatur (vgl. auch EKR 1993, ELLENBERGER 1993):
BACKHAUS, U. & J.SCHLICHTING: Auf der Suche nach Ordnung im Chaos. MNU 43 (8): 456-466 (1990).
BÄSSLER, U.: Irrtum & Erkenntnis. Fehlerquellen im Erkenntnisprozeß von Biologie & Medizin. Springer,
Berlin 1991.
BAUHOFF, E.: Ein mathematisches Modell in der Biologie. MNU 29 (4): 224-229 (1976).
BEGON, M., J.HARPER & C.TOWNSEND: Ökologie. Individuen, Populationen, Lebensgemeinschaften.
Birkhäuser, Basel 1991.
BIRCH, C.: Natur, Mensch, Gott in ökologischer Sicht. Seevögel (Verein Jordsand) 7 (4): LVI-LVIII (1986).
(Nachdruck aus den "Wuppertaler Heften" der Evangelischen Akademikerschaft Deutschlands)
BRIGGS, J. & D.PEAT: Die Entdeckung des Chaos. Eine Reise durch die Chaos-Theorie. Hanser, München
1990.
CROMBIE, A.: Von Augustinus bis Galilei. Die Emanzipation der Naturwissenschaft. München 1977.
Dokumentation dazu in Forschung & Lehre (Hochschulverband) 1994, S. 93-95 (1994); vgl.
RICHTER 1994, WALDENFELS 1994.
ELLENBERGER, W. (Hrsg.): Ganzheitlich-kritischer BU. Für das Leben lernen. Cornelsen, Berlin 1993.
FEY, J.: Biologie am Bach. Praktische Limnologie für Schule und Naturschutz. Biologisches Arbeitsbuch
48. Quelle & Meyer, Wiesbaden 1996.
GEROK, W. u.a. (Hrsg.): Ordnung & Chaos in der unbelebten und belebten Natur. Hirzel/ Wiss.
Verlagsges., Stuttgart, 2.Aufl. 1990.
HÄFNER, P.: Räuber-Beute-Simulation aus didaktischer Sicht. MNU 41 (8): 491-494 (1988).
HASS, H.: Ordnung & Chaos als Schlüsselbegriffe in der Umwelterziehung. Verh. GfÖ (Bd. 19.3:
Osnabrück 1989): 753-761 (1991).
HASS, H.: Fachdidaktische Forschung über den Assoziationsraum biologischer Begriffe mit besonderem
Schwerpunkt auf Ordnung & Chaos. S.102-118 in ENTRICH & STAECK (Hrsg.): Sprache und
Verstehen im BU. Tagung Sektion Fachdidaktik im VDBiol. Bad Zwischenahn 1991. Leuchtturm,
Alsbach 1992.
HESKE, F., P.JORDAN & A.MEYER-ABICH: Organik. Beiträge zur Kultur unserer Zeit. Haller, Berlin 1954.
HIERING, P.: Entwicklung eines Computermodells für den Biologieunterricht zur Veranschaulichung
ausgewählter Zusammenhänge im "Ökosystem See". Diss. Uni München 1988.
HIERING, P.: Computersimulation im Biologieunterricht - Möglichkeiten und Grenzen. S. 59-67 in:
KILLERMANN & STAECK (Hrsg.): Methoden des Biologieunterrichts. Tagung Sektion Fachdidaktik im
VDBiol. Hersching 1989. Aulis/ Deubner, Köln 1990,.
ILLIES, J.: Der Mensch in der Schöpfung. Ein Naturwissenschaftler liest die Bibel. Interform, Zürich 1977
KAISER, H.: Simulation in der Ökologie. S. 387-401 in: WEIDEMANN, G. (Hrsg.): Verh. GfÖ. (Bd. 13,
Jahrestagung Bremen 1983). GfÖ, Göttingen 1985.
Lehrstuhl Prof.em. Dr. rer. nat. Eberhard G. SCHMIDT Universität Essen, FB 9:
Grundvorlesung BIOLOGIEDIDAKTIK, Bearbeitungsstand vom 20.1.2001
Kap. 2, Ziele BU
2 — 42
KATTMANN, U.: Behandlung von Grenzfragen zur Philosophie im BU. I: Grundsatzüberlegungen; II: Die
Behandlung des Vitalismusproblems in Kl. 13 unter Berücksichtigung von Grenzfragen. MNU 24:
262-268, 335-342 (1971).
KÖHLER, H.: Computer als Herausforderung - zur Sklavenarbeit? MNU 38 (1): 1-9; 38 (2): 65-73 (1985).
KRATOCHWIL, A.: Die Stellung der Biozönologie in der Biologie, ihre Teildisziplinen und ihre methodischen
Ansätze. S. 1-7 in: KATOCHWIL, A. (Hrsg.): 2. Tagung des Arbeitskreises "Biozönologie" in Freiburg
vom 6.-7. Mai 1989. Beiheft 2 zu den Verh. der Gesellschaft für Ökologie. GfÖ, Berlin 1991.
KREMMETER, A.: Wissenschaftstheoretische Aspekte der Biologie. Kennzeichen biologischer Systeme und
biologischer Theorien. MNU 25 (8): 453-458 (1972).
KULL, U.: Luftschadstoffwirkungenauf Pflanzen als Streßeffekte. MNU 46: 460-466 (1993).
MARKL, H.: Naturforschung aus Liebe zur Natur. Natur & Museum 123: 129-156 (1993).
REMMERT, H.: Ökologie. Springer, Berlin, 4.Aufl. 1989.
RICHTER, P.: Papst Johannes Paul II und Galileo Galilei. Forschung & Lehre (Hochschulverband) 1994:
102-103 (1994; vgl. CROMBIE 1994, WALDENFELS 1994).
SACHSSE, H.: Die Erkenntnis des Lebendigen. Vieweg, Braunschweig 1968.
SCHAEFER, G.: Inklusives Denken - Leitlinie für den Unterricht. S. 10-29 in TROMMER & WENK (Hrsg.):
Leben in Ökosystemen. Westermann, Braunschweig 1978.
SCHMIDT, E.: Umdenken beim Ökosystemverständnis. Ökosystemanalyse nach dem Lebensform-/
Nischenkonzept. PdN-B 40 (5): 1-7 (1991).
SCHUBERT, R. (Hrsg.): Lehrbuch der Ökologie. Fischer, Jena, 3. Aufl. 1991.
SEIFRITZ, W.: Wachstum, Rückkopplung und Chaos. Eine Einführung in die Nichtlinearität und des Chaos.
Hanser, München 1989.
THIENEMANN, A.: Leben & Umwelt. Vom Gesamthaushalt der Natur. rororo TB. Rowohlt, Hamburg 1956.
VERFÜHRT, M.: Kompendium Didaktik: Biologie. Eine Biologiedidaktik für naturnahen Unterricht von der
Vorschule bis zur S II. Ehrenwirth, München 1987.
VERBEEK, B.: Zur Didaktik einer ganzheitsbezogenen Ökologie. NiU-B 26: 335-339 (1978).
VOLLMER, G.: Ordnung ins Chaos? Zur Weltbildfunktion wissenschaftlicher Erkenntnis. Naturwiss.
Rundschau 41 (9), 345-350 (1988).
WAGENSCHEIN, M.: Der Vorgang des Verstehens. Pädagogische Anmerkungen zum mathematisierenden
Unterricht. MNU 26 (7), 385-392 (1973).
WAHLERT, G. v.: Die Geschichtlichkeit des Lebendigen als Aussage der Biologie. Ein Beitrag zur
Strukturrierungsdebatte. S. 46-58 in: KATTMANN & ISENSEE (Hrsg.): Strukturen des
Biologieunterrichts. Aulis/ Deubner, Köln 1975.
WALDENFELS. H.: Christlicher Glaube & Wissenschaft. Forschung & Lehre (Hochschulverband) 1994:
96-101 (1994; vgl. CROMBIE 1994, RICHTER, 1994.)
WENZL, A. (Hrsg.): HANS DRIESCH, Persönlichkeit und Bedeutung für Biologie & Philosophie von heute.
Reinhardt, München 1951.
___________________________________________________________________________
NOTIZEN:
Lehrstuhl Prof.em. Dr. rer. nat. Eberhard G. SCHMIDT Universität Essen, FB 9:
Grundvorlesung BIOLOGIEDIDAKTIK, Bearbeitungsstand vom 20.1.2001
Kap. 2, Ziele BU
2 — 43
2.9 Leitziel „Das Prinzip des Exemplarischen“
2.9.1 Herleitung am Exemplum statt enzyklopädischem Überblick,
Beziehungsgefüge statt Struktur-Typologie
Einführung: Für das Fach Biologie ist die Abstraktion der Einzelphänomene zum
Typus ein wichtiges Anliegen. Die andere Seite dieser Medaille ist der enzyklopädische
Überblick der Phänomene. Das entspricht dem exklusiven Denken. Dafür ist im BU
kein Raum. Im Sinne des inklusiven Denkens muß im BU das Verständnis von
Zusammenhängen im Mittelpunkt stehen. Das gelingt im Biologieunterricht nur an
ausgewählten Beispielen. Sie sollten zunächst anschaulich als biologisches Phänomen
erfaßt und erst dann auf allgemeine biologische Zusammenhänge hin problematisiert
werden. Das Frageschema zum Erkennen dieser Zusammenhänge/ des
Beziehungsgefüges soll zugleich modellhaft als ein Lösungsschema für vergleichbare
Phänome angelegt sein und so zur formalen Bildung im BU beitragen.
Dabei stehen vom Inhaltlichen her Beziehungen (also Relationen oder
Funktionen) und Zusammenhänge im Mittelpunkt, Strukturen bilden nur den
Rahmen dazu, sie dürfen nicht zum Selbstzweck werden. Gestalt und Funktion
werden so zu einer Funktionseinheit. So ist z.B. der Darm als Abfolge von
Funktionseinheiten mit spezifischen Anteilen an der Verdauung herzuleiten, er darf
nicht in auf einen morphologisch definierten und differenzierten Schlauch reduziert
werden. Als Transfer bietet es sich im o.g. Beispiel an, danach zu fragen, welche
Nahrungsbestandteile wo wie aufgeschlossen und resorbiert werden, was kaum
verändert wird und was wo hinzukommt und wie und wo wieder resorbiert bzw.
ausgeschieden wird.
Damit ergibt sich die Ausrichtung auf eine ganzheitliche Darstellung und das
Denken in Zusammenhängen/ Vernetzungen, kurz das inklusive Denken (s.o.).
Auch das ist wieder ein fundamentaler Unterschied im Denkansatz zwischen dem
Fach Biologie und dem Schulfach Biologie. Dazu sei das folgende Beispiel vom
Gartenteich und seiner Veränderung durch Fischbesatz angeführt. Dabei wird der
strukturell/ typologische Ansatz (Vegetationszonen, Artenspektren) durch den
funktionell/ systemaren Ansatz (wie und wodurch wirkt sich was auf was aus) ersetzt:
Abwasserzulauf
1m
Kontrollschacht
aktiv wirksamer Wurzelkörper
Vorfluter
Stauhorizont
Abb. ##: Funktionsschema einer Röhrichtpflanzen-Wurzelbettkläranlage (nach KLEE)
Lehrstuhl Prof.em. Dr. rer. nat. Eberhard G. SCHMIDT Universität Essen, FB 9:
Grundvorlesung BIOLOGIEDIDAKTIK, Bearbeitungsstand vom 20.1.2001
Kap. 2, Ziele BU
2 — 44
Abb. ## Nährstoffeliminierung (Gesamt-Phosphor) durch Teichbinsen T (gestrichelte Linie)
und Rohrglanzgras R (ausgezogene Linie; K: Kontrolle) im Kulturversuch (nach
SCHUBERT).
Nach etwa 3 Wochen ist die Abbaukapazität im makrophytenfreien Kontrollbecken K
(punktierte Linie) erschöpft, in den Röhrichtpflanzen-Kulturbecken R, T läuft die
Eliminierung fort.
Fischfutt
er
Abb. ##: Versuchsaufbau zur Simulation der Nährstoffbindung im Aquarium mit
Zyperngras in einem Zeitraum von 10-14 Tagen.
In den Aquarien mit Fischen wird das Fischfutter über die Ausscheidungen der Fische zu
Pflanzendünger umgesetzt. Diese Düngung wird rechts vom Zyperngras genutzt und damit aus
dem Wasser entfernt, ohne Zyperngras führt sie zu einer dichten Wasserblüte; links Kontrolle
ohne Fische, aber mit Fischfutter: hier bleiben die Nährstoffe in den Futterflocken gebunden, dort
kommen Ciliaten zur Massenvermehrung, sie transportieren ihre Ausscheidungen aber nicht in
das freie Wasser, so daß sich (vorerst) keine Wasserblüte entwickeln kann.
Das Beziehungsgefüge „Fische im Gartenteich“: Ein fischfreier Gartenteich mit
einer Zier-Seerose als Vegetation hat klares Wasser (und eine reiche Kleintierwelt, z.B.
Wasserläufer, Rückenschwimmer, Libellen). Ein „lieber“ Freund setzt heimlich einige
Goldfische ein, um den Teich zu beleben. Leider verschwinden die Rückenschwimmer
rasch, das Wasser wird innerhalb von wenigen Wochen trüb grün: Eine Wasserblüte
stellt sich ein (die Wasserläufer bleiben, die Libellen nehmen ab). Wasserblüten sollen
eine Eutrophierung, also einen Nährstoffeintrag von außen, anzeigen (Bioindikation).
Die Fische werden aber nicht gefüttert, sie müssen sich aus dem Teich ernähren. Der
Lehrstuhl Prof.em. Dr. rer. nat. Eberhard G. SCHMIDT Universität Essen, FB 9:
Grundvorlesung BIOLOGIEDIDAKTIK, Bearbeitungsstand vom 20.1.2001
Kap. 2, Ziele BU
2 — 45
Nährstoffgehalt ist also für das Ökosystem insgesamt gleich geblieben. Die Lösung
liegt im Kurzschluß im Kreislauf der Stoffe, der von den Fischen ausgelöst wird: Die
Fische mobilisieren beim Fressen Nährstoffe, die vorher am Grund, in Bodentieren
oder in Pflanzen gebunden waren. Sie geben proportional zur Nahrungsaufnahme
Kot/ Harn ab und verteilen durch ihre Bewegungen die Ausscheidungen im freien
Wasser. Die Schlüsselnährstoffe N, P sind im Kot/ Harn (z.B. als Harnstoff,
Ammonium, Phosphat) für Wasserpflanzen direkt verfügbar und damit für
Planktonalgen
optimal
verteilter
Dünger.
Das
ermöglicht
ihnen
hohe
Vermehrungsraten bei kurzer Lebensdauer im damit rasant beschleunigten Kreislauf
der Stoffe. Bäume mit Wasserwurzeln, Schilf oder Tauchblattpflanzen binden dagegen
die Pflanzennährstoffe langfristig (im Winter in ihrem langlebigen Rhizom) und können
so die Fischwirkung abpuffern (Abb. ##, Anwendung in den Wurzelbett-Kläranlagen:
Abb. ##). Im pflanzenreichen Gartenteich bleibt die Wasserblüte daher auch bei
(mäßigem) Fischbesatz aus. Das läßt sich mit einem Modellversuch im Aquarium
simulieren (vgl. Abb. ## und SCHMIDT & ESCHENHAGEN 1991; alle 3 Abb. aus SCHMIDT
1996).
2.9.2 Das Prinzip des exemplarischen Lehrens/ Lernens
Das Prinzip des Exemplarischen (oder Paradigmatischen) ist ein Verfahren zur
Bewältigung der Stoffülle. Es wurde von dem Physik-Didaktiker WAGENSCHEIN (1959,
1962, 1970, 1977) strukturiert und fand schnell Eingang auch in die Biologiedidaktik
(SIEDENTOP 1964).
Das Prinzip des Exemplarischen (im Sinne von WAGENSCHEIN) bedeutet aber nicht
einfach die Beschränkung auf repräsentative Beispiele (z.B. auf die Weinbergschnecke
als Beispiel für ein Weichtier). „Exemplarisch“ heißt, „das Wesentliche der UnterrichtsGegenstände zu durchdringen und am Einzelbeispiel grundlegende Phänomene (der
geistigen Welt) sichtbar zu machen“ (Tübinger Resolution 1951, vgl. SIEDENTOP 1964:
44 ff.); es ist in diesem Sinne eine Form der formalen Bildung. Das zeigt sich an den
folgenden (Funktions-) Zielen (in Anlehnung an WAGENSCHEIN 1959; vgl. EKR 1993: 47
oder SIEDENTOP 1964: 46 ff), die früher vorherschende „Stoffziele“ ablösen sollen.
Das Prinzip des Exemplarischen stellt in den Mittelpunkt:
1) Verstehen einer Einzelerscheinung (durch Einordnen in einen Zusammenhang), sie
erklären, einer Ursache zuordnen;
2) Ausdenken eines Experiments als „Frage an die Natur“ mit den Schritten vermutete
Antwort (Arbeitshypothese); dann Planung, Durchführung des Experiments und
beobachtetes/registriertes Ergebnis; sodann Auswertung als Bestätigung,
Verwerfen oder Veränderung der Ausgangs-Vermutung (Hypothese), damit
Ableitung einer Regel oder eines Gesetzen (d.h. einer Hypothese/Theorie);
Anwendung auf das Alltagsleben;
3) die Verbindung eines biologischen Teilgebietes mit anderen zu einem
Zusammenhang/ Ordnungssystem;
4) Arbeiten mit Modellvorstellungen bei komplexen Phänomenen und
Zusammenhängen;
5) das erkenntnistheoretische Hinterfragen der Grenzen der angewendeten
Arbeitsweisen und der damit gewonnenen Aussagen;
Lehrstuhl Prof.em. Dr. rer. nat. Eberhard G. SCHMIDT Universität Essen, FB 9:
Grundvorlesung BIOLOGIEDIDAKTIK, Bearbeitungsstand vom 20.1.2001
Kap. 2, Ziele BU
2 — 46
6) Erfahren der geisteswissenschaftlichen Bedeutung biologischer Begriffe und
Denkweisen (wie des Begriffes der Ganzheit, der Evolution, der Metamorphose,
des Bauplanes);
7) Aufdecken des geschichtlichen Wandels von biologischen Begriffen (als Ausdruck
von Paradigmenwechsel; vgl. den Begriff der „ökologischen Nische“) und
Auffassungen und ihre Einflüsse auf kulturelle und zivilisatorische
Entwicklungen der Völker (vgl. den Rassenbegriff).
Es geht also darum, an einem repräsentativen (komplexen) Beispiel das „Fragen“ (im
Sinne von Problemstellung, -vertiefung und -lösung) in einer auf den Schüler (der
jeweiligen Zielgruppe) abgestimmten Form zu üben, an dem Fallbeispiel die
biologischen Arbeits- und Denkweisen deutlich zu machen (formale Bildung am
Exemplum).
So hat GOLDSCHMIDT schon 1927, vom Beispiel des Spulwurms ausgehend, eine
anschauliche Einführung in die Biologie nach dem exemplarischen Prinzip gegeben,
auch die neuere Einführung in die Vogelkunde durch BERGMANN (1987) läßt sich hier
anführen, beide sind (in Ergänzung zu den Hochschullehrbüchern) den
Lehramtskandidaten sehr zum Selbststudium zu empfehlen. Hinweisen möchte ich
auf das Thema „Regenbogen“ bei VOLLMER (2000).
Korrelation
Hormone
Stammesentwicklung
Steuerung
Entwicklung
Nervensystem
Einzelentwicklung
Vergleichende
Anatomie
Anatomie
Bau der
Atmungsorgane
Extremitätenbildung
homologeanaloge Organe
Morphologie
Fische
Lurche
Kriechtiere
progressive
Metamorphose
regressive
Rückbildung
Verwandlung der Amphibien
Anpassung an Lebensraum
KiemenLungen- Atmung
HautFunktion der
Atmungsorgane
Land- und Wasserleben
Physiologie
Systematik
Ökologie
Abb. ##: „Der exemplarische Fall als Beispiel des Ganzen (Erkenntnisganzheit)“,
dargestellt am Thema „Verwandlung der Amphibien“ [aus ESSER 1969: 44].
Lehrstuhl Prof.em. Dr. rer. nat. Eberhard G. SCHMIDT Universität Essen, FB 9:
Grundvorlesung BIOLOGIEDIDAKTIK, Bearbeitungsstand vom 20.1.2001
Kap. 2, Ziele BU
2 — 47
Das Prinzip des Exemplarischen bedeutet somit Methoden-Lernen, (und
Verstehen von Zusammenhängen am konkreten Beispiel) statt Fakten-Anhäufen
(im Sinne enzyklopädischer Typologien).
Das lineare Vorgehen der Fachsystematik wird dabei in ein Netzwerk aufgelöst, in
das auf verschiedene Weise (nämlich an unterschiedlichen Endpunkten des
Netzwerkes oder auch an unterschiedlichen Knotenpunkten, vgl. Abb. ##) eingestiegen
werden kann und das auf sehr unterschiedlichen Wegen (entsprechend den jeweils
auftauchenden Fragen) aufgerollt werden kann (Abb. ##, vgl. auch das „offene
Unterrichtsgespräch“ Kap. 5). Das Verfahren bietet sich besonders für die Erarbeitung
des Beziehungsgefüges in einem Ökosystem an (vgl. die Gliederung bei SCHMIDT [1996]
mit BREHM & MEIJERING [1990] für ein aquatisches Ökosystem). Das exemplarische
Prinzip ist dann mit dem Konzept des „offenen Unterrichts“ (als Idealfall des
schülerzentrierten Unterrichts, der einen vom Lehrer vorgegebenen Unterrichtsgang
weitgehend gegenüber den Anregungen aus der Klasse zurückstellt) und des
„forschenden“ bzw. „problemlösenden Unterrichts“ (Ausgang von Problemen, die
wissenschafts-propädeutisch gelöst werden sollen) eng verbunden (EKR 1993,
S.182 ff.), dazu gehört das „entdeckende Lernen“ (vgl. STAROSTA 1990) mit dem
inklusiven Denken (SCHAEFER 1978), dem Denken in Vernetzungen (VESTER 1991) und
in synergetischer Systemorganisation („Chaossystem“) [vgl. EKR 1993, ELLENBERGER
1993, S. 188 ff. sowie Kap.5.1.2]. An den Lehrer stellt dieses Unterrichtsprinzip
außerordentlich hohe Anforderungen, denn er muß die Schüler dazu anregen, sich
vom (logisch einfachen) linearen Denken (der Fachwissenschaft) zu lösen, dabei selbst
zu fragen, statt nur Fragen des Lehrers zu beantworten, muß prüfen, ob die Fragen
richtig gestellt ist und sich unter den gegebenen Bedingungen beantworten läßt und
ob die gefundene Lösung auch tragfähig ist. Dazu muß bereits ein Wissen vorliegen,
müssen Beobachtungs- und Untersuchungstechniken bekannt sein und die
Einzelergebnisse zum Netz verknüpft werden (vgl. SIEDENTOP 1964: 47). Vom Studium
her ist der Lehrer darauf oft nur ungenügend vorbereitet.
Lehrstuhl Prof.em. Dr. rer. nat. Eberhard G. SCHMIDT Universität Essen, FB 9:
Grundvorlesung BIOLOGIEDIDAKTIK, Bearbeitungsstand vom 20.1.2001
Kap. 2, Ziele BU
2 — 48
2.9.3 Kriterien für die Beispiel-Wahl nach dem Prinzip
des Exemplarischen.
Die Kriterien für die didaktische Rekonstruktion (im Sinne von Beispielwahl,
Stoffauswahl und Unterrichtsform) nach dem Prinzip des Exemplarischen hat
BERCK (1999) vorbildlich strukturiert und ausführlich diskutiert. Sie sollen hier
(etwas verändert/ ergänzt) stichwortartig vorgestellt werden:








Inhaltlich (kognitiv) das Elementare und das Fundamentale:
Elementare Bedeutung des Exemplums für das fachlichen Verständnis von
Biologie (Fachrelevanz) und fundamentale Bedeutung des Exemplums für das
Selbst- und Weltverständnis des Menschen (Gesellschaftsrelevanz als
naturwisssenschaftliche Bildung).
Anschaulicher Ausgang von einem biologischen Phänomen aus dem Umfeld
der Adressaten mit biologischen Arbeitsweisen (als psychomotorischer
Komponente):
Originäre Begegnung als Anschauungsgrundlage für den Schüler. Dahinter steht
auch das für die Naturwissenschaften elementare Prinzip des Vorrangs des
Objektes gegenüber der Deutung und Buchwissen (vgl COMENIUS [1632 ff.], zit.
nach BLÄTTNER 1966).
Methodisch das entdeckend [forschend/ fragend] problemlösende
(„genetische“) Lernen:
Am Ausgangsphänomen erwächst ein elementar/ fundamentales Teilproblem, das
(gemäß dem Schema für das Experiment im Biologieunterricht) einer Teillösung
zugeführt wird, die immer wieder ein neues Teilproblem aufwirft, also zu einer
Fragekette führt, bis das Exemplum „aufgearbeitet“ ist (mustergültig schon bei
JUNGE 1885, Goldhamster-Beispiel bei WERNER 1973).
Ganzheitlich-inklusiver (auf das Verständnis von Zusammenhängen gerichteter),
dynamisch/ funktionaler Denkansatz
Affektiv (Einstellungen verändernd bei passendem Thema, z.B. zur
Umwelterziehung im ökologischen Kontext)
und sozial erziehend (bei interaktivem Arbeiten, besonders bei Gruppen-/
Projektarbeit).
Beitrag zum (erkenntnis-) kritischen Hinterfragen und zum Transfer auf das
Alltagsleben (unter dem ganzheitlichen Aspekt).
Auch formal bildend: Das Prinzip des Exemplarischen Lernens vermittelt durch
das Prinzip des genetischen Lernens über das konkrete Beispiel hinaus ein
allgemeineres, transfer-fähiges Verfahren des naturwissenschaftlichen ProblemLösens und ist damit ein Beitrag zur formalen biologischen Bildung.
Literatur (zu 2.9):
BERCK, K.-H.: Fundamentalthemen – notwendiges oder nutzloses Element von Biologiecurricula? MNU
29 (8): 471-474 (1976).
BERCK, K.-H.: Biologieunterricht – exemplarisch für das Exemplarische. ZfDN 2 (3): 17-24 (1996)
BERCK, K.-H.: Biologiedidaktik. Grundlagen und Methoden. Quelle & Meyer, Wiebelsheim 1999
BERGMANN, H.: Die Biologie des Vogels. Eine exemplarische Einführung in Bau, Funktion und
Lebensweise. Aula, Wiesbaden 1987.
BLÄTTNER, F.: Geschichte der Pädagogik. Quelle & Meyer, Heidelberg, 12. Aufl. 1966
BREHM, J. & M.MEIJERING: Fließgewässerkunde. Eine Einführung in die Limnologie der Quellen, Bäche &
Flüsse. Biologisches Arbeitsbuch 36. Quelle & Meyer, Heidelberg, 2.Aufl. 1990.
Lehrstuhl Prof.em. Dr. rer. nat. Eberhard G. SCHMIDT Universität Essen, FB 9:
Grundvorlesung BIOLOGIEDIDAKTIK, Bearbeitungsstand vom 20.1.2001
Kap. 2, Ziele BU
2 — 49
ELLENBERGER, W. (Hrsg.): Ganzheitlich-kritischer Biologieunterricht. Für das Leben lernen. Cornelsen,
Berlin 1993.
ESSER, H.: Der Biologieunterricht. Handbuch der Realschule. Schroedel, Hannover, 3. Aufl. 1969.
GOLDSCHMIDT, R.: Einführung in die Wissenschaft vom Leben oder Ascaris. Verständliche Wissenschaft.
Springer, Berlin, 1927, 3. Aufl. 1954.
JUNGE, F.: Der Dorfteich als Lebensgemeinschaft. Lipsius & Tischer, Kiel 1885. Nachdruck (der 3. Aufl.
von 1907) mit Vorwort/ Einführung von JANßEN, W, W. RIEDEL & G. TROMMER:. Lühr & Dircks,
St. Peter-Ording 1985.
SCHAEFER, G.: Inklusives Denken – Leitlinie für den Unterricht. S.10-29 in TROMMER & WENK (Hrsg.):
Leben in Ökosystemen. Leitthemen, Beiträge zur Didaktik der Naturwissenschaften 1/78.
Westermann, Braunschweig 1978.
SCHMIDT, E. (mit D.ESCHENHAGEN): Binnengewässer. S. 170-215 in ESCHENHAGEN, D., U. KATTMANN & D.
RODI (Hrsg.): Umwelt im Unterricht. Aulis, Köln 1991.
SCHMIDT, E.: Ökosystem See. Bd. 1: Der Uferbereich des Sees. Biologische Arbeitsbücher 12.1. Quelle &
Meyer, Wiesbaden, 5. Aufl. 1996.
SIEDENTOP, W.: Methodik und Didaktik des Biologieunterrichts. Quelle & Meyer, Heidelberg 1964.
STAROSTA, B.: Erkundungen der belebten Natur nach dem Prinzip des entdeckenden Lernens didaktische Konzepte und Ergebnisse einer empirischen Untersuchung. S. 316-323 in: KILLERMANN
& STAECK (Hrsg.): Methoden des Biologieunterrichts. Bericht über die Tagung der Sektion
Fachdidaktik des VDBiol. Herrsching 1989. Aulis/ Deubner, Köln 1990.
VESTER, F.: Leitmotiv vernetztes Denken. Für einen besseren Umgang mit der Welt. Heyne TB. Heyne,
München, 2.Aufl. 1991.
VOLLMER, M.: Das ist ein seltsam wunderbares Zeichen! Ein Streifzug durch die Kultur- und
Wissenschaftsgeschichte des Regenbogens. Naturwiss. Rundschau 53 (10): 495, 497-511, Titelbild
(2000).
WAGENSCHEIN, M.: Zum Begriff des Exemplarischen Lehrens. (Z. Päd. 1956), Beltz, Weinheim 1959.
WAGENSCHEIN, M.: Erwägungen über das Exemplarische Prinzip im Biologieunterricht. MNU 15 (1): 1-9
(1962).
WAGENSCHEIN, M.: Verstehen lernen. Beltz, Weinheim 1970.
WAGENSCHEIN, M.: Rettet die Phänomene. MNU 30: 129-137 (1977).
WERNER, H.: Biologie in der Curriculumdiskussion. Oldenbourg, München 1973.
Lehrstuhl Prof.em. Dr. rer. nat. Eberhard G. SCHMIDT Universität Essen, FB 9:
Grundvorlesung BIOLOGIEDIDAKTIK, Bearbeitungsstand vom 20.1.2001
Kap. 2, Ziele BU
2 — 50
2.10 Leitziel Integrative Biologie versus
integrierte Naturwissenschaft
Die Frage der Integration der naturwissenschaftlichen Fächer bewegte die 70er Jahre
(vgl. das Literaturverzeichnis). Anstöße kamen vor allem von der Physik & Chemie, von
ihren Bemühungen, den Beginn dieser Fächer im Lehrkanon der S I vorzuverlegen.
Diese Bestrebungen fanden eine Stütze in der stärkeren Verzahnung der
Naturwissenschaften in den komplexen Anwendungsbereichen von Medizin &
(Umwelt-) Technik und bei den Umweltproblemen. Nun sind Biologie generell und die
Ökologie im besonderen von Natur aus integrativ angelegt. Dabei werden die
Nachbardisziplinen jedoch als Hilfswissenschaft eingebracht, also unter dem Aspekt
der jeweiligen Fragestellung kanalisiert (und verengt), ihre spezifische Systematik
kommt nicht oder nur unzureichend zum Tragen. So müssen wir die Fotosynthese im
Biologieunterricht schon einführen, lange bevor Chemieunterricht überhaupt,
geschweige denn die entsprechende organische Chemie, behandelt sein können und
die Chemie entsprechend auf das für das biologische Verständnis Notwendige
verkürzen; die Integration der beiden Fächer hilft also nicht. Umgekehrt ist es bei der
Umweltanalytik, wo die Chemie Meßverfahren schon früh bereitstellen kann (oder
auch selbst einsetzt), aber nicht sensibilisiert ist für die ökologisch entscheidende
Frage der Bedeutung des Meßwertes (wie der Belastbarkeit von Organismen), oft nicht
einmal wahrnimmt, daß die Meßgröße maßgeblich biologisch bestimmt ist und (wie
der pH-Wert im Gewässer als Ausdruck der Fotosynthese- und Atmungsrhythmen in
Rückkopplung mit dem Karbonatsystem und abhängig von der biologischen Aktivität:
SCHMIDT 1996) daher z.B. von der Organismendichte und dem Tages-/Jahresgang
ihrer entsprechenden Aktivität abhängt, was bei den Messungen zu beachten ist.
Insgesamt führt ein integrierter naturwissenschaftlicher Unterricht dazu, daß
biologische Anteile reduziert werden und integrationsfähige Randthemen ein zu hohes
Gewicht erhalten.
Damit ist die Frage „Integrative Biologie“ oder Integrierte Naturwissenschaft nicht
objektiv zu klären, sondern nur durch axiomatische Setzung zu entscheiden. Die
beiden Alternativen haben damit den Charakter alternativer Leitziele. Hier sollen
noch die Argumenten pro und contra zusammengestellt und (aus persönlicher
Sicht) bewertet werden. Dieses Kapitel war ursprünglich unter „Spezieller
Biologiedidaktik“ eingeordnet worden, in dieser Sicht gehört sie zu den LeitzielDiskussionen dieses Kapitels und ist da ein gutes Beispiel für die didaktische
Problematik.
Bei integrierten Studiengängen (wie im Studiengang Lehramt Primarstufe,
Lernbereich Naturwissenschaften unter Einschluß auch der physischen Geographie)
erhalten die einzelnen Naturwissenschaften formal gleiche Anteile ohne Rücksicht auf
ihren Beitrag zum Bildungsauftrag: Biologie mit dem breiten Feld (wie der
grundschulrelevanten Formenkunde, Gesundheits- & Umwelterziehung) hat dann den
gleichen Stellenwert wie die (auf diese Stufe eher vordergründig/ technische) Physik.
Lehrstuhl Prof.em. Dr. rer. nat. Eberhard G. SCHMIDT Universität Essen, FB 9:
Grundvorlesung BIOLOGIEDIDAKTIK, Bearbeitungsstand vom 20.1.2001
Kap. 2, Ziele BU
2 — 51
Integrierte Naturwissenschaft ist (trotz dieser Vorbehalte) in der Primarstufe
etabliert, in der S I gibt es Ansätze (wie im IPN-Curriculum "Wasserverschmutzung":
EULEFELD u.a. 1979), in der S II hat sie sich „Dauerbrenner“ der akademischen
didaktischen Diskussion (vgl. BAYRHUBER u.a. 1994) mit Rückwirkungen auch auf die
Richtlinien (vgl. RL NRW). Die festgefügte Fachstruktur des Schulunterrichtes, die sich
in den weiterführenden Schularten schon aus der Fachkompetenz ergibt, sorgt hier
(erfreulicherweise) dafür, daß „der Boden unter den Füßen bleibt“. Für die
naturwissenschaftliche Bildung in der gymnasialen Oberstufe ist dabei allerdings der
Kurswahlmodus deshalb fatal, weil ein breiter naturwisssenschaftlicher Fächerkanon
(mit Mathematik, Physik, Chemie und Biologie mit je 3-6 Wochenstunden wie im
Naturwissenschaftlichen Zweig der 60er Jahre) ausgeschlossen worden war und erst
jetzt krasse Fehlentwicklungen langsam korrigiert werden.
Die Problematik wird klar bei SCHAEFER (1976) herausgestellt:
Gründe für das Schulfach „Integrierte Naturwissenschaft“ sind:
 Integrierte Naturwissenschaft als Gegenpol zur Aufsplitterung in Fachdisziplinen;
 Überwindung des „Fachidioten“ als Bildungsziel;
 Hypothese der besseren Lernökonomie;
 Abbau der Fachgrenzen zur Verbesserung der „Chancengleichheit“ der Schüler;
 Mythos der Integrierten Naturwissenschaft als Ausgleich für den desintegrierten,
zersplitterten Menschen der Industriegesellschaft des ausgehenden
20. Jahrhunderts.
Gegengründe sind:
1. Organisatorische Probleme
(wie die Festschreibung der Stundentafeln und Lehrpläne);
2. viele Schüler bevorzugen den Fachunterricht;
3. viele Lehrer fühlen sich auf Grund ihrer einseitigen Ausbildung überfordert;
4. Verteilungskämpfe um die Stundenanteile zwischen den herkömmlichen Fächern,
5. Schwierigkeiten bei der inhaltlichen Konkretisierung der Themen.
6. „Trojanisches Pferd“ der Fachlobby von Fächern, die unter dem Stichwort
„integrierte Naturwissenschaft“ (zu Lasten der Biologie) ihren Anteil erhöhen (wie
die Physik in der Orientierungsstufe oder im Sachunterricht) oder sich überhaupt
neu etablieren wollen.
Die Integrationsansätze lassen sich klassifizieren in:
1. Der konzept- oder begriffsorientierte Ansatz (z.B. die Begriffe „Fliegen, Schwimmen,
Schweben/ Gleiten“ in Biologie, Physik, Sport, Technik).
2. Der prozeß-. oder methodenorientierte Ansatz (z.B. „Chaostheorie“ in Mathematik,
Physik, Biologie, Wirtschaft, Soziologie, Sprachforschung).
3. Der theorieorientierte Ansatz (z.B. Evolutionstheorie in Biologie, Geologie, Technik,
Soziologie).
4. Der objektorientierte Ansatz (z.B. das „Waldsterben“ in Biologie/Ökologie,
Geographie, Klimatologie, Technik, Wirtschaft).
5. Der problemorientierte Ansatz (z.B. Umweltschutz).
6. Der umweltorientierte Ansatz.
Lehrstuhl Prof.em. Dr. rer. nat. Eberhard G. SCHMIDT Universität Essen, FB 9:
Grundvorlesung BIOLOGIEDIDAKTIK, Bearbeitungsstand vom 20.1.2001
Kap. 2, Ziele BU
2 — 52
Besondere Eignung von Biologie als integrierende Naturwissenschaft
(mit dann höheren Stundenanteilen neben den konventionellen Anteilen für die
Fächer Physik und Chemie):
 Sensibilisierung für die Problematik der Abgrenzung von Kausalität & Finalität (die
einfachere Fachstruktur in Physik & Chemie ermöglicht dort die völlige
Eliminierung von Finalität);
 Förderung des Denkens in komplexeren „Chaos- Systemen“ mit höheren Unschärfen
(vgl. Kap. ##);
 Sensibilisierung für die Dialektik von exklusivem & inklusivem Denkansatz.
Die (nachhaltig zu unterstützende) Konsequenz ist also die Forderung nach mehr
(und mehr integrierender) Biologie im konventionellen Fächerkanon statt integrierter
Naturwissenschaft (und fortlaufenden Stundenkürzungen für das Schulfach
Biologie), was allerdings die fachlichen Anforderungen an die „Lehrämtler“
Biologie und an die Biologielehrer stark erhöht!
Literatur:
BAYRHUBER, H., K.ETSCHENBERG, K-H.GEHLHAAR, O.GRÖNKE R.KLEE, H.KÜHNEMUND & J.MAYER (Hrsg.):
Interdisziplinäre Themenbereiche und Projekte im Biologieunterricht. 9. Fachtagung der Sektion
Fachdidaktik im VDBiol 1993 in Ludwigsfelde (bei Potsdam). IPN, Kiel 1994.
BÖMEKE, R.: Integrierter Ökologie-Unterricht im dreigliedrigen Schulsystem. Biol.Did. 7: 29-45 (1985).
DALHOFF, B.: Freizeitverhalten fatal in Werl? Bericht über ein Projekt zum Umgang mit Natur in der
Freizeit in der S II. UB 188: 43-47 (1993).
EULEFELD, G., D.BOLSCHO, W.BÜRGER & K.HORN: Probleme der Wasserverschmutzung. Unterrichtseinheit
für die 8.-10. Klassenstufe. IPN Einheitenbank Curriculum Biologie. Lehrerheft. Aulis/ Deubner,
Köln 1979.
HECHT, K.: Überlegungen zu integrierten naturwissenschaftlich-technischen Grundkursen der
Studienstufe. MNU 27: 129-135 (1974).
LINDER, H.: Zehn Jahre Programmierte Instruktion. MNU 26 (8): 477-481 (1973).
ROBINSON, S.: Bildungsreform als Revision des Curriculums. Luchterhand, Neuwied 1969.
SCHAEFER, G.: Integrierte Naturwissenschaft oder mehr Biologie? MNU 29: 271-276 (1976).
SCHMIDT, E.: Ökosystem See. Bd. I Der Uferbereich des Sees. Quelle & Meyer, Wiesbaden, 5. Aufl. 1996.
SCHORR, E.: Integrierte Umwelterziehung am Beispiel einer Unterrichtseinheit "Fließgewässer". Biol.
Schule 40: 329-335 (1991).
Vgl. auch die Reihe „Leitthemen, Beiträge zur Didaktik der Naturwissenschaften“ bei
Westermann, Braunschweig mit Bänden wie:
Wachsende Systeme, 1976, Hrsg.: G.SCHAEFER, G.TROMMER & K.WENK;
Naturerscheinung Energie, 1977, Hrsg.: G.TROMMER & K.WENK;
Denken in Modellen, 1977, Hrsg.: G.SCHAEFER, G.TROMMER & K.WENK;
Leben in Ökosystemen, 1978, Hrsg.: G.TROMMER & K.WENK;
Unterrichten mit Modellen, 1979, Hrsg.: G.TROMMER & K.WENK;
Information & Ordnung, 1984, Hrsg.: G.SCHAEFER.
oder umgeschrieben als:
SCHAEFER, G. (Hrsg.): Information & Ordnung. Leitthemen, Beiträge zur Didaktik der
Naturwissenschaften 1/78. Westermann, Braunschweig 1984.
SCHAEFER, G., G.TROMMER & K.WENK (Hrsg.): Wachsende Systeme. Leitthemen, Beiträge zur Didaktik
der Naturwissenschaften. Westermann, Braunschweig 1976.
SCHAEFER, G., G.TROMMER & K.WENK (Hrsg.): Denken in Modellen. Leitthemen, Beiträge zur Didaktik der
Naturwissenschaften. Westermann, Braunschweig 1977.
TROMMER, G. & K.WENK (Hrsg.): Naturerscheinung Energie. Leitthemen, Beiträge zur Didaktik der
Naturwissenschaften. Westermann, Braunschweig 1977.
TROMMER, G. & K.WENK (Hrsg.): Leben in Ökosystemen. Leitthemen, Beiträge zur Didaktik der
Naturwissenschaften. Westermann, Braunschweig 1978.
TROMMER, G. & K.WENK (Hrsg.): Unterrichten mit Modellen. Leitthemen, Beiträge zur Didaktik der
Naturwissenschaften. Westermann, Braunschweig 1979.
Lehrstuhl Prof.em. Dr. rer. nat. Eberhard G. SCHMIDT Universität Essen, FB 9:
Grundvorlesung BIOLOGIEDIDAKTIK, Bearbeitungsstand vom 20.1.2001
Kap. 2, Ziele BU
2 — 53
2.11 Fächerübergreifende Erziehungsaufgaben
2.11.1 Einführung
Alle Richtlinien Biologie NRW stellen das Leitziel „Erziehung zum mündigen
Demokraten“ als fächerübergreifende Erziehungsaufgabe besonders heraus. Diese
staatsbürgerliche Erziehung/ Bildung wird daher hier an den Anfang gestellt. Es
folgen die Friedens-, Gesundheits-/ Sexualerziehung und die Umwelterziehung, die
inhaltlich stärker Bezug auf den BU bezogenen sind
Die Richtlinien Realschule NRW (von 1993) haben die inhaltliche Aufteilung von
fächerübergreifenden Erziehungsaufgaben auf die einzelnen Schulfächer und damit
die Koordination der einzelnen Unterrichtsfächer am besten vorgegeben. Sie sollen
daher hier als Modell dienen. Im 3. Abschnitt der Richtlinien werden dabei der
Gesundheitsund
der
Umwelterziehung
eigene
Kapitel
gewidmet
[„Fächerübergreifendes Lehren und Lernen“ (S.93-143); vorangestellt sind:
1. Abschnitt „Richtlinien“ (S.11 ff.), 2. Abschnitt „Lehrplan“ (S.35 ff.)]; die Friedensund die Sexualerziehung sind allerdings nicht mit aufgenommen worden.
Die beiden Kapitel werden dabei gegliedert in „Aufgaben & Ziele“, eine
Themenübersicht für die einzelnen Schulfächer, Strukturdiagramme zu Aspekten,
Themenkreisen und Themen und eine Wabengrafik zu einem ausgewählten Stichwort
(z.B. „Alkohol  Droge Nr. 1“ für die Gesundheitserziehung oder „Ursachen &
Auswirkungen von Waldschäden“ für die Umwelterziehung jeweils in der
Jahrgangsstufe 7/8).
Bei diesen Erziehungsaufgaben sollen Wertvorstellungen (im Sinne einer Ethik)
so vermittelt und gefestigt werden, daß auch ihre Umsetzung (im Sinne einer Moral)
aus eigenem Antrieb erfolgt (Handlungsbezug der Erziehung), daß also im Ideal die
Wertvorstellungen gelebt werden. In einer pluralistischen Gesellschaft können dabei
im öffentlichen Schulwesen nur solche Erziehungsaufgaben eingebracht werden, die
für die ganze Gesellschaft unstrittig sind. Das gilt ohne Zweifel für die Erziehung zum
friedlichen
Zusammenleben
im
Staat
und
mit
den
anderen
Staaten
(Friedenserziehung), für die Erziehung zum verantwortungsvollem Umgang mit dem
eigenen Körper (Gesundheitserziehung), mit dem (Geschlechts-) Partner und der
Zeugung/ Empfängnis als Beginn neuen menschlichen Lebens (Sexualerziehung) und
mit der Natur und der Umwelt (Umwelterziehung). Für diese Erziehungsaufgaben hat
die Schule kein Monopol, auch haben die Lehrer dafür nicht in jedem Falle oder von
Amts wegen die bessere Qualifikation. Diese Erziehungsaufgaben werden (vor allem
bei der Gesundheitserziehung) zunächst maßgeblich von den Eltern, die den Kindern
ja auch persönlich besonders verbunden sind, wahrgenommen, auch später wirken
sie neben der Schule weiter. Darüber hinaus nimmt sich auch die Öffentlichkeit ihrer
an; sie kann sich dabei auch mit ganz anderen Zielvorstellungen einmischen. Zu
nennen sind neben dem von den Kindern ± selbst gewählten Bekannten-/
Freundeskreis vor allem die Massenmedien. Der fachliche Hintergrund bei den
didaktischen Rekonstruktionen muß hier also auch den Sachstand und vor allem die
Wertehaltung dieser außerschulischen Einwirkungen berücksichtigen. Darauf wird
hier vor allem bei der Umwelterziehung eingegangen. Sie ist ein Arbeitsgebiet in
unserer Arbeitsgruppe, hoch aktuell, wird daher hier vertieft und erhält aus
praktischen Gründen (wie Übersichtlichkeit der Dezimalklassifikation) ein eigenes
Kapitel (2.8).
Lehrstuhl Prof.em. Dr. rer. nat. Eberhard G. SCHMIDT Universität Essen, FB 9:
Grundvorlesung BIOLOGIEDIDAKTIK, Bearbeitungsstand vom 20.1.2001
Kap. 2, Ziele BU
2 — 54
2.11.2 Erziehung zum verantwortungsbewußten Demokraten
(= staatsbürgerliche oder politische Bildung)
Das (alle Schulfächer betreffende) Leitziel „Erziehung zum mündigen Demokraten“
(staatsbürgerliche Erziehung/ Bildung) stellen alle Richtlinien Biologie (SI wie SII)
NRW nachdrücklich, aber ohne den fächerübergreifenden Aspekt und ohne inhaltliche
Konkretisierungen heraus.
Die Richtlinien für die gymnasiale Oberstufe formulieren das (auf S. 14) als:
„In der gymnasialen Oberstufe bilden, bezogen auf ihre Unterrichts- und
Erziehungsaufgaben, zwei Zielfelder da Zentrum aller schulischen Arbeit. Sie sind
definiert durch den Doppelauftrag,
 dem Schüler eine wissenschaftspropädeutische Ausbildung zu vermitteln;
 dem Schüler Hilfen zur Selbstverwirklichung in sozialer Verantwortung zu geben.“
Dabei werden drei Schwerpunkte gesetzt (s.17):
(1) Selbstverwirklichung in sozialer Verantwortung ist nicht erreichbar ohne die
Bereitschaft und Fähigkeit, sich mit anderen zu verständigen.
(2) Selbstverwirklichung in sozialer Verantwortung ist nicht erreichbar ohne die
Bereitschaft und Fähigkeit, mit anderen zusammenzuarbeiten.
(3) Selbstverwirklichung in sozialer Verantwortung ist nicht erreichbar ohne die
Bereitschaft und Fähigkeit, sich mit Werten und Wertsystemen
auseinanderzusetzen, zu urteilen und sich zu entscheiden.
Die Richtlinien für die S I im Gymnasium formulieren den Doppelauftrag ähnlich
(S. 12 ff.):
 Hilfen geben zur Entwicklung einer mündigen und sozial verantwortlichen
Persönlichkeit und
 grundlegende Kenntnisse, Fähigkeiten und Fertigkeiten vermitteln.
Dabei werden für den ersten Punkt die folgenden Aufgaben spezifiziert:
 Entfaltung individueller Fähigkeiten;
 Aufbau sozialer Verantwortung;
 Gestaltung einer demokratischen Gesellschaft;
 Orientierung an Grundwerten;
 kulturelle Mitgestaltung;
 verantwortliche Tätigkeit in der Berufs- und Arbeitswelt.
Auch die Richtlinien Biologie in der Realschule NRW stellen unter dem Stichwort
Mündigkeit die personale & soziale Erziehung einerseits und die fachliche Bildung
andererseits als miteinander verknüpfte und aufeinander bezogene Aufgaben in den
Mittelpunkt der Leitlinien für den Erziehungs- und Bildungsauftrag dieser Schulart.
Stichpunkte dazu sind:
 Entfaltung und Individualität und Aufbau sozialer Verantwortung:
Individuelles Selbst- & Weltverständnis, Übernahme von Verantwortung,
gemeinsames Leben & Lernen, Rollenverständnis von Mädchen & Jungen.
 Kulturelle Teilhabe:
Kultur als Teil der Lebenswirklichkeit, Einfluß der Medien, Bedeutung von
Freizeit.
Lehrstuhl Prof.em. Dr. rer. nat. Eberhard G. SCHMIDT Universität Essen, FB 9:
Grundvorlesung BIOLOGIEDIDAKTIK, Bearbeitungsstand vom 20.1.2001
Kap. 2, Ziele BU
2 — 55
 Ethisches Urteilen und Handeln:
Auseinandersetzung mit Normen & Werten, Sinnfragen menschlicher Existenz,
Verantwortung für Gegenwart & Zukunft.
 Verantwortliche Tätigkeit in der Berufs- & Arbeitswelt:
Bedeutung der Arbeit, technologischer Wandel, lebenslanges Lernen,
Berufswahl-orientierung, Gleichberechtigung.
 Mitbestimmung & Mitverantwortung in einer demokratisch verfaßten
Gesellschaft:
Verantwortliches Handeln, Schule als Erfahrungsraum.
Dazu dient der erziehende Unterricht (S. 17)
mit Zukunfts,- Wissenschafts-, Erfahrungs- & Handlungs-orientierung.
Die Richtlinien Hauptschule setzen ähnliche Schwerpunkte, die Richtlinien
Naturwissenschaften in der Gesamtschule stellen überdies die besondere Förderung
der leistungsschwächeren Schüler heraus, denn „sie dient damit der Verwirklichung
des Gleichheitsgrundsatzes des Grundgesetzes, indem sie die Lebens- &
Berufschancen der heranwachsenden Generation aus der häufig gegeben Bindung an
Herkunft und Bildungserwartungen löst“.
Diese allgemeinen (nicht an die einzelnen Schulfächer gebundenen) Leitziele zur
Persönlichkeitsentwicklung
der
Schüler
und
zur
Erziehung
zum
verantwortungsbewußten
Staatsbürger
einer
freiheitlichen
Demokratie
(„staatsbürgerliche Bildung“) wurden früher als „politische Bildung“ (im BU)
bezeichnet (GRAVE
1965). Aspekte dazu werden unter den folgenden
fächerübergreifenden Erziehungsaufgaben (Friedens,- Gesundheits-, Sexual- und
Umwelterziehung) konkretisiert.
Anmerkung zum Begriff „Mündigkeit“: Statt verantwortungsbewußt wird heute der
Begriff „mündig“ gebraucht. Mündigkeit i.e.S. ist die Volljährigkeit, i.w.S. die Fähigkeit
zur Selbstbestimmung. Mündig sein heißt damit eigentlich nur verantwortlich sein
(also beispielsweise für eigenes [ggf. vorsätzliches] Fehlverhalten einzustehen).
Ein Alltagsbeispiel möge den Unterscheid erläutern: Parkt man im Halteverbot
und motzt die Politesse an, so ist man unmündig, zahlt jedoch willig das Knöllchen, so
ist man wohl mündig (Einstehen für Fehlverhalten), aber noch lange nicht ein
verantwortungsbewußter Staatsbürger (also noch nicht politisch reif im Sinne der
Ziele der staatsbürgerlichen/ politischen Bildung).
Literatur:
GRAVE, G.: Politische Bildung im Biologieunterricht. Der Biologieunterricht 1 (1): 48-63 (1965).
Lehrstuhl Prof.em. Dr. rer. nat. Eberhard G. SCHMIDT Universität Essen, FB 9:
Grundvorlesung BIOLOGIEDIDAKTIK, Bearbeitungsstand vom 20.1.2001
Kap. 2, Ziele BU
2 — 56
2.11.3 Friedenserziehung
Die Friedenserziehung (Details bei EKR 1996, Kap.4.4, S.112ff.; vgl. auch CALLIEß &
LOB 1987) ist logisch die Fortsetzung der Erziehung zum mündigen Demokraten unter
dem besonderen Aspekt der Eliminierung der Gewalt nicht nur innerhalb des
Gemeinwesens, sondern auch zwischen den Staaten. Im Biologieunterricht ist
Friedenserziehung mehr ein Unterrichtsprinzip, die inhaltlichen Anteile der Biologie
sind eher beschränkt. EKR 1996 (S.116) heben hervor:
 Auf der individuellen Ebene die Themen "Aggression", "Gehorsam & Autorität",
"Signale der Kommunikation", "Kooperation & gegenseitige Hilfe in Gruppen";
 Auf der sozialen Ebene die Themen "Außenseiter", "Verhalten gegenüber
Randgruppen", "Rassenvorurteile & -diskriminierung";
 Auf der globalen Ebene die Themen "Welternährung & Hunger",
"Bevölkerungswachstum & Überbevölkerung".
Dabei sind die biologischen Inhalte eng mit emotionalen und ethischen Fragen zu
verknüpfen (vgl. LOHR 1983).
Friedenserziehung ist auch ein Ausdruck der Mentalität der 70er Jahre mit dem
festen Glauben daran, durch Erziehung die Gewalt aus der Welt schaffen (oder
zumindest drastisch einschränken) zu können. Der Zusammenbruch des Ost-WestKonflikts Ende der 80er Jahre schien das zu bestärken; mit dem Golf-Krieg, dem
Terror im ehemaligen Jugoslawien und (u.a.) in Teilen des ehemaligen SowjetImperiums und Afrikas oder in Palästina kam Ernüchterung und auch Ratlosigkeit
(stummes, hilfloses Schweigen).
Literatur:
CALLIEß, J. & R.LOB (Hrsg.): Praxis der Umwelt- und Friedenserziehung. 3 Bände. Schwann, Düsseldorf
1987.
LOHR, S. (verantw. Red.): Frieden. Anregungen für den Ernstfall. Sonderheft der pädagogischen
Zeitschriften des Friedrich Verlages, Seelze 1983.
2.11.4 Gesundheits- & Sexualerziehung
Die Gesundheitserziehung war schon immer ein Anliegen der Grundschule und der SI,
hier oft im Sinne praktischer Lebenshilfe als Anwendung des Sachwissens zur
Humanbiologie. Zu Einzelheiten verweise ich auf EKR 1996 (Kap 4.2, S.93ff.) und vor
allem auf die Richtlinien Realschule NRW (S.101-111).
Die Sexualerziehung wurde dagegen bis in die 60er Jahre im Biologieunterricht
eher am Rande und oft mehr als sachliche "Aufklärung" behandelt (aber vgl. dagegen
SIEDENTOP 1964). Die Emanzipationsbewegung der 60er und 70er Jahre beförderte
auch die sexuelle Befreiung von "alten Tabus" und suchte die Schule als Forum (z.T.
kaschiert mit der These vom Abbau von Komplexen und Störungen als Folge des
"Versagens" der  als eher "konservativ [wertebewußt]/ verkrustet" eingestuften 
Eltern und Großelterngeneration). Eine Bejahung der Sexualität ("Sexualität ist
Lebenskraft": ELLENBERGER 1993, S.288) als ein Ziel der Sexualerziehung in der
Schule, die Möglichkeiten der Verhütung als Verantwortung gegenüber der
Empfängnis/ dem neu entstehenden Leben (wenn sie auch manchmal eher als
Umgehen der biologischen Funktion gesehen werden) gehören zu den
Erziehungszielen für den Biologieunterricht aus dieser Zeit (mehr z.B. bei EKR 1996).
Lehrstuhl Prof.em. Dr. rer. nat. Eberhard G. SCHMIDT Universität Essen, FB 9:
Grundvorlesung BIOLOGIEDIDAKTIK, Bearbeitungsstand vom 20.1.2001
Kap. 2, Ziele BU
2 — 57
Die Achtung anderer individueller Wertvorstellungen (z.B. in den ländlichkatholischen Regionen der Kölner Bucht und des Münsterlandes) wurde 
unbeschadet des Propagierens der Meinungs- und Wertevielfalt in einer
pluralistischen Gesellschaft  bei manchmal geradezu missionarischem Eifer nicht
immer gewahrt, die Eignung eines jeden (in der Regel für die Sexualerziehung gar
nicht ausgebildeten) Lehrers für die Umsetzung wurde im Überschwang des
Bildungseifers eher idealisiert (die Eignung der Familie dafür eher diffamiert), das
Selbstbestimmungsrecht der Jugendlichen in diesen oft sehr persönlichen Fragen
nicht immer hinreichend beachtet. Auch wurde bei der Auswahl der Inhalte nicht
immer die Gewichtung nach komplexen Sachverhalten (wie der hormonellen
Steuerung), die der Erfahrung des Fachlehrers bedürfen und damit in den
Schulkanon gehören, und nach Alltagserfahrungen (wie z.B. Bindentypen nach
Industrie-Werbepackungen oder Arbeitsbögen zu erogenen Zonen: STAECK 1987,
S.203), die nicht in der Schule behandelt werden müssen, vorgenommen. Inzwischen
hat sich ein Mittelweg eingespielt (zu Details vgl. EKR 1996, Kap.4.3). Neu
hinzugekommen ist die Aids-Problematik, die aber oft (u.a. bei EKR) der
Gesundheitserziehung zugerechnet wird.
Insgesamt haben sich die Anteile von Gesundheits- & Sexualerziehung und der
Menschenkunde überhaupt am Pensum der Grundschule und der SI seit den 60er
Jahren bei allgemeinen Kürzungen der Stundentafel (zu Lasten der Biologie im
engeren Sinne) deutlich erhöht.
Literatur:
ELLENBERGER, W. (1993): Ganzheitlich-kritischer BU. Cornelsen, Berlin 1993.
SIEDENTOP, W.: Methodik und Didaktik des BU. Quelle & Meyer 1964, 4. Aufl. 1972.
STAECK, L.: Zeitgemäßer Biologieunterricht. Eine Didaktik. Metzler, Stuttgart, 4. Aufl. 1987.
Lehrstuhl Prof.em. Dr. rer. nat. Eberhard G. SCHMIDT Universität Essen, FB 9:
Grundvorlesung BIOLOGIEDIDAKTIK, Bearbeitungsstand vom 20.1.2001
Kap. 2, Ziele BU
2 — 58
2.11.5 Umwelterziehung
Der Begriff Umwelterziehung steht hier stets für Umwelterziehung und
Umweltbildung. Sie ist eine fächerübergreifende Erziehungsaufgabe der Schule mit
besonderer Aktualität und Brisanz. Die bisherigen Ansätze zur Umwelterziehung (vgl.
BONATZ & HORST 1987, ENGELHARDT 1977, MIELKE 1974, PREUß 1966, WINKEL u.a. 1978,
ZABEL 1988) sind dabei zu überdenken. Das gilt vor allem für die Ziel- und
Schwerpunktsetzungen und ihre praktische Umsetzung (EULEFELD & JARITZ 1995,
WINKEL 1995 sowie WEIGMANN u.a. 1995). Dazu liegt ein breites Feld an
Bestandsaufnahmen, Zielvorstellungen und Modellversuchen mit unterschiedlichem
Grad an Realitätsbezug und Praktikabilität vor (vgl. BOLSCHO et al. 1980, 1994 in
Verbindung mit BECK 1984, BERTLEFF & EULEFELD 1989, EULEFELD & GÜLLEKES 1990,
EULEFELD & GUTTE 1991, EULEFELD et al. 1992, 1993, GÄRTNER & HOEBEL-MÄVERS 1991,
MIKELSKIS 1990, PROBST & SCHAUSER 1994, SEYBOLD & BOLSCHO 1993, WINKEL 1995).
Hinzu kommen noch die außerschulische Umweltbildung an öffentlichen Institutionen
(z.B. in Volkshochschulen und an Biologischen Stationen) und die außerinstitutionelle
Umweltbildung in Privatinitiative (wie über Sachbücher, z.B. MOSER 1983, NACHTIGALL
1979, REICHHOLF 1988, 1993). Aktuelle Ereignisse (vor allem sensationelle Störfälle
[wie Tankerunfälle]) und Geschehnisse aus dem Alltagsleben (wie TrinkwasserKontaminierungen oder Probleme beim Müllsortieren) werden vielfach von den
Massenmedien aufgegriffen und dabei auch bewertet. Die Diskussion ist aber oft
abgehoben von Umweltkenntnis und Verständnis der Beziehungsgefüge und damit
entfernt von einem rationalen Ansatz zur Problemlösung bzw. Kompromißfindung.
Damit ergibt sich eine Herausforderung gerade für den BU hinsichtlich der
ökologischen Basis der Umwelterziehung (vgl. dazu SCHMIDT 1995, sowie
SCHMIDT 1997 und das Vorwort bei SCHMIDT 1996). Umwelterziehung im BU soll daher
in dieser Vorlesung ausführlicher behandelt werden. Das erfolgt jedoch im Kap. 4
(Spezielle Biologiedidaktik). Dort ist auch die vorstehend zitierte Literatur spezifiziert.
Herunterladen