Prof. Dr. Jürgen Dittberner WS 2006/2007 Politische Kultur in der Bundesrepublik Deutschland (Vorlesung an der Universität Potsdam) 1. Anti-Nationalsozialismus als Begründung der politischen Kultur nach 1945 2 2. Der „CDU-Staat“ unter Adenauer 8 a) Determinanten b) Funktionen c) Gründung 3. Die Kulturrevolution der 68er 9 15 17 26 4. Sozial-liberale Hoffnungen: Mehr und Demokratie und Entspannung 35 5. Die ausgebliebene geistig-moralische Wende in der Ära Kohl 48 6. Die unerwartete Einheit: Zwei politische Kulturen? 56 a) Die Wissenschaft b) Politik: Gregor Gysi und Oskar Lafontaine als Hüter einer Linkspartei? 7. Politische Korrektheiten 56 66 74 8. Konsensdemokratie oder Konsensmanie 90 9. Liberalismus 96 10. Personalisierungen 111 11. Verostet die Republik? Die Politik braucht Quereinsteiger! 117 12. Perspektiven a) Rückgriff auf Weimar b) „Skeptische Generation“ c) Paradigmenwechsel: APO und 68er d) Sozial-liberal e) „Geistig-moralische Wende“ f) Deutsche Einheit g) Rot-grün h) Die Konsistenz der politischen Institutionen I) Der Föderalismus II) Das Parlament III) Die Regierung IV) Der Bundespräsident V) Das Bundesverfassungsgericht 122 123 124 124 128 129 131 132 134 134 134 138 141 144 1 1. Anti-Nationalsozialismus als Begründung der politischen Kultur nach 1945 Deutschland ist seit 15 Jahren wieder vereint. Die deutsche Hauptstadt ist tatsächlich Berlin, nicht länger Bonn. Die alte „Staatspartei” der Union mitsamt ihrem liberalen Korrektiv war 1998 durch eine rot-grüne Koalition abgelöst worden. Aus einem Pflastersteinrebellen war ein Bundesaußenminister erwachsen, und nicht nur ein Politiker an der Spitze der SPD hatte das Handtuch geworfen. Die DM ging und der Euro kam. Das „rot-grüne Projekt“ brach 2005 jäh zusammen, und unter einer „ostdeutschen“ CDU-Politikerin als Kanzlerin übernahm eine „große Koalition der kleinen Schritte“1 die Regierung. Ein Jahrhundert der Weltkriege, der Massenmorde, der politischen Ideologien und Religionen war vorbei. Viele glauben, Deutschland sei in der Welt internationaler Organisationen und Verflechtungen mittlerweile so weit entwickelt, dass ein Genozid jedenfalls von hier aus nie wieder erfolgen kann. So wurde ein Militäreinsatz deutscher Soldaten in Serbien trotz der im letzten Weltkrieg dort von Deutschen verübten Gräueltaten gerechtfertigt. Deutsche Soldaten beteiligten sich mehr und mehr an „Friedensmissionen“ oder am „Nationbuilding“ internationaler Zusammenschlüsse. Angesichts des Libanon-Krieges 2006 plädierten zahlreiche Politiker sogar dafür, deutsche Soldaten auch mit „robustem“ Mandat an der Grenze zwischen Libanon und Israel einzusetzen. Wird und kann auch Schluss sein mit dem Gedenken an die Verbrechen des Nationalsozialismus und deren Opfer? In den letzten zehn Jahren des scheidenden Jahrhunderts gab es ein Aufleben der Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus. Der Spielberg-Streifen „Schindlers Liste” füllte die Kinopaläste und bot reichlichen Gesprächsstoff für Podiumsdiskussionen in Akademien und Talkrunden auf allen Fernsehkanälen. Daniel Goldhagens Buch über Hitlers „willige Vollstrecker”2 löste ein Strohfeuer der Debatten unter Historikern, Journalisten und Betroffenheitspolitikern aus. Für das Mahnmal in Berlin wurden elaborierte Kolloquien, Wettbewerbe, Auswahlsitzungen und Ausstellungen veranstaltet. Ungezählte Feuilletonzeilen sind darüber geschrieben worden. Die neu in die größer gewordene Bundesrepublik gekommenen „Nationalen Mahn- und Gedenkstätten” der DDR wurden übernommen und Gegenstand von Konzeptions- und Zielplanungen der Historiker und Architekten. Die 50. Jahrestage der Befreiung vor allem der Konzentrationslager wurden wie Staatsakte zelebriert. Vor allem Politiker hielten Gedenkreden, ehemalige Häftlinge aus ganz Europa wurden zu 1 2 Jürgen Dittberner, Große Koalition kleine Schritte. Politische Kultur in Deutschland, Berlin 2006 Daniel Jona Goldhagen, Hitlers willige Vollstrecker. Ganz gewöhnliche Deutsche und der Holocaust. Berlin 1996 2 den Festakten eingeladen. Tage- und nächtelang lasen sich Menschen die endlosen Texte der Tagebücher Victor Klemperers aus der Zeit von 1933 bis 1945 vor.3 Ein Holocaustgedenktag wurde vom Bundestag beschlossen. „Gedenken” war in diesen zehn Jahren zwischen 1990 und 2000 zum Inbegriff der politischen Korrektheit geworden. Der Vorsitzende des Zentralrates der Juden in Deutschland, Ignatz Bubis, war eine Zeitlang unangefochtene Autorität auf diesem Gebiet. Ob aus Überzeugung, politischer Opportunität oder schlechtem Gewissen heraus: Seines Rates, seiner Zustimmung versicherten sich die Politiker im Bund und in den Ländern. Er hatte für den Holocaustgedenktag geworben, für die Veranstaltungen zum Jahrestag der Befreiungen der Konzentrationslager, er segnete die Konzeptionen für die Entwicklungen der Gedenkstätten ab. Ausgerechnet Ignatz Bubis war es, der 1998 eine Debatte darüber auslöste, ob es nunmehr zu viel sei mit dem politischen Gedenken. Hatte Martin Walser noch sein persönliches Missbehagen gegen das institutionalisierte Gedenken ausgedrückt, so war der Vorwurf von Bubis gegen den Schriftsteller als „geistigem Brandstifter” das Startsignal für grundsätzlichere Erörterungen. Aus der moralischen Instanz Bubis war Partei geworden. Stimmen kamen auf, die sich dagegen wandten, dass die Diskussionen um das nationale Selbstverständnis in Deutschland zu sehr rückwärtsgewandt seien. Man müsse Rücksicht nehmen auf die Gefühle der Opfer, aber auch auf die der vielen anderen, war zu hören. Dabei hatte es den Eindruck, dass diese Diskussionen letzten Endes aufgekommen waren, weil die Notwendigkeit einer weniger ideellen, dafür aber um so materielleren Bewältigung der Nazivergangenheit auf die Nation zugekommen war: Die vor allem aus den USA prasselnden Klagen kluger und frischer Anwälte zielten auf Entschädigungen für überlebende Juden und andere Opfer, die von den Nationalsozialisten beraubt worden waren, denen Banken ihre Vermögen vorenthalten hatten oder die als Sklaven bei heute noch existierenden Firmen hatten arbeiten müssen. Als diese zweite Repararationswelle auf Deutschland und seine Wirtschaft zurollte, wurde es ernst. Der neue Kanzler Gerhard Schröder machte die Reparationsfrage zur „Chefsache” und zur gleichen Zeit war zu hören, dass es nun doch ein Ende haben müsse mit den Vorhaltungen über die Schuld des deutschen Volkes. Neben dem moralischen und politischen Gedenken, neben dem Bemühen um angemessene Riten und Gedenkorte hatte es von Anfang an eine materielle Seite der Vergangenheitsbewältigung gegeben. Das Wort „Wiedergutmachung” hallt aus der Frühzeit der Bundesrepublik herüber. Vor allem an Israel, auch an einzelne Opfer und Opfergruppen hatten die verschiedenen Bundesregierungen seit der Kanzlerschaft Konrad Adenauers über 2 Victor Klemperer, Victor, Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten. Tagebücher 1933 – 1941 und 1942 – 1945. Berlin 1995 3 100 Milliarden DM gezahlt. Demgegenüber nahm sich das Engagement von Firmen, die durch die Naziverbrechen materielle Vorteile erzielt hatten, eher bescheiden aus: Der Weltkonzern „Siemens” beispielsweise hatte von 1958 bis 1988 ganze sieben Millionen DM an die Jewish Claims Conference für geleistete Zwangsarbeit gezahlt und sagte 1998 unter dem Druck der Klagen aus den USA weitere 20 Millionen DM zu.4 Siemens hatte in Ravensbrück eine Produktionsstätte mit KZ-Häftlingen betrieben. Aber zu einem klaren Engagement bei der dortigen Gedenkstättenarbeit konnte sich die Firma trotz vieler lauter Forderungen und leiser Bitten nicht durchringen. Eines der Argumente, die zur Abwehr der Forderungen zu hören waren, lautete, die Firma Siemens sei in den neunziger Jahren eine ganz andere als Siemens zwischen 1933 und 1945 - so wie Deutschland auch ein anderes geworden sei. Wahrscheinlich ist, dass die relativ bescheidenen Bitten aus Ravensbrück, Oranienburg und Potsdam um Hilfe bei der Gedenkstättenarbeit nach internem juristischen Ratschlag abgewehrt wurden, weil der Konzern Präjudizwirkungen befürchtete. Doch spätestens, seit die Schweizer Banken zähneknirschend 2,2 Milliarden Mark für beraubte Naziopfer bereitstellten, um so Prozessen in den USA aus dem Wege zu gehen, kam das Thema Entschädigungen für Zwangsarbeit und Raub mit voller Wucht auf die gesamte erste Garde der deutschen Wirtschaft - von Daimler Benz über Krupp und Degussa bis hin zu VW und BMW - zu. Der Kanzler Schröder und die deutschen Spitzenmanager wussten seitdem, dass hohe Zahlungen fällig waren. Sie wollten sie auch leisten, damit das Kapitel abgeschlossen würde, die Firmen wieder ihren globalen Geschäften nachgehen könnten und das Ansehen Deutschlands in der Welt nicht beschädigt würde. Es ist bemerkenswert, wie sehr sich die Debatte über den Nationalsozialismus in Deutschland seit 1995 entfernt hat von der politischen und moralischen Hauptsache: der Klage darüber, dass das entwickelte Staatswesen eines zivilisierten Volkes zur Verbrecherorganisation geworden war, unter deren erbarmungsloser Willkür Abermillionen Menschen gelitten hatten und ermordet worden waren. Die späten Entschädigungen wurden nicht geleistet um der Opfer willen, sondern weil der juristisch-politische Druck es den Managern angemessen erscheinen ließ. Die Institutionalisierung des Gedenkens wurde nicht kritisiert wegen der ihr innewohnenden Routine und Widersprüchlichkeit, sondern wegen der vor ihr ausgehenden Zumutung für die Befindlichkeit der Deutschen und ihres Landes. Die Vergangenheit störte die Gegenwart und verleidete die Zukunft. Bis zur Wiedervereinigung war das gewiss nicht anders, aber zwei deutsche Staaten und die Mauer galten als die unabänderliche und unübersehbare Folge der Vergangenheit. Sich gegen 3 Der Spiegel 49. 30.11.1998. 37 4 diese Folge aufzulehnen, galt als ebenso sinnlos, wie es ein Aufstand gegen das Wetter gewesen wäre. In der Übergangszeit von der Bonner zur Berliner Republik war das verstärkte Gedenken wohl Ausdruck der Unsicherheit, wie mit der unerwarteten nationalen Einheit umzugehen sei. Die mit der Einheit beschenkte Nation war wie ein Kind, das sich zunächst fürchtet vor einem neuen Spielzeug, bis es dann um so hemmungsloser mit ihm hantierte 2006 schob sich das „Deutsche“ immer komplexfreier in den Vordergrund: Immigranten sollten sich einfügen und keine „Parallelkulturen“ pflegen. Bei der Fußballweltmeisterschaft wimmelte es vor Nationalflaggen, und nicht wenige Feuilletonisten frohlockten, dass es nun auch in Deutschland einen gesunden Patriotismus gäbe. Die Phase der Unsicherheit ist offensichtlich vorbei, und nun wird die Last der Vergangenheit nicht mehr ertragen. Sie soll abgelegt werden. Das sagen nicht nur Schriftsteller in aller Öffentlichkeit, sondern auch diese allerdings vorsichtig - verantwortliche Politiker. Diejenigen, die sich dagegen wehren, werden den Abwurf der Vergangenheit nicht dadurch verhindern, dass sie dagegen polemisieren. Die Entwicklung ist fatal. Auf der einen Seite wird das Schicksal der Opfer des Nationalsozialismus allmählich ad acta gelegt, so wie es im Alltagsleben auf Dauer die meisten nicht rührt, wenn es dem Nachbarn schlecht geht. Auf der anderen Seite ist das Lösen von der Vergangenheit der Ausdruck einer Sicherheit, dass ähnliches in diesem Lande nicht wieder geschehen kann. Und das ist falsch. Beim Brand eines Ausländerheimes konnte die Fernsehnation miterleben, wie Menschen zu verbrennen drohten, derweil die Ordnungskräfte tatenlos waren und der Mob Beifall spendete. Die Politmanager der Neuen Mitte waren stolz darauf, dass ihre Inszenierungen beim Wahlvolk ankamen, ohne dass es mit den vertrackten Inhalten und Problemen der Politik belästigt würde. Warum waren sie sicher, dass nicht ganz andere eines Tages noch besser als sie inszenieren können und das Tor aufgestoßen wird für einen Weg fort vom sozialen und liberalen Rechtsstaat? Das für diesen Weg empfängliche Wählerpotential wird auf 15% geschätzt, das Geld zur Mobilisierung dieser Menschen ist da wie das Beispiel der DVU zeigt: Es fehlt - glücklicherweise! - der Kommunikator, welcher diese Möglichkeiten erfasst, interne Streitereien in der rechtsextremen Szene schlichtet und im Bundestag Parolen wie „Deutschland den Deutschen” erklingen lässt. Christ- wie Sozialdemokraten haben mit ihren „Das-Boot-ist-voll”-Reden einen dafür empfänglichen Boden vorbereitet. Es wird riskanter, wenn das Gemeinwesen seine moralische Verankerung in der bewussten Negation des Nationalsozialismus verliert. Ganz offensichtlich ist die mittlerweile institutionalisierte Form des Gedenkens nicht geeignet, diese Verankerung zu sichern. Was 5 hilft der Gedenktag des 27. Januar? Welcher verstockte Geschichtsfälscher wird durch das Verbot der Holocaustlüge auf den Pfad der Tugend zurückgeführt? Was interessieren die Öffentlichkeit die Streitereien unter Opfergruppen über die Größe von Gedenktafeln? Ist es hilfreich, wenn die Medien den obersten Repräsentanten der jüdischen Deutschen zum nationalen Schiedsrichter in Fragen politischer Korrektheit stilisieren? Und was schließlich ist davon zu halten, dass „Gedenken” mittlerweile vielen zum Beruf geworden ist? Eine Debatte über diese Fragen ist notwendig! Wir brauchen eine Reform des Gedenkens. Die Gedenkkultur in Deutschland muss vom hohen Sockel herunter. Die Staatsakte zu diesem Metier sollten reduziert werden. Politiker sollten sich weniger in Sonntagsreden zum Thema üben, sondern im Alltag etwas beispielsweise dafür tun, dass die KZ-Gedenkstätten nicht verfallen. Es ist auch an der Zeit, darüber zu reden, ob diejenigen, die sich als Repräsentanten verschiedener Opfergruppen ausgeben, überhaupt demokratisch legitimiert sind. Statt Gedenken zum Beruf zu machen, sollte man sich dieser Aufgabe in den Bildungseinrichtungen annehmen. Schulen und Universitäten gehören in einen Verbund mit den Gedenkstätten. Die Gedenkstätten müssen ihre teilweise esoterische Isolierung aufgeben. Es muss ein Ende haben mit der moralischen Abstrafung derjenigen, die bei Debatten über den Nationalsozialismus nicht genau im Zentrum der politischen Korrektheit liegen. Vor allem darf es bei diesem Thema nicht länger jenen Dualismus geben zwischen den „Wissenden” und den zu Bekehrenden, zwischen den Gerechten und den Ungerechten, zwischen den Guten und den Bösen. Wer weiß schon, wie sich die einen oder die anderen unter den heutigen Akteuren im Ernstfalle verhalten hätten? So wichtig es für das Gemeinwesen ist, an den Nationalsozialismus zu erinnern, so falsch ist es, eine allgemeine moralische Pflicht daraus zu machen. Auch diese moralische Pflicht wird wie andere in der säkularisierten Gesellschaft früher oder später missachtet. Doch was nicht moralische Pflicht ist, muss deswegen nicht verschwinden. Auch im nächsten Jahrtausend wird es die KZ-Gedenkstätten geben, so wie andere historische Stätten bleiben werden. Die besonders in den authentischen Orten schlummernde Mahnung von der Zerbrechlichkeit menschlicher Kultur und Zivilisation kann in Zukunft verstanden und aufgenommen oder ignoriert werden. Je mehr diese Stätten - auch kontrovers - mit dem Alltagsleben verwoben sein werden, desto größer wird die Chance sein, dass ihre Mahnung gehört wird. Praktisch bedeutet das, dass es gut wäre für die Gedenkstätten, wenn sie sich nicht nur mit Schulen und Universitäten verweben, sondern auch mit Theatern, Chören und Orchestern, ebenso mit Betrieben und Behörden. 6 Die Gedenkstätten sollten die Sphäre der sakralen Weihe verlassen und sich hinein begeben in den profanen Alltag. Wenn sie das schaffen, können sie ihren Beitrag dazu leisten, dass die Menschen in diesem Lande nicht noch einmal ihre politische Kultur verlieren. So gesehen, ist die Entwicklung des Holocaustmahnmals in Berlin am Ende erfreulich. Alltagskultur trifft elaboriert und elitär Vorbereitetes. Solange diese Entwicklung nicht den Sinn des Mahnmals gänzlich tilgt, ist sie positiv zu bewerten. 7 2. Der „CDU-Staat“ unter Adenauer Zum institutionellen Kern des Staatswesens Bundesrepublik Deutschland haben sich die politischen Parteien entwickelt.5 Ohne die Betrachtung ihrer politischen Parteien würde man diese Republik nicht verstehen. Parteien entsenden die Mitglieder der Parlamente und der Regierungen. Sie bestimmen die Besetzung von Spitzenpositionen in der öffentlichen Verwaltung; sie haben Einfluss auf die Berufung der Richter des Bundesverfassungsgerichtes, der Mitglieder des Zentralbankrates der Bundesbank, der deutschen Kommissare in der Europäischen Union. Über die Rundfunk- und Fernsehräte der öffentlich-rechtlichen Anstalten wirken sie auf die „Vierte Gewalt“, die Medien, ein. Die Politik des Staates wird über die und durch die Parteien definiert. Gegen diese Omnipotenz der politischen Parteien werden - verstärkt seit den achtziger Jahren - Bedenken vorgetragen. Mit ihrem Einfluss überzögen die politischen Parteien die ihnen vom Grundgesetz zugedachte Rolle, bei der politischen Willensbildung des Volkes mitzuwirken, nicht jedoch, diese zu bestimmen. Kritisiert wird, dass sich die Parteien den „Staat als Beute“ nähmen,6 dass sie die im Zuge der Globalisierung notwendigen Deregulierungen für Deutschland nicht schafften, dass sie über immer weniger Mitglieder verfügten und ihnen Wähler davonliefen. Das alte Bonner Parteiensystem sei nach 1989 einfach auf die Neuen Länder übergeklappt worden, wodurch sich die Entfremdung der Parteien vom Volke noch verstärkt habe. Doch in der Berliner Republik sind die Parteien noch immer der Kern des politischen Systems. Nur hat dieser Kern an Festigkeit verloren. Diese könnte wiederhergestellt werden, wenn die Beutepolitik der Parteien gegenüber dem Staat beendet und sichergestellt werden könnte, dass die politischen Parteien zuvörderst eine dienende Einstellung annehmen. Weiterhin müssten die Parteien einiges für ihre Akzeptanz tun, damit sie für Mitglieder attraktiver werden. Das könnte geschehen, wenn die untersten Gliederungen in die Lage kämen, den Menschen Ratschläge zu geben bei der Lösung ihrer Alltagsprobleme mit Arbeitsplätzen oder Wohnungen. Große Politik ist auf der untersten Ebene nicht mehr gefragt: Was soll der Abgeordnete Meier schon noch Interessantes über den Irak berichten, wenn am Abend zuvor der US-Präsident sich hierzu im Fernsehen ausgelassen hat? Wenn andererseits die Zahl der Parlamentssitze an die Wahlbeteiligung gekoppelt und bei einer Wahlbeteiligung von 70% nur 70% der möglichen Parlamentsmandate verteilt würden, müssten alle Parteien sich anstrengen, die „Partei der Nichtwähler“ so klein wie möglich zu halten. Schließlich müssen alle politischen Parteien bei ihrer Arbeit immer berücksichtigen, dass die Bürger im Jürgen Dittberner, „Sind die Parteien noch zu retten?“. Die deutschen Parteien: Entwicklungen, Defizite und Reformmodelle, Berlin 2004 6 Hans Herbert von Arnim, Der Staat als Beute. Wie Politiker in eigener Sache Gesetze machen, München 1993 5 8 Osten Deutschlands eine andere politische Sozialisation erfahren haben als die im Westen. Steht beispielsweise auf der westlichen Seite der Wert „Leistung“ hoch im Kurs, so ist auf der östlichen Seite „Sicherheit“ wichtiger. Um beurteilen zu können, ob die Parteien sich überhaupt in dieser Weise reformieren könnten, seien die Determinanten und Funktionen ihrer Existenz beschrieben. a) Determinanten Das Bonner Parteiensystem war geprägt durch die bösen Erfahrungen der deutschen Vergangenheit. Um die Strukturschwächen der Weimarer Demokratie zu vermeiden, wurden die Parteien nach 1945 durch den Art. 21 GG in den Mittelpunkt gerückt. Der Wille des Volkes sollte sich im Parlament und in der von diesem abhängigen Regierung über die politischen Parteien artikulieren. Die Parteien sollten daher offen sein für Mitglieder und sich in allgemeinen, gleichen und geheimen Wahlen stets aufs Neue legitimieren.7 Um den Willen des Volkes möglichst angemessen im Parlament widerspiegeln zu können, entschied man sich für das Verhältniswahlsystem, bei dem Abgeordnete über Listen entsprechend den Anteilen bei den Wahlergebnissen in die Parlamente delegiert werden. Gleichwohl wollte man auch regionale Anbindungen der Abgeordneten bewahren. So ist es zu erklären, dass das Verhältniswahlsystem mit dem Mehrheitswahlsystem kombiniert wurde. Die Hälfte der Abgeordneten wird über Wahlkreise ermittelt, die andere Hälfte über Listen, die allerdings maßgebend sind für die Gesamtverteilung der Mandate im Parlament auf die Parteien. Bei den Bundestags-, auch bei den meisten Landtagswahlen haben die Wähler somit eine „Erststimme“ für den Wahlkreis und eine „Zweitstimme“ für die Landesliste, die allein ausschlaggebend ist für die Zusammensetzung des Parlamentes. In der Regel haben nur die großen Parteien CDU/CSU und SPD die Chance, Abgeordnete mit Hilfe der Erststimme zu gewinnen. Das lange politische Überleben der FDP lässt sich damit erklären, dass sie es bisher noch bei jeder Bundestagswahl geschafft hat, genügend Zweitstimmen für den Einzug in den Bundestag zu erzielen. Meist verhalf ihr dabei eine direkte oder indirekte „Zweitstimmenkampagne“, die sie als Juniorpartner einer der beiden Hauptparteien anpries. So war es 1961, als die mit der CDU im bürgerlichen Lager verbundene FDP den allgemeinen Im „Parteiengesetz“ sind die Einzelheiten der inneren Ordnung der Parteien geregelt. Es ist vorgeschrieben, dass die Delegiertenversammlungen und die Vorstände von unten nach oben gewählt werden müssen. So sind alle politischen Parteien in Deutschland ähnlich aufgebaut mit Mitgliedergruppen an der Basis, Kreis-, Landesund Bundesparteitagen mit den dazugehörigen Vorständen. Innerparteilich von Gewicht sind zusätzlich die Fraktionen - in den kommunalen Vertretungskörperschaften, den Kreistagen, Landtagen und dem Bundestag sowie - falls vorhanden - die Dezernenten oder Mitglieder der Regierungen. Dieses Parteiengesetz wurde übrigens erst 1967, also 18 Jahre nach dem Auftrag durch die Verfassung, geschaffen. Das Bundesverfassungsgericht hatte es vom Erlass dieses Gesetzes abhängig gemacht, dass die Parteien weiterhin staatliche Mittel für ihre Arbeit erhalten könnten. 7 9 Unmut über die lange Herrschaft Konrad Adenauers aufnahm und mit dem Slogan „Mit der CDU aber ohne Adenauer“ 12,8% der Wählerstimmen - ihr bislang bestes Bundestagswahlergebnis - errang. Adenauer selber hingegen wusste natürlich vom Gewicht der Zweistimmen, und zögerlichen Wählern soll er bei Wahlversammlungen geraten haben: „Wenn Se nich` janz so zufrieden sind mit der CDU, meine Damen und Herren, dann geben Sie ihr eben nur die Zweitstimme!“ Das mit dem Mehrheitswahlrecht kombinierte Verhältniswahlrecht ist eine wesentliche Determinante des deutschen Parteiensystems, weil es das Überleben der „Partei der zweiten Wahl“,8 der FDP, ermöglicht hatte, aber auch das Aufkommen der „Grünen“, die bei einem reinen Mehrheitswahlsystem ebenso wie die FDP wohl keine Chance gehabt hätten. Ein Novum war der Erfolg der PDS bei der Bundestagswahl 1995, als sie mittels mehr als drei Direktmandaten im Osten Berlins in den Bundestag kam, obwohl sie bundesweit weniger als fünf Prozent der Wählerstimmen bekommen hatte. 1998 dann kam sie bundesweit über die 5%-Grenze, und 2002 erreichte sie nur zwei Direktmandate, so dass in der folgenden Legislaturperiode außer diesen beiden keine weiteren PDS-Vertreter mehr dem Bundestag angehören. 2005 kam die PDS als mit der „WASG“ verbündete „Linkspartei“ mit ihren oppositionellen Spitzenkandidaten Gregor Gysi und dem hierher gewechselten Oskar Lafontaine wieder über die 5-%-Hürde. Prägend für das deutsche Parteiensystem ist diese Fünfprozentklausel. Sie wurde eingeführt nach den Erfahrungen in der Weimarer Republik, dass eine große Zahl von Splitterparteien die parlamentarische Willensbildung erschwert und klare parlamentarische Mehrheiten verhindert hatte. Die Fünfprozentklausel, die kein Verfassungsgebot ist und erst 1957 in der heutigen Form in Kraft trat, hat dazu beigetragen, dass viele kleinere Parteien wie der „Bund der Heimatvertriebenen und Entrechteten“ (BHE), die „Bayernpartei“ (BP), die „Deutsche Partei“ (DP) oder die „Zentrumspartei“ (ZP), die im ersten oder zweiten Deutschen Bundestag noch vertreten waren, aus dem Parteiensystem ausgeschieden sind. Sie hat bis 2005 auch verhindert, dass eine Rechtspartei den Sprung ins Parlament schaffte. Seit den neunziger Jahren ist eine Diskussion über Sinn und Ungerechtigkeit der Fünfprozentklausel entbrannt. Das abschreckende Beispiel Weimars verblasst. Vor allem bei den kommunalen Vertretungskörperschaften, wackelt die Sperre. In Berlin beispielsweise hat das Landesverfassungsgericht entschieden, dass bei den Wahlen zu den regionalen „Bezirksverordnetenversammlungen“ (BVV`s) die Fünfprozentgrenze nicht gelten dürfe. Jürgen Dittberner, FDP – Partei der zweiten Wahl. Ein Beitrag zur Geschichte der liberalen Partei und ihrer Funktionen im Parteiensystem der Bundesrepublik, Opladen 1987 8 10 Bei der staatlichen Parteienfinanzierung wird die semistaatliche Stellung der politischen Parteien deutlich. Schon in den fünfziger Jahren sahen sich die politischen Parteien nicht in der Lage, ihre Arbeit aus eigenen Mitteln - Mitgliederbeiträge, Spenden oder Einkünfte aus Vermögen - zu finanzieren. Zudem hatte das Bundesverfassungsgericht 1958 in seinem „Spendenurteil“ die bis dahin gängige Praxis abgeschafft, bei der über Fördervereine („Staatsbürgerliche Vereinigungen“) eingesammelte Parteienspenden für staatsbürgerliche Zwecke steuerbegünstigt waren. Das Gericht wollte die in dieser Regelung befindlichen Vorteile für die bürgerlichen Parteien CDU/CSU und FDP abschaffen und verwies in einer Nebenbemerkung auf die Möglichkeit der direkten staatlichen Parteienfinanzierung. Damit hatte es die Schleusen geöffnet: Der Staat wurde fortan immer stärker zur direkten und indirekten Mitfinanzierung der Parteien herangezogen. Anfänglich wollte man den Kuchen am liebsten unter den Bundestagsparteien aufteilen und die im Parlament nicht repräsentierten „Kellerkinder“ unberücksichtigt lassen. Doch das Verfassungsgericht verbot die Sperrklausel bei der Parteienfinanzierung. Die Folge war, dass auch kleinere Parteien öffentliche Mittel erhielten, wenn sie sich an Wahlen beteiligten. Dadurch wurde es beispielsweise den „Grünen“ finanziell möglich, sich nacheinander an mehreren Wahlen zu beteiligen, und das ist einer der Gründe dafür, dass sie es schafften, in das etablierte Parteiensystem einzudringen. Tabelle 1: Parteienhaushalte 1990 (Einnahmen in Millionen DM)9 CDU CSU Grüne FDP PDS SPD Beiträge 87 16 10 11 30 129 Spenden 72 36 10 23 1,2 36 ChAgl.* 8,1 2 0 1 11 9 WKE+ 142 33 20 45 28 128 * = Chancenausgleich / + = Wahlkampferstattung Die Griffe der etablierten Parteien in die Staatskasse waren häufig dreist und direkt. In einer Art Krieg um die Parteienfinanzierung schritt hiergegen immer wieder das Bundesverfassungsgericht ein. Bis 1992 kam es zu 17 Entscheidungen des höchsten deutschen Gerichtes in dieser Sache. Der Entscheid von 1992 wollte der staatlichen Finanzierung der allgemeinen Tätigkeit der politischen Parteien Grenzen setzen und annullierte ein System der Finanzierung, das sich bis dahin durchgesetzt hatte mit den 9 Ulrich von Alemann, Parteien, Reinbek bei Hamburg 1995, S. 35 11 Eckpfeilern „Wahlkampferstattung“ und „Chancenausgleich“ - wobei der Chancenausgleich als Kompensation für Parteien mit geringem Spendenaufkommen gedacht war, jedoch in diesem Sinne nicht funktionierte. Nach diesem System hatten die Parteien 1990 neben ihren Beiträgen und Spenden, wie in Tabelle 1 gezeigt, staatliche Zuschüsse erhalten. Nach 1992 bestanden drei Bedingungen für die staatliche Parteienfinanzierung: 1. Vorrang der Eigenfinanzierung vor staatlicher Finanzierung. 2. „Relative Obergrenze“: Öffentliche Mittel dürfen die Summe der von der Partei selber erwirtschafteten Mittel nicht überschreiten. 3. „Absolute Obergrenze“: Die öffentlichen Mittel sollen die Durchschnittswerte der Jahre 1989 bis 1992 nicht überschreiten. 1994 wurde das Parteiengesetz wegen des Entscheids von 1992 novelliert. Danach erhielten die Parteien bei Bundestags-, Europa- und Landtagswahlen 1 DM für jede Wählerstimme erstattet - bei den ersten 5 Millionen Wählern 1,30 DM. Außerdem wurden Beiträge und Spenden, die die Parteien einnahmen, zusätzlich aus öffentlichen Kassen bezuschusst. Begründet wurde die direkte staatliche Parteienfinanzierung damit, dass die Parteien im Wahlkampf mit der Wählermobilisierung eine öffentliche Aufgabe leisteten und dass sie generell Träger der politischen Bildung seien. Auch sollten die Parteien durch die öffentlichen Zuschüsse immunisiert werden gegen Abhängigkeiten von privaten Spendern. Tabelle 2: Direkte und indirekte Parteienfinanzierung 199210 Direkte Staatsfinanzierung 230.000.000 DM “Parteisteuer” (Mandatsträgerbeiträge) 60.000.000 DM Steuerbegünstigungen ( bei Beiträgen und 180.000.000 DM Spenden) Zahlungen an Fraktionen( Bundestag und 231.000.000 DM Landtage) Zahlungen an Parteistiftungen 670.000.000 DM ZUSAMMEN 1.371.000.000 DM Es scheint, als ob die staatliche Parteienfinanzierung in Deutschland zu üppig ist. Neben der direkten Unterstützung gibt es die indirekte Finanzierung der Parteiarbeit durch den Umweg über Abgeordneten- und Mandatsträgerabgaben, Leistungen an die Fraktionen sowie über die 10 Hans Herbert von Arnim, Der Staat als Beute. Wie Politiker in eigener Sache Gesetze machen, München 1993, S. 284 12 parteinahen Stiftungen. Alle Transfers aus öffentlichen Kassen zugunsten der politischen Parteien zusammen ergaben 1992 nach Hans Herbert von Arnim eine Summe von 1.371.000.000 DM. Tatsächlich ist die Summe noch höher, denn von Arnim hat beispielsweise übersehen, dass auch die Jugendorganisationen der politischen Parteien staatlich alimentiert werden. In Berlin sind diese Organisationen im „Ring politischer Jugend“ zusammengeschlossen und erhielten jahrelang aus dem Topf der Jugendförderung öffentliche Zuwendungen. Die staatliche Parteienfinanzierung in Deutschland ist unüberschaubar und - auch im Vergleich mit anderen Ländern11 - stark ausgeprägt. Gegen zudringliche Spenden sind die Parteien dennoch nicht immunisiert, wie die Skandale in der CDU und in der SPD nach 1998 sowie bei der FDP nach 2002 gezeigt haben. Über die Höhe und die Form der Finanzierung wird es stets Streit geben. Wichtig ist, dass die Entscheidungen, die Abgeordnete als Parteienvertreter hierbei in eigener Sache treffen, transparent und überprüfbar sind. Es ist gut, dass das Bundesverfassungsgericht sich immer wieder mit dieser Thematik befasst und die Parteien korrigiert und dass sich die Öffentlichkeit einschließlich der Wissenschaft nach langem Desinteresse seit einiger Zeit bei diesem Thema engagiert. Unstrittig ist, dass die Parteien finanziell in der Lage sein müssen, ihren Verfassungsauftrag zu erfüllen, bei der politischen Willensbildung mitzuwirken. Aber in einer Zeit allgemeiner Deregulierung müssen sie hierbei zu äußerster Sparsamkeit bei ihren Ausgaben gezwungen werden. Sie dürfen durch die öffentlichen Zuschüsse nicht faul werden. Zu den Determinanten des deutschen Parteiensystems gehört auch die Wirtschaftsordnung der alten Bundesrepublik, die soziale Marktwirtschaft. Bei seiner klassischen Ausformung als Zweieinhalb-Parteiensystem zu Beginn der sechziger Jahre war die soziale Marktwirtschaft geradezu das Pendant der Politik. Die zwei „Volksparteien“ CDU/CSU und SPD beiderseits der Mitte mit dem „liberalen Korrektiv“ der FDP waren erfolgreich und dominierend, weil sie als Garanten des „Wirtschaftswunders“, des materiellen Wohlstands, galten. Die SPD war hierbei eingeschlossen seit 1959, als sie sich in Bad Godesberg auf Betreiben Herbert Wehners, Willy Brandts und Fritz Erlers nach dem Vorbild der erfolgreicheren Union zur alle Schichten und Gruppen der Bevölkerung ansprechenden Volkspartei („catch-all-party“) reformiert hatte. Die Parteien waren wie die Firmenmarken, deren Namen mit dem Wirtschaftswunder verbunden waren: „Persil“, „VW“, „BMW“, „Mercedes“, „Kloeckner“, „Hoechst“ oder „Deutsche Bank“. Andere Marken wie „Borgward“ etwa hatten sich in der Wirtschaft ebenso wenig halten können wie die „Deutsche Partei“ oder das „Zentrum“ in der 11 S. Rolf Ebbighausen u.a., Die Kosten der Parteiendemokratie. Studien und Materialien zu einer Bilanz staatlicher Parteienfinanzierung in der Bundesrepublik Deutschland, Opladen 1996 13 Politik. CDU/CSU, SPD und FDP waren eingeführte Marken der Politik. Die Sache kam ins Schwanken, als nach 1961 die nachgewachsene Generation sich mit der alleinigen Wohlstandsgarantie nicht mehr begnügen wollte, eine Demokratisierung der Gesellschaft forderte und in den Vietnamprotesten vom allgegenwärtigen Vorbild der USA abrückte. Mit der ersten wirtschaftlichen Baisse wurde die politische Rechte in Gestalt der „NPD” stärker und rüttelte - schließlich doch erfolglos - am Monopol des Zweieinhalb-Parteiensystems. Der von der jungen Generation ausgehende Wertewandel jedoch schuf mit den „Grünen“ einen neuen Mitspieler am politischen Markt. Noch immer ist die Wirtschaft das Pendant der politischen Parteien. Aber bei über 4 Millionen Arbeitslosen seit den neunziger Jahren ist das Eis dünner geworden, auf dem sich die Parteien bewegen. Im Osten ist eine nunmehr nach einem gesamtdeutschen Status strebende Regionalpartei entstanden, die Mitgliederbasis der Parteien hat abgenommen, die Parteibindungen der Bürger sind gelockert, die Zahl der Nichtwähler ist gestiegen. Dennoch halten sich die einzelnen Parteien aus Tradition, aufgrund ihrer gewachsenen institutionellen Verflechtung mit dem politischen System und das Parteiensystem insgesamt aufgrund des Mangels an Alternativen. Parteien werden mehr und mehr als lästige Beigabe einzelner beliebter Politiker gesehen, und das Wählervotum richtet sich an Personen aus. Die Chancen eines Machtwechsels im Bund hängen in den Augen der Öffentlichkeit davon ab, wie sich jeweilige Spitzenkandidaten präsentieren und welche Inszenierung sie den Wählern bieten. Darstellung 1: Determinanten des westdeutschen Parteiensystems Verfassungsrang: Artikel 21 Wahlsystem: Verhältniswahl mit Elementen der Mehrheitswahl Sperrklausel (5%) Staatliche Parteienfinanzierung (Mitfinanzierung) (Soziale) Marktwirtschaft Die Personalisierung der Politik ist die Folge des geschwundenen Glaubens an die Problemlösungskompetenz der Parteien. Sie entspricht einer personalisierten Betrachtungsweise aller Bereiche des Lebens, wie sie von den Massenmedien herbeigeführt wurde. Interessant sind die Stars, die „Promis“ im Sport, in der Kultur und Unterhaltungsszene und auch in der Wirtschaft. Gerhard Schröder und Angela Merkel stehen 14 so in einer Reihe mit Franz Beckenbauer, Thomas Gottschalk oder Jürgen Klinsmann. Zwar ist die Marktwirtschaft offiziell noch immer das Hauptziel aller politischen Bemühungen der Politik, aber das Etikett „sozial“ hat allen das Gegenteil beteuernden Aussagen zum Trotz an Wert verloren, und die Parteien müssen auf der Hut sein, dass es nicht eines Tages ein neuer Promi der Politik schafft, mit rechtsradikalen Parolen das gesamte Parteiensystem aufzurollen. Es scheint, dass die etablierten Parteien versuchen, dem vorzubeugen, indem sie selber am rechten Rand fischen. Die Unterschriftenaktion der hessischen CDU gegen die doppelte Staatsbürgerschaft 1999, die „Möllemann-Friedmann-Affäre“ und der „deutsche Weg“ der SPD im Bundestagswahlkampf 2002 haben das deutlich gemacht. Doch das ist ein Spiel mit dem Feuer. b) Funktionen Über die vom Grundgesetz postulierte Funktion der „Mitwirkung an der politischen Willensbildung“ des Volkes hinaus erfüllen die politischen Parteien weitere politische Funktionen, die sich entweder aus ihrem Verfassungsauftrag oder ihrem Organisationscharakter ableiten. Für viele ihrer Mitglieder sind die Parteien soziale Bezugsgruppen. Sie bieten Lebensinhalt, Geselligkeit, Statusfestigkeit und eröffnen Karrierechancen. In ihrer Eigenschaft als soziale Bezugsgruppe unterscheiden sich die Parteien nicht von anderen Organisationen, in denen Menschen zusammenwirken, - handele es sich um Betriebe, Behörden, Vereine oder Verbände. Für die Mehrzahl ihrer Mitglieder sind die sozialen Rollen in den Parteien allerdings weniger prägend als Berufsrollen. Für die dünne Schicht der Funktionäre und Berufspolitiker hingegen nehmen ihre politischen Parteirollen häufig ihr gesamtes soziales Leben in Anspruch. Es wird oft davon gesprochen, dass die Parteien für die Bevölkerung die Funktion der politischen Bildung ausüben würden. Hierbei handelt es sich um sehr vage Zusammenhänge, denn da die Parteien Hauptakteure im politischen Prozess sind, wird das Interesse an politischen Vorgängen im Gemeinwesen mit politischer Bildung gleichgesetzt. Der Hinweis auf die politische Bildung ist auch deswegen problematisch, weil die Parteien hieraus sogleich den Anspruch der staatlichen Alimentierung ableiten. Die ihr Wesen wohl am zentralsten treffende Funktion ist die der Partizipation der Bürger am politischen Prozess. Durch Parteien wird der politische Willensbildungsprozess geöffnet für alle und bleibt nicht geschlossen - auf bestimmte Personen und Institutionen beschränkt - wie in einer Monarchie oder einer Diktatur. Dass nur sehr wenige Bürger die Chance der Partizipation aktiv nutzen, ändert an der Bedeutung dieser Funktion nichts. 15 Mit ihren Forderungen und Programmen wirken die politischen Parteien daran mit, dass in der Gesellschaft allgemeine, auch konträre politische Zielvorstellungen entwickelt werden. Insofern können Parteien politische Ziel- und Sinngeber sein. An den stets um die Gruppe der unentschiedenen Wechselwähler bemühten politischen Parteien der Bundesrepublik wird kritisiert, dass sie alle mehr oder weniger den Wünschen dieser Bevölkerungsschicht hinterherlaufen, deren - ihnen aus Umfragen bekannten - Wünsche artikulieren und somit als politische Ziel- und Sinngeber versagen. Zweifellos sind die politischen Parteien die zentralen Agenturen bei der Rekrutierung des politischen Personals in der Bundesrepublik. Es ist kaum möglich, eine politische Aufgabe wahrzunehmen, ohne Mitglied einer politischen Partei zu sein. In den Versammlungen der politischen Parteien, von ihren Vorständen und Parteitagen sowie in den Fraktionen werden die politischen Repräsentanten ausgesucht. Praktisch haben die politischen Parteien ein Monopol bei der Rekrutierung des politischen Personals in der Bundesrepublik. Anders als beim öffentlichen Dienst wird dabei nicht nach formalen Kriterien wie Ausbildungsabschluss ausgewählt, sondern in erster Linie nach politischer Akzeptanz und Durchsetzungsfähigkeit. Noch niemand hat den Nachweis erbracht, dass die politisch über die „Ochsentour“ Aufgestiegenen besser oder schlechter wären als die formal qualifizierten Beamten über die „Hühnerleiter“. Bei den Politikerkarrieren gibt es schnelle Aufstiege und jähe Abstürze, bei den Beamten ein allmähliches Schweben nach oben. Die Politiker auf allen Ebenen und damit die Parteien erfüllen schließlich die Aufgabe der Entscheidungsvorbereitung und Entscheidungsfindung für alle wichtigen Fragen des Gemeinwesens. Zwar haben die politischen Parteien und ihre Repräsentanten hierbei nicht das Monopol - die Medien, die Lobbyisten, die Wissenschaft, die Verwaltung, ausländische Interventionen und viele andere wirken bei den Entscheidungen mit. Verantworten müssen die Entscheidungen jedoch am Ende die Parteienvertreter bei den Abstimmungen in den Parlamenten oder in den Regierungen. Darstellung 2: Funktionen der politischen Parteien Mitwirkung an der politischen Willensbildung des Volkes Soziale Bezugsgruppe für die Parteimitglieder Politische Bildung Entwickeln politischer Zielvorstellungen Rekrutierung politischen Personals Entscheidungsvorbereitung und Entscheidungsfindung in der Politik 16 Die Entscheidungsfindung, die Rekrutierung des politischen Personals und die Partizipation der Bürger sind die zentralen Funktionen, welche die politischen Parteien erfüllen. Sie geraten in Rechtfertigungs- und Legitimationskrisen, wenn sie - wie im Falle der großen Steuerreform Mitte 1997 - keine Entscheidungen treffen, wenn das von ihnen ausgewählte Personal zu wünschen übrig lässt oder wenn - wie in Deutschland schon lange - zu wenige Bürger sich über die Parteien am politischen Prozess beteiligen. Die Parteien müssen aufpassen, dass sie ihre politischen Funktionen erfüllen. Andernfalls verlieren sie ihre Existenzberechtigung. c) Gründung Im Potsdamer Abkommen vom 2. August 1945 einigten sich die Siegermächte darauf, „in ganz Deutschland alle demokratischen Parteien zu erlauben und zu fördern“. 12 Tatsächlich jedoch verhielten sich die vier Mächte in dieser Angelegenheit sehr unterschiedlich. Die Sowjets hatten bereits am 10. Juni 1945 in ihrem „Befehl Nr. 2“ für ihre Besatzungszone „die Bildung und Tätigkeit aller antifaschistischen Parteien“ erlaubt. Die amerikanische Militärregierung ließ politische Parteien im September des gleichen Jahres zu, allerdings zunächst nur für die Kreisebene. Die Briten erlaubten die Parteigründungen im September sogleich auf Zonenebene, während sich die Franzosen zögerlich verhielten und im Dezember zwar Parteien grundsätzlich zuließen, sich mit der praktischen Umsetzung aber Monate Zeit ließen.13 Die Sowjets verfolgten das Ziel, mit Hilfe der politischen Parteien von Berlin aus Einfluss auf das gesamte Deutschland zu gewinnen. Die KPD, die SPD, die CDU und die LDP („LiberalDemokratische Partei“) gründeten in der Hauptstadt Parteizentralen („Zentralausschüsse“), die einen Führungsanspruch auch für die Westzonen erhoben. Dieser gesamtdeutsche Anspruch aus Berlin wurde im Westen abgelehnt und teilweise heftig abgewehrt. Bei der SPD war es Kurt Schumacher, der von Hannover aus eine Gegenposition zu Berlin und dem von den Sowjets abhängigen Zentralausschuss unter Otto Grotewohl, Max Fechner und Gustav Dahrendorf aufbaute. Schumacher setzte die Neugründung der westdeutschen SPD, deren erster Vorsitzender er wurde, durch. Bei den bürgerlichen Parteien herrschten ohnehin dezentrale Tendenzen, die den Berliner Zentralen keine Chance ließen. Verstärkt kam auch hier bei der Ablehnung der Berliner Ansprüche die Furcht vor der Abhängigkeit von den Kommunisten hinzu. In der CDU hatte somit der Berliner Gründerkreis um Jakob Kaiser und Ernst Lemmer wenig Chancen. Im Westen bildete sich in der britischen Zone über die Landesverbände Rheinland und Westfalen 12 Günter Olzog / Hans-J. Liese, Die politischen Parteien in Deutschland. Geschichte. Programmatik. Organisation. Personen. Finanzierung. 24., überarbeitete Auflage, München / Landsberg a.L. 1966 13 ebenda 17 hinaus die „Zonen-CDU“ als das stärkste Kraftfeld der Union insgesamt, das Konrad Adenauer14 von Köln aus beherrschte. Adenauer wurde schließlich - das allerdings erst 1950, als er schon Bundeskanzler war und die CDU in Goslar als Bundespartei gegründet wurde Bundesvorsitzender dieser neuen Partei. Zu stellvertretenden Bundesvorsitzenden wählte der Bundesparteitag Friedrich Holzapfel und Jakob Kaiser. Bei der LDP gab es zwar vielfältige Kontakte zu den sehr unterschiedlichen Parteigründungen im Westen, am Ende aber gingen auch die Liberalen in Ost und West unterschiedliche Wege. Mit der Gründung der FDP15 unter ihrem ersten Vorsitzenden Theodor Heuss im Dezember 1948 in Heppenheim an der Bergstraße war auch bei den Liberalen aus Furcht vor dem Einfluss der Sowjets eine reine Westpartei entstanden. Immerhin hatte es mit der “Demokratischen Partei Deutschlands” (DDP) eine gesamtdeutsche Parteiorganisation vor 1949 gegeben. Diese im März von Vertretern der FDP und LDP gegründete Partei hatte mit Theodor Heuss und Wilhelm Külz gleichberechtigte Vorsitzende. Weil er Külz Einbindung in die sowjetische Blockpolitik vorwarf, zerschnitt Heuss 1948 das Tuch: Die FDP entwickelte sich im Westen zur einflussreichen dritten Partei, während die LDP nach dem baldigen Tode von Külz unterdrückt, gesäubert und zum Satelliten der SED degradiert wurde. Die KPD schließlich hatte im Westen Deutschlands ohnehin keine besondere Resonanz, so dass der gesamtdeutsche Anspruch der Berliner Genossen um Walter Ulbricht und Wilhelm Pieck von Anfang an illusorisch war. In den Anfangsjahren fand das Parteileben überall unter Aufsicht der Siegermächte statt. Deren Offiziere oder Beauftragte saßen dabei und scheuten vor Interventionen nicht zurück. Die so entstandenen Parteien wurden später vor allem von rechten Gruppierungen als „Lizenzparteien“ bezeichnet, womit sie als von den Mächten gegen die deutschen Interessen installierte Institutionen diffamiert werden sollten. Im Jahre 1948 wurde auf Anordnung der Militärgouverneure in den drei westlichen Zonen mit der „Währungsreform“ die DM eingeführt. Ludwig Erhard, damals Direktor des Amtes für Wirtschaft, hatte sich mit dem Konzept der freien Marktwirtschaft im Frankfurter Wirtschaftsrat gegen die SPD, aber auch Teile der CDU, durchgesetzt. Die DM wurde auch in den Westsektoren Berlins eingeführt. Darauf reagierten die Sowjets mit der Blockade West-Berlins, die wiederum von den westlichen Alliierten mit der „Luftbrücke“ abgewehrt wurde. Vor diesem Hintergrund erhielten die Ministerpräsidenten der bereits existierenden westdeutschen Länder ebenfalls 1948 von den drei Militärgouverneuren Hans-Peter Schwarz, Adenauer, Bd. 1 Der Aufstieg 1876 – 1952, Stuttgart 1968 und Bd. 2 Der Staatsmann: 1952 - 1967, Stuttgart 1991 15 Jürgen Dittberner, Die FDP. Geschichte, Personen, Organisation, Perspektiven. Eine Einführung, Wiesbaden 2005 14 18 die Aufforderung zur Gründung eines westdeutschen Staates. Auf einer Konferenz in Rittersturz bei Koblenz hatten die Ministerpräsidenten der westdeutschen Länder Bedenken, die Teilung Deutschlands durch Gründung eines westdeutschen Separatstaates zu zementieren. Der gewählte, aber von den Sowjets nicht bestätigte Bürgermeister Berlins, Ernst Reuter, zerstreute diese Bedenken, indem er einen staatlichen Neubeginn im Westen als Chance erläuterte, dass eines Tages auch der Osten Deutschlands hinzukäme. So wurde aus den Landtagen ein „Parlamentarischer Rat“ gewählt, der sich am 1. September 1949 konstituierte. Der Rat hatte - entsprechend der Zusammensetzung der Landtage - eine schwache Mehrheit der bürgerlichen Parteien. Sein Präsident war Konrad Adenauer von der CDU, Vorsitzender des zentralen Hauptausschusses Carlo Schmid von der SPD. Kurt Schumacher, der Vorsitzende der SPD und eigentliche Gegenspieler Adenauers war infolge einer Verletzung aus dem 1. Weltkrieg und vor allem wegen der Nachwirkungen seiner langen KZ-Jahre gesundheitlich nicht in der Lage, direkt im Rat vor Ort zu sein. Der Parlamentarische Rat beschloss am 8. Mai 1949 das Grundgesetz. Der Text wurde - mit einigen Änderungen - zuerst von den Militärregierungen und dann von einer ausreichenden Anzahl der Landtage genehmigt und trat am 24. Mai in Kraft. Die Wahlen zum ersten Deutschen Bundestag waren am 14. August 1949. Die Bundesrepublik Deutschland war gegründet. Was sich schon im Parlamentarischen Rat gezeigt hatte, bestätigte sich im Bundestag: Union und SPD waren die Hauptparteien, die FDP die größte unter den kleinen Parteien. Insgesamt hatte das bürgerliche Lager ein leichtes Übergewicht. Die Grundstruktur des deutschen Parteiensystems für die kommenden zwanzig Jahre hatte sich herausgebildet.16 d) Ära Adenauer17 In den fünfziger Jahren setzte sich in der Bundesrepublik eine politisch-psychologische Grundeinstellung durch, in der Privates Vorrang vor Öffentlichem hatte und Sicherheit im Materiellen und Sozialen der herrschende Wert war. Im Rahmen der globalen und nationalen Ost-West-Konfrontation Antikommunismus, dem transformierte die sich politische und diese Haltung wirtschaftliche in einen kräftigen Westintegration der Bundesrepublik entsprach. Wie in einer Schonung konnten in dieser Konstellation die neuen politischen Institutionen und die liberale Wirtschaftsordnung anwachsen. Die Bundesrepublik wurde gesehen als eine Konflikte negierende „nivellierte Mittelstandsgesellschaft”. Konrad Adenauers Politik entsprach diesen Grundstrukturen und setzte sie gegen zunächst durchaus 16 Karlheinz Niclauß, Das Parteiensystem der Bundesrepublik Deutschland. Eine Einführung, Paderborn/München/Wien/Zürich 1995, S. 40 17 Dieses Unterkapitel ist stark orientieret an: Jürgen Dittberner, Zur Entwicklung des Parteiensystems zwischen 1949 und 1961; in Dietrich Staritz, Das Parteiensystem der Bundesrepublik. 2. Auflage, Opladen 1980, S. 129ff. 19 vorhandene anderslaufende Tendenzen konsequent durch. Deswegen heißt die Zeit von 1949 bis 1961 zu Recht die „Ära Adenauer“. Auch die Entwicklung des Parteiensystems ist weitgehend aus Gefolgschaft oder Gegnerschaft zu Konrad Adenauer zu erklären. Die aus heterogenen Quellen gespeiste Neugründung der CDU mit ihrem bayerischen Pendant entwickelte sich allmählich von einem Machtinstrument des Bundeskanzlers zu einer lose integrierten Partei mit einem leichten politischen Eigengewicht. Ursprüngliche Bündnispartner der Union wie die DP oder der BHE wurden von der Adenauer-Partei aufgesogen oder überrollt. Die FDP stürzte sich wegen ihrer Konflikte mit Adenauer wegen des Wahlrechts und der Saarfrage in ihre erste große Krise. Die SPD schließlich suchte zunächst nach einer Alternative zur Adenauer-Politik und fand dann doch ihr Heil in deren Anerkennung und Kopie. Das Ergebnis dieser Entwicklung ist das noch heute durchschlagende duale Parteiensystem zweier großer Blöcke mit der FDP als mehrheitsbeschaffender Funktionspartei. Die dieses duale System bildenden klassischen Bundestagsparteien hatten 1949 72% der Wählerstimmen errungen, und 1961 war ihr gemeinsamer Anteil auf 95% gestiegen! Viele der in der Ära Adenauer politisch Sozialisierten aber sollten später neue nichtmaterielle Werte vertreten und die Basis werden für die Nach-Adenauer-Partei der „Grünen“. In der ersten Legislaturperiode führte Adenauer die CDU/CSU, die FDP und die DP zu einer bürgerlichen Koalition zusammen, deren Mehrheit äußerst knapp war: Mit 202 von 402 Stimmen wurde er zum Kanzler gewählt. Die Wahl von Theodor Heuss zum ersten Bundespräsidenten war ein Zugeständnis an den größten Bündnispartner der Union, die FDP. Die folgenden Auseinandersetzungen innerhalb der bürgerlichen Koalitionen unter Adenauer in den ersten beiden Legislaturperioden haben unmittelbar zur Aufreibung der kleineren Parteien und zur Spaltung sowie dem Überwechseln der FDP in die Opposition 1956 geführt. Trotz der knappen Mehrheit im Jahre 1949 und trotz zahlreicher Krisen war die Mehrheit für die Unionsparteien bis 1961 niemals ernsthaft infrage gestellt. Die Zeit von 1949 bis 1953 kann als wichtigste Periode für die Formierung des Parteiensystems in Westdeutschland gesehen werden. Denn neben der SPD, der Union und der FDP hatten die in dieser Zeit im Bundestag vertretenen Parteien DP, ZP, KPD, DRP und WAV die Chance der parlamentarischen Profilierung. Andererseits hoben die westlichen Besatzungsmächte am 17. März 1950 den Lizenzzwang für Parteien auf, und es kam zur Bildung von über zwanzig neuen Parteien. Aber von den kleineren 1949er Bundestagsparteien schaffte neben der FDP lediglich die DP 1953 noch einmal den Sprung in den Bundestag. Von den zahlreichen Neugründungen des Jahres 1950 hatten lediglich zwei größere 20 Wählerresonanz: Der „Bund der Heimatvertriebenen und Entrechteten“ (BHE) und die neonazistische „Sozialistische Reichspartei“ (SRP). Manfred Rowold erklärt in seinem Buch über die kleinen und gescheiterten Parteien die vorübergehenden Erfolge dieser beiden Gruppierungen beruhten darauf, dass „deren Wirkungsmöglichkeiten bis dahin durch einen künstlichen Rückstau beschränkt waren: es sind dies die Vertriebenen ... und die neonazistische Rechte“.18 Der BHE als reine Interessenpartei verlor im folgenden seine Basis durch die erfolgreiche Integration der Heimatvertriebenen, und die SRP konnte sich gegen die antinationalsozialistische Staatsdoktrin nicht halten. Die aus der Tradition der antipreußischen Welfenbewegung hervorgegangene „Deutsche Partei“ (DP) hatte hauptsächlich in Niedersachsen ein großes Anhängerreservoir und erzielte hier 19% der Stimmen. Die DP konnte sich im Bundestag bis 1961 nur durch Wahlabkommen mit der FDP, vor allem aber mit der CDU, halten. Ab 1957 war die DP praktisch ein Satellit der CDU. Der CDU war es von Anfang gelungen, denjenigen Politikern die soziale Basis zu entziehen, die sich für eine Wiedergründung des alten Zentrums eingesetzt hatten. Zwar war das Zentrum mit Helene Wessel als Sprecherin im ersten Bundestag vertreten, geriet aber mit seiner stark föderalistischen, sozialistischen und im Bildungsbereich klerikalen Politik zwischen alle Stühle. Die KPD scheiterte, obwohl sie eine der vier Lizenzparteien gewesen und während der Gründungsphase der Bundesrepublik in allen wichtigen parlamentarischen Gremien vertreten war. Die KPD trat wie die SED im Osten zunächst für einen eigenständigen deutschen Weg zum Sozialismus ein. Als es aber auf der internationale Ebene zum Bruch zwischen der Sowjetunion und Jugoslawien eben wegen der Frage eigener Wege zum Sozialismus kam, vollzog die KPD 1948 einen Kurswechsel, erkannte die unbedingte Führung der KPdSU an und stellte schließlich 1952 den revolutionären Klassenkampf in den Mittelpunkt ihrer Politik. Zuvor war es zu „Säuberungen“ in den Reihen der KPD gekommen. Die KPD lehnte das Grundgesetz ab, beteiligte sich aber mit mäßigem Erfolg an den Bundestagwahlen. Als im April 1956 ein Verbotsantrag vor dem Bundesverfassungsgericht verhandelt wurde, widerrief die KPD ihr revolutionäres Programm und wollte es durch ein Bekenntnis zum Parlamentarismus ersetzen. Zu dieser Zeit war sie nur noch in Bremen und Niedersachsen mit insgesamt 6 Abgeordneten vertreten. Als das Bundesverfassungsgericht am 17. August 1956 die Verfassungswidrigkeit der KPD festgestellt hatte, war diese schon zu einer bedeutungslosen Splitterpartei geworden. 18 Manfred Rowold, Im Schatten der Macht. Zur Oppositionsrolle der nicht-etablierten Parteien in der Bundesrepublik, Düsseldorf 1974, S. 26f 21 In der Geschichte des bundesrepublikanischen Parteiensystems hatte es nur zweimal den Fall gegeben, dass das Bundesverfassungsgericht die Verfassungswidrigkeit einer Partei festgestellt hatte und diese anschließend verboten wurde. Vor der KPD hatte dieses Schicksal die SRP ereilt. In Niedersachsen (11%) und in Bremen hatte diese Partei Erfolge erzielt. Auf Antrag der Bundesregierung erklärte das Verfassungsgericht die SRP am 23. Oktober für verfassungswidrig. Waren beim KPD-Verbot die revolutionären Zielsetzungen für das Verbot maßgebend, so gab bei der SRP der undemokratische innere Aufbau der Organisation den Ausschlag. Adenauers klare Politik der Integration der Bundesrepublik in das westliche Staaten- und Bündnissystem war in der ersten Legislaturperiode heftig umstritten. Ein Hauptargument gegen die Politik des Bundeskanzlers war, durch die Westintegration würde die Wiedervereinigung unmöglich. Zu einem zentralen Streitpunkt entwickelte sich der Status des Saarlandes, das unter französischer Verwaltung stand. Adenauer wollte einen Beitritt der Bundesrepublik zum Europarat, bei dem auch das Saarland als autonomes Gebiet assoziiert werden sollte. Hauptwidersacher des Kanzlers auch in dieser Sache war der SPD-Vorsitzende Kurt Schumacher,19 der die Einladung des Saarlandes zum Europarat als rechtswidrig bezeichnete. Sie widerspräche dem Selbstbestimmungsrecht. Mit dem Europarat würde zudem der Weg zu einem nichtsozialistischen Europa eingeschlagen. Gegen diese rigorose Oppositionspolitik des Parteivorsitzenden gab es innerhalb der SPD Widerstand: Sozialdemokratische Reformer wie Max Brauer, Paul Löbe und Willy Brandt warnten vor einer Isolierung der SPD und forderten die Partei auf, die sich in Europa bietenden Möglichkeiten zu nutzen. Kurt Schumacher starb am 20. September 1952 an den Folgen seiner schweren KZ-Haft und seiner Tabaksucht. Obwohl sein Nachfolger als Parteivorsitzender, Erich Ollenhauer, Schumachers Politik im Wesentlichen fortsetzte, gewannen die Reformer in der SPD an Boden und setzten sich schließlich 1959 innerparteilich durch. Im Grunde war die Entscheidung für die Politik und Person Adenauers mit der Bundestagswahl 1953 gefallen.20 Die alte Koalition aus CDU/CSU, FDP und DP wurde um den BHE erweitert, um eine 2/3-Mehrheit für Verfassungsänderungen zugunsten der Wehrpolitik zu sichern. Doch die Viererkoalition war von starken inneren Spannungen geprägt. Hauptstreitpunkte waren die Saar- und die Wahlrechtsfrage. Mit seinem Ziel einer „Europäisierung“ der Saar stieß Adenauer auf heftigen Widerstand auch bei der FDP und beim BHE. Und als der CDU19 20 Peter Merseburger, Der schwierige Deutsche. Kurt Schumacher. Eine Biographie, Stuttgart 1995 Karlheinz Niclauß, a.a.O. 22 Politiker Paul Lücke mit Parteifreunden einen Wahlrechtsentwurf vorlegte, bei dem 60% der Abgeordneten direkt und 40% über Listen ohne jeden Ausgleich gewählt werden sollten, war die Unruhe bei der FDP groß. Dieses „Grabenwahlsystem“ hätte ihren Einfluss erheblich geschmälert. Adenauer brachte das Wahlrecht mit der Saarfrage in Verbindung. Im November 1954 drohte er der FDP, bei einer Ablehnung des Saarstatus müssten die Liberalen aus der Koalition ausscheiden, und es werde das reine Mehrheitswahlsystem eingeführt. Daraufhin machte der FDP-Vorsitzende Thomas Dehler21 die Zustimmung seiner Partei zu den Wehrgesetzen von einer befriedigenden Lösung der Wahlrechtsfrage abhängig. Dehler verwies auf die seit Dezember 1954 in Bayern bestehende Viererkoalition aus SPD, FDP, BP und BHE gegen die CSU. In sechs weiteren Bundesländern, so Dehler, ließe sich die CDU mit Hilfe der SPD in die Opposition drängen, und dann werde es im Bundesrat keine Mehrheit für des Kanzlers Wahlrechtspläne geben. Daraufhin zog Adenauer seinen Wahlrechtsentwurf zurück. Als im November 1954 die Abstimmung über das Saarabkommen im Kabinett stattfand, stimmten die vier FDP-Minister nicht zu. Bei der Abstimmung im Bundestag im Februar 1955 votierten die FDP und der BHE gegen das Abkommen. Die Bundesminister stimmten jedoch mit dem Kanzler. Die Folge war das Platzen der Koalition. Die BHE-Bundesminister Oberländer und Kraft verließen ihre Partei und hospitierten bei der CDU/CSU, zwei BHE-Abgeordnete wechselten zur FDP, und die Restfraktion des BHE ging in die Opposition. Auch zwischen der Union und der FDP kam es zum offenen Bruch: Entsprechend der Ankündigung Dehlers wurde der CDU-Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen, Karl Arnold, mit einem konstruktiven Misstrauensvotum der SPD und FDP durch den Sozialdemokraten Fritz Steinhoff ersetzt. Dieser Wechsel im größten Bundesland war ausschließlich aus bundespolitischen Gründen herbeigeführt worden: Die CDU wolle ihre Koalitionspartner mittels des Wahlsystems zerstören und in der Saarfrage deutsche Interessen aufgeben. Im Bundesrat hatte die Bundesregierungskoalition ihre 2/3-Mehrheit verloren. Bei der FDP gab es daraufhin eine unionstreue Abspaltung von 16 Abgeordneten, unter ihnen die vier Bundesminister. Diese Abspalter gründeten 1959 die „Freie Volkspartei“ (FVP), die sich im Parteiensystem nicht behaupten konnte. In dieser Zeit der Konflikte war Adenauer innerhalb der Union zunächst die alleinige und unumstrittene Autorität. Die CDU wurde als „Kanzlerwahlverein“ bezeichnet. Trotz der Streitereien mit seinen Koalitionspartnern setzte der Kanzler die Grundlinien seiner Politik 21 Udo Wengst, Thomas Dehler 1897 – 1967. Eine politische Biographie, München 1997 23 der Westintegration durch. Doch just zu der Zeit, als „der Alte“ seine Ziele erreicht hatte - die Bundesrepublik war 1955 souveränes Mitglied der NATO geworden, und die soziale Marktwirtschaft schaffte das „Wirtschaftswunder“ - regten sich in der Partei Kräfte, die die Machtfülle des Kanzlers beschränken wollten. Gegen den Willen des Kanzlers gab ihm ein Bundesparteitag vier statt zwei Stellvertreter im Amt des Parteivorsitzenden bei, unter anderen Karl Arnold. Die CDU begann, sich vom Patriarchen zu emanzipieren und bildete allmählich eine eigene Organisation. Der Wandel vom Kanzlerwahlverein zur modernen Parteiorganisation setzte ein. Doch zunächst erzielte die Union mit Konrad Adenauer den größten Erfolg ihrer Geschichte: Mit der legendären Parole „Keine Experimente“ ging sie 1957 in den Wahlkampf und gewann die absolute Mehrheit.22 Die CDU/CSU regierte mit ihrem Satelliten DP allein, die SPD und die FDP befanden sich in der Opposition. Trotz des großen Wahlsieges wurde immer häufiger vom „Ende der Ära Adenauer“ gesprochen. Als er die außen- und wirtschaftspolitischen Grundlagen der Bundesrepublik geschaffen hatte, war der Kanzler 81 Jahre alt. Er sollte noch sechs weitere Jahre regieren. Nach dem Ausscheiden des Patriarchen aus der Politik befand sich die Union in einer Krise, die sie eigentlich erst 1982 überwunden hatte, als sie mit Helmut Kohl wieder an die Macht gekommen war. Das Wahlergebnis 1957 beschleunigte bei der anderen großen Partei, der SPD, den Reformprozess. Infolge des schlechten Wahlergebnisses schwand die Autorität des Parteivorsitzenden Ollenhauer. 1958 wurden mit Willy Brandt, Herbert Wehner und Fritz Erler Reformer in den Bundesvorstand gewählt. Der Vorstand beauftragte eine Kommission mit der Ausarbeitung eines Grundsatzprogramms, das 1959 in Bad Godesberg verabschiedet wurde. Die SPD erkannte die von den Regierungen Adenauers geschaffenen Grundstrukturen der Bundesrepublik an und entfernte sich vom Typ der marxistisch beeinflussten Klassenpartei hin zur unideologischen, für alle Gruppen in der Gesellschaft offenen Volkspartei. In Godesberg sagte Fritz Erler, der Fraktionsvorsitzende der SPD im Bundestag: „Wir kämpfen nicht gegen den Staat, sondern um den Staat, und zwar nicht um einen Staat der fernen Zukunft, nicht erst um den Staat im wiedervereinigten Deutschland, sondern auch und gerade um den Staat in dieser Bundesrepublik, die wir regieren wollen und werden.“ Für die Bundestagswahl 1961 wurde der junge Regierende Bürgermeister von Berlin, Willy Brandt,23 als Kanzlerkandidat nominiert. Gegen den „Alten aus Röhndorf“ sollte er - ganz im Stil amerikanischer Wahlkämpfer - Frische, Jugend und Zukunft personalisieren. Zur 22 23 Karlheinz Niclauß, a.a.O. Peter Merseburger, Willy Brandt 1913 – 1993. Visionär und Realist, Stuttgart/München 2002 24 Vorbereitung dieses Wahlkampfes hatte sich der spätere Regierende Bürgermeister Berlins, Klaus Schütz, in die USA begeben, um dort die erfolgreiche Kampagne John F. Kennedys gegen Richard Nixon zu studieren. In der CDU musste derweil Adenauer Ludwig Erhard,24 den ungeliebten „Vater des Wirtschaftswunders“, als Kronprinz neben sich dulden. Der Wahlslogan der CDU 1961 lautete „Adenauer/Erhard und die Mannschaft“. Auch in der FDP hatte sich in der Zeit von 1957 bis 1961 ein Wandel zu einer moderneren Parteiorganisation hin vollzogen. Der schroffe Franke Thomas Dehler wurde nach einer Übergangszeit unter Rheinhold Maier durch Erich Mende als Parteivorsitzendem ersetzt. Mende war ein stolzer Ritterkreuzträger und ein national ausgerichteter Rechtstaatsliberaler. Er ging in den Wahlkampf mit dem Ziel einer erneuten Koalition mit der CDU, aber ohne Adenauer. Überlagert wurde der 1961er Wahlkampf durch den Bau der Mauer in Berlin. Willy Brandt bekam als Regierender Bürgermeister riesige Medienaufmerksamkeit. Er war „vor Ort“, während man Adenauer vorwarf, zu spät nach Berlin gekommen zu sein. Willy Brandt war allenthalben präsent. Beim Besuch des amerikanischen Präsidenten Kennedy wirkte er wie dessen natürlicher Partner, während jedermann sah, dass zwischen dem Präsidenten und dem Bundeskanzler die „Chemie nicht stimmte“. Die Wahlen von 1961 wurden von allen Beteiligten auch als eine Entscheidung über die Ablösung Adenauers aus der deutschen Politik begriffen.25 Während die FDP jenen Kräften in der Union Hilfe versprach, die Adenauer durch Erhard ersetzen wollten, stellte die SPD dem greisen Kanzler die personelle Alternative des jungen Willy Brandt gegenüber. Innerhalb der Union wusste man zwar, dass Adenauer abgelöst werden müsste, über das Wie und Wann aber bestanden keine klaren Vorstellungen, zumal der Kanzler selber sich mit Energie, List und Tücke gegen seine Ablösung wehrte. Nach einigem Koalitionsgerangel, in dessen Verlauf Adenauer auch einmal die SPD als möglichen Koalitionspartner ins Gespräch brachte, einigten sich Union und FDP auf eine befristete Kanzlerschaft Adenauers. Der FDP wurde das als „Umfall“ angekreidet. Seither haftet das Etikett „Umfallerpartei“ an ihr. Erich Mende blieb der Regierung fern. Er wurde erst Vizekanzler als am 16. Oktober 1963 Ludwig Erhard tatsächlich zum zweiten Kanzler der Bundesrepublik gewählt wurde. Die „Ära Adenauer“ war beendet. Das Parteiensystem befand sich in einer Umbruchphase. 24 25 Volker Hentschel, Ludwig Erhard. Ein Politikerleben, München / Landsberg a. L. 1996 Karlheinz Niclaus, a.a.O., S 41 25 3. Die Kulturrevolution der 68er Mittlerweile waren Berlin - West einerseits und Berlin - Ost mit Brandenburg andererseits zwei Welten geworden. West-Berliner Studenten hatten nach dem Mauerbau 1961 800,- DM pro Semester erhalten, wenn sie sich an einer „westdeutschen“ Universität einschrieben, um Kommilitonen aus dem Westen Platz an einer Alma Mater des „freien Berlins“ zu machen. So einer kam schließlich zurück an die Freien Universität Berlin und nahm an Seminaren teil, die auch von den Kommilitonen Rudi Dutschke und Bernd Rabehl besucht wurden. Im Wintersemester 1964/65 hielt Prof. Otto Stammer26 ein Oberseminar ab zum Thema: „Demokratischer Sozialismus und Marxismus". Dieses Seminar hatte von vornherein etwas Provokantes, denn hinter dem vordergründig theoretischen Titel war eine Auseinandersetzung mit dem Godesberger Programm der SPD beabsichtigt. Stammer, der von den Studenten wegen seiner Gradlinigkeit und glänzenden Rhetorik geliebte Professor der Soziologie, war alter Sozialdemokrat und herzlicher Gegner des Godesberger Reformprogramms seiner Partei aus dem Jahre 1959. Daraus und insbesondere aus seiner Abneigung gegen Herbert Wehner machte er keinen Hehl. Das war mutig an einer Hochschule, wo es ansonsten zum guten Stil zählte, Politisches nur höchst kodiert anzusprechen. Das Seminar sollte ein Zerriss des Godesberger Programms werden. Innerhalb und außerhalb der SPD hatte Stammer immer wieder kritisiert, dass dies kein Grundsatzprogramm sei, weil ihm keine umfassende Gesellschaftsanalyse vorausging. Das Seminar würde nach den Vorstellungen seines Leiters auch zeigen, dass der Marxismus trotz aller Fehlentwicklungen im Osten und aller Verteufelungen im Westen für den Sozialwissenschaftler ein seriöser Ansatz der Gesellschaftsanalyse war. Für das damalige geistige Klima der Bundesrepublik war das eine politische Provokation. Im Verlaufe der Veranstaltung, deren Teilnehmer zum großen Teil später selber Professoren wurden, geschah etwas Ungeheuerliches: Der Student Dutschke kritisierte nicht etwa im angemessenen Seminarton, sondern in seinem später bekannt gewordenen Sprechstil: „Otto Stammer werfe ich vor, dass er hier hinter akademischen Mauern die revisionistische SPD attackiert, anstatt sich aktiv am Kampf dagegen zu beteiligen!" Es war eine Tabuverletzung, einen Professor ohne seinen Titel anzusprechen und insbesondere den so geachteten Stammer direkt anzugreifen. Im Seminar wurde damit ein Diskussionsstand deutlich wie er im SDS vorherrschte. Der SDS („Sozialistischer Deutscher Studentenbund") war der beim 26 Otto Stammer, Prof. Dr. rer.pol., geb. 1900, war von 1925 bis 1929 politischer Redakteur und Leiter des steirischen Arbeiterbildungswerkes, von 1939 bis 1932 Dozent und Leiter der Arbeiter-Wirtschaftsschule in Peterswaldau, mußte bei den Nationalsozialisten seine Dozententätigkeit aufgeben, war 1937 bis 1948 in der Industrie tätig und wurde 1951 Prof. für Soziologie an der Freien Universität Berlin sowie 1954 Leiter des dortigen Instituts für politische Wissenschaften. 26 Parteivorstand in Ungnade gefallene ehemalige Studentenverband der SPD27 und Wegbereiter der Außerparlamentarischen Opposition. Die Abkapselung des Ostens durch die Mauer und die damit einhergehende Verteufelung nicht nur des realen „Sozialismus", sondern auch seiner theoretischen Grundlagen bewirkten bei der studentischen Jugend das Bedürfnis, selber zu prüfen, was an diesen Grundlagen dran ist, ob sie in der DDR falsch umgesetzt waren oder immanent zu Zuständen wie im anderen Teil Deutschlands führen mussten. So kam es im Schatten der Mauer gerade im Westen Berlins zu einer Marxismus-Renaissance. Prof. Lieber hielt Vorlesungen über den „Stamokap", den staatsmonopolistischen Kapitalismus, die wie Verschwörungsversammlungen besucht wurden und bei denen alles Gesagte von den Studenten förmlich aufgesaugt wurde. Sie besorgten sich Originaltexte von Marx und Engels. Als die Mauer vom Westen her etwas durchlässiger wurde, erwarben viele Studenten sämtliche Ausgaben der 36- bändigen Ausgabe des Instituts für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED mit den Werken von Karl Marx und Friedrich Engels.28 Brav setzten sich die Eleven mit Texten folgenden Charmes auseinander: „Soweit Unterschied zwischen capital fixe und capital ciculant in bezug auf die individuelle Konsumtion als Gesichtspunkt hereinkommt, so ist dieser schon damit gegeben, daß das capital fixe nicht als Gebrauchswert in die Zirkulation eingeht. (Vom Samen in der Agrikultur, da er sich vervielfältigt, geht / ein Teil als Gebrauchswert in die Zirkulation ein.) Das nicht-als-Gebrauchswert-in-die-Zirkulation-Eingehen unterstellt, daß es nicht zum Gegenstand der individuellen Konsumtion wird."29 Die West-Berliner Studenten saßen in Zirkeln in „Kapitalkursen" zusammen und versuchten, den Inhalt der Abhandlungen des Meisters zu verstehen und zu erlernen. In Anspielung auf die jeweils zu zehn Ost-Mark erwerblichen und in blaue Plastikdeckel eingefaßten Bände der Gesamtausgabe hieß es - halb spöttisch, halb respektvoll - , die Studenten hätten sich „blaugelesen". Aber es war weniger die komplizierte und etwas verstaubt wirkende Botschaft, die beispielsweise den Soziologie-Studenten letztlich von den Kapital-Kursen abschreckte, sondern es war oft das Verhalten der Botschafter - der Kursleiter, das zu einem Abbruch der Kursteilnahme führte. Diese versuchten häufig nicht, die Texte offen zu diskutieren und sie 27 s. Tilmann Fichter/Siegward Lönnendonker, Kleine Geschichte des SDS, Der Sozialistische Deutsche Studentenbund von 1946 bis zur Selbstauflösung, Berlin 1977, S. 64 ff. Die Auseinandersetzung um das Godesberger Programm war ein Hauptanlass für den Verstoß des Studentenverbandes durch die Mutterpartei. 28 Institut für Marxismus beim ZK der SED (Hg.), Karl Marx/Friedrich Engels, Werke 1 bis 36 sowie Ergänzungsbände, Berlin 1967 29 Marx-Engels-Lenin-Institut Moskau (Hg.), Karl Marx, Grundrisse der politischen Ökonomie (Rohentwurf) 1887 - 1858, Anhang 1850 - 1859, Berlin 1953 27 dadurch zu erklären, sondern waren darauf bedacht, die Botschaft zu verkünden. Das geschah auch mit moralischem Druck: „Wenn Ihr das nicht so seht, seid ihr entweder zu blöd, es zu kapieren, oder ihr seid nicht bereit, Euren kleinbürgerlichen Interessenstandpunkt zu verlassen!" Manchem Studenten dämmerte es, dass das Fehlverhalten des Führungspersonals sowohl in der DDR als auch im Kapital-Kurs etwas mit der Botschaft zu tun haben musste. Ihr schon bei Marx angelegter und von Lenin pointierter Anspruch auf absolute, weil angeblich wissenschaftlich fundierte, Wahrheit war die Quelle des diktatorischen und illiberalen Verhaltens vieler Menschen, die im Namen des Marxismus auftraten, ob als Politiker oder Wissenschaftler. Die Marx- und Theorie-Versessenheit insbesondere des SDS und einiger seiner Protagonisten entwickelte trotz vieler Vorbehalte bei großen Teilen der Studenten in Berlin eine Dynamik, die zum Medium der Kritik der jüngeren Generation an zahlreichen Eigenschaften der westdeutschen Gesellschaft wurde. Schon in der „Spiegel-Krise" im Jahre 1962 und in der Notstandsdebatte danach wurde deutlich, dass gerade die studentische Jugend einen Widerspruch zwischen dem demokratischen Anspruch und der Wirklichkeit der Republik empfand. Diese Reserve gegenüber dem politischen System wurde größer, als im Dezember 1966 in Bonn eine große Koalition zwischen CDU/CSU und SPD gebildet wurde. Dass in dieser Koalition der ehemalige NSDAP-Parteigänger Kurt Georg Kiesinger Kanzler und der ehemalige Emigrant Willy Brandt Außenminister waren, wurde von offizieller Seite als innere Aussöhnung deklariert, bei großen Teilen der jungen Generation aber als moralisch verwerflich empfunden. Es kam hinzu, dass damals angesichts des Vietnam-Krieges Zweifel an der moralischen Bildungssystems Unantastbarkeit der USA aufkeimten und dass eine Reform des notwendig schien, wollte man in der Bundesrepublik keinen „Bildungsnotstand" haben. Diese und weitere Legitimationsdefizite kumulierten, als am 2. Juni 1967 beim Besuch des Schahs von Persien in Berlin der Student Benno Ohnesorg durch den Schuss eines Polizeibeamten getötet wurde. Der Vorgang und die anschließenden Versuche der Vertuschung durch den Senat von Berlin, einhergehend mit einer Verteufelungskampagne „der Studenten", löste in Kreisen der akademischen Jugend eine Radikalisierungswelle aus. Die Differenzen mit dem SDS und den Botschaftern des Marxismus-Leninismus rückten in den Hintergrund: Auch liberale und konservative Angehörige der Universitäten beteiligten sich an Demonstrationen, Vollversammlungen oder „sit-ins". Die deutsche Spaltung war in dieser Zei kein Thema. Der Konflikt zwischen „Establishment" und „Außerparlamentarischer 28 Opposition" beherrschte die Szene, und man fühlte sich eins mit ähnlichen Bewegungen in Berkley/ USA oder in Paris. In jenen Jahren wurden die Weichen gestellt für sehr unterschiedliche politische Wege jener Aktivisten, die man im Nachhinein „die 68er" nennt. Während Rudi Dutschke , den viele den Kopf der Studentenbewegung nannten, die Parole vom „langen Marsch durch die Institutionen" ausgab, veröffentlichte die „Kommune I" am 24. Mai 1967 ein Flugblatt, das angeblich als Satire gemeint war, aber von vielen als Aufforderung zum Terror verstanden wurde: „Wann brennen die Berliner Kaufhäuser? Bisher krepierten die Amis in Vietnam für Berlin. Uns gefiel es nicht, dass diese armen Schweine ihr Cocacolablut im vietnamesischen Dschungel verspritzen mussten. Deshalb trottelten wir anfangs mit Schildern durch leere Straßen, warfen ab und zu Eier ans Amerikahaus und zuletzt hätten wir gern HHH in Pudding sterben sehen. Den Schah pissen wir vielleicht an, wenn wir das Hilton stürmen, erfährt er auch einmal wie wohltuend eine Kastration ist, falls überhaupt noch was dranhängt...es gibt böse Gerüchte. Ob leere Fassaden beworfen, Repräsentanten lächerlich gemacht wurden - die Bevölkerung konnte immer nur Stellung nehmen durch die spannenden Presseberichte. Unsere belgischen Freunde haben endlich den Dreh heraus, die Bevölkerung am lustigen Treiben in Vietnam wirklich zu beteiligen: sie zünden ein Kaufhaus an, dreihundert saturierte Bürger beenden ihr aufregendes Leben und Brüssel wird Hanoi. Keiner von uns braucht mehr Tränen über das arme vietnamesische Volk bei der Frühstückszeitung zu vergießen. Ab heute geht er in die Konfektionsabteilung von KaDeWe, Hertie, Woolworth, Bilka oder Neckermann und zündet sich diskret eine Zigarette in der Ankleidekabine an. Dabei ist nicht unbedingt erforderlich, dass das betreffende Kaufhaus eine Werbekampagne für amerikanische Produkte gestartet hat, denn wer glaubt noch an das „made in Germany"? Wenn es irgendwo brennt in der nächsten Zeit, wenn irgendwo eine Kaserne in die Luft geht, wenn irgendwo in einem Stadion die Tribüne einstürzt, seid bitte nicht überrascht. Genauso wenig wie beim Überschreiten der Demarkationslinie durch die Amis, der Bombardierung des Stadtzentrums von Hanoi, dem Einmarsch der Marines nach China. Brüssel hat uns die einzige Antwort darauf gegeben: burn, ware-house, burn!" Der herangewachsene und sich anbahnende Terror wurde erkennbar, als im November 1968 ein dem SDS verbundener wissenschaftlicher Assistent mittags im Restaurant verkündete: „Heute abend fliegen Steine!" Und am Abend kam es tatsächlich zu einer „Schlacht am 29 Tegeler Weg".30 Was sich mancher ein Jahr zuvor noch nicht hätte vorstellen können, geschah in Reaktion auf solche Vorkommnisse: Einige traten einer etablierten politischen Partei bei. Angesichts des politischen Klimas in der damaligen Universität und angesichts der gesamten politischen Sozialisation lag dabei für viele ein Beitritt zur SPD nahe. Um sich auf einen Beitritt in die SPD vorzubereiten, hospitierte ein derartiger Aspirant bei einer Sitzung eines Ortsvereins dieser Partei in Wedding. Den Vorsitz führte eine Abgeordnete, die Vizepräsidentin des Abgeordnetenhauses von Berlin war. Der Seminardiskussionen gewöhnte Assistent war überrascht von Form und Inhalt der Veranstaltung. Dass die Diskussion im urberliner Straßenjargon geführt wurde, irritierte ihn. Daß aber die zu geltende Meinung von der Vorsitzenden vorgegeben und zögerliche Abweichungen einzelner Diskutanten von der Mehrheit sofort rüde niedergeredet wurden, schreckte ihn ab. Der junge Wissenschaftler fühlte sich an seinen dienstlichen Besuch beim Dortmunder Parteitag der SPD vom 1. bis 5. Juni 1966 erinnert. Dorthin war er von seinem Institut zum Beschaffen von Archivmaterialien geschickt worden. Im Arbeitsausschuss „Mitgliederpartei, Massenmedien und Verbände" war der Beobachter Zeuge einer Kontroverse zwischen innerparteiliche dem Demokratie fränkischen forderte, Delegierten und Herbert Bruno Wehner. Friedrich, Mit an der mehr physische Gewaltanwendung grenzender lautstarker Demagogie fiel Wehner über Friedrich her, so dass der Gast an die ihm aus Filmen bekannten Brülltiraden von Naziführern erinnert wurde. Den Ausschlag für die Wahl der Partei gab schließlich die Diskussion über die Studentenbewegung im Berliner Abgeordnetenhaus, bei der nach Einschätzung des Beitrittswilligen allein der Vertreter der FDP, Hermann Oxfort, eine differenzierte Analyse vortrug, während von den anderen Rednern nur verurteilt wurde. Wie von selbst kam der neu Eingetrene zum sozialliberalen Flügel, der die 1969 gebildete sozialliberale Bundesregierung unter Willy Brandt begeistert mittrug. Die Parole „Mehr Demokratie wagen" entsprach dem politischen Empfinden auch der damals der FDP Beigetretenen. Ob Dutschke bei seinem Marsch durch die Institutionen an die FDP gedacht hatte, ist allerdings eher fraglich. Und es gehört zu den Alltäglichkeiten des politischen Lebens, dass der „Beitrittsgrund" Hermann Oxfort vom ersten Tage der Mitgliedschaft manchen Neuliberalens an zu dem zählte, was man einen innerparteilichen Gegner nennt. 30 Der 1993 verstorbene FU-Professor und Theologe, Helmut Gollwitzer, ein vehementer Unterstützer der Studentenbewegung, meldete nach der „Schlacht" mit der Polizei im Auditorium Maximum der FU bei einer Vollversammlung Widerspruch gegen die Gewaltanwendung, die Menschenleben gefährdet hätte, an. Er wurde dafür ausgebuht. 30 Als Benno Ohnesorg am 2. Juni in der Krummen Straße von dem Polizeibeamten Kurras erschossen wurde, erreichte die Sudentenrevolte ihren emotionalen Höhepunkt. An jenem Tag hatten Berliner Studenten gegen den herzlichen Empfang eines Potentaten, des Schahs von Persien, durch den Berliner Senat demonstriert. Eine demokratisch orientierte Regierung sollte keinen Herrscher empfangen, der Geheimdienste unterhielt, politische Gegner verfolgte, Deutschland „Prügelperser” einsetzte und im übrigen den Pomp stätbarocker Fürsten entfaltete. Dass der angeblich unpolitische Ohnesorg bei jener Demonstration sein junges Leben lassen musste, weil das „Establishment” - heute würde man sagen: die „politische Elite” - vor allem von der Springer-Presse gegen die Studenten aufgehetzt war, erfüllte die Mehrheit der Studierenden mit tiefer Trauer und großer Wut. Nach Ohnesorgs Tod setzte sich ein Konvoi von Kleinwagen auf den Weg über die Transitautobahn nach Helmstedt. Die Autos waren mit Trauerfloren versehen und wurden von den „Grepos” - Grenzpolizisten - der DDR höflich behandelt, was ungewöhnlich war. Noch Wochen später sah man überall auf den Straßen West-Berlins „Enten” – „Deux Chevaux”, alte “VW-Käfer” - oder “R4s” - ” Renault 4" - mit schwarzen Bändern an den Rückspiegeln. Das war für damalige schon eine kleine politische Bewegung. Doch von “68ern” sprach zu der Zeit niemand. Später wurde Rudi Dutschke, der Studentenführer, von einem verhetzten Jugendlichen auf dem Kurfürstendamm angeschossen. Dutschke war Moralist, Sozialist, Theoretiker und empfand sich als Revolutionär. Mit seiner rauhen Stimme entwickelte er auf Massenversammlungen jene Diktion und Rhetorik, durch die sich die Studenten angesprochen fühlten. Wegen seiner Popularität war er unter Insidern umstritten, von seinen Kommilitonen überwiegend geachtet, von der Springer-Presse als Chaot und Wüstling verteufelt. Die Nachricht von dem Anschlag verbreitete sich in der Stadt wie ein Lauffeuer. Spontane Versammlungen fanden statt, und immer wieder hieß es: „Springer hat mitgeschossen!” Die Aufgebrachten drängte es nach Aktionen. Diesmal wollten sie sich nicht mehr mit schwarzen Stoffbändern an den Autos begnügen. Die Diskussion über Gewaltanwendung gegen Sachen, gegen Menschen? - kam auf. Eine große Menge traf sich vor dem Springerhaus in der Kochstraße. Es knisterte, die Stimmung war gespannt. Dann gingen plötzlich Autos aus dem Fuhrpark des Zeitungskonzerns in Flammen auf, und das Glasportal des Gebäudes zerbarst in tausend Stücke. Dieser Protest hatte für einige Drahtzieher - die es nun schon deutlich gab - Konsequenzen. Einer von ihnen war der „APO-Anwalt” Horst Mahler. Er 31 wanderte später ins Gefängnis und verlor seine Konzession. Später tummelte er sich in der rechtsradikalen Szene. Rudi Dutschke aber starb Jahre nach dem Attentat an dessen Folgen einen späten, frühen Tod. Er war der eigentliche 68er. Doch diesen Begriff gebrauchte damals niemand, weder beim Ohnesorg-Tod, noch beim Dutschke Attentat. Die Bewegung war dafür stets zu vielschichtig. Sie war entstanden aus der Empörung junger Menschen über den Widerspruch zwischen Moral und Realität des sich demokratisch gebärdenden deutschen Westens nach 1945. Angefangen hatte es 1961 mit der „Spiegel”-Affaire, als sich unter jungen Intellektuellen Empörung über die rechtswidrigen Eingriffe der Adenauer-Regierung gegen die Pressefreiheit breit machte. Der Held der Stunde war der Herausgeber des Nachrichtenmagazins, Rudolf Augstein - damals wie heute sicher kein „68er”. Nach der „Spiegel-Affaire” wuchs der Realitätsschock der Nachkriegsjugend, als offenbar wurde, dass das bis dahin heiß geliebte Vorbild der fünfziger Jahre, die USA, einen ungerechten Krieg gegen ein kleines Volk in Südostasien führte. Dann sahen die Studierenden, daß ihre so hochgestochen daherkommende Alma Mater ziemlich patriarchalische Strukturen hatte und fragwürdige Inhalte vermittelte. Diese und weitere Enttäuschungen empfanden Studierende als Ausdruck der die herrschenden Klassen stützenden politischen Struktur. Viele, jedoch längst nicht alle von ihnen gaben ihren Empfindungen Ausdruck, zuerst verbal - dann bis hin zum Terror aktiv. Die permanenten oder gelegentlichen Aktivisten wurden getragen und auf den Weg gesetzt von einer Infrastruktur des Protestes. Hier waren die eigentlichen Drahtzieher und ihre Helfer versammelt. Häufig wird der „SDS”, in dem auch Dutschke aktiv war, als Kern der Studentenbewegung angesehen. Der „Sozialistische Deutsche Studentenbund” war eine einstige Jugendorganisation der SPD. Der Verband mochte nicht vom Studium marxistischer Texte lassen, als die SPD mit ihrem Godesberger Programm auf Reformkurs ging. Der SDS wurde daher von der Mutterpartei verstoßen. Auch der als Ersatz gegründete „Sozialdemokratische Hochschulbund” („SHB”) verhielt sich nicht linientreu. Er betrieb Marxstudien und veranstaltete Aktionen an der Universität in etwas weniger radikaler Weise als der SDS. Einer ihrer Wortführer war Knut Nevermann, Sohn des Hamburgischen Bürgermeisters und später oberster Beamter von Gerhard Schröders „Staatsministern für Kultur”. Ein 68er? In einer großbürgerlichen Wohnung in der Charlottenburger Wielandstraße hatte sich zudem der „Republikanische Club” gegründet, in dem sich aufsässig Fühlende verschiedener 32 Richtungen versammelten - da war der Kabarettist Wolfgang Neuss ebenso anzutreffen wie der fast überall unvermeidliche Horst Mahler, aber auch „liberale Scheißer” - wie der Slogan hieß - waren geduldet. Schließlich gab es Wohngemeinschaften – „Kommunen“. „Kommune 1“ und „Kommune 2“ würzten die Bewegung mit kulturrevolutionären Aktionen wie kollektiven Nacktphotos und mit zweideutigen Flugblättern wie „Burn, warehouse, burn“. Fritz Teufel und Rainer Langhans gaben die Clowns der Bewegung. Die Parole “Teufel ins Rathaus” hatte ebenso Witz wie die Entgegnung des vor dem Richtertisch Gelandeten nach der Aufforderung zum Erheben: „Wenn`s der Wahrheitsfindung dient...“ Immer wieder fanden an den Universitäten Vollversammlungen statt, immer wieder „sit ins”, später „go ins”. Es wurde diskutiert, geredet, theoretisiert, gespottet und verhöhnt. Als Klaus Schütz, der Regierende Bürgermeister von Berlin, das Audi Max der Freien Universität bei einer Vollversammlung besuchte, wurde zum Vergnügen der Versammelten hinter dem Rücken des Bürgermeisters ein Schild hochgehalten: „Und solche Idioten regieren uns.” Die Stimmung wurde verbissener: Schütz polemisierte nach seinem Besuch an der FU, man müsse den „Typen nur ins Gesicht schauen”. In der Springerpresse wurden “die Studenten” weiterhin als langhaarige Zottelfiguren diffamiert. Berliner Werktätige verspürten schon `mal Lust, den „Chaoten” eins zu verpassen. Doch von „68ern” war immer noch nicht die Rede. Es gab auch genügend viele Studenten, die stolz betonten, mit den „Chaoten” nichts zu tun zu haben. Sie wollten, sagten sie, an der Uni lernen und dann Karriere machen. Diese „68er” wurden damals gerne in erschreckten bürgerlichen Kreisen als die „wahren Studenten” präsentiert. Es waren häufig dieselben Menschen, von denen viele sich heute - arriviert - gerne als aufsässige 60er bezeichnen. In der Auto-Rezeption waren damals viel mehr Menschen durch die Straßen gezogen mit Bildern von Che Guevara und einem „Ho, Ho, Ho Chi Min” auf den Lippen, als es jemals in der Wirklichkeit gewesen sind. Die „68er” sind ein Mythos. Die Studentenproteste haben eine Universitäts- und Bildungsreform ausgelöst, deren egalisierende Auswirkungen heute beklagt werden. Sie waren das Hauptmedium der politischen Sozialisation einer Generation, deren Erfolgreiche sich später gerne „politische Elite” nannten. Sie haben Nachahmer in den zahllosen Bürgerinitiativen gefunden. Die Studentenproteste haben der in den fünfziger Jahren formalen Demokratie Inhalte geben. Das „Mehr Demokratie wagen” Willy Brandts wäre ohne die Proteste undenkbar gewesen. Die politischen Parteien erhielten infolge der so 33 unrevolutionären Parole Rudi Dutschkes vom „Marsch durch die Institutionen” Blutauffrischung. Und die „Grünen” können in den 68ern eine ihrer Quellen sehen. Später, als alles längst vorbei war, wollten viele dabei gewesen sein. Was vorgestern vielfach angefeindet und verpönt war, galt - da es vorbei war – gestern als chic. Sich als 68er zu präsentieren, wurde für viele Politiker besonders des rot-grünen Projektes zur Attitüde. Damit konnte man sich interessant machen. Rudi Dutschke war der 68er schlechthin. Auch die Nevermänner können mit Recht behaupten, sie seien welche gewesen. Horst Mahler auch. Die Studiendirektoren oder Bankvorstände Nils oder Peter Krause oder Meyer aber flunkerten meist, wenn sie sich als „68er” bezeichneten. Und andere drehten die Wahrheit um. Die innovatorische Wirkung der Bewegung war an der Gewaltfrage gestoppt. Schon die Diskussion, ob Gewalt gegen Menschen erlaubt sei oder „nur” Gewalt gegen Sachen, hat eine repressive Wirkung gehabt, denn sie fiel hinter den bis dahin ausgemachten Grundsatz des Gewaltmonopols des Staates zurück. „Häuserkämpfer” und „Pflastersteinrebellen” waren so gesehen keine 68er mehr: noch viel weniger die Leute von der „RAF” oder andere Terroristen. Die Gewaltbereiten haben die Studentenbewegung zerstört, ihr die inhaltliche und personelle Basis genommen. Aus der Bewegung wurden Sektierergruppen mit zunehmendem Realitätsverlust. Nun war Josef Fischer sicher keiner, der es nötig gehabt hätte, mit einer gar nicht vorhandenen 68er Vergangenheit zu renommieren. Dass er sich dennoch –auch nach seinem Ausscheiden aus der Politik - auf den Mythos 68 beruft,31 kann eigentlich nur Verdrängung sein. Fischer verdrängt, dass schlimme Prügelszenen und weiteres auch in den Siebzigern nicht die Deckung irgendeiner demokratischen Bewegung gefunden haben. Die Fronten waren seinerzeit ebenso klar wie heute. Die Frankfurter Szene war außerhalb des demokratischen Spektrums, und das einzugestehen, ist offensichtlich schwierig für jemanden, der Demokratie und Menschenwürde für die Maßstäbe seines politischen Handelns über alle persönlichen Brüche hinweg bezeichnet. Fischer war kein 68er. Er stand offensichtlich wie andere auch eine Zeitlang außerhalb des vom Grundgesetz gezogenen Rahmens. Diesen Rahmen hat er später gefunden und ist nun einer der höchsten Repräsentanten des darauf ruhenden politischen Systems. Den Mythos 68 sollten Leute wie Fischer nicht in Anspruch nehmen. Einfach um der Wahrheit willen. Der Spiegel, Nr. 28 vom 10.7.2006, S. 30 ff: „Die Politik macht hart“. Gespräch mit dem früheren Außenminister Joschka Fischer. Fischer: „Herr Westerwelle hat allerdings ein Problem mit uns 68ern.“ 31 34 4. Sozial-liberale Hoffnungen: Mehr und Demokratie und Entspannung Ein Jahr nach der Regierungsbildung 1961 offenbarte die „Spiegel“-Affaire, wie sehr die Union unter dem Ausklingen der Ära Adenauer in eine Krise geraten war. Auf Weisung der Bundesanwaltschaft wurden in der Nacht vom 26. auf den 27. Oktober die Redaktionsräume des Nachrichtenmagazins „Der Spiegel“ durchsucht. Anlass war eine angeblich die Sicherheit der Bundesrepublik gefährdende Veröffentlichung über das NATO-Manöver „Fallex 62“. Die Durchsuchung, die Festnahme von Journalisten und die harte Haltung Adenauers („Ein Abgrund von Landesverrat“) sowie des Verteidigungsministers Franz Josef Strauß brachte eine intellektuelle und linksbürgerliche Öffentlichkeit gegen die Bundesregierung und die reaktionär erscheinende Union auf. Der Verteidigungsminister musste demissionieren, und am 19. November 1962 zog die FDP ihre Bundesminister aus dem Kabinett zurück. Wie es Adenauer schon 1961 getan hatte, so sondierten auch diesmal Unionspolitiker - Paul Lücke und Freiherr von und zu Guttenberg mit der SPD - repräsentiert durch Herbert Wehner - die Möglichkeiten eines Zusammengehens. Die SPD, vor deren möglicher Regierung Adenauer einst mit dem Seufzer „armes Deutschland” gewarnt hatte, kam infolge der Krise der Union nach ihrer Bad Godesberger Reform ins Spiel. Diesmal machten diese Gespräche die FDP wieder gefügig, und es wurde eine Kabinettsumbildung vereinbart, bei der die FDP erreichen konnte, dass Adenauer sich festlegte, nach den Parlamentsferien im Herbst 1963 zurückzutreten. Im Jahre 1963 erfolgte dann nicht nur bei der CDU der Wechsel von Adenauer zu Erhard mit Erich Mende als Vizekanzler und Minister für gesamtdeutsche Fragen. Auch bei der SPD gab es nach dem Tod Erich Ollenhauers im Dezember einen Wechsel. Willy Brandt wurde SPDVorsitzender und gleichzeitig erneut Kanzlerkandidat. Die Kanzlerschaft des populären Ludwig Erhard litt von Anfang an unter internen Querelen der Union. Da gab es den außenpolitischen Streit zwischen den USA-orientierten „Atlantikern“, zu denen der von Erhard gestützte Außenminister Gerhard Schröder gehörte, und den frankophilen „Gaullisten“. Hinter allen Sachstreits standen stets Machtfragen. Insbesondere die CSU testete nach dem Abgang des „Alten“ aus, ob und wie sie ihre Stellung unter dem „Dicken“ ausbauen konnte. Bei der Bundestagswahl 196532 wirkten sich zaghafte Gewichtsverlagerungen im Verhältnis der parteipolitischen Lager aus. Die CDU verfehlte knapp die absolute Mehrheit, die FDP verlor erheblich, und die SPD galt als der Gewinner, der sich endgültig aus dem „30-%Turm“ der fünfziger Jahre befreit hatte. 32 Karlheinz Niclaus, a.a.O. 35 Die 2. Regierung Erhard hatte vor allem eine Wirtschafts- und Finanzkrise zu bewältigen, die sich 1966 und 1967 in einer allgemeinen Rezession, einem Anstieg der Arbeitslosigkeit und einem Defizit des Staatshaushaltes - im Wesentlichen als Folge von Wahlversprechen gezeigt hatte. Beachtenswert ist, dass damals eine Arbeitslosenzahl von 673 000 Menschen (Februar 1967) als bedrohlich und eine Ursache für das Erstarken der rechtsradikalen NPD gesehen wurde. Im Bundeshaushalt 1967 (74 Mrd. DM) gab es eine Deckungslücke von über 4 Mrd. DM. Die FDP lehnte die von der Union vorgesehenen Steuererhöhungen ab und machte das Ganze zur Koalitionsfrage. Ein Kompromiss, dem die FDP-Minister zustimmten, wurde von der FDP-Bundestagsfraktion zu Fall gebracht, weil man in der Presse erneut als „Umfallerpartei“ bezeichnet worden war. Wieder einmal zogen die Liberalen ihre Minister zurück, und nach dem 27. Oktober 1966 stand Ludwig Erhard als Kanzler eines Minderheitenkabinetts da. Zuvor, im Juli, hatte es infolge von Landtagswahlen in NordrheinWestfalen einen Machtwechsel gegeben. Die SPD löste die CDU als stärkste Partei in Düsseldorf ab und regierte fortan mit der FDP zusammen. In Bonn wurde das Zustandekommen der sozial-liberalen Koalition im größten Bundesland als Schlappe des Kanzlers gewertet. Zugleich verzeichnete die NPD bei Landtagswahlen Siege, die zu Lasten der CDU gingen und Zweifel an deren Integrationskraft aufkommen ließen. In Hessen beispielsweise wählten am 6. November 1966 7,9% der Wähler die rechtsradikale Partei. Die Zeichen standen auf Sturm. Unter CDU-Politikern breitete sich im Sommer 1966 der Wille aus, Erhard zu stürzen, um die Macht im Bund nicht zu verlieren. Aber bei einer Bundestagsdebatte am 4. Oktober 1966 sprach der Unions-Fraktionsvorsitzende Rainer Barzel die mittlerweile legendären Worte „Erhard ist und bleibt Bundeskanzler. Wir wünschen die öffentliche Debatte darüber zu beenden.” Nach für die CDU schlechten Wahlergebnissen in Hessen gab Erhard dem Drängen insbesondere der CSU unter Führung von Franz Josef Strauß nach. Die CDU/CSU-Fraktion nominierte den baden-württembergischen Ministerpräsidenten Kurt Georg Kiesinger als Kandidaten für die Leitung einer Großen Koalition, die nun ausgehandelt wurde. Am 1. Dezember 1966 wurde Kiesinger 3. Kanzler der Bundesrepublik, und die SPD zog unter Vizekanzler und Außenminister Willy Brandt zum ersten Mal in ein Bundeskabinett ein. Obwohl durch sie die SPD ins Spiel gebracht wurde, gab es gerade bei den Sozialdemokraten, ihren Anhängern und darüber hinaus in der linken und liberalen Öffentlichkeit viele Bedenken gegen die Große Koalition. Befürchtet wurden eine unkontrollierbare Machtakkumulation, eine Verfestigung der Herrschaftsverhältnisse und eine die Rechte der Bürger einschränkende Politik. Die von der Koalition behauptete innere Versöhnung der ehemaligen Mitläufer und 36 Gegner der Nationalsozialisten, symbolisiert durch die Zusammenarbeit des früheren NSDAP-Mitglieds Kiesinger mit dem einstigen Emigranten Brandt, galt vielen als anstößig und unglaubwürdig. Unvergessen waren die auch aus CDU-Kreisen geschürten Schlammschlachten gegen Brandt, den Emigranten. Erster Ausdruck dieses Unbehagens war, dass bei der Wahl des Kanzlers mindestens 89 Koalitionsabgeordnete, die meisten gewisslich SPD-Mitglieder, Kiesinger ihre Stimme verweigerten. Mit ihrer verfassungsändernden Mehrheit setzte die große Koalition das „Gesetz zur Förderung der Stabilität und des Wachstums der Wirtschaft” - kurz: „Stabilitätsgesetz” - und die Notstandsgesetze durch. Das Stabilitätsgesetz gab der Regierung haushalts- und wirtschaftspolitische Instrumente an die Hand, die bis dahin beim Bundestag oder bei den Ländern gelegen hatten. So kann die Regierung bei einer Gefährdung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichtes die Kreditaufnahme der Länder und Gemeinden begrenzen oder Steuersätze bis zu 10% nach oben oder unten verändern. Die Notstandsgesetze sehen für den Fall eines inneren oder äußeren Notstands vor, dass Grundrechte und Rechte des Parlamentes eingeschränkt werden dürfen: Im Notstandsfall soll ein kleiner Ausschuss als Notparlament tätig werden. Es können Beschlagnahmungen erfolgen und die Versammlungsfreiheit aufgehoben werden. Der Einsatz der Bundeswehr bei einem „inneren Notstand“ ist möglich. Nicht realisieren konnte die erste große Koalition ihr drittes Vorhaben der Wahlrechtsreform, das auf die Etablierung eines Zweiparteiensystems mit Hilfe des Mehrheitswahlrechtes hinauslief. Gegen diese Wahlrechtspläne gab es Widerstand vom linken Flügel der SPD, der eine innerparteiliche Schwächung befürchtete. Als dann durch Gutachten und Analysen der Mehrheit der SPD-Funktionäre klar wurde, dass alle vom CDU-Innenminister Paul Lücke vorgelegten Modelle der SPD und CDU/CSU zwar die alleinige Repräsentanz im Parlament sicherte, die SPD aber zur ewigen Nr. 2 machen würde, ließ die SPD das Projekt fallen. Mit ihrem sozialdemokratischen Wirtschaftsminister Karl Schiller betrieb die Große Koalition eine streng keynesianische Wirtschaftspolitik33. Der Hamburger Wirtschaftsprofessor verstand es nicht nur, mit neuen Institutionen und Begriffen wie „Konzertierte Aktion“ (regelmäßige Zusammenkunft von Gewerkschaften, Unternehmensverbänden, Regierung und anderer Wirtschaftsbeteiligten) oder „Mifrifi“ („Mittelfristige Finanzplanung“) das Publikum zu unterhalten, sondern auch, die wirtschaftliche Lage tatsächlich zu verbessern. Doch in der Öffentlichkeit gab es ein breites Unbehagen gegen die Große Koalition. Sie war nicht Ursache, aber gewiss ein Auslöser für die „Außerparlamentarische Opposition” (APO) 33 John Maynard Keynes, The General Theory of Employment, Interest and Money, London 1961 37 der studentischen Jugend. Die Notstandgesetzgebung wurde als Bestätigung der Furcht vor einem autoritären Staat gesehen. Nicht nur die Gewerkschaften, auch die Mini-Opposition der Liberalen kämpften dagegen an. Die unversehens aus der Regierung gedrängte FDP bekam einiges vom Zeitgeist zu spüren. Politiker wie Karl-Hermann Flach, Werner Maihofer oder Walter Scheel setzten in der Partei einen sozial-liberalen Kurs durch. Um den Preis der Existenzgefährdung wurde die Mitglieder- und Wählerschaft weitgehend ausgetauscht. Doch trotz gelegentlicher Berührungen blieb die FDP der APO fremd. Parteipolitisch ging die Hauptzielrichtung hier gegen die SPD, denn der aus der SPD eliminierte Studentenverband SDS („Sozialistischer Deutscher Studentenbund“) und auch sein parteioffizieller Nachfolger SHB („Sozialdemokratischer Hochschulbund“) waren Hauptträger der APO und bedienten sich im Widerstand zur reformierten Mutterpartei marxistischer Gesellschaftsanalysen zur Begründung ihrer Politik. Angekündigt durch die „Spiegel“-Affäre, beschleunigt durch die Bildung der Großen Koalition, entzündete sich die APO zunächst an zwei Themen: dem Krieg der Amerikaner in Vietnam und den Mängeln des Bildungswesens in Deutschland. Die USA – „Amerika“! - hatten in den fünfziger Jahren in allem als demokratisch, gerecht, human und einfach vorbildhaft gegolten. Nun hatte der Protest gegen den schmutzigen Krieg dieser Weltmacht gegen ein kleines Volk in der deutschen Gesellschaft die Wirkung eines Tabubruchs. Entsprechend wütend waren die Reaktionen der Mehrheit der Bevölkerung und des Staates darauf. Gerade die nun einsetzenden staatlichen Repressionen jedoch heizten die APO-Bewegung weiter an. Der „Imperialismus“ insgesamt war jetzt im Visier. So kam es zu studentischen Protesten, als der Schah von Persien im Juni 1967 Berlin besuchte. Im Übrigen ist es falsch, wenn heute behauptet wird, ein zentrales Thema der APO sei die erstmalige Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus gewesen oder der Aufstand der Kinder gegen ihre Vätergeneration. Das hatte bei der Bewegung keine zentrale Rolle gespielt. Im Sinne einer politisch korrekten Aufarbeitung des Nationalsozialismus hatte es sogar Schieflagen gegeben, beispielsweise bei den engen Kooperationen radikaler Teile der APO mit der gegen Israel kämpfenden palästinensischen PLO. Entgegen ursprünglicher Befürchtungen und wohl auch gefördert durch die Protestbewegung hatten sich die Gemeinsamkeiten der Großen Koalition bald erschöpft. Es war nicht nur die Wahlrechtsreform, die nicht zustande kam. Auch in gesellschaftspolitischen Fragen kamen die Partner nicht zusammen. Vor allem fand der Außenminister Willy Brandt keine ausreichende Unterstützung bei der Union für seine Politik, die Machtverhältnisse im Osten als Folge des 2. Weltkrieges anzuerkennen und dorthin Kontakte aufzunehmen. Durch den 38 Wandel der FDP zum Sozialliberalismus schien sich der SPD eine Perspektive jenseits der Union zu eröffnen, falls die Wahlergebnisse von 196934 das erlauben würden. Die sozial-liberale Phase hatte ein Vorspiel, eine richtige Ouvertüre: Im März 1969 fand in Berlin die Wahl des Bundespräsidenten statt. Für die CDU/CSU kandidierte Gerhard Schröder, der vormalige Außenminister. SPD-Kandidat war Gustav Heinemann, einst Mitbegründer der CDU und erster Bundesinnenminister unter Konrad Adenauer. Heinemann war Vorstands-mitglied der Rheinischen Stahlwerke in Essen und zugleich Präses der Synode der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD). Unter den Nazis war er in der Bekennenden Kirche aktiv gewesen. Heinemann hatte 1950 sein Ministeramt niedergelegt als Protest gegen die Absicht des Kanzlers, deutsche Truppen aufzustellen. Er gründete 1952 eine „Gesamtdeutsche Volkspartei“ (GVP), die zu den vielen erfolglosen Parteien nach 1945 gehörte. Für die SPD zog er 1957 in den Bundestag ein und hielt dort im Januar 1958 eine bittere Rede der Deutschlandpolitik”. Abrechnung mit Diese war Rede Konrad so Adenauer scharf, kühl und und seiner pointiert, „verfehlten dass die Unionsabgeordneten „wie vom Blitz getroffen“35 waren. Das Tischtuch zur Union war zerschnitten. Dieser Heinemann war als möglicher Bundespräsident eine Provokation für die CDU/CSU. Der Vorsitzende der FDP, Walter Scheel, wollte die Wahl des Sozialdemokraten zum Nachweis der Koalitionsfähigkeit der FDP mit der SPD machen und bereitete die Partei mit großem Einsatz auf die Wahl Heinemanns vor. In der Fraktion der Bundesversammlung gab es drei Probeabstimmungen, bis die FDP die zur Mehrheit notwendigen Stimmen der SPD präsentieren konnte. Das war schwierig genug, denn die Mehrheitsverhältnisse in der Bundesversammlung waren knapp, und die Union hatte deutlich gemacht, dass Schröder die Wahl auch annehmen werde, wenn die Stimmen der NPD für ihn den Ausschlag geben würden. Doch bei der Versammlung erreichten weder Heinemann noch Schröder im 1. und 2. Wahlgang die notwendige Mehrheit. Mit 512:506 Stimmen wurde Heinemann im dritten Wahlgang gewählt. Einsam verließ der geschlagene Schröder die Ostpreußenhalle. Die SPD lud am Abend die FDP zu einer Siegesfeier in den „Philips-Pavillon” am Funkturm ein. Hier herrschte Sektlaune, und die Verdächtigungen gegen die unsicheren Liberalen vom Nachmittag waren vergessen. Zwei Tage später polarisierte Heinemann wieder einmal, indem er verkündete, es habe ein „Stück Machtwechsel” stattgefunden.36 34 Karlheinz Niclaus, a.a.O. Arnulf Baring, Machtwechsel. Die Ära Brandt-Scheel, Stuttgart 1982, S. 58 36 a.a.O., S. 120ff 35 39 Nach der Bundestagswahl im September 1969 vollzog sich der tatsächliche Machtwechsel, weil mit der SPD/FDP in Bonn die Vorherrschaft der Union gebrochen wurde. Obwohl die Union stärkste Fraktion geblieben war, obwohl die FDP nur knapp über der 5%-Sperrgrenze lag und der neue Kurs dort weiter umstritten blieb, gingen Willy Brandt und Walter Scheel das Bündnis ein. Am 21. Oktober 1969 wählte der Bundestag mit 251 gegen 235 Stimmen Willy Brandt zum ersten sozialdemokratischen Bundeskanzler. Die Union sprach von einer Verfälschung des „Wählerwillens“ und strebte eine kurzfristige Rückkehr zur Macht an: Es stellte sich eine Polarisierung des Parteiensystems ein. Der neue Bundeskanzler kündigte in seiner Regierungserklärung unter dem Schlagwort „Mehr Demokratie wagen“ das umfangreichste Reformprogramm in der Geschichte der Bundesrepublik an. Das Hauptprogramm der Koalition war die Ostpolitik mit der Anerkennung der DDR und der gesamten politischen Situation in Osteuropa. Die sozial-liberale Koalition empfand sich als politischer Ausdruck des „neuen Mittelstandes“, der aus einer zunehmenden Zahl von hochqualifizierten, materiell abgesicherten Menschen bestehen würde. Dieser neue Mittelstand brauche für seine Entwicklung Demokratie als durchgängiges Regulationsprinzip überall in der Gesellschaft sowie Ausgleich und Versöhnung mit den Nachbarn Deutschlands auch im Osten. Tatsächlich traten damals viele akademisch gebildete und sozial-liberal orientierte neue Mitglieder in die SPD und auch in die FDP ein. Das aktuelle Problem war nur, dass mindestens bei der FDP der „alte Mittelstand“ - also Selbständige, kleine und mittlere Unternehmer - noch immer stark verankert war und innerparteilich gegen die neue Linie der FDP arbeitete, zumal der Verlust von 3,7% bei der Bundestagswahl die Parteiführung nicht gerade gestärkt hatte. In Nordrhein-Westfalen organisierten sich die Gegner des Kurses der Parteiführung in einer „National-Liberalen Aktion“ (NLA). Im Bundestag selber war der Bestand der Koalition gefährdet, was der Öffentlichkeit deutlich wurde, als die liberalen Abgeordneten Erich Mende, Heinz Starke und Siegfried Zoglmann im Oktober 1991 zur CDU/CSU übertraten. Das grundsätzliche Problem der Koalition war, dass sie mit der Theorie vom neuen Mittelstand einem kurzlebigen und wenig verifizierten Konstrukt der Sozialwissenschaft aufgesessen war, denn gegen Ende der sozial-liberalen Ära, bekamen die hochqualifizierten Abhängigen Angst vor zu vielen Reformen vor allem der Wirtschaft und suchten flugs ihr Heil bei den neokonservativen Versprechen Helmut Kohls. So kam es, dass die Regierung Brandt/Scheel im Innern Reformen voran trieb - beispielsweise für die Hochschulen, vor allem Grundlagenverträge der neuen Ostpolitik vorbereitete, die Vier-Mächte-Verhandlungen über West-Berlin initiierte - es aber im Bundestag mit 40 Verweigerern, Abweichlern und Überwechslern zu tun hatte. Die Basis für das gesamte Projekt schien dahin zu schmelzen. Eigentlich war die Regierung Brandt/Scheel ein „Bündnis für die Neue Ostpolitik“,37 wie Arnulf Baring formuliert. Mit großem Einsatz und unter hohem Druck hat die Regierung die Kontakte nach Osteuropa geknüpft, Gesten der Versöhnung wie den Kniefall Willy Brandts vor dem Denkmal für die Opfer des Warschauer Ghettos gezeigt, Verträge verhandelt, die Abstimmung mit dem Westen nicht vergessen und alles in aufgeheizter innenpolitischer Stimmung in einem labilen Parlament vertreten. Dabei ereignete sich bis dahin Undenkbares: Am 19. März trafen sich Bundeskanzler Willy Brandt und der Vorsitzende des Ministerrates der DDR, Willy Stoph. Die Menge rief „Willy, Willy!“, und es war klar, dass Stoph nicht gemeint war. Ebenso bewegend war es, als im Dezember des gleichen Jahres Brandt und der polnische Ministerpräsident Cyrankiewicz in der polnischen Hauptstadt die Warschauer Verträge unterzeichneten. Während die nun in der Opposition befindliche CDU/CSU die neue Ostpolitik einerseits heftig bekämpfte, den durch sie geschaffenen Tatsachen aber andererseits hinterher hechelte wie einst die SPD der Westpolitik Adenauers, fand der Kanzler hohe internationale Achtung und Anerkennung. 1971 wurde Willy Brandt der Friedensnobelpreis zugesprochen. Aber das immunisierte ihn nicht gegen die Feindschaft im Innern. Alles schien vergebens, als ein weiterer Bundestagsabgeordneter der FDP das Regierungslager am 23. April 1971 verließ und die Koalition damit ihre Mehrheit im Parlament verlor. Die Union hoffte nun auf den schnellen Weg zurück an die Macht und brachte zum ersten Mal in der Geschichte der Bundesrepublik ein konstruktives Misstrauensvotum ein. Willy Brandt sollte als Kanzler gegen Rainer Barzel ausgewechselt werden. Doch überraschenderweise scheiterte der Antrag, und als Informierte schon vor der offiziellen Verkündung den Namen „Willy Brandt“ ins Plenum riefen, brach ein Jubel der Begeisterung bei der Koalition aus, während die Opposition in lähmendem Entsetzen verharrte. Bei den Übertritten und auch bei der Abstimmung selber hatten wohl nicht alle Abgeordneten nur nach ihrem Gewissen entschieden. Offensichtlich ist von beiden Seiten „geschmiert” worden. Noch in den neunziger Jahren hatte ein Gericht versucht, Aufklärung zu schaffen, als es um die Rolle des seinerzeitigen Fraktionsgeschäftsführers der SPD, Karl Wienand, bei der Abstimmung gegen Brandt ging. Es wurde vermutet, das Scheitern des konstruktiven Misstrauensvotums beruhe darauf, dass an Unionsabgeordnete über Wienand „Stasi-Gelder“ geflossen seien. 37 Arnulf Baring, a.a.O., S. 195 ff 41 Willy Brandt blieb nach dem Überraschungsergebnis zwar im Amt, und der Bundestag ratifizierte, bei Enthaltung der Union, die Ostverträge am 17. Mai 1972. Doch kurz zuvor war der Haushalt des Bundeskanzlers nicht durch das Parlament gegangen, und sehr bald lief alles auf vorzeitige Neuwahlen hinaus. Diese fanden nach einer gescheiterten Vertrauensfrage Brandts am 19. November 1972 statt. Die Bundestagswahl38 hatte der Koalition eine glänzende Bestätigung gebracht. Zum ersten Mal wurde die SPD stärkste Fraktion im Deutschen Bundestag und konnte mit Annemarie Renger, der früheren Weggefährtin Kurt Schumachers, das Amt des Parlamentspräsidenten besetzen. Doch im Triumph lag der Keim zur Krise. In der SPD kamen Stimmen auf, die das durch die Ostpolitik gute Wahlergebnis fälschlicherweise mit „linken“ gesellschaftspolitischen Vorstellungen aus der SPD erklärten und hofften, die FDP abschütteln zu können. Der Kanzler schlaffte nach der Phase der Anstrengungen ab, verfiel in Krankheit und Depressionen. Die FDP fühlte sich nach innerer Konsolidierung gestärkt und betonte gegen die SPD liberale und marktwirtschaftliche Akzente in der Innen-, Wirtschaftsund in der Gesellschaftspolitik. Die Liberalen fühlten sich hierzu veranlasst durch die CDU, bei der sich in einem innerparteilichen Machtkampf der Ministerpräsident von RheinlandPfalz, Helmut Kohl, gegen Rainer Barzel durchgesetzt hatte („Keiner wählt Rainer“). Die Union lockte einerseits die Liberalen, andererseits diffamierte sie die FDP als „Blockpartei“, als Anhängsel der SPD. Die ostpolitische Euphorie verflog, Widersprüche taten sich auf. Die Terrorwelle der sich „Rote Armee Fraktion“ („RAF“) nennenden Baader-Meinhof-Gruppe erforderte in den Augen vieler Koalitionäre nicht mehr Demokratie, sondern mehr Repression. Walter Scheel setzte sich aus der Regierung ab, indem er als Nachfolger Gustav Heinemanns das Amt des Bundespräsidenten anstrebte. Der Fraktionsvorsitzende der SPD, Herbert Wehner, war mit dem labilen Zustand und präsidentialen Führungsstil des Kanzlers unzufrieden und trug zu seinem Autoritätsverlust bei: „Der Kanzler badet gerne lau!“, wurde er zitiert. Als schließlich Anfang 1974 der persönliche Referent Willy Brandts, Günter Guillaume, als Spion für die DDR enttarnt wurde - worüber der Innenminister Hans-Dietrich Genscher bereits ein Jahr zuvor vom Verfassungsschutz informiert worden war -, erklärte Willy Brandt am 6. Mai seinen Rücktritt. Der Bundestag wählte Helmut Schmidt zu seinem Nachfolger, und als Walter Scheel im Juli 1974 tatsächlich sein neues Amt antreten konnte, war die reformerische Regierung Brandt/Scheel durch die konsolidierende Schmidt/Genscher abgelöst worden. 38 Karlheinz Niclaus, a.a.O. 42 Mit der Verabschiedung der Ostverträge war die wichtigste Bindung zwischen den Koalitionspartnern dahin. Statt weiter zu reformieren hatte die Regierung Schmidt/Genscher nun die Aufgabe, eine sich verschärfende Wirtschaftskrise zu meistern und den Terrorismus zu bekämpfen. Außenpolitisch sollte eine Kurskorrektur vorgenommen werden, weil der Westen im Falle des Scheiterns von Abrüstungsverhandlungen mit dem Osten im Wettrüsten die Schraube anziehen und mit vor allem auf deutschem Boden stationierten Mittelstreckenraketen „nachrüsten“ wollte. Diesen „Doppelbeschluss“ sollten die Parteien absegnen. Hierbei wie in der Wirtschaftspolitik wurde deutlich, dass der Kanzler Schmidt nicht die Mehrheit seiner Partei hinter sich hatte, dass zwischen ihm und der Mehrheit der Sozialdemokraten ein Riss klaffte. Die Wahlen zum 8. Deutschen Bundestag39 brachten der Koalition Verluste ein. Die Union war wieder stärkste politische Kraft. Das Wahlergebnis, bei dem die FDP sich verbessert, die SPD aber stagniert hatte, wird vielfach als Auslöser für den folgenden Verfall der sozial-liberalen Koalition gesehen. Die Koalitionsverhandlungen wurden in gereizter Atmosphäre geführt. Es ging um den Versuch, den Staatshaushalt zu konsolidieren. Die Freien Demokraten drängten auf Einsparungen auch zu Lasten der Sozialpolitik, was bei der SPD auf Widerstand stieß. Zunehmend war die Rede davon, dass das Reservoir an Gemeinsamkeiten erschöpft sei. Das Wort von der „Endzeitstimmung“ kam auf. In Umfragen sank die Popularität der SPD weiter ab. Die FDP fürchtete, mit in deren Sog zu geraten und unterzugehen. Dennoch entwickelte sich die Legislaturperiode bis 1980 relativ stabil. Als Politmanager und Wirtschaftsfachmann, später auch Staatsmann, genoss Helmut Schmidt hohes Ansehen in der Bevölkerung, von dem die FDP profitierte. Der innere Konsolidierungsprozess der Union war noch nicht abgeschlossen, so dass diese als Alternative nicht infrage kam. Kohl musste zur Bundestagswahl 198040 Franz Josef Strauß als Kanzlerkandidaten vorlassen, bevor er selber nach der Macht greifen konnte. Der FDP kam die Kandidatur von Strauß sehr recht, konnte sie sich doch ihm gegenüber als vernünftige Alternative darstellen. Genscher bezeichnete in internen Parteikreisen Strauß immer wieder als „unseren besten Wahlhelfer“. Der damalige Generalsekretär der FDP, Günter Verheugen, bezeichnete das im Nachhinein nach seinem Wechsel zur SPD - als „reine Überlebensstrategie“.41 Die Wahlparole der FDP war: „Für eine Regierung Schmidt/Genscher - Gegen Alleinherrschaft einer Partei - Gegen Strauß - Diesmal geht`s ums Ganze. Diesmal FDP”. Über diese Verwendung seines Namens 39 a.a.O. Karlheinz Niclauß, a.a.O., S 42 41 Günter Verheugen, Der Ausverkauf. Macht und Verfall der FDP, Hamburg 1984, S. 107f 40 43 war der Bundeskanzler nicht angetan, wie überhaupt das innere Klima nach der Wahl 1980 nicht mehr gut war. In der größer gewordenen FDP-Bundestagsfraktion saßen nun zahlreiche rechtsliberale Gegner des sozial-liberalen Kurses. Sie waren auf ursprünglich als aussichtslos eingeschätzten Listenplätzen ins Parlament gekommen und trafen sich im „Wurbs-Kreis”, so genannt nach dem der FDP angehörenden Vizepräsidenten des Bundestages, Richard Wurbs. Dieser Kreis soll mehr als die Hälfte der Mitglieder der Fraktion mobilisiert haben. Auch die „Linken“ trafen sich regelmäßig. Es soll sogar eine Gruppe der gruppenlosen Abgeordneten gegeben haben.42 Diese Fraktionierung der FDP-Fraktion war Ausdruck einer Unsicherheit der Partei, die in allen Gliederungen bestand. Das kam auch im Verhalten des Parteivorsitzenden und Vizekanzlers Hans-Dietrich Genscher zum Ausdruck, der zwar den direkten Bruch mit den Sozialdemokraten nicht forcierte, aber mit seiner Forderung nach einer „Wende“ in der Politik das geistige Klima für einen solchen Bruch schuf. Genschers Taktik hatte das Ziel, für den von ihm gewünschten oder zumindest erwarteten Bruch mit den Sozialdemokraten diese als die Täter dastehen zu lassen und die FDP als die Unschuld vom Lande. Genscher setzte auch Schmidt unter Druck: Unter erheblichem persönlichen Engagement des Parteivorsitzenden stimmte der FDP-Parteitag im Mai 1981 in Köln dem Rüstungs-„Doppelbeschluss“ nach heftigen Kontroversen zu. Zwar hatte der Berliner Parteitag der SPD zuvor im Dezember 1979, Schmidt folgend, den Doppelbeschluss grundsätzlich akzeptiert. Aber die gegen diesen Beschluss gerichtete und nicht nur von den Grünen getragene „Friedensbewegung” hatte doch weite Kreise der SPD erfasst, so dass die Haltung der Sozialdemokraten von Genscher und anderen leicht als labil hingestellt werden konnte. Schmidt durchschaute das und versuchte zu verhindern, dass Sozialdemokraten an der Friedensdemonstration am 10. Oktober 1981 in Bonn mitmachten, wo sich 300 000 Menschen vor der Universität versammelten. Wie zum Beweis für die Wankelmütigkeit der SPD sprach dort als einer der Prominenten das sozialdemokratische Präsidiumsmitglied Erhard Eppler.43 Die Regierung - voran der Kanzler - hatte die Entwicklung „draußen im Land“ nicht mehr im Griff. Ein Gewerkschaftsskandal um die Wohnungsbaugesellschaft „Neue Heimat“, bei dem es um Bonzenwirtschaft und Veruntreuung gegangen war, fiel auch der SPD auf die Füße. Der SPD-Geschäftsführer Peter Glotz nahm sich die Freiheit, in aller Öffentlichkeit über 42 Güter Verheugen, a.a.O., S. 121f Eppler hatte zuvor als Spitzenkandidat der SPD die Landtagswahlen in Baden-Württemberg verloren. Spötter hatten behauptet, das sei daher gekommen, dass der etwas sauertöpfig wirkende Eppler ausgerechnet im kulinarisch opulenten “Ländle” die vielen dargebotenen Wurstsorten durch eine “Einheitswurst” hatte ersetzen wollen... 43 44 einen Bruch mit der FDP zu spekulieren, denn er dozierte, die SPD müsse damit rechnen, „über kurz oder lang in die Opposition zu gehen“.44 In München tagte im April 1982 abermals ein Parteitag der SPD und fasste angesichts steigender Arbeitslosigkeit, aber auch vor dem Hintergrund einer Kette verlorener Wahlen in den Ländern und Kommunen, finanz- und beschäftigungspolitische Beschlüsse, die der FDP-Wirtschaftsminister Otto Graf Lambsdorff zuvor verworfen hatte: höhere Kreditaufnahmen, Ergänzungsabgaben für höhere Einkommen, Arbeitsmarktabgabe, Abbau von Steuerprivilegien und Erhöhung des Spitzensteuersatzes. Die Beschlüsse von München wurden als Spaltpilz gesehen: Entweder würde die SPD auf einer Umsetzung bestehen, dann wäre das das Ende der Koalition, oder die SPD verzichtete darauf, dann würde das die Verfallstendenzen der SPD beschleunigen. Auch die FDP geriet aus dem Gleis: Bei Landtagswahlen in Niedersachsen wurde sie von den „Grünen“ als dritte Partei überholt, im Berliner Abgeordnetenhaus nach der „Alternativen Liste“ (AL) die vierte Partei, bei den Bürgerschaftswahlen in Hamburg scheiterte sie, und in Hessen kündigte ein Landesparteitag die gute Zusammenarbeit mit der SPD unter Holger Börner auf.45 Gleichzeitig trafen sich in Köln 700 „linke“ FDP-Funktionäre unter dem Motto „Noch eine Chance für die Liberalen“. Genschers Politik wurde dort als „Verrat“ bezeichnet. Dieser erkannte, dass ihm ein „geordneter“ Wechsel zur Union hin nicht gelingen werde. Die Parteiführung wurde unsicher und machte sich lächerlich. Als der Wechsel in Hessen zur CDU als Maßnahme zur Stärkung der sozial-liberalen Koalition im Bundesrat ausgegeben wurde, riefen Kommentatoren: „Schwachsinn!“ Und Genscher wurde mit einem Maikäfer verglichen: „Seit letztem Sommer hat er gepumpt, gepumpt, gepumpt - nur geflogen ist er nicht. Genscher hat so lange gemaikäfert, bis ihm ... das Gesetz des Handelns entglitt.”46 Das „Gesetz des Handelns” ergriffen nun andere Politiker: Otto Graf Lambsdorff und Helmut Schmidt. Der Minister erklärte in aller Öffentlichkeit, die bevorstehenden Hessen-Wahlen wären ein Test auf eine Wende der FDP zur Union. Der Kanzler tadelte ihn in einer Kabinettssitzung dafür und forderte ihn zur Vorlage seiner wirtschaftpolitischen Vorstellungen auf. Am 9. September 1982 legte der Wirtschaftsminister das als „LambsdorffPapier“ bekannt gewordene „Konzept für eine Politik zur Überwindung der Wachstumsschwäche und zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit” vor. Das Papier entwickelte 44 Der Tagesspiegel, 1.101981 Solche Veränderungen lösen bei den Beteiligten tiefe Emotionen aus. So zerstritten sich die Berliner Parteimitglieder der FDP heillos, als die Mehrheit der Fraktion einen CDU-Senat unter Richard von Weizsäcker auf Wunsch der Bundesspitze und gegen den Willen des Landesparteitages tolerierte. Der Landesvorstand stellte die Fraktionsmehrheit vor ein Parteigericht. - Bei einer Fraktionsvorsitzendenkonferenz der FDP in Wiesbaden versicherten Holger Börner und sein freidemokratischer Ministerkollege, Gries, sich gegenseitig ihres persönlichen Respekts. Den Tränen nahe kündigten sie ihre Zusammenarbeit auf. Es war eine berührende Szene. 46 Wilfried Herzt-Eichenrode, Maikäfer, pump!, in: Die Welt, 2.7.82 45 45 rein marktwirtschaftliche Konzepte, die mit der SPD nicht zu realisieren waren. Der Kanzler wollte diesen Fehdehandschuh ursprünglich nicht aufgreifen und dachte daran, die Krise durchzustehen, bis mit nahender Bundestagwahl 1984 der Spielraum für die FDP immer enger würde. Dennoch kündigte er am 17. September vor dem Bundestag die Koalition überraschend auf und teilte den Rücktritt - der wie ein Rauswurf wirkte - der FDP-Minister mit. Zeitzeugen sind sich uneinig, was die Gründe für das Handeln des Kanzlers waren. Ralf Dahrendorf schreibt: „Die Historiker werden in den Prozess des Wechsels gewiss ihre eigenen Erklärungen hineintragen; aber wer die Ereignisse aus der Nähe verfolgt hat, weiß, dass sie, wie das so zu gehen pflegt, aus einer Serie von nicht ganz zufälligen Zufälligkeiten bestanden: dem Zeitpunkt des Lambsdorff-Papieres zur Wirtschaftspolitik, dem plötzlichen Adrenalinstoß in Helmut Schmidt und ähnlichem mehr.“47 Demgegenüber meint Günter Verheugen: Schmidt „wollte sich mit seiner Regierung nicht auf dem Rost braten lassen, bis er nach Meinung der FDP gar war.“48 Schmidt warb nach Art. 68 des Grundgesetzes für Neuwahlen, die stattfinden könnten, wenn eine Vertrauensfrage des Kanzlers negativ beschieden würde. Von nun an setzte in der völlig mutlosen und zerstrittenen FDP eine Serie der Niederlagen bei Landtagswahlen sein. Die vom Kanzler des „Verrats“ gescholtene FDP fiel nacheinander in Hessen, Bayern und anderen Bundesländern unter die Sperrklausel. Der Rettungsanker war, dass sich in der Union die Meinung Helmut Kohls durchsetzte, den Neuanfang nicht über Neuwahlen zu beginnen, sondern über ein konstruktives Misstrauensvotum. Die „Koalitionsverhandlungen”, die die FDP daraufhin mit der Union führte, waren in Wahrheit Kapitulationsverhandlungen. Die Union verwehrte dem als sozial-liberal eingestuften und zurückgetretenen Innenminister Gerhart Baum nicht nur die Rückkehr in sein Amt; sie akzeptierte ihn auch nicht als Mitglied der FDP-Verhandlungsdelegation. Die FDP gehorchte und stimmte schließlich dem Verhandlungsergebnis mit knappen Mehrheiten zu: In der Fraktion gab es 32 Ja- und 20 Neinstimmen bei zwei Enthaltungen, im Bundesvorstand eine 18:17-Mehrheit. Mit den Stimmen einer FDP-Mehrheit und gegen die Stimmen der Sozialdemokraten und einer FDP-Minderheit wurde Helmut Kohl am 1. Oktober 1982 anstelle von Helmut Schmidt zum Bundeskanzler gewählt. Die sozial-liberale Koalition war zu Ende. Die SPD ging in die Opposition. In der FDP gab es auf dem Berliner Parteitag im November 1982 ein dramatisches Nachspiel zur in Bonn 47 48 Ralf Dahrendorf, Die Chancen der Krise. Über die Zukunft des Liberalismus, Stuttgart 1983, S. 44 Günter Verheugen, a.a.O., S. 135 46 vollzogenen „Wende“. Die dezidiert sozial-liberale Seite des Parteienspektrums formierte sich und postulierte drei Ziele für den Bundesparteitag: „ - klare Missbilligung des Koalitionswechsels und des ganzen Vorgehens, - personelle Erneuerung (Genscher muss weg), - programmatische, radikal-liberale Perspektiven”. Der eher konservative Uwe Ronnebuger aus Schleswig-Holstein sollte Hans-Dietrich Genscher als Parteivorsitzenden ablösen. Bei der Wahl zum Bundesvorsitzenden erhielt Genscher jedoch 222 Stimmen, Ronneburger 169. Die Linksliberalen konnten sich auf dem Parteitag nicht durchsetzen. Die Bundestagsabgeordnete Ingrid Matthäus-Maier kündigte daraufhin wie weitere Delegierte ihren Austritt aus der FDP und ihren Beitritt zur SPD an. Es gab dramatische Szenen. Man sprach vom „Parteitag der Tränen“. Damals und in der folgenden Zeit verließen etwa 15000 Mitglieder die FDP, von denen 2 000 SPD-Mitglieder wurden. Mittelfristig wurde dieser Abgang durch Neueintritte von Maklern, Rechtsanwälten, Handwerksmeistern und mittleren Unternehmern kompensiert, die die FDP in ihrer Not an der Seite der CDU stabilisieren wollten. Die FDP wurde im Unionslager zur „Partei der zweiten Wahl“. Auf der anderen Seite etablierten sich die Grünen im Parteiensystem neu. Man sprach von zwei Lagern im deutschen Parteiensystem: Die CDU/CSU und die FDP auf der einen, die SPD und die Grünen auf der anderen Seite. 47 5. Die ausgebliebene geistig-moralische Wende in der Ära Kohl Der Wechsel ins andere Lager wurde der FDP als „Verrat” angekreidet. Waren doch ihre Abgeordneten nach dem Slogan für eine Regierung „Schmidt/Genscher“ in den Bundestag gekommen. Auch Konservative nahmen den Liberalen den Wechsel nicht ab. So schrieb Golo Mann in der „Weltwoche“: „Dreizehn Jahre lang habt ihr alles mitgemacht und gutgeheißen, und plötzlich war alles falsch, plötzlich seid ihr die Gegner derer, deren Freunde ihr gestern noch wart, und die Freunde derer, deren Gegner ihr gestern noch wart.” Nur um seinen Ministerposten zu retten, sei Genscher zur Union gewechselt.49 In Umfragen war die Wählergunst der Liberalen auf 2,3% gesunken. Dennoch setzte der neue Kanzler Kohl gegenüber der FDP durch, dass alsbald Neuwahlen stattfinden sollten, um den Machtwechsel durch die Wähler legitimieren zu lassen. Die FDP hätte damit gerne etwas gewartet, aber die Wahlen sollten schon im März sein. Sie brachten der CDU/CSU eine glänzende Bestätigung ihrer Führungsrolle, und die FDP - die zuvor reihenweise aus den Landtagen geflogen war zog als ihr Anhängsel wieder in den Bundestag ein - im Huckepack, wie die Differenz zwischen 2,8% und 7,0% bei Erst- und Zweistimmen zeigt.50 Als neue Partei zogen die Grünen 1983 zum ersten Mal in den Deutschen Bundestag ein. Die Bundestagsfraktion wurde das neues Kraftzentrum innerhalb der Partei und prägte das Bild der Grünen nach innen und außen erheblich. Die ersten Fraktionssprecher waren Marieluise Beck-Oberdorf, Petra Kelly und Otto Schily. Über die Startphase im Deutschen Bundestag schreibt Hubert Kleinert: „Schon der Einzug der neuen Fraktion in den Bundestag ... vollzog sich unter spektakulären Begleitumständen. Morgens um neun versammelte sich eine bunte Schar von Menschen auf einem Platz mitten in Bonn. Unter ihnen befanden sich die frischgebackenen Abgeordneten der neuen Fraktion. Gemeinsam zog man mit Blumen, Topfpflanzen und einer überdimensionierten Weltkugel zum Regierungsviertel, wo die Abgeordneten dann symbolisch von der Basis in den Bundestag verabschiedet wurden. Durch eine solche Inszenierung kamen die Kamerateams aus aller Welt so richtig auf ihre Kosten.“51 Auch innerhalb des Plenums war der Neuigkeitswert der Grünen so groß, dass deren Abgeordnete bisher Außerparlamentarisches über die Friedens- und Sexualphilosophie wenig gekonnt vortragen mochten und dennoch Aufmerksamkeit erzielten. Die Grünen waren ein Medienereignis. Die nunmehr auch von den Wählern legitimierte neue Bundesregierung hatte nach der Zeit sozial-liberaler Reformen eine Rückkehr zu den vermeintlichen Tugenden der Adenauer-Zeit Golo Mann, “Man hätte nicht tun dürfen, was man am 1. Oktober in Bonn tat”, in: Weltwoche, 6.10. 1982 Karlheinz Niclauß, a.a.O. 51 Hubert Kleinert, Aufstieg und Fall der Grünen. Analyse einer alternativen Partei, Bonn 1992, S. 37 49 50 48 versprochen. Die tragenden Werte dieser neokonservativen geistig-politischen Führerschaft sollten Freiheit, Leistung und Selbstverantwortung sein. Doch trotz des guten Starts zeigte sich in der Mitte der Legislaturperiode, dass es nicht gelingen wollte, die Arbeitslosenquote zu senken. Im Mai 1985 lag diese Quote bei 8,% - das waren 2 192 627 Arbeitslose. Und wieder präsentierte die Politik das alte Bild: Während in der CDU/CSU die Neigung zur Verabschiedung staatlicher Beschäftigungsprogramme stieg, lehnte die FDP diesen Weg ab und forderte marktwirtschaftliche Lösungen. Die Hauptwidersacher der FDP in der Koalition waren die Sozialausschüsse und die CSU. Ein anderes „geerbtes“ Thema konnte dagegen von der Koalition rasch erledigt werden - die Stationierung neuer amerikanischer Mittelstreckenraketen („Nachrüstung“) in der Bundesrepublik. Trotz heftigsten Widerstandes der breiten Friedensbewegung stimmten die Koalitionsabgeordneten im November 1983 der Nachrüstung zu. So sehr sich die FDP in der neuen Koalition wirtschaftspolitisch fast dogmatisch marktwirtschaftlich gebärdete, so verstand sie sich in der Außen- und Ostpolitik als Garant der Kontinuität. Die Westbindung der Bundesrepublik, die Stärkung der europäischen Zusammenschlüsse und der vertragliche Interessenausgleich mit dem Osten waren die Säulen dieser Politik. In der Deutschland- und Ostpolitik begab sich die Union, die einst die Ostverträge bekämpft hatte, auf eine Linie der Kontinuität. Gelegentliche Ausbrüche des Bundeskanzlers, der beispielsweise der Landsmannschaft der Schlesier sein Erscheinen auf einem Treffen zugesagt hatte, oder seine Querelen mit dem französischen Staatspräsidenten halfen dem immer mehr in die Rolle des deutschen Chefdiplomaten hineinwachsenden Außenminister Genscher, sich als Kraft der Vernunft zu profilieren und seine Popularität zu steigern. Es ist erstaunlich, wie aus dem „Verräter“ von 1982/83 bald einer der populärsten Politiker Deutschlands wurde. Die Zuständigkeit für die Innenpolitik war von der FDP unter Gerhart Baum nunmehr auf die CSU unter Friedrich Zimmermann übergegangen. Es wurde ein Abbau des Rechtstaates und eine Vernachlässigung der Umweltpolitik befürchtet. Doch Zimmermann setzte die Katalysatoren-Pflicht für Autos durch und gab zunächst der FDP Gelegenheit, sich etwa beim Demonstrations-strafrecht oder in der Ausländerpolitik gegen die etatistische Union als „Bremser“ zu profilieren. Langfristig verlor sie jedoch diese Rolle, weil die Union bei Fragen wie dem Asylrecht die SPD auf ihre Seite zog und es nun auf die FDP nicht mehr ankam. Immer öfter musste die FDP spüren, wie sehr ihr Spielraum eingeschränkt war. Insgesamt war die Wahlperiode zwischen 1983 und 1987 nicht besonders glanzvoll. Zwar war die DM stark wie nie, schienen die öffentlichen Haushalte weitgehend konsolidiert, und 49 Exporte erreichten Rekordhöhen, - aber das Versprechen einer geistig-politischen Führung konnte die Bundesregierung nicht einhalten. Die SPD und die „Grünen“ hatten die absolute Mehrheit der Wähler unter 45 Jahren hinter sich, während bei den über 60jährigen die Union der Favorit war. Spannender und interessanter als im neokonservativen Lager ging es im grünsozialdemokratischen Lager zu, wo die Richtungsstreite tobten und in der SPD die Meinungen zu rot-grün als politischer Alternative geteilt waren. Der CDU/CSU brachen traditionelle Wähler weg, so auf dem Lande, wo die EG-Agrarpolitik enttäuschte. Hinzu kam eine weitgehende Unlust an der Politik in der Bevölkerung, so dass der Anteil der Nichtwähler stieg. Selbst in parteinahen Publikationen wird 1987 als „Krisenjahr der CDU“52 bezeichnet. Für die Union war das Wahlergebnis von 1987 schlecht: Es war das schwächste seit 1949.53 Im Herbst des gleichen Jahres brach die „Barschel-Affäre“ über die Union herein. Der CDUMinisterpräsident von Schleswig-Holstein, Uwe Barschel, hatte seinen sozialdemokratischen Gegenspieler, Björn Engholm, mit Hilfe der Staatskanzlei übel diffamieren lassen („Barschels schmutzige Tricks“, so „Der Spiegel”), diesen Tatbestand bis zu einer „Ehrenwort“Pressekonferenz geleugnet, war anschließend ins Ausland gereist und wurde am Ende tot in einer Badewanne eines Genfer Hotels aufgefunden. Zuvor hatte der „Flick-Skandal” die moralische Glaubwürdigkeit der Koalition erschüttert. Flick hatte mit Geldzuwendungen an die Parteien ihm steuersparende Leistungen auch in den Ländern erkauft. In der Sprache des Flick-Konzerns war das eine „Pflege der Landschaft”. 1983 hatte die SPD im Bundestag einen Flick-Untersuchungsausschuss beantragt. Helmut Kohl, der selbst Geldbeträge angenommen hatte, sagte vor dem Ausschuss falsch aus. Heiner Geißler entschuldigte das mit einem „Blackout“. 1984 begann vor dem Bonner Landgericht ein Prozess gegen Bundeswirtschaftsminister Graf Lambsdorff und seinen Vorgänger Hans Friderichs, ebenfalls FDP-Mitglied. Mit Prozessbeginn trat der Minister zurück. Das Gericht sah den Tatbestand der Beamtenbestechung und des Zusammenhanges von Leistungen für die FDP und Steuerbefreiungen als erwiesen an. Es verurteilte die Politiker sowie den ehemaligen Generalbeauftragten des Flick-Konzerns, von Brauchitsch, zu Geldstrafen: Lambsdorff und Friderichs zu je 180 00 DM, Brauchitsch zu 550 000 DM. Außerdem war der Verdacht aufgekommen, Rainer Barzel habe 1973 den CDU-Vorsitz für Helmut Kohl geräumt, nachdem er von Flick 1,6 Millionen DM erhalten habe. Nach diesen Vorwürfen trat Barzel vom Amt des Bundestagspräsidenten am 26.10.1984 zurück. Dietrich Thränhardt schreibt, es 52 53 Konrad -Adenauer-Stiftung (Hg.), Kleine Geschichte der CDU, Stuttgart 1995, S. 156 Karlheinz Niclauß, a.a.O. 50 sei der „Eindruck des Bauernopfers“ entstanden, „da Kohls alter Rivale Barzel zurücktreten musste, während Kohl im Amt blieb.“54 Der CDU-Vorsitzende und Bundeskanzler versuchte es mit einer Reform der CDU als „Volkspartei der Mitte“: Das Erbe von Konrad Adenauer und Ludwig Erhard sollte bemüht werden. Aber die innerparteiliche Unzufriedenheit verging nicht. Bei einem Bundesparteitag im Herbst 1988 erzielte Kohl ein schlechtes Ergebnis bei der Vorsitzendenwahl. Innerhalb der Partei traten Meinungsverschiedenheiten zu diversen Fragen auf. Es ging um so unterschiedliche Themen wie die Abtreibungsfrage, um Südafrika oder auch um die von der Regierung geplante Quellensteuer. Die Fraktion unter Alfred Dregger forderte gegenüber der Parteizentrale unter Generalsekretär Heiner Geißler mehr Einfluss. Der Ernst der Lage für die Koalition insgesamt wurde deutlich, als bei den Abgeordnetenhauswahlen in Berlin im Januar 1989 eine Abwahl der dortigen CDU/FDP-Koalition erfolgte, sich eine Mehrheit für rot-grün herausbildete, die FDP unter der 5-%-Grenze blieb und die rechtsradikalen „Republikaner“ in das Parlament einzogen. In der Folge kam es in der Union zu Personaldiskussionen auch um Helmut Kohl. Doch dieser setzte sich erneut durch. Er trennte sich von Heiner Geißler als Generalsekretär, der dieses Amt zwölf Jahre wahrgenommen hatte. An dessen Stelle schlug er Volker Rühe vor. Auf einem Parteitag im September 1989 in Bremen wurden Kohl und Rühe bestätigt. In dieser Zeit erreichte die Bundesrepublik zwar den höchsten Beschäftigungsstand ihrer Geschichte (29 Millionen Erwerbstätige), aber die Zahl der Arbeitslosen blieb bei 2 Millionen. Auf dem Ausbildungssektor sprach die Opposition von einer „Lehrstellenkatastrophe“, obwohl immerhin 700 000 Lehrstellen vorhanden waren. Erste Ansätze zur Steuer- und Gesundheitsreform wurden unternommen, erwiesen sich aber doch bestenfalls als Zwischenlösungen. All diese Widersprüchlichkeiten hatten zur Folge, dass das Ansehen der Union und des Kanzlers in der Bevölkerung nicht hoch waren. Da kamen der Zusammenbruch des Ostblocks und die deutsche Wiedervereinigung. Bundeskanzler Kohl begriff mit Hans-Dietrich Genscher nach anfänglichem Zögern die Chance zur Vereinigung und nutzte sie in Verhandlungen und der Ausarbeitung eines Vereinigungskonzeptes. Kohl, an dem Freund und Feind genörgelt hatten, der als „Birne aus Oggersheim“ Verspottete, wurde der „Kanzler der Einheit“ und schlug bei den ersten gesamtdeutschen Wahlen seinen Herausforderer Oskar Lafontaine, der auf die Risiken der 54 Dietrich Thränhardt, Geschichte der Bundesrepublik Deutschland. Erweiterte Neuausgabe, Frankfurt am Main 1996, S 276 51 Vereinigung hingewiesen hatte.55 Die Wiedervereinigung hatte Kohl die Kanzlerschaft gerettet, vor allem durch den großen Zulauf im Osten. Die Bundesregierung unter Kohl hatte die politische Entscheidung getroffen, die Wiedervereinigung gegen alle politischen, sozialpsychologischen und ökonomischen Hemmnisse durchzusetzen. Dass Helmut Kohl und Hans-Dietrich Genscher sich dabei gegen Widerstände aus London und Paris, gegen Unlust bei der Mehrheit der Westdeutschen, gegen Befürchtungen bei einer Minderheit der Ostdeutschen und gegen allen ökonomischen Sachverstand - wie er zum Beispiel vom Präsidenten der Deutschen Bundesbank artikuliert wurde - durchsetzte, ist auf der einen Seite zweifellos als staatsmännische Leistung zu werten, bescherte der nun im vereinten Deutschland regierenden Koalition aber große innere Probleme. Wahrscheinlich hatte der Kanzler in der Wiedervereinigungseuphorie tatsächlich geglaubt, sehr bald würden im deutschen Osten „blühende Landschaften“ entstehen. Dass tatsächlich Transferleistungen in Milliardenhöhe von West nach Ost über zehn Jahre und mehr hinweg zu leisten wären, dass Stillegungen ganzer Industriestandorte kommen würden, Arbeitslosigkeit und weitere Abwanderungen aus dem Osten, damit mussten sich der „Kanzler der Einheit“, seine Regierung und das gesamte Parteiensystem seither ohne durchgreifenden Erfolg herumschlagen. Die während der revolutionären Ereignisse in der DDR im Jahre 1989 erfolgten eigenständigen Entwicklungen vom Blocksystem hin zum Pluralismus der letzten Volkskammer wurden schon sehr früh von den Westparteien gesteuert und mündeten nach der Wiedervereinigung ein in die Strukturen des alten westdeutschen Parteiensystems. Zu Recht bemerkt Ulrich von Alemann: „Angesichts dieser dramatischen Veränderungen ist es kaum zu fassen, wie wenig sich an den Grundstrukturen der deutschen Politik und des Parteiensystems an der Oberfläche geändert hat.”56 Die Großparteien CDU und SPD haben sich ebenso wie die FDP auf den Osten ausgeweitet, wobei die SPD mit einer ostdeutschen sozialdemokratischen Neugründung fusionierte, während die bürgerlichen Parteien ohne großes Federlesen die ihnen adäquaten ehemaligen Blockparteien schluckten. Die größten Schwierigkeiten hatten die Grünen und Bündnis 90 miteinander. Hinzugekommen war die SED-Nachfolgepartei PDS. Dass die politischen Parteien nach der Vereinigung keine Konzeptionen für die Gestaltung des vereinten Deutschlands hatten, wurde sehr deutlich bei der Entscheidung über die Hauptstadt. Auffallend dabei ist, dass die politischen Parteien, die doch sonst überall mitreden und bestimmen wollen, keine eigenen Positionen entwickelt hatten. Sie überließen es ihren 55 56 Karlheinz Niclaus, a.a.O. Ulrich von Alemann, a.a.O., S.23 52 Abgeordneten, am 20. Juni 1991 ihrem „Gewissen“ folgend zu entscheiden. Auch nach der Abstimmung hat keine politische Partei ein klares Programm dazu entwickelt, wie der Umzug erfolgen sollte und wie man sich auf die neue Lage einstellen wollte. Das meiste wurde der Regierung oder Ausschüssen und Kommissionen überlassen, die zwischen verschiedenen Interessen lavierten. Die Ausnahme war die PDS, die als ostdeutsche Regionalpartei mehrheitlich für einen schnellen Umzug war und erwartete, dass im vereinten Deutschland die Erfahrungen und Interessen der Ostdeutschen stärker berücksichtigt würden. Das noch von Alemann diagnostizierte Kontinuität des Parteiensystems über die Vereinigung hinaus erfolgte allenfalls an der Oberfläche. Darunter taten sich bislang unbekannte Strukturen und Probleme auf, auf die das Parteiensystem der Berliner Republik reagieren musste. 1. Es besteht über Jahre hinweg eine strukturelle Arbeitslosigkeit, von der mehrere Millionen Menschen betroffen sind. Weder die Regierung Kohl noch die Regierung Schröder konnten daran etwas ändern. Auch die zweite große Koalition unter Angelas Merkel scheint hier nicht entscheidend voran zu kommen.Das zweite Kabinett Schröder versuchte, auf der Grundlage der Hartz-Kommission und mit einem „Superminister“ nach dem Vermittlungsverfahren vom Dezember 2003 hierbei erfolgreicher zu sein. Insgesamt droht dennoch die Gefahr, dass die Bürger der Glauben an die Garantie allgemeinen Wohlstands durch das Parteiensystem endgültig verlieren. Damit entfiele eine der klassischen Legitimationsgrundlagen dieses Systems. 2. Es bestehen seit der Vereinigung zwei politische Kulturen in Deutschland. Wie sollte es anders sein, nachdem die politische Sozialisation in Ost und West bei wichtigen Werten geradezu gegensätzlich verlaufen war? Wurden im Westen Leistung und Durchsetzungsfähigkeit als grundlegende vermittelt, so waren es im Osten Gemeinschaft und soziale Sicherheit. War von Westen aus New York der Mittelpunkt der Welt, so war es vom Osten her Moskau. Der Osten sollte sich dann an den Westen anpassen. Das führte zu unterschiedlichen Verarbeitungsprozessen: Die Systemkritiker im Untergang des Staatskommunismus verabsolutierten ihre in der Wende gemachten Erfahrungen und sind seitdem für westliche Verhältnisse ungewohnt rigoros und unerbittlich in der Verteufelung der Machtträger des alten Systems. Die Verlierer und die sich missverstanden Fühlenden aus dem alten System wollten ihre eigene Identität „einbringen“ und machten die PDS stark. Die meist bei den Grünen gelandeten Rigoristen aus dem Osten und die PDS waren neue Elemente im Parteiensystem. Über fünfzehn Jahre nach der Wiedervereinigung sind ernste Bemühungen in den Parteien zu erkennen, sich stärker für die Befindlichkeiten im Osten zu öffnen: Die 53 ostdeutsche Parteivorsitzende Angela Merkel weitete ihre innerparteiliche Macht aus und wurde 2005 Deutschland erste Kanzlerin. Die SPD präsentierte mit Matthias Platzeck vorübergehend ebenfalls einen „Ostler“ an ihrer Spitze. Dieser gab jedoch überraschend schnell wieder auf. 3. Das alte Zweieinhalb-Parteiensystem gehört der Vergangenheit an. Nach den Grünen schaffte die PDS den Einzug in den Bundestag, indem sie die Sperrgrenze überwand. Sie versucht, sich langfristig als „Linkspartei“ gesamtdeutsch zu etablieren. Die FDP hat ihre Monopolstellung als Mehrheitsbeschaffer verloren und irrlichtert seitdem bei der Suche nach ihrem Standort. 4. Das mühsam dem Bundesverfassungsgericht abgetrotzte System der staatlichen Parteienfinanzierung geriet mehr und mehr ins Wanken: Wissenschaft und Öffentlichkeit erkannten, dass von der Kommune bis zum Bund über direkte Zuschüsse an die Parteien, indirekte Finanzierungen an Stiftungen und Fraktionen sowie an Diätenzahlungen ein ganzer Strauß der Zuschüsse aus öffentlicher Hand gebunden worden war, der nun kritisch beäugt wird. Die nach 1998 bekannt gewordenen Spendenskandale der CDU und der SPD sowie die finanzielle Seite der Möllemann-Affäre bei der FDP belegen, dass staatliche Mitfanzierung der Parteien diese keineswegs gegen die Gier nach privaten Zuwendungen immunisiert. 5. Der alte Glaube, dass man die Macht mit Hilfe der Umfrageforschung und eines professionellen Wahlkampfes erhalten kann, ist dahin. Die Möglichkeiten, aber auch die Grenzen der Umfrageforschung sind herausgearbeitet. Vor allem ist bekannt, dass eine noch so ausgetüftelte Fragetechnik immer nur Simulation sein könne: Das tatsächliche Verhalten in der Sekunde, in der ein Wähler in der Kabine sein Kreuzchen auf dem Wahlzettel schreibt, kann nicht vollkommen antizipiert werden. Viel schwieriger noch ist es, die Wirkung von Werbemaßnahmen wie Plakate, Filme, Kampagnen in der so vielfältigen Gesellschaft genau zu berechnen. 6. Auf dem Höhepunkt der Ära Adenauer galt der Satz „Macht hält Macht“. Danach kam der Machtwechsel. Zwar erreichte die „Machtmaschine“ Kohl Mitte der neunziger Jahre Adenauersche Dimensionen, doch die Abwahl 1998 lehrte, dass jede Macht zerbröselt. Und vor der Zeit – 2005 statt 2006 – implodierte das rot-grüne Projekt und machte Platz für Deutschlands zweite große Koalition nach 1945. Doch trotz dieser schon Mitte der neunziger Jahre erkennbaren Defizite behauptete sich das alte System noch einmal bei der zweiten gesamtdeutschen Bundestagswahl57 - aus Mangel an Alternativen. Die Ära Kohl war zwar formal nicht zu Ende, aber die Probleme türmen sich 57 Karlheinz Niclauß, a.a.O. 54 über den „Kanzler der Einheit“: Eine Steuerreform wurde nicht umgesetzt. Der Staatshaushalt war weniger in Ordnung als zu Schmidts Zeiten. Die Arbeitslosenzahl waren so hoch wie nie. Die eigenen Mitstreiter wie der Bundesfinanzminister Theo Waigel verloren die Lust am Geschäft. Das Wort vom „Reformstau“ machte die Runde. 1998 war Wechselstimmung. Helmut Kohl hatte sie nicht erkannt, weder innerparteilich noch allgemein. Wieder einmal klammerte sich einer so lange an die Macht, bis sie ihm entrissen wurde. Gerhard Schröder, der damalige Liebling der Bosse und der Bild-Zeitung, personifizierte mit seinem linken Tandem Oskar Lafontaine den Wechsel und wies Kohl den Weg aus dem Kanzleramt.58 Noch in Bonn wurde die erste rot-grüne Bundesregierung installiert. Doch die Residenz am Rhein wurde abgewickelt. 1999 zog die Hauptstadt nach Berlin um. Etwas mehr als vier Jahre regierten Gerhard Schröder und Joschka Fischer in Berlin. Die Union kam wieder an die Macht, und die SPD wurde ihr Juniorpartner. 58 Nach: Statistisches Bundesamt 55 6. Die unerwartete Einheit: Zwei politische Kulturen? a) Wissenschaft „Der Mangel an gebildeten, staatsverbundenen, mit den einheimischen Verhältnissen vertrauten Beamten, der Wunsch, die Stadt an der Oder wirtschaftlich weiter zu fördern, und die Absicht, die außenpolitische Geltung Brandenburgs in der Niederlausitz und in Schlesien, in Pommern und Polen zu erhöhen, veranlaßten Kurfürst Joachim I. 1506 zur Errichtung der ersten, dem Leipziger Modell folgenden brandenburgischen Landesuniversität in Frankfurt. Ihr Schwerpunkt lag in der Juristenfakultät." Heinz Kathe schreibt das in einer Kulturgeschichte Preußens und erinnert damit an die Gründung der Viadrina. 59 Wie gründete man fast 500 Jahre später ohne einen Kurfürsten in zwei Jahren drei Universitäten, fünf Fachhochschulen und einige Forschungsinstitute? Nach der westdeutschen Bildungsreform in den siebziger Jahren hätte jeder Kenner auf diese Frage geantwortet: „Gar nicht, weil es unmöglich ist." Doch zumindest in Brandenburg schien das Undenkbare in der Aufbauphase des Landes erreichbar geworden zu sein. Der Einigungsvertrag hatte eine rasche Erneuerung der Wissenschaftseinrichtungen der ehemaligen DDR vorgesehen. Sie sollten auf ihre Leistungsfähigkeit hin überprüft werden. Die „Brandenburgische Landeskommission für Hochschulen und Forschungseinrichtungen" resümierte im April 1993: „Im Oktober 1990 gab es in Brandenburg vier Hochschulen: die aus der pädagogischen Hochschule „Karl Liebknecht" hervorgegangene Brandenburgische Landeshochschule in Potsdam, die aus der Ingenieurschule Cottbus hervorgegangene Hochschule für Bauen in Cottbus, die aus der Akademie für Staats- und Rechtswissenschaft der DDR hervorgegangene Hochschule für Recht und Verwaltung in Potsdam-Babelsberg und die Hochschule für Film und Fernsehen „Konrad Wolf" in Potsdam-Babelsberg. ... An Instituten der Akademie der Wissenschaften wies das Land auf: die Zentralinstitute für Astrophysik und Physik der Erde in Potsdam, die Institute für Ernährung in PotsdamRehbrücke, für Hochenergiephysik in Zeuthen und für Halbleiter-Physik in Frankfurt/Oder." Nicht erwähnt hatte die Landeskommission die kleineren Institute der „Akademie der Wissenschaften der DDR" („AdW") in Caputh („Einsteinlaboratorium"), Niemegk (Erdmagnetismus), Potsdam (Hochdruckphysik) sowie die dann beim brandenburgischen Landwirtschaftsminister verwalteten Institute der „Akademie der Landwirtschaftswissenschaften" („AdL") . Insgesamt waren in Brandenburg 1990 bei der AdW 727 und bei der AdL 775 Wissenschaftler beschäftigt. Beide Akademien warten zentralistisch organisiert. 59 Heinz Kathe, Preußen zwischen Mars und Museen. Eine Kulturgeschichte von 1100 bis 1920, München/Berlin 1993 56 Dass die Umwandlung der Wissenschaftseinrichtungen der DDR von dort aus gewollt und keineswegs im Zuge der Übernahme vom Westen aufgestülpt wurde, zeigen die Schlussfolgerungen einer Denkschrift, die ein „Fachausschuss Wissenschaft/außeruniversitäre Forschung" im Oktober 1990 vorgelegt hatte. Dieser Fachausschuss war eingesetzt worden vom Ressort für Kultur, Wissenschaft und Bildung der damaligen Bezirksverwaltungsbehörde Potsdam. Die Unterschiede zwischen der Forschung in der DDR und der öffentlich geförderten Forschung in Westdeutschland wurden wie folgt gesehen: - Die DDR-Forschung sei stärker vermischt gewesen mit Ressort- und Industrieforschung, - es habe in der DDR kaum eine Anbindung an die Universitäten und keinen zügigen Personalaustausch gegeben, - im Osten hätten Technologie-Parks und An-Institute als Scharniere zwischen Forschung und Wirtschaft gefehlt, - in der DDR sei der Anteil fest angestellter Mitarbeiter sehr hoch gewesen, und - es hätte dort viel zu stark ausgebaute technische Dienste, beispielsweise beim Gerätebau, gegeben. Im Ergebnis der Überprüfungen wurden die brandenburgischen Forschungsinstitute zum großen Teil als Einrichtungen der westdeutschen Trägerinstitutionen der Forschung wie der Max-Planck-Gesellschaft, der Deutschen Forschungsgemeinschaft, der Fraunhofer- Gesellschaft oder als vom Bund geförderte „Blaue- Liste-Institute" weitergeführt. Meist erhielten sie einen Status als zeitlich begrenzte Arbeitsgruppen oder als Außenstellen westdeutscher Zentralen. Bei Berufungen wurde auf eine Anbindung an die Hochschulen geachtet. Teilweise hatten die brandenburgischen Forschungsinstitute auch international einen ausgezeichneten Ruf. Das galt zum Beispiel für die Astrophysik. Die aus den „Königlichen Observatorien für Astrophysik, Meteorologie und Geodäsie bei Potsdam"60 hervorgegangene Forschungseinrichtung auf dem Telegraphenberg hätte durchaus wieder ein zentrales Forschungsinstitut werden können. Aber der Vorschlag, Einrichtungen aus Süddeutschland dazu nach Potsdam zu verlagern, erzeugte bei den Mitarbeitern im Süden der Republik helles Entsetzen. Das Vorhaben wurde fallengelassen, und Potsdam bekam die Zentrale nicht. An den Hochschulen waren in Brandenburg 1990 215 Professoren und Dozenten für 6897 Studenten tätig. Der Quotient Studentenzahl zu Bevölkerung betrug in diesem Land 0,27 %. In Sachsen-Anhalt war diese Relation 0,71 % und im Durchschnitt der alten Bundesländer 2,54 %. Wie alle Hochschulen in der DDR hatten auch die Brandenburgischen einen hohen 60 Die Königlichen Observatorien für Astrophysik, Meteorologie und Geodäsie bei Potsdam. Aus Amtlichem Anlass Herausgegeben Von Den Beteiligten Directoren, Berlin 1990 57 Anteil fest angestellter Wissenschaftler, und sie waren strikt getrennt von den Forschungseinrichtungen. Die allgemeinen Schwächen der Hochschulen in der DDR und mehr noch die magere Ausstattung des Landes mit Hochschulen waren die Hauptgründe für die Errichtung von Universitäten und Fachhochschulen im Lande. Im „Vertrag zur Bildung der Landesregierung Brandenburg in der ersten Legislaturperiode des Landtages 1990 - 1994", dem Vertrag der Ampelkoalition also, heißt es dazu noch sehr vorsichtig: „Ein Landeshochschulgesetz wird vorbereitet. Die Gründung einer Landesuniversität Brandenburg sowie von Fachhochschulen wird angestrebt. Die Standortfragen werden im Rahmen der Landesentwicklung entschieden." Sollte es eine Landesuniversität geben oder mehrere, das war eine der Streitfragen im Zuge der Regierungsbildung 1990. Eine Landesuniversität mit möglicherweise mehreren Standorten würde das Land verkraften können und hätte bei der Wissenschaftswelt angesichts der Unterausstattung der neuen Landes und der Konzentration von Hochschulen in Berlin breite Unterstützung gefunden. Mit der Berufung Hinrich Enderleins zum Wissenschaftsminister war die Entscheidung für gleich drei Universitäten verbunden. Potsdam, Frankfurt an der Oder und Cottbus sollten ihre Universitäten bekommen. Daneben sollten fünf Fachhochschulen gegründet werden. Im 1957 von Bund und Ländern gegründeten Wissenschaftsrat, einem Fachgremium zur Bewertung von Hochschul- und Forschungsplanungen, wurde diese Linie anfangs als maßlos kritisiert. Hier hätte man es lieber gesehen, Brandenburg hätte sein Hauptgewicht auf die Fachhochschulen gelegt und somit auf die Ausbildung von Studenten mit günstigen Berufsperspektiven. Insbesondere die beabsichtigten Gründungen in Cottbus und Frankfurt an der Oder wurden in Zweifel gezogen. Die Landesregierung und der Wissenschaftsminister konnten dagegen ihre Position nur halten mit dem Konzept von Mini-Universitäten an der Oder und in der Lausitz. Auf ganze Fächergruppen wurde verzichtet, und Brandenburg machte wieder einmal aus der Not eine Tugend. Nach dem Motto „Small is beautifull" versprach man der akademischen Jugend „studierbare" Universitäten. Im Osten Deutschlands beherrschten Ende 1990 zwei Begriffe die Wissenschaftswelt: „Evaluation" und „Abwicklung". Der Wissenschaftsrat nahm seine Überprüfungsaufgaben wahr, und die Landesregierung schloss ganze Einrichtungen, die fachlich und politisch keine Zukunft haben würden. In Brandenburg wurde die politisch belastete Akademie für Staats- und Rechtwissenschaft, die vergebens eine Reform unter dem Namen Hochschule für Recht und Verwaltung versucht hatte, auf Beschluss der Landesregierung geschlossen. Die Bereiche Politikwissenschaft und 58 Wirtschaftswissenschaft wurden abgewickelt, die Rechtwissenschaft in die Brandenburgische Landeshochschule - die spätere Universität Potsdam - übernommen. Der Minister, der Staatssekretär und der Abteilungsleiter fuhren nach Potsdam-Babelsberg, wo Studenten und Mitarbeiter in einem überfüllten Hörsaal darauf warteten, zu erfahren, was die Landesregierung über ihre Zukunft beschlossen hatte. Nur äußerlich konnte man sich an die einstigen Vollversammlungen der Freien Universität Berlin erinnert fühlen. Die Veranstaltung in Potsdam-Babelsberg nahm jedoch einen anderen Verlauf als jene tumultösen Happenings der APO-Zeit. Der Minister erhielt das Wort und teilte nervös, offensichtlich innerlich erregt aber dennoch couragiert den Abwicklungsbeschluß der Landesregierung mit. Das Ende! Kein Sturm der Entrüstung brach los, keine Tränen flossen; es gab keine wütenden Tiraden. Nach dem schweigend zur Kenntnis genommenen Bericht des Ministers meldeten sich einige und fragten nach den Konsequenzen des Kabinettbeschlusses für bestimmte Gruppen von Hochschulangehörigen: „Was wird aus den Schreibkräften? Werden auch die alle entlassen?" Andere wieder wollten wissen: "Warum werden die Sprachlehrer in die Wüste geschickt, wo sie doch künftig an der Uni Potsdam gebraucht werden?" Studenten erkundigten sich: „Werden die bisherigen Semester jetzt annulliert, oder von den kommenden Hochschulen anerkannt?" Die Politikwissenschaftler fragten eigentlich nur noch rhetorisch: „Warum hat man uns keine Chance gegeben, wir hatten doch schon ein Reformmodell entwickelt?" Der Minister und seine Mitarbeiter konnten nicht auf jede dieser Fragen zuverlässige Antworten geben. Zur gleichen Zeit waren die ersten Evaluierungskommissionen in Brandenburg eingetroffen. Der Wissenschaftsrat hatte sie eingesetzt, und ihre Aufgabe war es, Hochschul- und Forschungseinrichtungen zu begutachten und Empfehlungen für die Zukunft abzugeben. Eine Kommission begutachtete die in Brandenburg ansässigen Fachschulen, um zu sagen, welche von ihnen in Fachhochschulen umgewandelt werden könnten. Seit Gründung des Wissenschaftsministeriums in Potsdam hatte auf diesem ein großer Druck der Fachschulen gelegen, deren Lehrer hofften, ihre berufliche Zukunft als Fachhochschulprofessoren zu sichern. Gebetsmühlenartig wurden diesen Lehrern und ihren Schülern immer wieder gesagt: „1. muss der Wissenschaftsrat Eure Umwandlung empfehlen, 2. muss das Land sich diese Empfehlung zueigen machen und 3. werden dann Hochschullehrerstellen ausgeschrieben; es gibt keinen Übernahme-Automatismus von Fachschullehrern zu Fachhochschullehrern." Dennoch blieb der Druck groß; viele Lehrer hofften, dass alle diese Voraussetzungen eintreffen und sie am Ende der Ruf an eine neu gegründete Fachhochschule ereilen würde. 59 Die Kommission reiste durch das Land und besichtigte Fachschulen. Was das Land vorhatte, wussten die Mitglieder schon: Fachhochschulen sollten in Potsdam/Brandenburg (Soziales/Technik), Wildau (Technik), in der Lausitz (Technik) und in Eberswalde (Forstwissenschaft) gegründet werden. Die Kommission kannte natürlich auch die Vorgaben des Wissenschaftsrates für die Gründung von Fachhochschulen; dort hatte man besonderen Wert auf günstige Berufschancen für Absolventen einerseits und auf die regionalen Entwicklungseffekte andererseits gelegt. So vorbereitet erschien die Kommission in den Schulen, besichtigte die Räume, sprach mit den Kollegien und begab sich zum nächsten Ort der Evaluation. Wenig später legte sie ihre Empfehlungen vor. Diese Empfehlungen waren wichtig, denn der Wissenschaftsrat machte sie sich in der Regel zu eigen. Für das Land war eine Hochschulgründung aber nur mit einer entsprechenden Empfehlung des Rates möglich, denn der Bund machte seine Mitfinanzierung vor allem beim Hochschulbau vom Rats-Votum abhängig, und die notwendige wissenschaftliche Reputation hing auch von der Position des Wissenschaftsrates ab. Entsprechend bitter war die Reaktion vor Ort, wenn die Kommission eine Einrichtung negativ bewertet hatte. Da wurde gesagt, die Kommissionsmitglieder seien durch die Räume geeilt und hätten nur oberflächlich mit den Fachlehrern parliert. Von „Kolonialherrenverhalten" war die Rede. Die Mitglieder der Kommission verteidigten sich mit ihrer Professionalität: „Wir besuchen in einer Woche teilweise zehn Einrichtungen und haben einen Blick dafür entwickelt, was geht und was nicht. Im übrigen müssen wir die Vorgaben der Landesregierung und des Wissenschaftsrates beachten." Bitterkeit blieb. Hier wie auch in der Wirtschaft, wo die Treuhand Strukturentscheidungen traf, war es für die Landesregierung günstig, dass eine Institution wie der Wissenschaftsrat die unpopulären Entscheidungen auf sich nahm. Mit dieser scheinbaren Kompetenzverlagerung konnte sie das Vertrauen auch enttäuschter Bürger bewahren. Tatsächlich hatte der Wissenschaftsrat in den Jahren der Wende ein enormes Arbeitspensum geleistet und solide Empfehlungen gegeben. Bis zur Gründung der Hochschulen mussten in Brandenburg folgende - mehr oder weniger hohe - Hürden genommen werden: 1. Die Proklamation des politischen Willens durch die Landesregierung und durch den Landtag gehörte zu den weniger schwierigen Hürden. Alle Fraktionen im Landtag versprachen sich von den Hochschulgründungen Entwicklungsimpulse für das Land. Und wenn der aus dem Bundesbildungsministerium gekommene Minister das Mammutprogramm für realisierbar hielt, dann würde es wohl auch so sein. Es war ein Leichtes, das sich eben erst 60 in seiner Rolle findendes Parlament dazu zu bewegen, schon im Mai 1991 ein „Gesetz über die Hochschulen des Landes Brandenburg" zu verabschieden. Herr des Gesetzgebungsverfahrens war in dieser Gründerzeit nicht etwa der Landtag, nicht die Regierung als Ganzes, nicht das zuständige Ministerium, sondern ein Club von drei Personen: Der Minister, der zuständige Abteilungsleiter und der Vorsitzende des Landtagsausschusses für Wissenschaft, Forschung und Kultur. Vom Minister kamen die Vorgaben und der Glaube an ihre Realisierbarkeit, vom Abteilungsleiter in Anknüpfung an seine Referententätigkeit im Bundesbildungsministerium der aus 16 bekannten Landeshochschulgesetzen destillierte 17. Text, und der Ausschussvorsitzende bugsierte das Werk durch das Parlament. Wer Beratungen über Hochschulgesetze in den alten Bundesländern gekannt und daran mitgewirkt hatte, der konnte sich nur die Augen reiben und verwundert feststellen, dass es in Brandenburg überhaupt keine Diskussion über den Gesetzentwurf gab. Den Abgeordneten war das Hochschulrecht mit den Vorgaben des Hochschulrahmengesetzes unbekannt, und eine kritische Hochschulöffentlichkeit, die beispielsweise die Themen „Gruppenuniversität" oder „Ordnungsrecht" hätte problematisieren können, gab es nicht. Es war beim Hochschulgesetz nicht anders als bei anderen grundlegenden Rechtsnormen des sich konstituierenden Bundeslandes: Es war die Stunde der Referenten aus dem Westen, die ihr Gesellenstück ablieferten und sich damit häufig die Basis schufen für leitende Posten in der brandenburgischen Verwaltung. Im § 2 des so verabschiedeten Gesetzes heißt es seitdem: „Das Land Brandenburg errichtet die Universität Potsdam, die Europa-Universität Frankfurt/Oder und die Technische Universität Cottbus. ... Das Land Brandenburg errichtet Fachhochschulen; dabei ist ein nach Aufgabenstellung, Fachrichtung, Zahl, Größe und Studenten ausreichendes und ausgeglichenes Angebot an Fachhochschulen anzustreben." 2. Mit dem Hochschulgesetz in der Hand hatte der Wissenschaftsminister die Möglichkeit, durch Verordnung die Hochschulen zu gründen und Gründungskommissionen mit Gründungsrektoren an den Spitzen einzusetzen. Bei der Suche nach geeigneten Persönlichkeiten für diese Aufgabe war Eile geboten, denn der Kreis der infrage Kommenden erhielt in dieser Zeit zahlreiche Angebote aus den neuen Bundesländern. Zur Gestaltung der Hochschullandschaft im Lande Brandenburg hatte das Land insgesamt zehn Kommissionen eingesetzt: Eine Landeskommission, eine Fachhochschulkommission, drei Gründungskommissionen der Universitäten und fünf der Fachhochschulen. Insgesamt waren in diesen Kommissionen 144 Personen, meist Wissenschaftler, tätig. Von diesen 61 Personen waren neun Ausländer, 41 Ost- und 94 Westdeutsche. Drei der zehn Vorsitzenden dieser Kommissionen waren „Ossis", mithin sieben „Wessis". Im Ministerium erfolgte die Auswahl geeigneter Personen gelegentlich per Zuruf. Für die Technische Universität Cottbus wurde der viel beschäftigte Wissenschafts-Unternehmer Prof. Günter Spur von der TU Berlin ausgewählt. Wie die anderen Gründungsrektoren der Universitäten, die Professoren Knut Ipsen (Frankfurt/Oder) und Rolf Mitzner (Potsdam) und übrigens auch die Gründungsrektoren der Fachhochschulen, leistete Spur Pionierarbeit. Ohne seine Zielstrebigkeit, seinen Einsatz und seine Überzeugungskraft wäre das Projekt TU Cottbus möglicherweise in der Gründungsphase gescheitert. Bereits Ende August 19991 beschloß der Spur zur Seite gestellte Gründungssenat der Universität Cottbus die Errichtung von fünf Fakultäten für 6 250 Studenten. Gründungsdekane wurden eingesetzt, und am 11. November 1991 fand im Staatstheater die feierliche Immatrikulation des 1. Studienganges in Anwesenheit des Ministerpräsidenten, des Oberbürgermeisters und anderer Politiker statt. Prof. Mitzner in Potsdam war übrigens der einzige Ostdeutsche unter den Gründungsdirektoren. 3. Nach der Proklamation des politischen Willens und der Ausarbeitung der Konzepte ging es ab der zweiten Jahreshälfte 1991 darum, die Ressourcen für Hochschulen im Landes zu erkämpfen. Das war eine der schwierigsten Hürden. Es wurde gerungen um Stellen, Räume und Geld. In Frankfurt/Oder herrschte mehr noch als in anderen Orten eine wahre Universitätsbegeisterung. Die beabsichtigte Neugründung der Europa-Universität knüpfte an die erste brandenburgische Universität überhaupt, die „Universitas Viadrina" an, die von 1506 bis zu ihrer Verlegung nach Breslau im Jahre 1811 in Frankfurt bestanden hatte. Die neue Frankfurter Universität sollte Ausstrahlung nach Polen und ganz Osteuropa haben. So erklärt sich der stolze Name „Europa-Universität Viadrina Frankfurt (Oder)". Für die erste Ausbaustufe waren drei Fakultäten („Kulturwissenschaften" als Innovation, Jura und Wirtschaftswissenschaften) für rund 4000 Studenten vorgesehen. Sitz der Universität sollte das ehemalige Gebäude der Bezirksverwaltung in der Innenstadt sein. Hier entstand ein Streit. Der Finanzminister suchte - wie überall im Lande, so auch in Frankfurt - Räumlichkeit für die neu errichteten Finanzämter. In Frankfurt beanspruchte er dafür dasselbe Gebäude wie die Universität. Die Universität sollte an den Stadtrand gehen und dort frei werdende Militärgebäude nutzen. Das lehnten die Universität und das Wissenschaftsministerium ab: Die Viadrina gehöre in das Weichbild der Oder, sie müsse für polnische und deutsche Studenten gleichermaßen erreichbar sein. Der Landesrechnungshof schaltete sich in den Streit ein und 62 schlug sich auf die Seite des Finanzministers. Vor dem Parlament wiederum machte die Kontrollbehörde eine Bauchlandung; die Abgeordneten nahmen einhellig Partei für die Universität. Schließlich wurde in einem „Chefgespräch" zwischen den Ministern ein landesweiter Kompromiss gefunden, von manchen als „Kuhhandel" bezeichnet. Danach konnte die Universität in das begehrte Frankfurter Gebäude einziehen, in Oranienburg aber akzeptierte der Wissenschafts- und Kulturminister Unterbringung des dortigen Finanzamtes im ehemaligen Verwaltungsgebäude der SS für die Konzentrationslager unter der Voraussetzung, dass die damals in Vorbereitung befindliche „Stiftung Brandenburgische Gedenkstätten" in diesem Gebäude ebenfalls unterkommt. Der nächste Streit ging um die Stellen. Allein für Professoren begehrten in ihren Gründungsschriften - die TU Cottbus 133 Stellen, - die Europa-Universität 46 Stellen und - die Universität Potsdam 215 Stellen. Dazu kamen Stellenanforderungen für weitere wissenschaftliche Mitarbeiter und sonstige Dienstkräfte. Nach zähem Hin und Her konnte das Wissenschaftsministerium, immer das Parlament auf seiner Seite wissend, sich durchsetzen. Aber es drohte neues Unheil: Das Kabinett selber wollte über die Einstellung und Berufung von Professoren entscheiden. Darüber hinaus hatte der Landtag eine restriktive Haltung zum Thema „Berufbeamtentum" eingenommen, und in der Folge lehnte zumindest das Innenministerium seine Mitwirkung bei der Verbeamtung von Professoren ab. In den Gründungssenaten herrschte Krisenstimmung. Alle Berufungen nach Brandenburg seinen gefährdet, hieß es. Der Staatssekretär fuhr im Sommer 1992 zu allen drei Universitäten in Gründung und erklärte die Haltung des Wissenschaftsministeriums, daß schon aus Gründen der Wettbewerbsgleichheit mit anderen Bundesländern Hochschullehrer auch in Brandenburg Beamte sein müssten (weil sie es nun einmal sein wollten). Auch würde man es nicht zulassen, dass im Kabinett über Berufungen oder Ernennungen entschieden werde. Berufungen spreche der Wissenschaftsminister aufgrund der eingereichten „Listen" der Hochschulen aus, und die Ernennung zu Beamten werde der Berufung auf dem Fuße folgen. Das Kabinett werde informiert, entscheide aber nicht. Im Fraunhofer-Institut in Berlin fand dazu zusätzlich ein Gespräch mit dem Cottbuser Gründungsrektor statt. Er wollte ein klares Wort des Ministerpräsidenten, das allein die Bedenken gegen das Brandenburger Berufungsverfahren in der Wissenschaftswelt entkräften könne. Die Staatskanzlei hatte dem Wissenschaftsministerium zuvor mitgeteilt, wegen der 63 „Professorensache macht der MP keinen Termin". Noch vom Fraunhofer-Institut aus versuchte Spur, dennoch Stolpe zu sprechen. Die Sekretärin meldete: „Ministerpräsident Stolpe ist nicht zu sprechen." Spurs Weisung: „Dran bleiben! Immer wieder versuchen!" Spur bekam seinen Termin beim „MP". Und der sagte ihm nach Konsultation mit dem Wissenschaftsminister zu, Brandenburg werde bei der Einstellung von Professoren nicht anders verfahren als die anderen Bundesländer. Diese Nachricht war wichtig für die Bewältigung der nächsten Hürde im Gründungsprozess, den Wissenschaftsrat. 4. Der Wissenschaftsrat, genauer gesagt seine Wissenschaftliche Kommission, war eine Versammlung hoch gelobter Primadonnen. Jeder Wissenschaftler dort hielt sich auf dem Fachgebiet, das er vertrat, für ein „As", und diese Einschätzung war in den meisten Fällen zutreffend. Ohne den Rat, so die Selbsteinschätzung dieses Gremiums, würde sich in der deutschen Hochschullandschaft gar nichts bewegen. Zumindest für Brandenburg war das eine hypertrophe Einschätzung, denn faktisch wurden die Entscheidungen über die Gründungen von den zuständigen Politkern des Landes und des Bundes getroffen. Der Rat konnte korrigieren, Hinweise geben, Gewichte verlagern, verzögern. Projekte verhindern oder gar initiieren konnte er nicht. Der Typus der angesehenen und unabhängigen Wissenschaftler, der sich in den Wissenschaftsrat wählen lässt, hängt doch von der Politik vor allem des Bundes ab, weil sie letzten Endes über die von ihm begehrten Ressourcen verfügt. Professoren, die darauf keinen Wert legen, kommen auch nicht in den Wissenschaftsrat. Und dass im vorliegenden Fall der Bund die brandenburger Pläne der Hochschulgründungen unterstütze, setzten die Räte - vielleicht in vorauseilendem Gehorsam - bei der gleichen Parteiorientierung von Bundesbildungsministerium und dem Potsdamer Wissenschaftsministerium einfach voraus. Bevor sie ihren Segen gaben, stellten die Räte jedoch zunächst einmal Frage auf Frage: Welche Gebäude sollten denn nun in Cottbus an die Fachhochschule und welche an die Universität gehen? Und wie, bitteschön, stimmt man das Gründungskonzept mit den TU`s in Berlin und Dresden ab? Ein Prominenter von ihnen begab sich in die Öffentlichkeit: Von einer Europauniversität halte er nicht viel, da habe es schon früher Versuche gegeben und heute sei da praktisch nichts Europäisches. Und schon gar nichts halte man von der Frankfurter Idee, einen Studiengang Wirtschaftsphysik einzurichten. Seltsamerweise geriet das größte Gründungsprojekt, die Universität Potsdam, nicht ins Visier. Offensichtlich reichte der günstige Standort der Landeshauptstadt direkt neben Berlin aus. Die Potsdamer hatten fünf Fakultäten vorgesehen (Jura, Philosophie I und II, Wirtschafts- und Sozialwissenschaften, Mathematik-Naturwissenschaften) für 13 000 Studenten. Auch daß 64 Potsdam zugleich eine Fachhochschule und die Hochschule für Film und Fernsehen beherbergte, störte niemand. Potsdam war ein Selbstläufer; hier bedurften die Hochschulen auch nicht des Zuspruchs durch die Stadt wie in Frankfurt an der Oder. Sie erhielten ihn auch nicht... Frankfurt und Cottbus wurden endlich evaluiert. Der Rat formulierte noch einige Änderungswünsche - Betriebswirtschaftslehre bitte nur in Frankfurt, nicht aber in Potsdam und die Wirtschaftsphysik in die „zweite Aufbauphase" der Viadrina - , aber die Gesamtentwicklung wollte und konnte er nicht stoppen. Der Gründung der brandenburgischen Universitäten und Fachhochschulen wurde am Ende zugestimmt. Die Hochschulen hatten damit die Geburt geschafft, ob sie lebensfähig wären, würde die Zukunft zeigen. Der schnelle und wenig systematisch geplante Gründungsprozess hat es mit sich gebracht, dass es nun Regionen im Lande gab, die sich vernachlässigt fühlten und ebenfalls Hochschulgründungen forderten. Das war in Schwedt, in Eisenhüttenstadt und auch in der Prignitz der Fall. Die Landespolitik musste sich hier mit Defiziten herumplagen. Frankfurt hatte - angesichts ausländerfeindlicher Vorkommnisse und stockender Berufungen - um die Einlösung seines Anspruchs zu kämpfen. Dass die Hochschulleiterin der Viadrina, Gesine Schwan, 2004 der Bundesversammlung von Rot-Grün als Bundespräsidentin – wenn auch erfolglos – vorgeschlagen wurde, hat zweifellos den Hochschulstandort Frankfurt aufgewertet. Allen gegenteiligen Beteuerungen zum Trotz hat es keine systematische Abstimmung mit der Hochschulentwicklung in Berlin gegeben, wo beispielsweise die drei- mit der UdK später vier - Universitäten FU, TU und Humboldt trotz Abbaubemühungen Brandenburg weit in den Schatten stellen. Ganze Fächergruppen lassen sich in Brandenburg nicht studieren. Berlin hat drei – später zwei - Universitätsklinika, Brandenburg hat keines, und der Wissenschaftsrat wollte daran auch nichts ändern. Auf der anderen Seite leistet sich die direkt nebeneinander zwei Spezialhochschulen, die Hochschule für Film und Fernsehen in Potsdam und die Filmund Fernsehakademie im Westen Berlins. Sowohl von Berliner als auch von brandenburger Seite wurde eine Zusammenlegung dieser Einrichtungen von Anfang an blockiert. Mit seinen Gründungen hat Brandenburg eine eigene Wissenschaftslandschaft geschaffen und bietet beispielsweise 23.000 Universitätsstudienplätze an - ein Drittel des Volumens der FU in Dahlem. Die brandenburger Einrichtungen sind nur zu verstehen als Ergänzungen zu den Berliner Institutionen, und als solche sind sie sinnvoll. In Berlin gab es 1994 140.000 Studenten. 65 Bei allen strukturellen Mängeln sind die Wissenschafts- und Hochschuleinrichtungen für die Wirtschaft und die politische Kultur Brandenburgs unverzichtbare Institutionen. Der Landesregierung bleibt, pfleglich mit diesem Erbe umzugehen, das ihr in einer außergewöhnlichen Zeit zugefallen ist und das leicht verspielt werden könnte. b) Politik: Gregor Gysi und Oskar Lafontaine als Hüter einer Linkspartei?61 Ende 1993, vor einer Kaskade von Bundestags- und zahlreichen Landtagswahlen, schien sich in der Brandenburgische Landeshauptstadt Potsdam Ungeheuerliches zu ereignen: Bei den Oberbürgermeisterwahlen lag der Kandidat der PDS, Rolf Kutzmutz, im ersten Wahlgang vor dem sozialdemokratischen Amtsinhaber, Horst Gramlich. Gramlich hatte eine unglückliche erste Amtsperiode hinter sich, aber dass Potsdam nun von einem „Kommunisten“ regiert werden könnte, erregte Gemüter in ganz Deutschland. Aus dem Hauptquartier der CSU im fernen München war zu hören, man sollte die PDS verbieten, und im nahen ehemaligen WestBerlin polterten mittlerweile entmachtete CDU-Politiker, man habe nicht vierzig Jahre gegen den Kommunismus gestanden, um nun im Zuge der möglichen Vereinigung Berlins mit Brandenburg von einer Landeshauptstadt aus regiert zu werden, an deren Spitze ein Kommunist stünde. Diese Fürsorge um Potsdam hatte sich zweieinhalb Jahre später nach dem Scheitern der Fusion durch die Volksabstimmung als voreilig erwiesen. Noch einmal sieben Jahre später kam die PDS sogar in den Senat der Bundeshauptstadt Berlin. Aber aus dem PDSler im Rathaus von Potsdam wurde nichts. Für den zweiten Wahlgang wurde ein Bündnis für Gramlich und gegen Kutzmutz geschmiedet. CDU, Grüne und FDP warben für den ungeliebten OB, der es dann noch einmal schaffte. Später wurde Gramlich per Volksabstimmung vorzeitig aus dem Amt gewählt und durch den damaligen Brandenburgischen SPD-„Kronprinzen“ Matthias Platzeck ersetzt. Das Ergebnis der Kommunalwahlen in Brandenburg und die Reaktionen hierauf im Westen hatten gezeigt, dass in Deutschland unmittelbar nach der Vereinigung zwei politische Kulturen existierten. Fünfzehn Jahre nach der Vereinigung sieht es so aus, als habe sich die kulturelle Bipolarität der Berliner Republik verfestigt. Das wäre ein gravierender Unterschied zur Bonner Republik. Aber nicht nur im Kulturellen, auch im Materiellen ist es so: Das Produktivkapital sitzt überwiegend im Westen und hat an der Wiedervereinigung verdient. Von West nach Ost wandert dauerhaft wenig Kapital. Dafür wandern qualifizierte Arbeitnehmer von Ost nach West. Mit öffentlichen Transferleistungen auch in Milliardenhöhe lässt sich der Sozial- und Bewusstseinsunterschied nicht beseitigen. Der vorliegende Text fußt teilweise auf dem Kapitel „Zwei politische Kulturen in Deutschland: Ist die PDS eine temporäre Regionalpartei", erschienen in: Jürgen Dittberner: Neuer Staat mit alten Parteien? Die deutschen Parteien nach der Wiedervereinigung, Opladen/Wiesbaden 1997, S. 231. Das Kapitel wurde stark überarbeitet und findet sich in Jürgen Dittberner; Große Koalition, kleine Schritte. a.a.O., S. 181 ff. 61 66 Im Osten hatten die Menschen die deutsche Einheit neben der Befreiung von der Diktatur überwiegend auch als eine Befreiung im regionalen Sinne empfunden. Nicht nur der Kurfürstendamm, auch die Alpen und sogar die Everglades waren erreichbar geworden. Wirtschaftlich und sozialpsychologisch brachte die Einheit aber auch „Befreiungen" von der Lebenssicherheit. Existentielle Besitzstände wie Wohnung und Arbeit gerieten in Gefahr und gingen vielfach verloren. Der Westen übernahm das Kommando in der Republik - im Bund sowieso, aber auch in den Ländern und in den Kommunen. Trotz des Umzugsbeschlusses des Deutschen Bundestages wurde die Politik zunächst am Rhein fortgesetzt, als sei die deutsche Vereinigung eine Arrondierung des Bundesgebietes um einige Wüsteneien. In den Behörden Brandenburgs, seinen Kreisen und Gemeinden gaben „Wessis" – aus anderen Lebenswelten von Rhein und Ruhr kommend – den Ton an. Weil sie als Botschafter der ersehnten Konsum- und Luxuswelt gesehen wurden, waren sie zunächst – wenn auch mit einem unangenehmen Gefühl der Unterlegenheit – willkommen. Innerhalb von zwei Jahren aber kam die Ernüchterung. Trotz der Versprechen und der „Helfer“ aus dem Westen war es für viele hier sozial bergab gegangen, und sie konnten oder wollten nicht sehen, wo es andererseits dennoch bergauf ging. Zwar wurden Straßen gebaut, Häuser renoviert und investiert: die Infrastruktur modernisiert, aber die Arbeitslosenquoten wurden zweistellig, ganze Wirtschaftszweige brachen ab. Auf Liegenschaften wurden Altansprüche erhoben. Immer mehr Brandenburger erkannten, dass sich die Westhelfer mit „Buschgeldern“ und „Sprungbeförderungen“ selber ganz gut helfen konnten, ansonsten aber auch nur mit Wasser kochten. Selbst höchste Beamte und Richter wurden sehr viel später ertappt, dass sie sich zu Unrecht Trennungsgelder angeeignet hatten. Wen wundert der aufgekommene Frust? Wen wundert der Zulauf zur PDS, die ein altes „WirGefühl" wie in DDR-Zeiten ansprach und deren Repräsentanten wenigstens nicht die roten Socken von der Sorte waren, die sich nach der Wende als Oberkapitalisten aufspielten? Wen wunderte das relativ magere Abschneiden der SPD beispielsweise 1993 in Potsdam, wenn sich diese Partei trotz eines Stolpe-Untersuchungsausschusses im Landtag über die IMTätigkeit eines PDS-Genossen moralisch empört gab? Dabei hatte das westliche politische System in Brandenburg wie in allen anderen neuen Ländern einen großen Erfolg erzielt. All der Frust über die empfundenen Erniedrigungen der Menschen im Osten wurde gebündelt durch eine parlamentarische Partei und in geradezu klassischer Weise in die repräsentativen Versammlungen der Gebietskörperschaften transmissioniert. Alles ging nach guten demokratischen Regeln vonstatten. Die PDS erfüllte 67 und erfüllt im Osten Deutschlands die Funktion der Stabilisierung des politischen Systems. Was will man eigentlich mehr angesichts einer noch nicht vollendeten deutschen Einheit? Ohne politische Bildung im westlichen Sinne und trotz der Erfahrungen unter der SEDDiktatur erwiesen sich auch die Brandenburger in einer moralischen und wirtschaftlichen Krise als passable Demokraten. Potsdam war kein Einzelfall. Die Republik musste sich an Erfolge der neuen Partei im Osten gewöhnen. Anfang 1996 stellte die PDS etwa 6000 Parlamentarier in den Kommunen sowie landauf, landab in der früheren DDR 180 Bürgermeister. Diese gehörten innerparteilich meist zu den „Realos", also zu jenen, die alte Ideologien über Bord werfen und pragmatische Politik machen wollten. So wurde der Bürgermeister von Neuruppin im Brandenburgischen mit den Worten zitiert: „Es spielt überhaupt keine Rolle, dass ich in der PDS bin." Und einer der PDS-Bezirksbürgermeister in Berlin, Uwe Klett im Bezirk Hellersdorf mit vierzig Prozent PDS-Stimmen im Rücken, spottete öffentlich über die „Staatsgläubigkeit" seiner Genossen und forderte gar „Wettbewerb in der Verwaltung". Solchen Politikern standen in der Mitgliederschaft der Partei Nostalgiker gegenüber, die Arbeitslosigkeit und Umweltzerstörung gleichermaßen als Folge der uneingeschränkten Profitgier der Kapitaleigner sahen. Bei den Wahlen der Jahre 1994/95 setzte die PDS ungeachtet ihrer inneren Zerstrittenheit ihre Erfolge in den Ländern des deutschen Ostens fort. Innerparteilich öffnete sich ab 1991 eine Schere zwischen der Zahl der Mandatsträger und der Mitglieder der PDS. Die Mitgliederzahl sank einerseits von rund 173.000 auf 120.000 im Jahre 1995. Durch gute Wahlergebnisse, zuletzt in Berlin, verfügte die Partei andererseits zusammen über 159 Mandate im Deutschen Bundestag sowie in den Landtagen Ostdeutschlands und der Hauptstadt. 1998 überwand die PDS die Fünfprozentgrenze bei der Bundestagswahl und kehrte mit 5,1 % der Wählerstimmen ins Bundesparlament zurück. In Berlin erzielte sie bei den vorgezogenen Abgeordnetenhauswahlen im Jahre 2001 22,6 % - im Osten der Stadt sogar 47,6 %. In allen Umfragen seit 1999 lag die PDS auch bundesweit stetig an der Sperrgrenze. Die Zahl ihrer Mitglieder jedoch war am 31.12.2000 auf 83.475 gesunken. Zwei Jahre später waren es nur noch 70.805 Mitglieder. Während Ende der neunziger Jahre unter den Aktiven besonders den Medien viele jüngere Mitglieder auffielen – unter anderem die exzentrische Anführerin der dogmatischen „Kommunistischen Plattform", Sarah Wagenknecht oder die aus der Arbeitsgemeinschaft „Junge GenossInnen" stammende stellvertretende PDS-Vorsitzende Angela Marquardt, sah es 68 an der Basis grauer aus. 60 Prozent der PDS-Mitglieder hatten 60 und mehr Lebensjahre hinter sich, während der entsprechende Seniorenanteil in der CDU 35 und in der SPD 26 Prozent betrug. Derweil in der Partei über mögliche Koalitionen mit der SPD oder den Grünen gestritten wurde und in Landesregierung fast Sachsen-Anhalt die Duldung einer schon Alltagsroutine war, schreckten meist rot-grünen aus der SED hervorgekommene Grauköpfe junge Sympathisanten ab, der Partei beizutreten. Selbst die Aussicht auf eine schnelle Karriere konnte die Abneigung gegen die alten Genossen nicht kompensieren. Die PDS war 1995 beispielsweise in Brandenburg mit 17.950 Mitgliedern die mitgliederstärkste Partei, jedoch nur 2,7% dieser Mitglieder war jünger als 30 Jahre. Der entsprechende Anteil war bei der SPD 7,2% und bei der CDU 5%. Im gleichen Jahr konnte die Landespartei 117 Neuaufnahmen verzeichnen, während es die CDU auf 712 und die SPD auf 253 neue Mitglieder brachte.62 Diese Entwicklung hat sich im Folgenden fortgesetzt. Im Jahre 2000 war dies die Altersstruktur der Partei: Altersstruktur der PDS 2000 unter 30 Jahre 3% 30 – 39 Jahre 6% 20 – 49 Jahre 11 % 50 – 59 Jahre 12 % über 60 Jahre 68 %. Zur Bundestagswahl 2002 wurde der innere Zustand der PDS personalisiert durch die Parteivorsitzende Gabi Zimmer und ihren Anhang. Die Folge war der Verlust des Fraktionsstatus im deutschen Parlament. Nachdem anschließend Lothar Bisky erneut die Führung der Partei übernahm und diese medial wieder interessanter geworden war, erreichte die PDS bei den Landtagswahlen in Brandenburg im Jahre 2004 28 % und liegt damit knapp hinter der trotz hoher Verluste immer noch stärksten Partei: der SPD (31,9 %). Vierzehn Jahre nach der Vereinigung gehört die PDS in den ostdeutschen Ländern eindeutig zusammen mit der CDU und der SPD zu den großen Parteien. Dennoch: Die PDS könnte eines Tages von der Mitgliederschaft her austrocknen. Es könnte der Zeitpunkt kommen, an dem die im Osten Deutschlands bei den Wählern triumphierende Partei von innen hererlischt. Eine wider Erwarten doch einsetzende Angleichung der politischen Kultur des Ostens an den Westen würde diesen Prozess wohl geradezu entfachen. Doch diese Angleichung wird es wohl nicht geben. Eher schon breiten sich die niedrigeren Standards des Ostens auch im Westen aus. Den Westen erreichen Firmenstilllegungen und in 62 Der Tagesspiegel, 5.3. 1996, S. 12, Jugend zieht eher zu SPD und CDU 69 einigen Regionen Arbeitslosenquoten wie im Osten. Die Einschränkungen und Ungerechtigkeiten bei den Ärmsten durch „Hartz IV“ erfolgen im Osten wie im Westen. Hier nun tat sich für die PDS eine neue Chance auf, die aber auch Risiken bringt: die Chance der Metamorphose zur gesamtdeutschen Linkspartei. Zum Erklären der Entwicklung der PDS haben sich zwei Denkansätze („Theorien“) herausgebildet: - Die Milieutheorie besagt: Die PDS repräsentiere und konserviere aus der DDR stammende ostdeutsche Kulturelemente. Sie bewahre im Überbau eine Ost-Nostalgie, die es vielen Menschen erleichtere, ihre Existenzen im ökonomisch-sozialen Unterbau des vereinten Deutschlands zu ertragen oder zu bewältigen. Solange die PDS sich auf ihr Milieu konzentriere, sei sie im Osten stark, aber im Westen nicht präsent: eine Regionalpartei. - Die Vakuumtheorie dagegen eröffnet der PDS eine gesamtdeutsche Perspektive. Die SPD habe mit ihrer Politik der „neuen Mitte“ im linken Parteienspektrum ein Vakuum hinterlassen, das eine neue Linkspartei füllen könne. Die PDS verfüge über die organisatorischen Ressourcen, diese Lücke zu füllen. Dabei muss sie allerdings mit der Zwickmühle leben, im Osten ihren Charakter als Milieupartei zu verändern, wenn sie im Westen akzeptabel werden will. An dieser Zwickmühle ist die PDS bisher auf dem Wege zur gesamtdeutschen Partei gescheitert. Auch die SED-Nachfolge hat sich dabei als Klotz am Bein erwiesen. Nachdem Gerhard Schröder das Scheitern der SPD im Mai 2005 eingestehen musste und bundesweite Neuwahlen herbeiführte, schien die Auflösung dieser Zwickmühle möglich zu werden: - Die PDS und die 2004 neu gegründete westdeutsche SPD- und Gewerkschaftsabspaltung WASG („Wahlalternative Arbeit und soziale Gerechtigkeit“) konnten zusammen rein rechnerisch weit mehr als 5 % der Wähler gewinnen. - Ein Bündnis zwischen PDS und WASG konnte all jene ansprechen, die Verlierer der bisherigen Wirtschafts- und Sozialpolitik sind oder sich davor fürchten, es werden zu können. Das waren nach Umfragen 2005 mindestens 18 % der Wähler. - Mit Gregor Gysi und Oskar Lafontaine standen zwei beredte und überaus medientaugliche Politiker als Spitzenkandidaten bereit. Dem standen freilich Risiken entgegen: - Für die gesamtdeutsche Option würde die PDS einen Teil ihrer Identität im Osten opfern müssen, und zugleich würde es im Westen Anhänger geben, die sich an der PDS/SEDHerkunft des Partners reiben. 70 - Das Linksbündnis konnte zwar gegen den „Reformpolitik“ genannten Abbau des Sozialstaates argumentieren, aber keine grundsätzliche Gegenpolitik umsetzen. Zwar setzte man sich für eine keynesianische Beschäftigungspolitik ein, aber die Globalisierung konnte nicht rückgängig gemacht werden. Deutschland konnte nicht aus der EU austreten, und es konnte auch kein Sozialismus eingeführt werden. Das Linksbündnis würde es nicht wagen, solche Ziele zu proklamieren. - Die Spitzenkandidaten Gysi und Lafontaine sind angreifbar: Beide sind aus ihren politischen Jobs geflohen und beide sind politisch und persönlich traumatisiert. Gregor Gysi lebt mit immer wiederkehrenden Stasi-Vorwürfen, und Oskar Lafontaine hat den Anschlag auf ihn offensichtlich nur oberflächlich verarbeitet. Zudem ist das Verhältnis des ehemaligen SPDVorsitzenden Lafontaine zu seiner alten Partei unrevidierbar zerrüttet. Am 18. September ist die „Die Linke“ dennoch mit 8,7 % in den Bundestag eingezogen – als kleinste Partei nach der FDP und den Grünen. Die PDS hoffte, sich auch langfristig im Linksbündnis als neue, sozialistische Partei im Parteienspektrum der Bundesrepublik etablieren zu können. Sie sollte nicht vergessen, dass dem anfänglich zwei Hindernisse entgegenstanden: 1. Die rigorose Ablehnung der SED-Nachfolgepartei durch die anderen Parteien. Für die nach wie vor vom Westen beherrschte politische Klasse der Bundesrepublik war die PDS zunächst schlicht nicht gesellschaftsfähig. Man war dort ursprünglich davon ausgegangen, dass die PDS eine vorübergehende Erscheinung sein würde. Seit Mitte der neunziger Jahre änderte sich diese Haltung gegenüber der PDS. Die Tolerierung in Magdeburg, die Koalition in Schwerin und vor allem das Zusammengehen der SPD mit der PDS im Berliner Senat schien die SED-Nachfolger gesellschaftsfähig gemacht zu haben. Das könnte ihr bei der Akzeptanz des Linksbündnisses im Westen helfen. 2. Zwar ist die Ablehnung durch die politische Klasse gesunken, aber die mangelnde Wählerakzeptanz im Westen Deutschlands ist geblieben. Die Behandlung Lothar Biskys bei der Wahl der Vizepräsidenten des Bundestages im Oktober 2005, wo er mehrfach durchfiel, zeigte, dass alte Ressentiments noch aktiviert werden können. Für die Bürgerschaftswahlen in Bremen im Mai 1995 hatte sich die PDS vorgenommen, den ersten Schritt aus der Ost-Diaspora zu tun, und sie engagierte sich dort erheblich. Dennoch erhielt die Partei an der Weser nur 2,3% der Stimmen. Trotz vereinzelter Erfolge beispielsweise 2001 im Westen Berlins ist die PDS ostdeutsche Regionalpartei geblieben. Die Frage ist, ob sich die PDS 2005 mithilfe der WASG aus dieser Begrenzung befreien kann, nachdem der „Reformer“ Gerhard Schröder gescheitert ist. Jeder Schritt in den Westen 71 gefährdet den Stand im Osten, wo die PDS aufgrund der regionalen Befindlichkeit Zulauf hat. Das erklärt die Zögerlichkeiten gegen das Linksbündnis an der Basis der PDS wie der WASG. Wird die PDS zusammen mit der WASG zum Formateur eines neuen Parteiensystems der Berliner Republik? Wird es eine wirkliche und langfristig wirkende Metamorphose von PDS und WASG zu einer neuen Linkspartei geben? Könnte diese Metamorphose begleitet werden von einer Neuformierung der Rechten am anderen Ende des Parteienspektrums? Insgesamt ist der Glaube an die Problemlösungskompetenz der Parteien sehr gering, und die Parteienidentifikation nimmt ab, so dass eine grundsätzliche Neuformierung des deutschen Parteiensystems nicht ausgeschlossen ist. Eine derartige Entwicklung hätte auch Auswirkungen auf die Situation der PDS in den neuen Bundesländern: Zur Konkurrenz mit der SPD käme dann die Polarisierung zur Rechten hin. Die PDS wird trotz aller Ausdehnungsbemühungen versuchen, im Osten Deutschlands Sammelbecken derer zu bleiben, die ihr Verliererdasein betrauern oder solcher, die sich über die „Machtübernahme durch den Westen“ ärgern. Wie es aussieht, wird die ökonomische Basis solcher Stimmungen noch lange bestehen bleiben. Wenn sie das weiterhin artikulieren kann, wird die PDS bei allen Veränderungen ein Faktor der Stabilität bleiben. Dass seit 2005 an den Spitzen beider Großparteien Ostdeutsche stehen, gräbt der PDS kein Wasser ab, solange Angela Merkel und Matthias Platzeck dabei bleiben, Perspektiven für Gesamtdeutschland entwickeln zu wollen. Die strukturelle Gefahr für die PDS ist die ihr drohende innere Vergreisung. Die Probe für ihre Überlebensfähigkeit wird erst kommen, wenn jüngere PDS-Politiker als Lothar Bisky oder Gregor Gysi die Partei führen müssen. Dann werden die alten DDR-Geschichten eine immer geringere Rolle spielen. Möglich ist, dass sich einige Merkmale der Ostmentalität wie das etatistische Sicherheitsdenken in die nächste Generation vererben werden. Wenn die PDS dies politisch ausdrücken kann und die anderen Parteien dabei versagen, könnte sie über längere Zeit jedenfalls im Osten und auf dieser Basis auch im Westen bestehen bleiben. Allerdings muss sie dafür neue Mitglieder gewinnen, die den „natürlichen Abgang“ der alten Kader kompensieren und im Falle der Linkspartei das derzeit durch eine Handvoll Mitglieder im Westen gekennzeichnete Ost-Westgefälle bei den Mitgliederzahlen abbauen. Die PDS ist nicht mehr das Schmuddelkind der Parteienfamilie, sondern sie regiert in Kommunen und Ländern mit. Ihre Repräsentanten sitzen nicht nur – mittlerweile wieder - im Bundestag, sondern auch im Bundesrat. Sie ist im Osten eine Größe. Sollte es ihr gelingen, sich mithilfe der WASG über die ehemalige DDR hinaus zu erweitern, entstünde ein neues 72 Element im deutschen Parteiensystem, das bisherige Kostanten dort überwinden könnte. Bedenken sollte man dabei, dass der Wahlerfolg der Linkspartei 2005 schmaler war, als man dort erwartet hatte und dass die „Begrüßung“ dieser Gruppierung im deutschen Parlament alles andere als herzlich war. Deren Gegner sehen eine reale Chance, die mögliche neue Partei wieder aus dem Parteiensystem zu verdrängen. 73 7. Politische Korrektheiten Wie so vieles kommt auch die Kategorie der politischen Korrektheit „Political correctness“ hierzulande „PC“ genannt - aus den USA. Er stammt aus der Bürgerrechtsbewegung, beeinflusste die Proteste gegen den Vietnamkrieg und den aufkommenden Feminismus. In den USA wie in Deutschland wurde der mit der politischen Korrektheit verbundene soziale Druck von konservativer Seite kritisiert. Man sah darin einen Zwang zur Abkehr von traditionellen Werten wie Volk oder Familie und wandte sich besonders gegen den vom Begriff „multikulturell“ ausgehenden Druck zur Integration, Anerkennung und Förderung im Lande lebender Ausländer. Eine Relativierung, ja ein Untergang der eigenen traditionellen Kultur wurde befürchtet. Von der Landsergeneration noch lange nach 1945 gebrauchte Begriffe wie „der Iwan“, „der Itaker“ oder „der Tomy“ für Russen, Italiener oder Engländer, sind schon lange nicht mehr gebräuchlich. Die politische Korrektheit in Deutschland hat dazu geführt, dass Wörter wie „Neger“, „Zigeuner“, „Irrenhaus“ oder „Fräulein“ aus dem allgemeinen Sprachgebrauch verschwunden sind. Sie wurden ersetzt durch „Schwarze“, „Sinti und Roma“, „Psychiatrie“ und „Frau“. Weitgehend durchgesetzt hat sich auch die geschlechtsneutrale Schreibung, der sich der/die korrekte SchreiberIn bedient. Der in deutschen Geschäften erhältliche „Negerkuss“ wurde forthin „Schokokuss“ genannt. „Weiße“ oder „schwarze Amerikaner“ hingegen kann man nach wie vor beim Bäcker erstehen. In Deutschland entwickelten sich vor allem die Grünen, Teile der SPD und Frauengruppen als eifrige Wächter über die politische Korrektheit in der öffentlich gebrauchten Sprache. Der Druck zur politischen Korrektheit wurde moralisch verstärkt mit dem Anspruch des Guten. Wer „Neger“ sagte, dem wurde unterstellt, er sei Rassist. Wer eine junge Frau mit „Fräulein“ titulierte, dem wurde Herabwürdigung nachgesagt. Schließlich, so hieß es, rede man einen jungen Mann auch nicht mit „Männlein“ an. Die Gegner solchen Drucks bezeichneten die ihn ausübenden Personen als „Gutmenschen“. Über die „PC“ selber wurde eine Debatte geführt, die in Wahrheit eine Debatte um die politische Kultur im Lande wurde. Die einen wollten Traditionelles bewahren, die anderen unterstellten diesen, dass sie Privilegien verteidigen wollten. Als Friedrich Merz sich dafür aussprach, eine „deutsche Leitkultur“ zu favorisieren, löste das einen Sturm der Entrüstung aus. Doch auch der dem entgegen gestellte Begriff der „multikulturellen Gesellschaft“ verblasste. 2005 war es durchaus „Mainstream“, von „Parallelgesellschaften“ zu reden. Kommunalpolitiker durften das als Experten für die Realität vor Ort tun und die mangelnde Integration von Ausländern in ihren Vierteln beklagen. Dass Nachfolger der Gastarbeiter auch 74 in der 3. Generation sich nicht integriert hatten, dass der Islam nach dem 11. September als Gefahr und Gegner gesehen wird und dass es in islamischen Familien zu Rachemorden gekommen war, bewirkten diesen Sinneswandel. Der Druck nach PC ist alltäglich. „Gender Mainstreaming“ wurde als Programm von den Weltfrauenkonferenzen verfasst. Die Europäische Union, der Bund, die Bundesländer und die Gemeinden haben es übernommen. In einer Präsentation der Friedrich-Ebert-Stiftung findet sich eine Definition des Prinzips: „Gender Mainstreaming besteht in der Reorganisation, Verbesserung, Entwicklung und Evaluation von Entscheidungsprozessen in allen Politikbereichen und Arbeitsbereichen einer Organisation. Das Ziel von Gender Mainstreaming ist es, in alle Entscheidungsprozesse die Perspektive des Geschlechterverhältnisses einzubeziehen und alle Entscheidungsprozesse für die Gleichstellung der Geschlechter nutzbar zu machen."63 Gender Mainstreaming ist raffinierter als traditioneller Feminismus. Nicht mehr die Förderung der benachteiligten Frauen ist das Ziel, sondern die „Gleichstellung der Geschlechter“. Aber alle alten feministischen Programme lassen sich unter Gender Mainstreaming subsumieren. Denn noch immer sind Frauen auch in den entwickeltsten Gesellschaften strukturell benachteiligt: besonders in der Politik – trotz einer Bundeskanzlerin, in der Wirtschaft und in der Verwaltung. „Gleichstellung der Geschlechter“ heißt somit in der Praxis „Förderung von Frauen“. Pläne für Gender Mainstreaming gibt es mittlerweile in der Bundesrepublik wohl in jeder Gebietskörperschaft. Sie sind ein Teil von PC. Niemand wagt zu widersprechen, wenn eine Frauenbeauftragte einen solchen Plan anfordert oder vorlegt. Er wird brav in den Parlamenten und anderen Vertretungskörperschaften diskutiert. Wer den Sinn solcher Pläne infrage stellt, verlässt den allgemeinen Konsens. Also lassen auch die – meist männlichen – Gegner solcher Bemühungen entsprechende Beratungen und Beschlüsse über sich ergehen, ohne zu debattieren. Nicht immer ist Gender Mainstreaming sachgemäß. In der Wirtschaft beispielsweise sind für Erfolg oder Misserfolg andere Variablen relevant als die Geschlechterzugehörigkeit der Handelnden. Aber auch hier wird gefordert, nur bei Unternehmungen zu kaufen oder zu bestellen, die ein entsprechendes Programm vorweisen können. Vergaberichtlinien im öffentlichen Dienst, bei denen Kriterien wie Preis und Qualität eines Produktes maßgebend sind, werden relativiert. Gelegentlich werden Preise gestiftet für „frauenfreundlichste 63 Barbara Stiegler in: Friedrich-Ebert-Stiftung, Digitale Bibliothek, August 200 75 Betriebe“, und die Preise werden ausgelobt, auch wenn Betriebe sich nicht melden, sondern dazu gezielt aufgefordert werden müssen. Gender Mainstreaming ist tabu. Tabus aber sind in einer liberalen Demokratie verdächtig. Es muss erlaubt sein, zu jeder These die Gegenthese zu formulieren: Das unterscheidet politische Demokratie von politischer Religion. Im Falle von Gender Mainstreaming hat sich in Deutschland ein Netzwerk gebildet, das in den letzten Winkel der Politik und der Verwaltung hinein wirkt. Da wird oft nicht überzeugt, sondern Mitläufer- und Duckmäusertum gefördert. Bei vielen Akteuren bleibt innerer Widerstand, der in der Praxis die Umsetzung von GenderForderungen torpediert. Zur politischen Korrektheit in Deutschland gehört es, gegen „rechts“ zu sein. Das hat seine Berechtigung und seine Wurzel in den Erfahrungen mit den Verbrechen des Nationalsozialismus. Die Wachsamkeit gegen rechts hat auch zur Folge, dass es den Rechten niemals gelungen ist, in den Deutschen Bundestag einzuziehen. Zwiespältig wird es, wenn es in das Belieben einzelner gestellt ist, zu definieren, was oder wer „rechts“ ist, und eine moralische Pose einzunehmen. Oft wirkt es wie eine Verniedlichung der wirklichen Verbrecher, wenn jemand leichtfertig als „Nazi“ oder „Neonazi“ bezeichnet wird. Wenn zu Demonstrationen gegen „rechts“ aufgerufen wird, ist stets auch abzuwägen, ob hier das Grundrecht der Demonstrationsfreiheit tangiert wird. Im Falle der PC gegen „rechts“ besteht die Problematik darin, dass die Definition von „rechts“ sehr individuell sein kann. - Die Politikwissenschaft bemüht sich, zwischen rechtspopulistisch, rechtsradikal und rechtsextrem zu unterscheiden. Der Populist bedient sich rechter Chiffren, um mediale Aufmerksamkeit zu erzielen. Der Radikale denkt rechte politische Positionen zuende, stellt aber nicht die Demokratie und die Menschenwürde infrage: Das scheint eine ziemlich idealtypische Beschreibung zu sein. Der Rechtsextreme aber setzt dem demokratischen Gesellschaftsbild ein anderes entgegen, und nach allgemeinem Verständnis kann das nicht geduldet werden. Die Entscheidung darüber fällt keine politische Gruppe oder Partei, sondern allein das Bundesverfassungsgericht. - Im Alltag kommt es vor, dass auch bestimmte Politiker der etablierten Parteien als „Rechte“ abgestempelt werden. Der Begriff „Nazi“ ist inflationär, und das Irritierende bei alledem ist, dass solche Wertungen von der PC als gedeckt angesehen werden. Die Nähe „antirechten“ Denkens zur PC führt oft zu Handlungen, die das Gegenteil der Intentionen bewirken. So haben aus dem Gefühl eines allgemeinen korrekten Konsensus heraus die Verfassungsorgane Bundestag, Bundesrat und Bundesregierung 2001 den Antrag 76 beim Bundesverfassungsgericht gestellt die Verfassungswidrigkeit der NPD festzustellen. Am 18. März 2003 wurde das Verfahren vom Gericht eingestellt, weil die Begründung des Antrags sich großenteils auf die Berichte staatlicher V-Leute bei der NPD bezog. Ein vermeintlich politisch korrekter Schnellschuss führte zu Verfahrensfehlern und zu einem Scheinsieg der Rechten. „Gedenken“64 ist ein Element der politischen Korrektheit in Deutschland. Verstanden wird darunter in erster Linie das Gedenken an die Verbrechen der Nationalsozialisten und ihrer Opfer, in zweiter Linie an die Verbrechen und Opfer des Stalinismus. Vor allem auf den Geländen ehemaliger Konzentrationslager gibt es Gedenkstätten in Deutschland wie etwa in Buchenwald bei Weimar, Dachau bei München oder Sachsenhausen bei Berlin. Darüber hinaus existieren zahlreiche Gedenkorte, die Erinnerungen wach halten, aufklären oder symbolische Friedhöfe für die Opfer sein wollen. Auch gehen von solchen Orten durchaus beabsichtigt außenpolitische Wirkungen aus: der Welt zu zeigen, dass Deutschland nach 1945 die Menschenrechte achtet. Da Gedenken jedoch Teil der politischen Korrektheit ist, ist es auch hier schwierig, das Gebiet zu beschreiben. Wer moralischen Anspruch erwecken kann, wird bei der Forderung nach weiterem Gedenken vorankommen, allerdings, ohne immer zu überzeugen. So gibt es eine private Initiative „Stolpersteine“. Der Künstler Georg Demnig setzt Messingtafeln ins Trottoir vor den letzten „selbstgewählten“ Wohnungen von NS-Opfern. Es gibt 5500 solcher „Steine“ in 97 Orten in Deutschland. Einer von ihnen trägt die Inschrift: „Hier wohnte Dr. Edith Stein Jg. 1891 Flucht 1938/Holland Lager Westerbork 1942 Ermordet 1942 in Auschwitz“ Diese Initiative stößt gelegentlich auf Widerstand örtlicher Behörden. Es werden jedoch keine inhaltlichen Argumente vorgetragen, sondern baurechtliche Bedenken. Diese verstummen dann angesichts der Wucht moralischer Argumente. Ist das ein würdiger Umgang mit den Opfern? Es ist zu vermuten, dass in solchen Fällen zurückgehaltene Argumente gegen eine spezifische – gerade vorgeschlagene – Form des Bedenkens nicht entkräftet, sondern nur 64 Jürgen Dittberner, Schwierigkeiten mit dem Gedenken. Auseinandersetzungen mit der nationalsozialistischen Vergangenheit, Opladen/Wiesbaden 1999 77 versteckt werden. Ein Weg, zu einer offenen Form der Auseinandersetzung zu kommen, ist das nicht. Niemand weiß, wie dünn wirklich das Eis ist, auf dem das Gedenkwesen in Deutschland sich bewegt. Gelegentlich zeigt sich, dass diese Gesellschaft selbst aus der Nachkriegsgeschichte nicht lernt: Kann sie überhaupt aus der Geschichte lernen? Im Mai 1991 wurde bekannt, dass in Ravensbrück an der „Straße der Nationen“, die von Häftlingsfrauen errichtet worden war, ein Supermarkt der Firmengruppe „Tengelmann“ eröffnet werden sollte65. Die „Straße der Nationen“ führt zur Gedenkstätte Ravensbrück auf dem Gelände des nationalsozialistischen Frauen-KZ Ravensbrück. Der Protest schwoll an. Er kam aus dem In- und Ausland. Der brandenburgische Ministerpräsident Manfred Stolpe eilte nach Fürstenberg - jener Stadt, von der Ravensbrück ein Ortsteil ist. Stolpe schwor die Politiker der Stadt und des Landkreises ein: An jenem Ort kann der Supermarkt – den die Fürstenberger sich kurz nach der Wende so sehr gewünscht hatten – nicht eröffnet werden. In einer Besprechung tags darauf mit allen Beteiligten in Potsdam wurde festgelegt, dass Fürstenberg am anderen Ende des Orts einen Supermarkt bekommen sollte. So geschah es. Alle Welt konnte sehen: Eine Gedenkstätte und ihr Umfeld sind tabu für Profannutzungen. Im Januar 2005 wurde bekannt, dass in Berlin nördlich des Bahnhofs Grunewald auf dem ehemaligen Gütergelände der Bahn Luxushäuser errichtet werden sollen, um so die Villenkolonie Grunewald an die Bahntrasse und die AVUS66 heran zu führen. Die Zugangsstraße würde direkt jenen Ort passieren, von dem aus zwischen 1941 und 1945 Zehntausende Berliner Juden in die Vernichtungslager des Ostens deportiert wurden. Der Güterbahnhof Grunewald, für so viele damals das Tor zur Todesfahrt nach Auschwitz, wurde als Grund und Boden für das traute Heim betuchter Berliner im wiedervereinigten Deutschland vorgesehen! Diese Planungen wurden ausgearbeitet in Kenntnis der historischen Belastung des Ortes: Am Bahnhof Grunewald selber befindet sich seit 1987 eine Bronzetafel mit hebräischer Überschrift: „Zum Gedenken an die Opfer der Vernichtung. Zum Gedenken an Zehntausende jüdischer Bürger Berlins, die ab Oktober 1941 bis Februar 1945 von hier aus durch die NaziHenker in die Todeslager transportiert und ermordet wurden.“ Neben dem Bahnhof wurde 1991 eine Betonmauer mit Negativabdrücken von menschlichen Körpern errichtet: ein beeindruckendes Mahnmal. Die Deutsche Bahn AG hatte 1998 auf den Verladebahnsteigen 65 a.a.O., S. 86 ff Die „AVUS“ („Automobil-Verkehrs- und Übungs-Straße“) ist die erste reine Autostraße Europas und wurde 1921 für den öffentlichen Verkehr freigegeben. 66 78 rechts und links der Gleise Metallplatten anbringen lassen, auf denen Zielorte und Daten der Deportationszüge dokumentiert sind. Die gesamte Mahnstätte Grunewald ist so zu einem sakrosankten Ort geworden. Nach jüdischem Brauch liegen Steine auf der Rampe - wie auf Friedhöfen. Blumen werden niedergelegt. Es kommen Besucher und verharren. Von den Verladebahnsteigen aus blicken sie auf das überwucherte Gelände des ehemaligen Güterbahnhofs. Es erinnert an jene Landschaften, in welche die Todeslager eingebettet waren und bedrückt mit dem Widerspruch zum pittoresken Gebäude des Bahnhofs Grunewald. Ein Eindruck entsteht von Bildern, welche die hierher getriebenen Opfer der Nationalsozialisten in den letzten Tagen ihres Lebens gesehen haben. Dieser Ort in Grunewald, wie er sich 2005 präsentierte, hätte tabu sein sollen. Hier sollte der Mensch nichts mehr verändern wollen. Doch die Energie von Planern ist groß. Aus einer Brache sollte eine Geldquelle werden. Das täte auch der Bahn gut. Den Parteien des Bezirks wird eingeredet, dass diejenigen, die hier herziehen würden, Stabilität und Wohlstand in den Ortsteil bringen könnten. In den bürgerlichen Parteien machte sich manch einer Hoffnung auf Zulauf bei künftigen Wahlen. Bei solchen Aussichten verdrängten viele den Wohnungsleerstand in der Stadt. Die Enge der Straßen in der Villenkolonie wurde ebenfalls verdrängt: Ein Verkehrschaos sei nicht zu erwarten. Das Leben neben Bahntrasse und AVUS könne dank eines Schutzzaunes zum Vergnügen werden. Den Platz vor dem Bahnhof werde der Projektentwickler neu gestalten – auf „eigene“ Kosten! und das beliebte Restaurant „Floh“: Ja, das muss eben weichen. Schließlich das noch: Auch ein Supermarkt wird entstehen! Die Planer taten, als hätten sie es mit einem beliebigen Bismarckdenkmal zu tun. Doch es ist ein authentischer Ort der Schoa. Der Bezirk musste den Plänen erst noch zustimmen. Dort hielt man sich für klug und sah „das politische Problem“. Also, sagten einige Kommunalpolitiker, werde man mit „der Jüdischen Gemeinde“ reden. Die sollte das Wohnungsprojekt quasi „koscher schreiben“. Welch eine Flucht vor der Verantwortung! Die Nachfolger der Opfer sollten Politikern sagen, wie nahe sie einem Ort des Erinnerns an die Schoa kommen können. Bedurfte es eines klareren Beweises dafür, dass selbst „Führungskräfte“ in Deutschland kein Gefühl dafür hatten, welche Verantwortung für das Geschehene auf diesem Land lastet? Alle eingespielten Gedenkrituale bewirkten offenbar wenig. Nach dem 27. Januar 2005 ging man zur Tagesordnung über und werkelte an dem Plan, an einem Ort des Erinnerns an den Tod Zehntausender Kapital zu schöpfen. 79 Warum gibt es so viele in Deutschland, die verdrängen und vorbei manövrieren wollen, wenn sich Zeugen der Naziverbrechen ihren Planungen in den Weg stellen? Warum geschieht das immer wieder: 1991 und 2005? Dass nicht stille Trauer und innere Scham die Haltung der meisten „Leistungsträger“ hierzulande ist, erscheint alarmierender als das Agieren von Gruppierungen wie der NPD oder der DVU. Zweifel, dass das Gedenken als Element der politischen Korrektheit in die Profanität des Alltags abgleiten kann, sind gerechtfertigt, bedenkt man das Schicksal des „Holocaustmahnmals“ in Berlin: Irgendwann musste es geschehen, dass die hochentwickelte Gedenkkultur Deutschlands auf die profane Alltagskultur trifft - dass die Welt der Feuilletonisten, Historiker, Stararchitekten und Betroffenheitsprofis durch die der Kinogänger, Freizeitler, Arbeitssuchenden und Unpolitischen relativiert wird. Dass dies beim Holocaustmahnmal in Berlin geschah, ist kein Zufall, denn wo wurde weiter am Volk und den eigentlich Betroffenen vorbei diskutiert, geplant und entschieden? Alles begonnen hatte im vergangenen West-Berlin. Mit seinen Landesvertretungen, dem neuen Bau für den Bundestag, dem Ausbau der Ministerien mutierte Bonn am Rhein von der provisorischen zur scheinbar dauerhaften Hauptstadt West-Deutschlands. Der nationalbewusste Bundeskanzler Helmut Kohl wollte oder konnte für die alte Hauptstadt Berlin nicht mehr tun als sie zum politischen Museumszentrum der Republik zu machen. Der Entwurf eines italienischen Stararchitekten für das Deutsche Historische Museum wurde prämiert, und in der Nähe des heutigen Bundeskanzleramtes wurde dafür ein Bauschild aufgestellt. Da passte es, dass die Journalistin Lea Rosh und ihr getreuer Eckart – der Geschichtsprofessor Eberhard Jäckel – bei einem Besuch der Halle für die ermordeten Kinder in Yad Vashem in Jerusalem auf die Idee kamen, in Berlin ein Denkmal zu errichten für die ermordeten Juden in Europa. In Berlin wohlgemerkt: auf der politischen Geschichtsinsel und nicht etwa in der damals noch richtigen Hauptstadt Bonn. Später verbreitete Frau Rosh die Version, bei dem Besuch eines authentischen Ortes des Judenmordes habe sie einen Zahn gefunden, der – nach einer spontanen Eingebung - an einem zentralen Denkmal in Berlin „beerdigt“ werden sollte… Wie war es zu dem Denkmal gekommen, das im Mai 2005 in der Hauptstadt des vereinten Deutschlands in unmittelbarer Nähe des Reichstages, des Kanzleramtes und des Brandenburger Tores eingeweiht wurde? 80 Am 10. Januar 1997 eröffnete der Berliner Kultursenator Peter Radunkski ein Colloquium über das in Berlin geplante „Denkmal für die ermordeten Juden Europas” mit der Leitfrage „Warum braucht Deutschland das Denkmal?” 1995 war dem ein offener Wettbewerb zur Errichtung eines nationalen Denkmals für die ermordeten Juden Europas vorausgegangen. Der daraufhin favorisierte Entwurf für eine monumentale Platte mit den Namen möglichst vieler der Ermordeten wurde nicht realisiert, da für einen der drei Auslober - die Bundesregierung - Bundeskanzler Helmut Kohl ein Veto einlegte. Viele der am Verfahren Beteiligten waren enttäuscht oder empört. Andere - wie der Vorsitzende des Zentralrats der Juden, Ignatz Bubis - begrüßten diese Intervention des Kanzlers. Die Auslober - neben der Bundesregierung der Senat von Berlin und ein Förderkreis – nahmen nun mit dem Colloquium und einem weiteren Wettbewerb einen neuen Anlauf. Hierfür übernahm die Verwaltung - ein Referat der Berliner Senatsverwaltung für Wissenschaft, Forschung und Kultur - die organisatorische Federführung. Zielorientiert brachte sie alle Diskussionen, Entwürfe und Colloquien voran im Sinne der politischen Vorgabe, wie sie von Radunski formuliert wurde: „1. Das Denkmal wird gebaut. ...” 2. ...„Spätestens am 27. Januar 1999, dem Gedenktag für alle Opfer des Nationalsozialismus, wird der Grundstein gelegt. ...” 3. „Es bleibt beim Budget von 15 Millionen Mark.” 4. „Der für den Wettbewerb vorgegebene Standort wird beibehalten. ...” 5. „Die Auslober wollen ihre Entscheidung einvernehmlich treffen.”67 Nach der Wiedervereinigung Deutschlands und der Wahl Berlins zu seiner Hauptstadt schien es zweckmäßig, am neuen/alten Regierungssitz ein Holocaustdenkmal zu haben, um Skeptikern im Ausland zu demonstrieren, dass das Land seine historische Lektion verinnerlicht habe. Noch zu West-Berliner Zeiten war der privaten Förderkreis gegründet worden, als deren Sprecher sich vor allem Lea Rosh und Eberhard Jäckel hervortaten. Die ersten heftigen Diskussionen gingen um den Standort und um die Entscheidung, ob es ein Denkmal werden solle für alle Opfer des Nationalsozialismus oder eines für die jüdischen Opfer. Der Förderkreis setzte sich trotz bitterer Gegenwehr mit seinem Ziel eines Denkmals ausschließlich für die ermordeten Juden durch. Nach der Wiedervereinigung schälte sich als Standort ein Teil der ehemaligen Ministergärten neben dem Brandenburger Tor heraus. Nachdem es in Jerusalem Yad Vashem gab, die KZ-Gedenkstätten in Deutschland arbeiteten, 67 Senatsverwaltung für Wissenschaft, Forschung und Kultur (Hg.), Colloquium. Denkmal für die ermordeten Juden Europas. Dokumentation, Berlin 1997, S. 5n 81 in Auschwitz die Gedenkstätte für das ehemalige Vernichtungslager existierte und die Amerikaner in ihrer Hauptstadt Washington ein Holocaust-Museum errichtet hatten, sollte in Berlin von den Nachkommen der Täter ein Denkmal für die Opfer geschaffen werden. Die alleinige Ausrichtung auf die jüdischen Opfer war in Fachkreisen wie bei Betroffenen umstritten. Reinhard Koselleck, Emeritus für Theorie der Geschichte schrieb am 9. Januar 1997 trotzig in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung”: „Wenn die Juden von den Deutschen ein eigenes Holocaust-Denkmal erhalten, dann bleiben wir gegenüber allen anderen Gruppen, die von uns ausgelöscht wurden, im Wort, ebenfalls ein Denkmal zu erhalten.”68 Und Romani Rose, Vorsitzender des Zentralrates Deutscher „Sinti und Roma“, monierte am 14. Oktober 1993: „Der für den nationalsozialistischen Völkermord am jüdischen Volk verwendete Begriff der Einmaligkeit trifft ebenso für den Holocaust an den Sinti und Roma zu. Juden und Sinti und Roma wurden im gesamten Einflussbereich der Nationalsozialisten als einzige systematisch und familienweise vom Kleinkind bis zum Greis ermordet.”69 Intern äußerte er sich deutlicher, sprach von „Apartheid“. Da erhielt er das Versprechen, auch für die Zigeuner, die er „Sinti und Roma“ nennt, werde in Berlin ein Denkmal errichtet. Seitdem streitet sich Rose ziemlich unglücklich mit der Bundesregierung und anderen über die korrekte Bezeichnung der von ihm gemeinten Opfergruppe. Das Colloquium von 1997 wurde moderiert von Bundesbauminister a.D. Oskar Schneider, des Kanzlers Statthalter für den Aufbau der neuen Hauptstadt in Berlin, und von Klaus Schütz, dem früheren Regierenden Bürgermeister von Berlin, der auch deutscher Botschafter in Israel gewesen war. Sodann nahmen an ihm teil die Wettberber, die Jury, jeweilige Riegen von Historikern, Kunstwissenschaftlern, Städtebauern, Philosophen und Publizisten, Abgeordneten, Vertretern des „öffentlichen Lebens” sowie die Auslober. Vertreter der deutschen oder ausländischen Gedenkstätten waren nicht geladen. Das „Volk“ – späterer Nutzer - war nicht zugelassen. Am Ende des Colloquiums, auf dem nach dem Willen der Auslober und der Regie der Veranstalter so viele Fragen nicht mehr gestellt werden durften, kamen vier Entwürfe für das Denkmal in die engere Auswahl. Sie wurden in der Auslober-Bürokratensprache „Realisierungsentwürfe” genannt. Es waren Entwürfe von Eisenman Architects mit Richard Serra aus New York, von Jochen Gerz aus Paris, von Daniel Liebeskind aus Berlin und von Frankfurter Allgemeine, 9. Januar 1997, “Vier Minuten für die Ewigkeit” Romani Rose, Der Völkermord an den Sinti und Roma und seine gegenwärtige Bedeutung für Deutschland. Vortrag am 14. Oktober 1993; in: Jürgen Dittberner/Antje von Meer (Hg.), Gedenkstätten im vereinten Deutschland. 50 Jahre nach der Befreiung der Konzentrationslager, Berlin 1994, S. 68 68 69 82 Gesine Weinmiller aus Berlin. Diese und weitere Entwürfe wurden im früheren Marstall des abgerissenen Berliner Schlosses ausgestellt. Als der Bundeskanzler diese Ausstellung besuchte und sich insbesondere mit dem Entwurf von Eisenman und Serra, einer Landschaft aus Betonpfeilern, beschäftigte, folgerten die Auguren, dieser Entwurf werde wohl realisiert werden, und sie behielten recht. Am 26. Januar 1998, ein Jahr bevor der Grundstein gelegt werden sollte, fand noch einmal eine öffentliche Diskussion statt, an der sich diesmal jedermann beteiligen konnte. Die engen Räume waren proppenvoll: Feuilletonredakteure, Betroffenheitsprofis, Staatsbedienstete, Politiker und der Historiker Hans Mommsen zählten zum Publikum. Jeder konnte sagen, was er wollte, wenn es nur kurz geschah. Da die Diskussion im Fernsehen übertragen wurde, standen nur zwei Stunden zu Verfügung. Die ersten beiden Diskutanten, Redakteure der „Zeit” und der „FAZ”, sprachen sich für den Entwurf von Eisenman/Serra aus. Frau Rosh als Versammlungsleiterin meinte, man müsse einmal darüber nachdenken, wie man ein Podium besser besetzen könne. Dann war viel Kritik zu hören. Nicht wenige befürchteten, die Diskussion um die Genozide könnte beendet sein, wenn das Denkmal fertig gestellt würde. Doch alles war leere Rhetorik, denn Lea Rosh hatte vorab - ganz wie eine gemeinsame Pressesprecherin von Senator und Kanzler zugleich - in die Fernsehkameras gesagt: „Es wird gebaut!” Nachdenklich wurde die Initiatorin des Projektes an jenem Abend nur einmal, als sich der frühere Berliner Bausenator Wolfgang Nagel zu Worte meldete. Er war als scharfer Durchpeitscher aus dem ersten Wettbewerb in Erinnerung. Nun sagte derselbe Nagel, der neue Wettbewerb hätte auch keinen breiten Konsens ergeben. Heute wisse er auch, warum: „Der Ort in seiner Größe ist nicht geeignet, einen breiten Konsens herzustellen.” Deshalb solle das Denkmal jetzt nicht realisiert werden. Wenn bei dieser Veranstaltung über Konsens die Rede war, dann war der Konsens unter Experten, Betroffenen und Politikern gemeint, nicht der Konsens im Volk. Der anwesende Bundestagsabgeordnete Peter Conradi von der SPD lehnte eine Abstimmung selbst im Parlament ab, denn das Parlament habe nicht über „Kunst” zu entscheiden. Ein bewusstes Missverständnis? Natürlich erwartete niemand, dass der Bundestag zwischen einzelnen Wettbewerbern auswählt, hier galt eher die Vermutung, das könnten die Mitglieder der Jury zu denen ehemalige Senatoren und Bundesminister gehörten - zusammen mit den Auslobern besser. Aber eine Debatte im Parlament über das Ob des Denkmals mit einer anschließenden Abstimmung erschien den meisten Diskutanten angemessen. Da diese Abstimmung - schon wegen des Druckes nach politischer Korrektheit, der auf den Parteien lastete - aller 83 Wahrscheinlichkeit nach mit einem „Ja” enden würde, wäre die dadurch entstandene Legitimation jedenfalls stärker gewesen als die aus dem Willen der Auslober fließende. Aber: Warum interessierte eigentlich das Votum des Volkes in diesem Zusammenhang nicht? Bei der Diskussion im Marstall fragte niemand danach, einige stellten sogar fest, das sei hier nicht relevant. Sicher wäre es falsch gewesen, die Realisierung eines Holocaust-Denkmals von einer Volksabstimmung abhängig zu machen, aber warum wollte niemand Volkes Meinung hierzu hören? Per Umfrage oder sogar Volksbefragung wäre das leicht zu erfahren gewesen. Wahrscheinlich befürchteten die Initiatoren des Denkmals ein „Nein” der Mehrheit. Sie wollten davor die Augen verschließen. Weil das Projekt nicht weiter ging und auch, weil der Förderverein sein Geld nicht zusammen bekam, musste der Bundestag entscheiden. Weil die Parteien sich nicht festlegen wollten, wurde – wie bei der Bonn/Berlin-Entscheidung – die Abstimmung „frei gegeben“. Wie das Grundgesetz es im Artikel 38 eigentlich vorsieht, gestatteten die Parteien ihren Abgeordneten, nach ihrem „Gewissen“ zu votieren. So fand sich eine Mehrheit für den Entwurf von Eisenmann, nachdem Serra ausgestiegen war. Erweitert wurde das Projekt um ein unterirdisches Museum, das den Zweck des Denkmals – der ermordeten Juden zu gedenken – visualisierte und verbalisierte. Im Parlamentspräsidenten Wolfgang Thierse fand das Projekt seinen adäquaten Interpreten für die Realisierungsphase. Doch das Denkmal wurde keines des deutschen Volkes für die ermordeten Juden, sondern eines einer herrschenden Schicht von Journalisten, Wissenschaftlern und Politikern. Es ist nicht einmal sicher, ob es wirklich für die ermordeten Juden gebaut wurde. Vielmehr scheint es so, als wollte mancher Initiator sich selber ein Denkmal setzen, als wollte sich die spärlich fördernde Wirtschaft von einstiger Schuld abschließend freikaufen und als brauchte die Politik in der Berliner Republik ein Symbol der Reue, um so nachhaltiger deutsche Interessen – zum Beispiel mit einem ständigen Sitz im Weltsicherheitsrat - vertreten zu können. Aber die Geschichte dieser Einrichtung war nicht beendet, seit die Bauhandwerker die Ministergärten verlassen haben. Nun war es nicht mehr das Objekt der Auslober, der Historiker, Feuilletonisten und Architekten - nun gehörte das Mahnmal dem Volk. Und das nahm sich der Einrichtung vielfältig und auf seine Art an. Wenige – auch wenige unter den Juden, deren Einrichtung dies nicht ist – empfinden den Ort als sakrosankt. Da gibt es andere Plätze: Grunewald, Sachsenhausen, Buchenwald, Theresienstadt und Auschwitz. Einige Besucher wollen dennoch auf dem Stelenfeld der ermordeten Juden gedenken. Die fühlen sich gestört durch die Menge der durch die Eventkultur und Arbeitsplatzunsicherheit sozialisierten Besucher. Diese springen über Stelen, 84 spielen Verstecken: erobern einen Spielplatz für ihre Freizeitbedürfnisse. Oder sie sagen, sie wollen das Bauwerk nicht als Holocaustmahnmal, denn einmal müsse doch Schluss sein mit dem Gedenken. Nach Tagen schon schien dieses Denkmal das erreicht zu haben, was jedem Denkmal widerfährt – nur meist nicht so schnell: die Halbwertzeit seines Sinnverlustes. Wer gedenkt schon des „eisernen Kanzlers“ bei einem der vielen Bismarckdenkmälern im Lande? Wen erfüllen die zahlreichen Kriegsdenkmale für den ersten oder zweiten Weltkrieg mit patriotischem Stolz? Denkmäler werden zu Mobiliar, das im öffentlichen Raum steht wie Laternen oder Reklamesäulen. Vielfach werden sie ignoriert, oft dienen sie als Fotokulisse oder für andere profane Zwecke. Warum soll es dem Stelenfeld anders ergehen? Ihre Initiatoren und Verwalter wollten, dass es offen sei für jedermann. Noch waren es banale Betätigungen, die bekannt wurden. Als der erste Winter kam, wurden Fortschäden gemeldet. Aber was wird sein, wenn die Öffentlichkeit erfährt, dass etwa Holocaustleugner sich artikulieren? Werden sie dann „standhaft“ bleiben – die Stiftung, die Repräsentanten der deutschen Juden, der Architekt und stoisch verkünden: Das Mahnmahl soll prima vista unerklärt und von allen Seiten für jedermann offen sein? – Wohl kaum. Die kompromisslose Offenheit wird es bei diesem Denkmal nicht geben. Was dem Volke geschenkt wurde, wird ihm wahrscheinlich nach und nach wieder entzogen und zu einer staatlichen Anstalt verwandelt werden. Irgendwie wird man das schon schaffen. Dann wird das Holocaustmahnmal werden, was es nach dem Willen seiner Protagonisten angeblich nie sein sollte: eine künstliche Weihestätte. Die Leiter der KZ-Gedenkstätten werden auf die Authentizität ihrer Einrichtungen verweisen. Den Stadtplanern hingegen wird gefallen, dass eine Brache in der Hauptstadt ästhetisch ansprechend geschlossen ist. Und Romani Rose wird weiter unglücklich für ein weiteres Mahnmal mit der Bezeichnung „Sinti und Roma“ kämpfen. Das Volk indes wird andere Orte finden fürs Ausleben seiner Alltagskultur. Zur – um es altmodisch auszudrücken - „Vergangenheitsbewältigung“ im deutschen Volkes wird das Holocaustmahnmal wenig beitragen. Zur PC gehört auch der jeweils angemessene Ton in der Ausländer- und Zuwandererangelegenheit. Hier schwankt die öffentliche Moral. Als die deutsche Wirtschaft in den sechziger Jahren boomte, Vollbeschäftigung herrschte und das Anwerben in der „SBZ“ durch den Bau der Mauer fortfiel, wurden „Gastarbeiter“ zuerst in Italien und später in anderen Ländern bis in die Türkei angeworben. In ihren Heimatländern wurden diese Gastarbeiter ärztlich untersucht, und nur die Gesündesten durften kommen, um hier 85 Eisenbahnschwellen zu demontieren oder am Hochofen zu glühen. In Baracken und anderen miesen Quartieren waren sie untergebracht, denn in Deutschland herrschte Wohnungsnot. Die deutsche Bevölkerung hatte wenig Kontakt zu den Fremden, die wie ihre Gastgeber glaubten, bald wieder in die Heimat zurück zu kehren. Gelegentlich berichtete die Presse über diese Gastarbeiter, dass sie zwar fremde Sitten – vor allem beim Essen - hatten, aber dass man sie doch, bitte sehr, eigentlich auch als normale Menschen sehen müsse. Dennoch wurden die Gastarbeiter als Aushilfen angesehen, mit deren Problemen man sich nicht beschäftigen müsse und deren Stellung subaltern war. Als die im Lande arbeitenden Italiener, Portugiesen, Griechen und Türken gegen alle Erwartungen sesshaft geworden waren, als sie Familien gründeten, war viel von „Integration“ die Rede. Förderprogramme wurden entwickelt. Entstehende Ausländerviertel wurden gegen die Ängste Einheimischer verteidigt. Die politische Korrektheit forderte nun, die Ausländer mit ihren Familien hier leben zu lassen, damit sie sich spätestens in der zweiten Generation integrieren könnten: die deutsche Sprache beherrschen, ihre religiösen und nationalen Wurzeln kappen und vollwertig in das deutsche Arbeitsleben einsteigen würden. Nur noch die italienischen, türkischen, griechischen oder portugiesischen Restaurants sollten bestehen bleiben und vielleicht noch ihre Märkte: Das würde die deutsche Kultur bereichern, liebenswerter machen. An die Stelle des paternalistischen Denkens über die Ausländer trat das idealistische. Ausländer wurden nun gesehen als kulturelle Bereicherung. Wer gegen sie war, war miefig, ignorant und rechts. Die zu integrierenden Ausländer waren in den Augen der integrationsorientierten Gutmenschen ebenfalls Gutmenschen. Doch die Sache fing an, kompliziert zu werden. Nicht nur dass der Unmut in der Bevölkerung gegen „Türkenghettos“ wuchs, zusätzlich kamen Flüchtlinge aus aller Herren Länder nach Deutschland. An denen brach sich das Bild vom „guten Ausländer“. Die Anfang der achtziger Jahre aufkommende Grünen sahen sich zunächst als moralische Sachwalter aller Ausländer und ließen in ihrem Denken außen vor, dass es „Wirtschaftsflüchtlinge“ gab. In einer nächsten Phase differenzierte die politische Korrektheit zwischen Wirtschaftsflüchtlingen als Opfer und den Schleppern als Täter. Die Grundidee der Integration ehemaliger Gastarbeiter und ihrer Nachkommen blieb von solchen Erkenntnissen unberührt gültig. Auf deutscher Seite setzte eine Institutionalisierung der Ausländerpolitik ein. In Berlin wurde Anfang der achtziger Jahre mit Barbara John eine „Ausländerbeauftragte“ des Senats mit einem Arbeitsstab berufen, beim Bund (1981: Liselotte Funcke) und bei den Ländern war es entsprechend. In einigen Parlamenten wurden „Ausländerausschüsse“ eingerichtet. Das neue Politikfeld 86 bewegte sich zwischen Sozial- und Innenpolitik. Integrationsmaßnahmen fielen ins soziale Feld, während Abschiebungen und andere Polizeimaßnahmen Sache der Innenpolitiker war. Zwischen Innen- und Sozialpolitikern kam es zu Konflikten, und die Sozialpolitik bewegte sich dabei meist in den Bahnen politischer Korrektheit. Durch die Flüchtlinge wuchs die Erkenntnis, dass die Integrationskraft des Landes „begrenzt“ war. Also war von der offiziellen Politik landauf, landab zu hören, Deutschland sei „kein Einwanderungsland“. Die Stimmung reifte heran, sich der Flüchtlinge zu erwehren, und so wurde der alte Artikel 16 des Grundgesetzes: „Politisch Verfolgte genießen Asylrecht“ durch vier ausschweifende Absätze ergänzt, die „aufenthaltsbeendende Maßnahmen“ ermöglichten, wofür wiederum eine Behörde geschaffen wurde. Die Integrationspolitik jedoch war weiterhin PC-konform. 2000 - in der Amtszeit Gerhard Schröders- kam es zu einem erneuten Umdenken. Die Bundesregierung setzte im Jahre 2000 eine „Zuwanderungskommission“ ein.70 Auch die CDU 70 Pressemitteilung des Bundesministers des Innern vom 12. Juli 2000: Schily beruft Zuwanderungskommission Zur Einsetzung einer unabhängigen Zuwanderungskommission erklärt Bundesinnenminister Otto Schily: "Zur Zeit haben wir nach Deutschland Zuwanderung aus den verschiedensten Kategorien: Asylbewerber, Spätaussiedler, nachziehende Familienangehörige von Drittstaatsangehörigen, jüdische Zuwanderer aus den Gebieten der ehemaligen Sowjetunion, Kriegs- und Bürgerkriegsflüchtlinge und nicht zuletzt EU-Bürger, die von ihrem Recht auf Freizügigkeit Gebrauch machen. Dadurch sind die Gestaltungsmöglichkeiten für eine aktive Zuwanderungspolitik deutlich eingeschränkt. Deshalb muss eine Politik formuliert werden, mit der wir die Zuwanderung besser als bisher steuern können. Dies hat selbstverständlich unter Wahrung unserer humanitären Grundsätze zu erfolgen. Zugleich muss Deutschland dabei aber auch seine legitimen wirtschaftlichen und politischen Interessen wahrnehmen können. Zu diesem Zweck habe ich eine überparteiliche Sachverständigenkommission einberufen, die praktische Lösungsvorschläge und Empfehlungen für eine neue Ausländer- und Zuwanderungspolitik erarbeiten wird. Der Auftrag der Kommission ist keinen politischen Beschränkungen unterworfen. Sie soll alle mit der Zuwanderung verbundenen Fragen vorurteilsfrei und ohne Tabus prüfen. Die Zuwanderungskommission wird also ein breites Themenfeld zu behandeln haben. Hierzu gehört etwa die Frage eines qualifizierten Zuwanderungsbedarfs, gehören notwendige Ableitungen aus demographischen Faktoren oder auch Vorschläge zur Ausgestaltung eventueller Zulassungsverfahren. Die Kommission ist aber auch berufen, nach Wegen zu suchen, um die de facto bestehende Verknüpfung zwischen Asylverfahren und Zuwanderung im Rahmen des rechtlich Möglichen aufzulösen. Daneben ist das Ziel im Auge zu behalten, Bürokratie abzubauen, den Vorschriftendschungel zu lichten und die Vielzahl der Vorschriften im Bereich des Ausländerrechts zu ordnen und übersichtlicher zu gestalten. Die Arbeit der Kommission wird überdies so anzulegen sein, dass Empfehlungen herauskommen, die sich in ein europäisches Gesamtkonzept einfügen. Dabei ist zu berücksichtigen, was die EU-Erweiterung nach Mittel- und Osteuropa an möglichen Wanderungsbewegungen mit sich bringt, insbesondere vor dem Hintergrund, dass die Ausländerpolitik bereits weitgehend vergemeinschaftet ist. Der vorliegende EU-Richtlinienentwurf zur Familienzusammenführung ist erst der Anfang europäischer Rechtsakte, die bei der Gestaltung eines Gesamtkonzepts zur Zuwanderung berücksichtigt werden müssen. Die Kommission soll im Laufe des nächsten Jahres konkrete Vorschläge für ein neues Regelwerk vorgelegen. Es kann sich dabei um ein eigenständiges Zuwanderungsgesetz handeln. Ebenso denkbar ist aber auch eine Änderung der bestehenden Rechtsgrundlagen. Die Zuwanderungskommission wird insgesamt 21 Mitglieder haben. Zur Vorsitzenden berufe ich Frau Prof. Dr. Rita Süssmuth; den Stellvertretenden Vorsitz wird Dr. Hans-Jochen Vogel einnehmen. Als weitere Mitglieder benenne ich Persönlichkeiten aus Politik, Wissenschaft, Wirtschaft und gesellschaftlichen Gruppen, die ihre besondere Sachkunde und Erfahrung in die Arbeiten der Kommission einbringen werden. Die Sachverständigenkommission wird sich voraussichtlich am 1. September 2000 konstituieren und durch eine Geschäftsstelle, die im Bundesinnenministerium angebunden ist, unterstützt werden. 87 bildete eine solche Kommission. Ziel war die Begrenzung des Zuzugs möglichst auf Personen, die von der Wirtschaft gebraucht wurden, wie zum Beispiel computerkundige Inder. Um die ins Land zu locken, hieß es jetzt von offizieller Seite: „Deutschland ist ein Einwanderungsland“. Nun war es auch möglich, die Integration infrage zu stellen. Nachdem alle PC die Tatsache nicht ausblenden konnte, dass selbst Ausländerkinder in der dritten Generation integrationsunfähig und –unwillig waren, kam das Wort von den „Parallelgesellschaft“ auf. Es galt als angemessen, Deutschkurse für alle Ausländer zu fordern und zu fördern. In Zeiten hoher Arbeitslosigkeit war von Integration nicht mehr die Rede. Es herrschte Unsicherheit, und ein durchgehend korrektes Reden und Handeln in der Ausländerfrage war schwieriger geworden. Die politische Korrektheit hatte sich ganz aufs Feld der Sozialpolitik zurückgezogen, wo die Rede von „MigrantInnen-Politik“ war. Aus Ausländerbeauftragten wurden zumeist „MigranInnenbeauftragte“. Fast scheint es, als sei der sich politisch korrekt fühlende Teil der Ausländerpolitik in die Genderpolitik eingemündet. Offenbar liegt das daran, dass die Probleme der - nicht gelungenen Integration der dritten Generation von Türken und auch Arabern, - deren Arbeitslosigkeit, - ihrer religiösen Fundamentalisierung, - des Nachholens von Ehefrauen aus den Herkunftsländern, - der „Ehrenmorde“ und - des Antisemitismus besonders bei Arabern so groß geworden sind, dass keine Lösung in Sicht ist und dass die Verfechter der politischen Korrektheit sich deswegen zurückgezogen haben. Erwarten sie nun repressive Maßnahmen wie Abschiebungen oder Verurteilungen, und wollen die politisch korrekten „Gutmenschen“ sich hieran die Finger nicht schmutzig machen? Der Druck, politisch korrekt zu reden und zu handeln, hat in Deutschland seit 1945 erhebliche Veränderungen der politischen Kultur bewirkt. Am stärksten ist dies am Verhältnis der Geschlechter zueinander zu sehen. Trotz des Gleichberechtigunsgebotes im Grundgesetz und trotz des allgemeinen Wahlrechts ist die Bundesrepublik als Männergesellschaft gestartet. Beruf war Männersache. Wenn der Mann eine Stellung als „Ernährer“ gefunden hatte, wurde die Partnerin meist auf die Hausfrauenrolle verwiesen. Wo Männer und Frauen dennoch die gleiche Arbeit leisteten, bekamen die Männer mehr Geld. Der erste Bundeskanzler, Konrad Ich bedanke mich ausdrücklich für die Bereitschaft der genannten Persönlichkeiten, an dieser wichtigen Aufgabe mitzuwirken und damit ein außerordentlich bedeutsames Stück Zukunftsarbeit zu leisten." 88 Adenauer, hatte aufgrund seiner patriarchalischen Einstellung lange gezögert, eine Frau in die Bundesregierung zu holen. 1961 erst ließ er sich breitschlagen, als erste Frau die Juristin Elisabeth Schwarzhaupt zur Bundesministerin für das Gesundheitswesen zu machen.71 Mädchen erhielten oft eine schlechtere Ausbildung als ihre Brüder. Es galt, dass Mädchen und Frauen für die Familie da waren, die Männer für den Beruf und die Öffentlichkeit. Sicher hat die Einführung der Pille wesentliches an diesem Rollenbild geändert. Dass sich der Feminismus von der Parteilichkeit zur allgemeinen politischen Korrektheit wandelte, trieb diesen Prozess weiter voran. Im Alltag bei weitem nicht so präsent wie Feminismus und Gender Mainstreaming ist das Gedenken. Hier wurden vielfach Tabuzonen errichtet, denen eine tiefe gesellschaftliche Verankerung fehlt. Eine offene Diskussion findet oft nicht statt. Wo ökonomische Verwertungsinteressen anstehen, kann ein Ort noch so sakrosankt sein: Er wird Investoren nicht abschrecken. Dass die Alltagskultur vom Holocaustmahnmal in Berlin Besitz genommen hat, zeigt, wie dünn das Eis ist, auf dem sich das Gedenken bewegt. Die Paradigmenwechsel in der Ausländerpolitik haben tiefe Unsicherheiten in dieser Problematik als Ursachen. Allzu oft wurde hier mit politischer Korrektheit versucht, ein Bild der Lage zu vermitteln, das geschönt war und der Realität nicht entsprach. Je offensichtlicher die Schwierigkeiten auf diesem Felde wurden, desto mehr zog sich die politische Korrektheit und die hinter ihr stehende Szene aus diesem Bereich zurück. Politische Korrektheit ist unterschiedlich zu bewerten: Sie kann sozialen Wandel bewirken, aber auch offene Auseinandersetzungen unterdrücken, und aus besonders heiklen Gesellschaftsbereichen zieht sie sich zurück, wenn sie selber keine Lösungskonzepte mehr anbieten kann. Udo Kempf/Hans-Georg Merz (Hg.), Kanzler und Minister 1949 – 1998. Biografisches Lexikon der deutschen Bundesregierungen, Wiesbaden 2001, S. 643 71 89 8. Konsensdemokratie oder Konsensmanie Der Konsens ist für die deutschen Parteien und deren Personal die höchste Form der politischen Kunst. Das ist merkwürdig, denn an sich sollen die Parteien untereinander und auch im Innern politische Streitfragen ausfechten, damit am Ende des Diskurses im Lichte aller Argumente entschieden werden kann – mit Mehrheit. Die Unterschiede in den Interessen und Ansichten sollen transparent werden, damit das Publikum weiß, wen es bei den politischen Akteuren vor sich hat. Doch in Deutschland wird in den Konsens „geschoben“ – so der Politikerjargon – wo es nur immer geht. „Möglichst keinen Streit.“, heißt es: „Alle müssen an einem Strang ziehen, dann wird es gehen.“ Ob Bund, ob Land: Jeder Kabinettssitzung geht eine Staatssekretärskonferenz voraus, in der die politischen Beamten prüfen, was in den „Block“ = Konsens gehen kann und was wirklich auf die Tagesordnung kommt. Was im Block ist, ist schon beschlossen, wird gar nicht mehr beraten. Je mehr Themen in den Block geschoben werden, finden die Politiker, desto besser. Nur ja so wenig Streit wie möglich. Auch in den Parlamenten geht mehr in den Konsens, als der Bürger glaubt. Die Rolle der Staatssekretärskonferenz spielt hier der Ältestenrat. Oft sind dort die Abgeordneten geradezu von einer Manie besessen, möglichst viele Anträge im Plenum gar nicht erst auftauchen zu lassen. Im Parlament gibt es zwei Varianten, der öffentlichen und kontroversen Beratung zu entgehen: Ein Antrag kann - direkt per Konsens eingebracht und durch alle Fraktionen unterstützt werden oder - per Konsens in Ausschüsse verwiesen werden, wenn die Fraktionen darüber zunächst nicht einig sind. In den Fachausschüssen machen sich danach Formulierungskünstler ans Werk und versuchen, durch Textänderungen den Konsens doch noch zu erreichen. Beides kommt auf die „Konsensliste“, die vom Plenum zu Sitzungsbeginn beschlossen wird. Nicht nur Regierungen und Parlamente sind der Konsensmanie verfallen, auch die BundLänderkonferenzen. Die Sitzungen der Kultusministerkonferenz beispielsweise werden in mehreren Runden vorbereitet – zuerst von Fachbeamten, dann von Staatssekretären und alles noch einmal getrennt zwischen SPD- und CDU-geführten Ländern. Die aber entscheiden, was schon vorab als erledigt gelten kann und was dann doch dem „Plenum“ vorgelegt werden muss. Oft ist es so, dass eine Plenumsberatung eher als Unglück angesehen wird: Konsensmanie! Im Föderalismus und besonders beim Bundesrat ist die Konsensmanie zum Strukturproblem geworden. Fritz Scharpf spricht von „Politikverflechtung“, die zur „Politikverflechtungsfalle“ 90 geworden sei.72 Zwar wird allenthalben davon geredet, dass es eine Föderalismusreform geben müsse, und die im November 2005 gewählte große Koalition hat sich das auch vorgenommen. Aber postwendend machten Ministerpräsidenten der Länder ihre Bedenken geltend, so der niedersächsische Ministerpräsident Christian Wulff mit seiner Warnung: „Der Jubel wird sich in Grenzen halten.“73 Auf kommunaler Ebene lebt sich die Konsensmanie regelrecht aus. Am 17. November 2005 tagte die Bezirksverordnetenversammlung in einem Bezirk Berlins, der 315.071 Einwohner hat (November 2004). Zur Vorbereitung dieser Sitzung tagte am 9. und am 16. November der Ältestenrat. Dem gehören entsprechend der Stärke der Fraktionen Vertreter der SPD, der CDU, der Grünen, der FDP und der PDS an. Zu diesen gehören die jeweiligen Fraktionsvorsitzenden. Geleitet wird die Sitzung von der „Vorsteherin“, quasi der Präsidentin des hier „Bezirksverordnetenversammlung“ genannten Bezirksparlamentes. In der ersten Sitzung werden den Mitgliedern die „Drucksachen“ genannten Tagesordnungspunkte vorgelegt, wie sie von den Fraktionen oder den Ausschüssen beschlossen wurden. Einstimmige Beschlussempfehlungen der Ausschüsse gehen automatisch in den Konsens. Es meldet sich der Vorsitzende einer kleineren liberalen Fraktion und sagt: „Den Antrag über Zwangsheirat würden wir gerne im Plenum besprechen.“74 Die Antwort der Vorsteherin kommt prompt: „Herr Kollege, wir wollen doch fertig werden. Schließlich haben wir festgelegt, dass die Sitzungen spätestens um 22 Uhr zuende sind. Es gibt ja noch Werktätige unter uns.“ Letzteres stimmt zwar nicht, der Liberale ignoriert die Äußerung und setzt aber nach: „An der Plenarsitzung nimmt doch Öffentlichkeit teil, Presse und so. Wir wollen dort Problembewusst sein erzeugen.“ Nun interveniert der Vorsitzende einer größeren, sozialdemokratischen Fraktion: „Was soll denn das. Im Ausschuss war alles einstimmig. Außerdem ist das unser Antrag. Also ich bin für Konsens!“, schließt er und fixiert nacheinander für kurze Augenblicke die Vorsitzende der anderen größeren, christlichdemokratischen Fraktion und die Vorsteherin. Die so aktivierte Fraktionsvorsitzende wirft gelangweilt das Wort „Konsens“ in die Runde. Spitz mischt sich der Vorsitzende der anderen, kleineren, grünen Fraktion ein und droht: „Wir können auch abstimmen.“ Der Liberale weiß, dass eine Abstimmung im Plenum über die Geschäftsordnung „draußen“ nicht wirkt, besonders wenn er auf den Stimmen seiner eigenen Fraktion sitzen bleibt. Er gibt klein bei: 72 Siehe Kapitel Paradigmenwechsel in der politischen Kultur Frankfurter Allgemeine Zeitung, Nr. 278/48D vom 29. November, S. 1: „Warnschüsse“ gegen die Föderalismusreform 74 Der Antrag lautete: “Zwangsheirat Der Ausschuss für Frauen empfiehlt der BVV, die BVV möge beschließen: Das Bezirksamt wird aufgefordert, auch in Charlottenburg-Wilmersdorf eine Kampagne zur Problematik "Zwangsheirat" in Anlehnung an das Neuköllner Vorbild durchzuführen.“ („BVV“ steht für „Bezirksverordnetenversammlung“- J.D.) 73 91 „Also schön: Konsens.“ Es scheint, als stiegen im Innern der Vorsteherin und der anderen Fraktionsvorsitzenden Glücksgefühle auf. Dann wird ein neuer Antrag beraten: „Drachenfliegerweg am Teufelsberg. Das Bezirksamt75 wird gebeten, sich bei den Berliner Forsten dafür einzusetzen, dass der Wanderweg/Teil des Europawanderweges zwischen Parkplatz Teufelsseechaussee/Nähe Ökowerk und den Hügeln des Teufelsberges als Drachenfliegerweg benannt und ausgewiesen werden kann.“ Die Vorsteherin blickt in die Runde und fordert: „Per Konsens in den Kulturausschuss!“ Da wird der Grüne ungemütlich. „Na hören Sie ´mal, schließlich haben wir beschlossen, dass alle Namensgebungen von Straßen in den Frauenausschuss gehen müssen. Daran wollen wir uns aber auch, bitteschön, halten!“ Die Vorsteherin ist etwas gereizt: „Meinetwegen: Kultur- und Frauenausschuss. Ist jemand dagegen?“ Wieder fängt der Kollege von den Liberalen an: „Was soll der denn im Frauenausschuss? Ist doch Blödsinn!“ „Beschlusslage!“ ruft der Grüne dazwischen. Der Sozialdemokrat und die Christdemokratin plädieren ebenfalls für Überweisung in den Kultur- und in den Frauenausschuss, „weil wir das so festegelegt haben“. Der liberale Kommunalpolitiker versucht es noch einmal: „Drachenfliegerweg in den Frauenausschuss, da kommen doch böse Assoziationen auf!“ Nun allerdings wird der Grüne konkreter: „Drachenfliegerweg ist männlich. Das wollen wir nicht. Wir werden im Frauenausschuss beantragen, dass der Weg künftig `Drachenflugweg` heißt. Geschlechtsneutral!! Verstehen Sie, lieber Kollege von den Liberalen?“ Der jedoch ist nun in Rage: „Das ist doch alles Humbug, interessiert keinen Menschen: Kein Konsens!“ Schweigen. Im Plenum wird dann doch über die Geschäftsordnung abgestimmt. Die liberale Fraktion beantragt, das Thema Drachenfliegerweg von der Konsensliste zu nehmen. Niemand meldet sich zu Worte. Mit großer Mehrheit wird der Antrag diskussionslos abgelehnt. Die Drucksache íst in den Kultur- und in den Frauenausschuss überwiesen. Dort soll faktisch unter Ausschluss der Öffentlichkeit die Metamorphose des „Drachenfliegerweges“ zum „Drachenflugweg“ erfolgen. Eine Woche nach dem ersten tagt der zweite Ältestenrat. Die Fraktionsvorsitzenden haben die Ergebnisse der ersten Runde in ihren Fraktionen „rückgekoppelt“. Bei der kleinsten Gruppe – der PDS, die sich hier weigert, sich „Linkspartei“ zu nennen – sei Unmut aufgekommen über die vielen Konsenspunkte, berichtet deren jugendlicher Sprecher. Der Liberale freut sich, aber als Vertreter einer „bürgerlichen“ Partei will er lieber nicht gemeinsame Sache mit der PDS machen. Es wäre auch vergebens gewesen, denn die Empörung über dem Junggenossen ist Das Bezirksamt ist die „Bezirksregierung“ mit „Stadträten“ als Dezernenten und dem Bürgermeister an der Spitze. 75 92 qualifiziert mehrheitsfähig. Der Sozialdemokrat sagt, was die Mehrheit der Versammelten empfindet: „In meiner Fraktion gibt es null Verständnis dafür, dass in der letzten Woche schon die Truppe der angeblich Liberalen versucht hat, die morgige Sitzung bis tief in die Nacht zu verlängern. Jetzt kommen auch Sie noch, Genosse! Wissen Sie, bei uns sind Leute in der Fraktion, die müssen früh zur Arbeit. Die können nicht auspennen wie es in der DDR war!“ Der junge „Genosse“ lächelt, stammt er doch aus Münster und hat mit der DDR nichts am Hut. Aber Konsens muss sein, Konsens und nochmals Konsens: Das nimmt er eben hin. Anderntags, als das „Plenum“ zusammentritt, ist die Konsensliste lang: 90 % der Tagesordnungspunkte werden hier gar nicht behandelt. Da geschieht ein kleines (Un)-Glück: Die Tagesordnung ist so gestrafft, dass die Sitzung plötzlich um 21 Uhr zuende ist. Nichts ist mehr zu diskutieren, abzustimmen. Vereinbart war doch aber ein Ende um 22 Uhr. Die Vorsteherin schließt schnell die Veranstaltung, denn sie zieht es mit Macht in die nächste Raucherecke. Die anderen Kommunalpolitiker stehen unschlüssig im Raum: 21 Uhr, was sollen sie jetzt machen? Zu Hause sind sie noch nicht angemeldet, und alle Parteisitzungen haben schon längst begonnen. Also ziehen sich die meisten von ihnen in die jeweiligen Fraktionsräume zurück und tun, was alle Politiker – nicht nur die in den Kommunen – am liebsten tun: Sie kungeln unter Ausschluss der Öffentlichkeit über kommende Pöstchen und Mandate. Sie spinnen Intrigen gegen die liebsten Parteifeinde. Dabei sind sie so aktiv, redegewandt und diskutierfreundlich wie sie gerade im Plenum immobil, ungelenk und bei den wenigen Beratungspunkten polemisch waren. Auf allen Ebenen herrscht in der Politik Deutschlands eine Konsensmanie. In anderen Ländern ist das nicht so. Die Franzosen beispielsweise oder die Briten sind es gewohnt, ihre Konflikte offen und gelegentlich zugespitzt auszutragen. Es sei dahingestellt, was „besser“ ist: Eine Konsens- oder eine Konfliktdemokratie. Konsensmanie jedoch ist schädlich, weil sie Unterschiede zwischen Parteien und Gruppen verwischt, weil sie die Politik noch undurchschaubarer macht als sie ohnehin ist. Die Politiker scheuen die Bürger, deshalb beschließen sie gerne vieles unter sich. Gibt es dennoch Gegenwind, beschwören sie die „Gemeinsamkeit der Demokraten“ und stellen jeden Andersdenkenden als Außenseiter, Abweichler und nicht richtigen Demokraten hin. Diese Methode wird gelegentlich moralisierend untersetzt, doch sie schafft Politikverdrossenheit. Wenn Konflikte und Unterschiede in den Einschätzungen nicht offenbar werden, ziehen die Bürger sich zurück und überlassen die Politik sich selber. 93 Zur Konsensmanie gehört auch die weit verbreitete Neigung der Politik, die Verantwortung des eigentlichen politischen Systems per Problemverschiebung auf speziell dafür geschaffene Institutionen zu verschieben. Das repräsentative System ist nicht gewillt, die ihm zugedachte Verantwortung alleine zu tragen. Zwischen den Wahlen sollten nach der Theorie und auch dem Willen des Grundgesetztes die Repräsentanten und die von ihnen gewählten Regierungen oder Gemeindevorstände die politische Herrschaft eigentlich ausüben und verantworten. Dafür müssen sie sich bei der nächsten Wahl den Bürgern stellen. Dann müssen auch Minderheiten die Chance haben, Mehrheit zu werden. Doch die Politik weicht seit geraumer Zeit aus. Taucht ein neues politisches Problem auf, wird es nicht gelöst, sondern es werden „Beauftragte“ eingesetzt. So hat sich in Deutschland ein Netzwerk von Frauen-, Datenschutz- und Ausländerbeauftragten gebildet. So lautstark diese in der Öffentlichkeit agieren: Sie sind keine verantwortlichen Politiker. Von denen werden sie vielmehr als Alibi benutzt. Ein Wort eines Beauftragten erspart dem Politiker die Argumentation in der Sache. Von der Kommunalpolitik bis zur Bundesregierung ist es eine beliebte Methode, Kommissionen einzusetzen, die bestimmte Programme entwickeln sollen. Das bekannteste Beispiel ist die von der Regierung Schröder initiierte „Hartz-Kommission“, die Arbeitslosenund Sozialhilfe reformieren sollte und dabei die Ministerialbürokratie und den Bundestag überrollte. Schröder ist hiermit auch den Bedürfnissen der Mediengesellschaft gefolgt, die schnelle Ergebnisse sehen will. Der Preis für dieses Verfahren ist, dass die entstandenen Gesetze teilweise schon technisch schlecht sind und überarbeitet werden müssen. Beliebt ist es auch, „Beiräte“ einzusetzen. Dort werden Betroffene und Experten für bestimmte Gesellschaftsbereiche berufen, um die Entscheidungsträger zu beraten. Das hat ständischen Charakter und läuft dem Gedanken der Repräsentation zuwider. Den Handelnden ermöglicht es, sich abzusichern, indem sie auf die scheinbare Legitimität eines Beirates verweisen. Fachwissen über Behinderte, Senioren oder Ausländer kann sich jeder Politiker jedoch über die Administration in allgemeinen Gesprächen beschaffen, Scheinlegitimation aber nicht. Seit der Vereinigung ist es vielfach in Mode gekommen, „runde Tische“ einzuberufen. Auch das sind Gremien der Scheinlegitimation, die den Eingeladenen vorgaukeln, dass sie an einer Entscheidung beteiligt wären. Gelingt es der Politik, diesen Eindruck zu erwecken, ist sie von dem Handlungsdruck befreit, dem sie sich verstärkt allzu gerne entzieht. Diese Zusammenhänge zu durchschauen, ist nicht schwer. Und so spottete einer der erwähnten Kommunalpolitiker in einer Plenardebatte: 94 “Wenn ich nicht mehr weiter weiß, gründe ich `nen Arbeitskreis. Falls mich mein Verstand verlassen hat, vertrau ich jedem Beirat. Fällt mir das Entscheiden schwer, rettet ein Beauftragter. Bin ich politisch nicht mehr frisch, stärk` ich mich am runden Tisch..” 95 9. Liberalismus Der Liberalismus, die Freiheitsidee des Bürgertums gegen die Feudalgesellschaft, hat sich nicht zu Tode gesiegt, wie oft gesagt wird. Er hat als Neoliberalismus eine Auferstehung erfahren. Nach dem Ende des Ostblocks, dem Untergang der DDR in Deutschland, galt überall im ehemaligen Westen nur eines: Die „Freiheit“ habe gesiegt, und das werde eine allgemeine Deregulierung bewirken. Die Wirtschaft müsse von den sozialen Lasten aus der Zeit des Ost-West-Gegensatzes befreit werden. Dann werde sie innovativ sein und konkurrenzfähig in der globalisierten Welt, wo neben Europa und den USA in Asien und im pazifischen Raum weitere wirtschaftliche Zentren entstanden seien. In Deutschland konnte man den Eindruck haben, dass alle Parteien und die meisten Politiker neoliberal dachten und handelten. Wo einer anderes versuchte wie beispielsweise Ende der neunziger Jahre der Bundesfinanzminister Oskar Lafontaine, scheiterte er. Von den großen gesellschaftlichen Verbänden widersprachen allein die Gewerkschaften dem neoliberalen Trend. Aber sie setzten ihm keine Alternative entgegen, nahmen keinen sozialen Kampf auf. Stattdessen versuchten sie, sich hindurch zu lavieren zwischen der Vertretung ihrer in Arbeit befindlichen Mitglieder und dem Beklagen der hohen Arbeitslosenzahlen. Für die Bundestagswahl 2005 bot sich ein neoliberales Lager aus Union und FDP an, das die liberalen „Reform“-Projekte von Rot-Grün wie die „Hartz“-Gesetze konsequent weiterführen wollte. Doch es kam das Thema der sozialen Gerechtigkeit auf, und für das schwarz-gelbe Lager reichte es nicht. Die nun regierenden Großparteien setzten mit Blick auf die Wähler wieder die Gerechtigkeit auf die Tagesordnung und haben das Problem, eine Politik zu machen, welche - die Wirtschaft frei setzen, - die Arbeitslosigkeit abbauen und - soziale Gerechtigkeit schaffen soll. Ein neues „magisches Dreieck“ tut sich auf, in dem die Politik immer eines von den drei Zielen hintanstellen muss, wenn sie wenigstens die anderen beiden erreichen will. Was niemand geglaubt hätte, geschah: In der aufgeklärten und säkularen Gesellschaften hat das liberale Denken nach dem Scheitern des Sozialismus Konkurrenz von einer schon gestrig gesehenen Macht bekommen: von der Religion. Zuerst bildete sich in den USA ein einflussreicher religiöser Fundamentalismus, der beispielsweise der Evolutionstheorie die christliche Schöpfungsgeschichte entgegen setzt. Wer sagt, dass ähnliches sich im „alten Europa“ nicht auch einstellen kann? 96 Der Liberalismus ist die herrschende Lehre der Zeit. Aber wer lässt sie schon herrschen? Das Problem ist, dass die Verfechter kompromissloser neoliberaler Positionen verkennen, wie abschreckend der Abbau sozialer Leistungen auf das Publikum wirkt. Sie unterschätzen ein Urbedürfnis nach sozialer Gerechtigkeit in den Menschen und glauben, dass „Freiheit“ im Alltagsleben ein höheres Gut sei als soziale Sicherheit. Im Kampf gegen die Feudalherrschaft war der Liberalismus die innovative Idee. Nach ihrem Sieg diente diese Idee sowohl der Rechtfertigung neu erworbener gesellschaftlicher Privilegien als auch dem Kampf um Bürgerrechte. Heute wird die liberale Idee einerseits bemüht, wohlfahrtsstaatliche Strukturen globalisierungsverträglich zu reduzieren („Neoliberalismus“); andererseits wird der Liberalismus – zu Recht oder zu Unrecht? – als Leitidee politischer Parteien benützt. In der aktuellen politischen Diskussion in den westlichen Industrieländern hat der Begriff „Liberalismus“ eine Renaissance erfahren, jedoch mit gegensätzlichen Wertungen: - Von Befürwortern des Rückbaus global nicht mehr konkurrenzfähiger Sozialstaatsleistungen wird Liberalismus mit Rückgriff auf Kategorien wie Individualität, Leistung und Erfolg als willkommenes Rezept politischen Handelns gepriesen. Betont wird die Aktualität und Modernität des alten Konzepts. - Gegner und Betroffene dieses Rückbaus – bzw. deren Sprecher – sehen im Liberalismus „soziale Kälte“, Ideologie der Privilegierten, und Ausdruck eines international vernetzten „Turbokapitalismus“. Als „Neoliberalismus“ bezeichnet wird er zum Kampfziel. Der Liberalismus ist ein Kind der Aufklärung und war die politische Bewegung der Industrialisierung. Seine Parole war die Freiheit. Das revolutionäre Bürgertum wollte Freiheit von klerikalen Bevormundungen und feudalen Begrenzungen. Die Freiheit des Geistes ermöglichte die Emanzipation der positiven Wissenschaften. Diese wiederum waren die Auslöser der industriellen Revolution, die der Freiheit des Marktes und des Vertrages bedurfte, um die an der Maschine orientierten Arbeitsverhältnisse und großflächigen Handelssysteme zu ermöglichen. Solche Freiheiten konnte der Nationalstaat organisieren, insbesondere dann, wenn er von einem den Einfluss des Bürgertums absichernden repräsentativen System getragen wurde. Die Einheit Deutschlands und das parlamentarische System waren daher die frühen Forderungen des Liberalismus. Selbst in der parteiischen Diktion des Kommunistischen Manifestes gibt es über die historische Rolle des Bürgertums keinen Zweifel: „Die Bourgeoisie hat in der Geschichte eine höchst revolutionäre Rolle gespielt. Die Bourgeoisie, wo sie zur Herrschaft gekommen, hat alle feudalen, patriarchalischen, 97 idyllischen Verhältnisse zerstört. Sie hat die buntscheckigen Feudalbande, die den Menschen an seinen natürlichen Vorgesetzten knüpften, unbarmherzig zerrissen und kein anderes Band zwischen Mensch und Mensch übriggelassen als das nackte Interesse, als die gefühllose „bare Zahlung". Sie hat die heiligen Schauer der frommen Schwärmerei, der ritterlichen Begeisterung, der spießbürgerlichen Wehmut in dem eiskalten Wasser egoistischer Berechnung ertränkt.“76 Mit dem Ausgang des 19. Jahrhunderts hatte sich die industrielle Produktion durchgesetzt, nach dem Ende des Ersten Weltkrieges waren die Reste der alten Feudalherrschaften aufgelöst, und nach dem Inferno der Nazis ist 1990 die deutsche Einheit wieder hergestellt. Welche Ziele gab es nun noch für Liberale? Trotz aller Kritik im Einzelnen ist das parlamentarische System allgemein anerkannt. Also, sagen viele, habe der Liberalismus seine historische Aufgabe erfüllt. Liberale Werte verträten mittlerweile alle Parteien – von der Union bis zur PDS. Wozu bedürfe es noch einer liberalen Organisation, heißt es speziell im Hinblick auf die FDP. Liberalismus sei der ewige Drang nach Freiheit, lautet die Antwort. Das bliebe unter wechselnden Umständen aktuell. Die Forderungen allerdings, die sich aus dem Liberalismus ergeben, würden sich mit der Zeit wandeln. Wer – wie die FDP - von der ewigen Aktualität des Liberalismus überzeugt ist, hat die Pflicht, die aus dem liberalen Credo jeweils folgenden Forderungen zu definieren und sich daran zu orientieren. Diese Aufgabe zu meistern, ist der FDP in der deutschen Nachkriegsgeschichte unterschiedlich überzeugend gelungen. In der Einleitung des Parteiprogramms Wiesbadener Grundsätze von 1997 heißt es: Auch in der liberalen Verfassung der Bundesrepublik Deutschland sei „die Idee der Freiheit den schleichenden Gefahren der Gewöhnung und Geringschätzung ausgesetzt. Weniger Teilhabe am demokratischen Staat durch weniger Chancen auf einen sicheren Arbeitsplatz, Entmündigungen durch kollektive Zwangssysteme und bevormundende Bürokratie sind neue Bedrohungen der Freiheit.“77 Mit einer Beteiligung an der Bundesregierung, einem Vizekanzler und Außenminister, einem Wirtschafts- und einem Justizminister hatte die FDP in der Regierung unter Helmut Kohl allerdings weder die Arbeitslosigkeit noch die Ausweitung der allgemeinen Bürokratie verhindern können. Der Widerspruch zwischen liberalen Forderungen und politischer Praxis war offensichtlich. 1998 wurde die aus diesem Grunde in eine Existenzkrise geratene FDP in 76 Karl Marx/Friedrich Engels, Das Kommunistische Manifest. Eine moderne Edition, Hamburg/Berlin 1999, S. 46 77 Wiesbadener Grundsätze. Für die liberale Bürgergesellschaft. Beschlossen auf dem 48. Ordentlichen Bundesparteitag der FDP am 24. Mai 1997 in Wiesbaden, Vorwort 98 die Opposition geschickt, von wo aus sie mit dem Projekt 18 78 einen später eingestandenen Irrweg beschritt. 2005 besann sich diese Partei auf das Konzept der Funktionspartei, hier des Mehrheitsbeschaffers für die CDU/CSU – ein Konzept, das der Parteiorganisation zwar Stimmen einbrachte aber keine Macht und vor allem keine Definition moderner Positionen des Liberalismus. Auch dass aktuelle liberale Forderungen von anderen Parteien als der FDP artikuliert wurden, geschah. Seit sie 1983 mit bunter Szenerie in den Deutschen Bundestag einzogen, 79 machen die „Grünen“ der FDP besonders bei der Verteidigung liberaler Bürgerrechte Konkurrenz. Die permanente Gratwanderung der FDP zwischen politischem Einfluss auf allen Ebenen und akuter Existenzgefährdung hängt offensichtlich mit ihrer Glaubwürdigkeit zusammen: Je nachdem, ob und wie weit die FDP auf der Höhe aktueller liberaler Forderungen ist oder nicht, ist sie gesichert oder scheint sie gefährdet. In der Gründungsphase der Bundesrepublik, nach 1945, konkretisierte sich die Idee der Freiheit bei der FDP in den Zielen der - Marktwirtschaft, der - nationalen Einheit und der - Trennung von Religion und Politik. Für diese Ziele fanden sich genügend große Teile des Bürgertums, um die Existenz einer eigenständigen bürgerlich-liberalen Partei neben der Sammlung der Union zu ermöglichen. - In der noch nicht säkularisierten Nachkriegsgesellschaft hatten die Kirchen und Konfessionen nach dem Niedergang des Nationalsozialismus großen Einfluss auf die Öffentlichkeit, und so war die Haltung zum Christentum ein Politikum. Vielen bürgerlichen Politikern schien das alte „Zentrum“ als Partei des politischen Katholizismus zu eng, und so entwickelten sich mit der CDU und der CSU überkonfessionelle christliche Parteien. Dazu bemerkte Konrad Adenauer: „Es verbreitete sich die Überzeugung, dass nur eine große Partei, die in der christlichabendländischen Weltanschauung, in den Grundsätzen der christlichen Ethik ihr Fundament hatte, die notwendige erzieherische Aufgabe am deutschen Volk erfüllen, seinen Wiederaufstieg herbeiführen und einen festen Damm gegenüber der kommunistischen atheistischen Diktatur errichten könnte.“80 78 Fritz Goergen, Projekt 18. Der Erfolg und seine Kinder und ihr Erfolg; in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 12. November 2002, S. 8 79 Hubert Kleinert, Aufstieg und Fall der Grünen. Analyse einer alternativen Partei, Bonn 1992, S. 37 80 Konrad Adenauer, Erinnerungen. 1945 – 1953, Stuttgart 1956, S. 46 99 Die sich aus diesem Anspruch herleitende kirchliche Beeinflussung des Schulwesens stieß auf großen Widerstand liberaler bürgerlicher Kreise. Im Parlamentarischen Rat wandte sich die FDP um Theodor Heuss mit großem Nachdruck „gegen die Aufsplitterung in Konfessionsschulen“.81 Der Klerikalismus der Union wirkte als Katalysator des Liberalismus. - Die Wirtschaftsverfassung war das zentrale Streitthema im Nachkriegsdeutschland. Angesichts der Not und des Mangels an Lebensnotwendigem wie Nahrung, Wohnung und Kleidung lag es für viele nahe, den Aufbau mittels staatlicher Lenkung voranzutreiben. Die SPD und große Teile der Union sahen das so. Über alle regionalen Differenzierungen hinweg war die FDP die einzige Partei, die demgegenüber stets für eine klare marktwirtschaftliche Politik plädierte. Selbst die mit dem Namen des ersten Bundeswirtschaftsministers Ludwig Erhard82 verbundene „soziale Marktwirtschaft“ war vielen in der FDP zu dirigistisch ausgerichtet. - National, an der deutschen Einheit ausgerichtet, war auch die Politik des Wiedergründers der SPD in den Westzonen, Kurt Schumacher, den sein Biograph, Peter Merseburger, als „schwarzrotgoldenen Republikaner“ bezeichnete. 83 Wie die FDP hegte er die Befürchtung, die CDU und Konrad Adenauer wollten oberflächlicher Wiedervereinigungsrhetorik zum Trotz mit ihrer Politik der Westintegration die deutsche Einheit abschreiben und einen Rheinbundstaat etablieren. Im Unterschied zur SPD jedoch war die nationale Ausrichtung der FDP in einigen Regionen mehr braun als schwarzrotgold gefärbt. Marktwirtschaft, nationale Einheit und Antiklerikalismus sind eigentlich nicht die Themen, mit denen Anfang des 21. Jahrhunderts „Staat zu machen“ wäre. Nachdem sich die Marktwirtschaft oder auch „der Kapitalismus“ weltweit durchgesetzt hat, kommen Zweifel an der Gerechtigkeit dieses Systems auf. Liberales Denken müsste sich nun auf die Frage konzentrieren, wie eine Synthese zwischen Marktwirtschaft und sozialer Gerechtigkeit herzustellen wäre. Hierum bemühen sich Theoretiker wie John Rawls84 und Otfried Höffe85. Da die nationale Einheit erreicht ist, bliebe oberflächlich betrachtet allein der Nationalismus als moderne Auffüllung des nationalen Gedankens. Dieser Weg einer „Haiderisierung“ wurde dann auch empfohlen. Peter Lösche und Franz Walter hielten das für eine ernsthafte Perspektive, denn „rechts ist viel Platz frei.“86 Der Ruck nach rechts würde eine Tradition des 81 Wolfram Dorn/Harald Hoffmann (Hg.), Geschichte des deutschen Liberalismus, 2. erweiterte Auflage, Bonn 1966, S. 139 82 Volker Hentschel, Ludwig Erhard. Ein Politikerleben, München und Landsberg am Lech 1996 83 Peter Merseburger, Der schwierige Deutsche. Kurt Schumacher. Eine Biographie, Stuttgart 1995, S. 102ff 84 John Rawls, Eine Theorie der Gerechtigkeit, Frankfurt / Main 1975 85 Otfried Höffe, Politische Gerechtigkeit. Grundlegung einer kritischen Philosophie von Recht und Staat, Erweiterte Neuausgabe, Frankfurt / Main 1989 86 Peter Lösche/Franz Walter, Die FDP. Richtungsstreit und Zukunftszweifel, Darmstadt 1996, S.210 100 deutschen Liberalismus aufnehmen, die keinesfalls im Rechtsradikalismus münden müsse. Aber, so die Autoren einschränkend, die FDP als Partei des Liberalismus, befinde sich mitten im Bürgertum und tauge nicht zum „populistischen Opponieren“. Auch sei ein „deutscher Haider... nirgendwo zu erkennen.“ Diese Einschätzung war zutreffend, und so scheiterten in den neunziger Jahren zwei national-liberale Versuche - einer außerhalb – als Unterwanderung gegen die FDP - und einer innerparteilich mit Jürgen W. Möllemann87. Man sollte aber den Liberalismus in Deutschland nicht mit der Parteiorganisation der FDP verwechseln. Eine irrationale Einstellung wie der Nationalismus ist – besonders im Zeitalter der Internationalisierung – mit der auf der Ratio beruhenden Idee des Liberalismus nicht vereinbar. In der deutschen Politik schien die Religion lange Zeit ohne Bedeutung zu sein. Aber wer kennt künftige Entwicklungen? Schon beschäftigen Themen wie der „Kopftuchstreit“ oder die „Parallelgesellschaften“ die Bundesrepublik. Liberale Lösungen des Problems eines Umgangs mit religiösen Minderheiten müssten diese akzeptieren und zugleich von ihnen ausgehende allgemeine Ansprüche abwehren. Solche Lösungen wären hilfreich, werden aber nicht im Namen des Liberalismus vorgetragen. Das Beispiel der Vereinigten Staaten von Amerika zeigt ebenso wie eine 2005 aufgeflackerte Papst-Euphorie, dass religiöser Fundamentalismus auch in einer parlamentarisch- repräsentativen Gesellschaft entstehen kann. Darüber hinaus wird die deutsche Öffentlichkeit besonders durch die Medien mit vielen Irrationalismen wie dem Personenkult oder der Entertainalisierung gespeist. Hier wären liberale Gegenpositionen hilfreich. Sie kommen aber nicht – jedenfalls nicht vom „organisierten Liberalismus“. Das Hauptproblem des modernen Liberalismus jedoch ist die Gerechtigkeit. Die wird ihm oft nicht abgenommen, und so erscheint er immer wieder als Ideologie der Privilegierten, der Gewinner im „Raubtierkapitalismus“. Gerechtigkeit ist eines der klassischen Ziele des Liberalismus, ein anderes ist Wahrheit.88 Gerecht sollen danach die Institutionen sein, die sich der Mensch schafft und in denen er lebt. Wahr sollen die Ideen sein, die den Menschen leiten. Gerechtigkeit hat eine institutionelle und eine inhaltliche Seite. Die Verfahren, nach denen die Menschen miteinander umgehen, bedürfen klarer Definition, Erkennbarkeit und allgemeiner Anwendbarkeit. Im Politischen erwächst daraus das Prinzip der Rechtsstaatlichkeit. Dieses 87 Jürgen Dittberner, Die FDP. Geschichte, Personen, Organisation, Perspektiven. Eine Einführung, Wiesbaden 2005 88 John Rawls, a.a.O. 101 muss von den Bürgern her entworfen werden und nicht aus der Sicht des Staates und seiner Interessen. Inhaltlich bezieht sich Gerechtigkeit auf die Verteilung begehrter Ressourcen wie Geld, Güter, Bildung oder Sozialstatus. Eine Aufgabe liberaler Politik ist es, in jeweiligen historischen und gesellschaftlichen Umständen jenes Maß der Verteilung zu definieren, das allgemeine Anerkennung findet. Gerechtigkeit, auch soziale Gerechtigkeit, ist nicht identisch mit sozialer Gleichheit. Soll ein aktueller Verteilungsstatus veränderbar sein, bedarf er einer gewissen Ungleichheit. Wie die Gerechtigkeit verlangt die Wahrheit nach ständiger Erneuerung. Wahrheit ist nicht Glaube, und der Feind der Wahrheit ist der Fundamentalismus. Dieser artikulierte sich im 20. Jahrhundert im Nazismus und Stalinismus politisch, im 21. Jahrhundert religiös. Wahrheitsfindung ist ein dialektischer Prozess: Jede Antithese ersetzt oder verfeinert jede aktuelle These. Gegenrede ist die Quelle der Fortentwicklung. Damit Wahrheit und Gerechtigkeit sich entfalten können, muss es Freiheit und permanenten Diskurs geben. Freiheit der Menschen sowie Offenheit der Strukturen und Prozesse sind Medien des Liberalismus, ohne die er sich nicht entfalten kann. In der vom internationalen Kapitalismus beherrschten Welt hat dieser eigene Strukturen und Denkmuster entfaltet. Gerechtigkeit und Wahrheit haben keine zentrale Bedeutung, wenn sie den Interessen der Global Players im Wege stehen. Genommen wird jener Arbeiter auf dem Globus, der die geringsten Kosten verursacht. Für seine Befindlichkeit gibt es eine globale Unterhaltungs- und Eventkultur, die Emotionen anspricht und das Rationale marginalisiert. Dem widersetzt sich ein religiös gespeister Fundamentalismus vor allem in der islamischen Welt, der den aktuellen Zustand der westlichen Welt als Folge des „Liberalismus“ ansieht. Dieser Fundamentalismus hat seine Basis in den armen und mittleren Schichten des „grünen Gürtels“ von Algerien bis nach Indonesien und ist entstanden aus dem Empfinden, ausgeschlossen zu sein aus der „westlichen“ Welt. Der Fundamentalismus in den USA dagegen ist anderer Art. Er ist die Popularisierung des klassischen Puritanismus, jenes kapitalistischen Geistes, den Max Weber beschrieben hat.89 Der moderne amerikanische Fundamentalismus ist religiös-nationalistisch, nicht persönlich durch harte Arbeit nach Gottwohlgefälligkeit strebend, sondern sich in der Sicherheit der Gottwohlgefälligkeit wähnend aufgrund der Überzeugung von der Güte und Überlegenheit des eigenen, „Gottes eigenen“, Landes: den USA. 89 Max Weber, Asketischer Protestantismus und kapitalistischer Geist; in: Max Weber, Soziologie. Weltgeschichtliche Analysen. Politik, Stuttgart 1964, S. 357 ff 102 In China wiederum setzt sich ein staatlich gelenkter Kapitalismus mit wenig bürgerlichen Freiheitsrechten durch. Wegen des aus Bevölkerungszahl und Nachholbedarf resultierenden extremen Wachstums ist China ein eigener Global Player und potenzieller Rivale der USA. Im übrigen hat sich in China die These nicht verifiziert, dass Marktwirtschaft gleichsam systemnotwendig bürgerliche Freiheiten als erforderlichen Überbau entstehen ließe. Indien ist ein erwachsender Riese. Dieses Land ist mit über einer Milliarde Bewohnern vordergründig die „größte Demokratie der Welt“ mit einer westlich-parlamentarischen Fassade. Hinter dieser Fassade wirken religiöse, ethnische, soziale und Kastenkonflikte stark und werden teilweise mit brutaler Gewalt ausgetragen – und das im Lande Mahmadma Ghandis! Nicht die Lehren der endemischen vielfältigen Kultur streben in die Globalisierung – sie wirken eher konservierend, sondern die große Armut der vom westlichen Wohlstand geblendeten Massen lockt Investoren an und löst einen Prozess aus, von dem niemand weiß, wohin der den Subkontinent – der bevölkerungsreicher als Afrika ist – führt. Rechtsstaatlichkeit und soziale Gerechtigkeit werden wohl auf absehbare Zeit relevante Kriterien nur für eine Schicht sein von „Westlern“, die an der Spitze einer Pyramide leben, deren Basis die Kasten, der Hinduismus mit seinen auch extremen Varianten und der Islam bleiben werden. Schwarzafrika leidet unter dem Postkolonialismus. Die Kolonialherren haben alte Kulturen und deren Stolz zerstört, durch Krieg und Landnahme Ungerechtigkeiten geschaffen und schwache Staaten danach Bonapartismus, Rassismus und Misswirtschaft überlassen. Warlords unterdrücken Menschen in unentwickelten Gebieten, schweben wie Fettaugen auf der Magersuppe. Die Länder Schwarzafrikas leben entweder mit der Ungerechtigkeit der einstigen Landnahme mehr schlecht als recht wie Namibia, oder sie versinken nach Enteignungen und Terror von oben im Chaos wie Simbabwe. Gerechtigkeit würde hier darin bestehen, Menschen schlicht zu bewahren vor Krieg, Mord und Hunger. Südamerika bewegt sich zwischen Autoritarismus und formaler Demokratie - ständig bemüht, sich von der äußeren Abhängigkeit von der westlichen Welt (besonders der USA) und der inneren Armut zugleich zu befreien. Im Existenzkampf dieser Staaten und ihrer Völker erscheinen die Ideen der sozialen Gerechtigkeit und der Rechtsstaatlichkeit luxuriös und wenig aktuell. Russland geht einen Weg des gelenkten und kontrollierten Staatskapitalismus, getragen von Populismus, Nationalismus, Geheimdienstmethoden und Gewalt wie in Tschetschenien. Der Fall Michail Chodorkowski zeigt: Eine offene Demokratie ist das nicht. Aber Russland ist ein nach wie vor nicht nur militärisch starker Staat, der getragen wird von seinen natürlichen 103 Ressourcen sowie der Leidensfähigkeit seines Volkes und daher einigermaßen stabil erscheint. Rechtsstaatlichkeit und soziale Gerechtigkeit als Leitmotive bewegen nur eine kleine Schicht von Bürgerrechtlern. Aus den unterschiedlichen angedeuteten Gründen steht in China, in Indien, in der moslemischen Welt, in Afrika und eigentlich auch in Südamerika und in Russland das Thema Gerechtigkeit als Element liberaler Politik gar nicht auf der Agenda: Das ist ein Spezialpunkt der „westlichen Welt“. Die „westliche Welt“ – USA, Kanada, Europa, Australien, Neuseeland, Japan und vielleicht noch Südafrika – sind Demokratien, in denen Gerechtigkeit als Perspektive liberaler Politik durchgehend relevant sein könnte. Dabei stellen sich die Probleme in den religiösen USA anders als in Europa, und im Westen Europas wiederum anders dar als im postkommunistischen Osten des alten Kontinents. Insofern ist es angemessen, die Frage nach Recht und Gerechtigkeit auf Westeuropa zu beziehen und da auf Deutschland. Und obwohl alle deutschen Parteien Recht und Gerechtigkeit als Ziele nennen, ist es angezeigt, sich speziell auf die FDP zu fokussieren. Denn wenn nicht diese ausdrücklich am Liberalismus orientierte Partei, wer sonst würde sich bemühen zu definieren, wie Recht, Gerechtigkeit und zugleich Liberalität hinzubekommen sein können in einer vielfältigen und doch vernetzten Welt? Somit steht auch zur Diskussion, ob es überhaupt Inseln der Liberalität geben kann im Zeitalter der Globalisierung. Die These ist, Deutschland könnte – trotz aller aktuellen Klagen - eine dieser Inseln liberaler politischer Kultur sein. Da nun kommt man aber zu einem enttäuschenden Befund: Als langjährige Regierungspartei hat die „liberale“ FDP das Land stark geprägt. Als einzige der kleinen Parteien seit 1949 hat sie jedem Bundestag angehört. Die FDP befindet sich beim Thema „soziale Gerechtigkeit“ ebenso wie bei der Rechtsstaatlichkeit in Konkurrenz zu den beiden anderen „Bonner“ Parteien, aber auch zu den Grünen und zur PDS/Linkspartei. Die anderen Parteien betonen zudem, dass es nötig sei, das soziale Netz weiter zu flechten. Sie garnieren angeblich notwendige „sozialpolitische Grausamkeiten“ mit Floskeln wie Frieden, Sicherheit oder eben soziale Gerechtigkeit. Die dem Liberalismus verschriebene Partei vertraut im Unterschied dazu der aufklärerischen Wirkung ordoliberaler Argumente von der Eigenverantwortung und hofft auf Selbsteinsicht der Bürger. Sie agiert als Kleinpartei und nimmt sich der Sorgen um negativ Betroffene nicht an. Als soziale Basis reichen ihr privilegierte Gruppen, so dass sie als Klientelpartei der Bessergestellten erscheint. 104 Ein weiter gedachter Liberalismus müsste sich dem Klientel-Vorwurf nicht aussetzen, denn Freiheit und Wahrheit für möglichst viele setzt soziale Gerechtigkeit voraus – und eben danach gibt es in Deutschland ein Grundbedürfnis. Hier wird fehlende soziale Gerechtigkeit besonders im Osten des Landes beklagt. Die FDP als Partei des organisierten Liberalismus wird unter den politischen Parteien zuallerletzt als jene Organisation gesehen, die an dieser Stelle das Auseinanderdriften der deutschen Gesellschaft bekämpfen würde. Mit dem Stichwort von der „Partei der Besserverdienenden“ hat sie selber den Beleg für diesen Befund geliefert und damit ihre politische Absenz im deutschen Osten in der zweiten Hälfte der neunziger Jahre begründet. Es ist der FDP nicht widerfahren, dass sie die soziale Gerechtigkeit und zeitweilig sogar die Rechtstaatlichkeit aus den Augen verloren hat, sondern das wurde bewusst so entschieden. Der Vorsitzende sieht es so: Der „Verteilungsstaat“ habe die soziale Gerechtigkeit zum obersten Prinzip erhoben und herausgekommen sei „Gleichmacherei“. Gemeint ist jener „Verteilungsstaat“, den die FDP selber mitgestaltet hat! An die Stelle der sozialen Gerechtigkeit wird seit Ende der neunziger Jahre der Begriff „fair“ aus der Theoriediskussion entliehen: „Fair ist, wenn Leistung sich lohnt und Fleiß sich auszahlt.“90 Das Problem ist, dass in der Öffentlichkeit der Begriff soziale Gerechtigkeit verstanden wird, der Begriff „fair“ dagegen weniger. Die Rechtsstaatlichkeit büßte zur selben Zeit an Priorität ein mit der Begründung, der Bürger fürchte sich nicht mehr vor dem liberalen Staat, sondern vor ausufernden Bürokratien. So konnte es geschehen, dass die Partei des Liberalismus in der Ära Kohl aus Koalitionsräson dem Angriff auf das Grundrecht der Unverletzlichkeit der Wohnung in Form des „großen Lauschangriffs“ zustimmte. Im Unterschied hierzu konnte die „alte FDP“ mit den Begriffen Gerechtigkeit und Rechtsstaat etwas anfangen. Es gab Sternstunden der Rechtsstaatlichkeit. Eine ereignete sich am 7. November 1962, als der stellvertretende Vorsitzende der FDP-Fraktion im Deutschen Bundestag, Wolfgang Döring, in der Debatte über die „Spiegel“-Affäre den inhaftierten Rudolf Augstein leidenschaftlich gegen Bundeskanzler Konrad Adenauer verteidigte und dabei ein Plädoyer für den Rechtsstaat hielt. In den Wiesbadener Grundsätzen von 1997 jedoch wurde die Haltung der FDP zum Rechtsstaat verwischt: „Der Staat ist nicht Vormund der Bürger, sondern deren Instrument zur Sicherung der offenen Bürgergesellschaft. Deshalb gewährt nicht der Staat den Bürgern Freiheit, sondern die Bürger 90 Jürgen Dittberner, Die FDP, a.a.O, S. 321 105 gewähren dem Staat Einschränkungen ihrer Freiheit zur Wahrung der gleichen Rechte aller."91 Zur sozialen Gerechtigkeit: Das als rechtslastig geltende „Deutsche Programm“ aus den frühen 50er Jahren stellte sich eine freie Marktwirtschaft vor, die Wirtschaftswachstum, soziale Sicherheit und Gerechtigkeit garantieren könne. Ebenso gab es im Berliner Programm von 1957 diese Passage: „Soziale Sicherheit, soziale Gerechtigkeit und wachsenden Wohlstand gibt es nur in einer auf Freiheit der Persönlichkeit, dem Privateigentum und dem Leistungswettbewerb aufgebauten Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung.“92 Der an Wohlstand auch für die breiten Massen interessierten alten FDP ging es um eine Wachstumswirtschaft, bei der Zuwächse zu verteilen waren. Nach dem Ende des Verteilens von Wachstum ist das Ziel der sozialen Gerechtigkeit jäh verschwunden. In den Freiburger Thesen noch hatte der Zusammenhang zwischen Liberalismus und sozialer Gerechtigkeit einen besonderen Dreh: „Der Kapitalismus hat, gestützt auf Wettbewerb und Leistungswillen des Einzelnen, zu großen wirtschaftlichen Erfolgen, aber auch zu gesellschaftlicher Ungerechtigkeit geführt.“93 Die FDP erreichte eine programmatische Tiefe und drang zum Wesen des Liberalismus, der in dieser Zeit mehr als Etikette war, vor. In der These 2 wurde von „Wahrheit und Gerechtigkeit“ gesprochen, die nicht als „fertige Antworten“ zu verstehen seien, sondern in der sich wandelnden und offenen Gesellschaft „als stets neu sich stellende Fragen“.94 Mit dem Ende der sozialliberalen Phase wurden diese Erkenntnisse verschüttet, und in den 1997er Wiesbadener Grundsätzen war vage von einer „Bürgergesellschaft“ die Rede, die Globalisierung und Wohlstand verbinden könne. Soziale Gerechtigkeit wurde nun verstanden als Produkt der Leistungsgesellschaft, in der Ressourcen geschaffen würden, die auch zur Verteilung verwandt werden könnten. Soziale Gerechtigkeit war nicht mehr zentrales Ziel liberaler Politik, sondern eine Option, die dann Realität werden könnte, wenn „Leistungsträger“ freie Bahn bekämen: Das war der Sturz der sozialen Gerechtigkeit vom konstitutiven Ziel zum Abfallprodukt „liberaler“ Politik! Aber verhält es sich bei der FDP nicht ebenso wie bei den anderen Parteien? Die „Legende“ der FDP ist der Liberalismus. Verlieren die etablierten Parteien alle ihre Legenden und erklärt das die Tatsache, dass eine neue Linkspartei, die sich auf soziale Gerechtigkeit beruft, drauf und dran ist, das traditionelle deutsche Parteiensystem zu verändern? 91 a.a.O., S. 349 a.a.O. , S. 323 93 a.a.O., S. 324 94 a.a.O., S. 338 92 106 - Als Gerhard Schröder noch die Doppelfunktion des Bundeskanzlers und SPDParteivorsitzenden ausübte, setzte er gesellschaftspolitische Veränderungen durch, die den Sozialstaat zurückdrängten und an das „sozialdemokratische Herzblut“ gingen. Bis dahin war das Wesen der sozialdemokratischen Legende ohne alle Umschweife soziale Gerechtigkeit. So resümiert Franz Walter: „Es gibt nicht mehr die umfassende sozialistische Erzählung, die über hundert Jahre das Sozialdemokratische ausgemacht hat, die Kitt und Treibstoff der Partei war, allerdings auch Belastung Barriere bedeutete. Die modernen Sozialdemokraten können oder müssen nun ohne all dies leben.“95 - Bei der CDU scheint das „C“ zur Monstranz ohne Inhalt zu werden. Die Partei muss sich auf die zunehmend säkularisierte Gesellschaft einstellen und – so stellt Frank Bösch fest: „Bei neuen Themen wie der Asylpolitik, der inneren Sicherheit oder der Gentechnik droht die christliche und wirtschafts-liberale Anhängerschaft der CDU zunehmend auseinander zu brechen.“96 Nach dem mageren Echo der Wähler auf den neoliberalen Kurs der Union im Jahre 2005 scheint sie in der neuen Koalition ihr Schwergewicht wieder auf die christlich-soziale Seite zu legen. - Die Grünen haben sich meilenweit entfernt von den ökologisch-pazifistischen Überzeugungen ihrer Gründungszeit. Die „Anti-Parteien-Partei“ der Petra Kelly ist zur pragmatischen Staatspartei Joseph Fischers geworden. Die Grünen trugen Auslandseinsätze der Bundeswehr mit, und die gebremste Umweltpolitik Jürgen Trittins stand im Schatten der Außenpolitik des damals (un)heimlichen Vorsitzenden. Nach Ende der Regierungszeit müssen die Grünen prüfen, welchen Teil ihres Erbes aus der eigenen Frühzeit sie überhaupt annehmen wollen - Die PDS – solange sie reine Ostpartei war - hatte sich von Anfang an vor der eigenen Legende gefürchtet. Sie ist zwar die SED-Nachfolgerpartei, aber sie verurteilt die Politik der alten Staatspartei. Sie spricht zwar vom „demokratischen Sozialismus“, aber da wo sie kann – in Berlin und Mecklenburg-Pommern zum Beispiel – macht sie eine marktwirtschaftliche Politik. Sie war bisher die Regionalpartei des Ostens, träumte aber stets von einem dauerhaften Platz im gesamten deutschen Parteiensystem. So wurde die PDS zum Sammelbecken für Protestler und Ostalgiker, hatte als solche den Bundestag 2002 verlassen müssen und schaffte 2005 mit der WASG-Auffrischung den Wiedereinzug. Die Linkspartei ist durch Negation bestehender Sozialstrukturen beisammen und nicht durch programmatische 95 96 Franz Walter, Die SPD. Vom Proletariat zur Neuen Mitte, Berlin 2002, S. 267 Frank Bösch, Macht und Machtverlust. Die Geschichte der CDU, Stuttgart/München 2002, S. 274 107 Alternativen dazu. So kommt Eva Sturm zu dem Ergebnis, dass die PDS nicht den Weg der Aufklärung ginge, denn sie wende sich an „Menschen, die emotionsgesteuert handeln, die ´fühlen´ und ´Eindrücke haben´ und nicht etwa die Realität erfassen, - Menschen also, die nicht den Mut oder die Entschlossenheit aufbringen, sich des eigenen Verstandes zu bedienen.“97 - Die CSU verfolgte ihre alten Ziele der Entwicklung und Förderung Bayerns und hoffte – wie Alf Mintzel prophezeite – Hegemonialpartei in Bayern zu bleiben: „Das eine Ziel ist, bayerische Staatlichkeit, soziokulturelle Eigenprägung und politische Kultur sowie wirtschaftlichen Wohlstand im Wandel der Zeiten zu bewahren und zu fördern, und Bayerns Gewicht als historisch gewachsene vitale Kulturregion Deutschlands und Europas auch in neuen, übergreifenden und europaweiten Entwicklungen zu erhalten. Das andere Ziel ist, Bayerns historisch begründeten Mitspracheanspruch und Geltungsauftrag in der deutschen und europäischen Politik zur Geltung zu bringen.“98 Doch diese europa- und bundesweit operierende bayerische Regionalpartei könnte mehr und mehr ihre Sonderrolle verlieren, denn auch im Freistaat erfolgen Einschnitte ins soziale Netz, und Proteste dagegen werden immer häufiger. - Wie steht es mit der FDP? Die FDP betont nach wie vor ihre Legende des Liberalismus. Dabei ist sie in einen Zwiespalt geraten: Den Wirtschaftsliberalismus, den sie vertritt, praktizieren die anderen Parteien in ebenfalls. Was sie sonst „liberal“ nennt, ist oft schlichte Organisationspolitik. Ob sie sich als Korrektiv sieht oder als eigenständiges Medienereignis: Koalitionsaussagen oder „18 %“Strategien haben viel mit dem Wunsch nach Selbsterhaltung, aber wenig mit dem Liberalismus zu tun. Der Selbsterhaltungstrieb der Organisation mag die Ursache für das Weiterbestehen der FDP sein. Die liberale Legende wurde mehr und mehr zur Kulisse, die `mal gezeigt, `mal nach hinten geschoben wurde. Siegt sich der Liberalismus zu Tode? Die nationale Frage ist gelöst. Den Rechtsstaat beschwören alle Parteien. Die parlamentarische Demokratie wird praktiziert. Die Kirchen beherrschen nicht mehr den Staat und die Politik. Religiöses Bewusstsein wie in den USA ist in Deutschland nicht mächtig geworden. Die Marktwirtschaft hat sich durchgesetzt, und selbst Eva Sturm, „Und der Zukunft zugewandt?“ Eine Untersuchung zur „Politikfähigkeit“ der PDS, Opladen 2000, S. 337 98 Alf Mintzel, Die CSU-Hegemonie in Bayern. Strategie und Erfolg. Gewinner und Verlierer, Passau 1998, S. 282 97 108 ihre schärfsten Kritiker fordern noch nicht ihre Abschaffung. Der nicht mehr bezahlbare Sozialstaat wird zurückgebaut von anderen Kräften als jene, die sich „liberal“ nennen. Was nützt da in der deutschen Politik Bezug auf den Liberalismus? In allgemeiner, abstrakter Form wird er stets zeitunabhängig definieret: als Streben nach Freiheit. Freiheit wird bezogen auf die Person, Eingrenzung der Freiheit wird diagnostiziert bei Institutionen und Organisationen. „Vorrang der Person vor der Institution“, lautet das Politschlagwort dieser Philosophie. Bei der FDP kommt man damit in jeder Debatte durch. Doch wer fordert schon „Vorrang der Institution vor der Person“? Keiner der Konkurrenten der FDP tut das. Dennoch schreitet die Bürokratisierung des Lebens voran und engt den Handlungsspielraum ein. Die liberale Philosophie will das verhindern, kann es aber nicht. So scheint es, als habe die Legende der FDP, der Liberalismus, seine inhaltliche Wirkungskraft verloren –sei nur noch aufgesetzte Fassade. Im Kampf gegen klerikale, feudale und dynastische Herrschaft war der Liberalismus die leitende Idee des aufsteigenden Bürgertums. Das Bürgertum erkämpfte seinen Platz in der Gesellschaft, etablierte seine eigene Macht und eroberte eigene Ressourcen. Der Liberalismus war erfolgreich, weil hinter ihm das Interesse einer neuen Klasse stand. Deren Wucht setzte die liberalen Ziele durch. Als das geschehen war, wurde das ehemals liberale Bürgertum defensiv – verteidigte seine Stellung. Wo ist am Beginn des 21. Jahrhunderts das gesellschaftliche Interesse, das Liberalismus als Wunsch nach individueller Freiheit braucht? Die Global Players wollen diesen Liberalismus nicht. Durch Investitionsentscheidungen setzten sie Fakten und schießen die privilegierten Sozialsysteme des Westens sturmreif. Den Abriss überlässt man am besten Sozialisten, Sozialdemokraten oder Konservativen, weil es bei ihnen am unverdächtigsten oder glaubwürdigsten ist. Liberale Parteipolitiker sind dazu nicht nötig, höchstens als Zuflüsterer der Stichworte. Diese heißen „Eigenverantwortung“, „Leistung“ und „Flexibilität“ – nicht Freiheit und Gerechtigkeit. Liberalismus ist als Neoliberalismus die Ideologie der globalisierten Welt. Die Freiheit der Leistungsträger wird als Voraussetzung ökonomischen Fortschritts und als Quelle sozialer Gerechtigkeit postuliert. Doch große Teile der Welt gehen andere Wege. Dort existiert der Staatsautoritarismus. Anderswo wird die Marktwirtschaft auf ein System traditional gewachsener politischer Kulturen gesetzt. Neoliberalismus ist nur in den westlichen Demokratien relevant. Doch selbst Organisationen, die sich dort theoretisch auf ihn berufen, stellen praktisch das Interesse am Fortbestand der eigenen Organisation in den Vordergrund. Die ökonomischen „Global 109 Players“ bedienen sich beim Rückbau sozialer Sicherungssysteme ohnehin lieber sozialdemokratischer und konservativer politischer Organisationen als liberaler. Allem steht ein aufziehender religiöser Fundamentalismus gegenüber, der infrage stellt, dass der Liberalismus die richtige und herrschende Lehre sei. Dabei hat der Liberalismus das Problem, dass er bei der sozialen Gerechtigkeit umso unglaubwürdiger wird, je stärker er den Wert der individuellen Freiheit betont. 110 10. Personalisierungen „Der Kaiser ist ein guter Mann. Er wohnet in Berlin, und wär` das nicht so weit von hier, so führ` ich heut noch hin.“ Die Schulkinder von Freiburg bis Königsberg mussten in der Kaiserzeit diesen Spruch lernen. Ganz einfach erschien die Politik und – personalisiert. „Keine Experimente! Konrad Adenauer. CDU“ Das Wahlplakat von 1957 zeigte das Porträt des ersten Kanzlers und warb für die Bewahrung des Erreichten. Die Union bekam die absolute Mehrheit. Soziale Marktwirtschaft, Westintegration, Wiederbewaffnung: Alles kulminierte im Namen Konrad Adenauer, und die Personalisierung brachte ein triumphales Wahlergebnis. Wahlplakat der CDU 1957 1961, vier Jahre später, führte die SPD etwas Neues gegen den „Alten“ ins Feld: Zwar hatte sie keinen Kanzler, erfand dafür aber – Anregungen aus der Kampagne John F. Kennedys 111 gegen Richard Nixen in den USA folgend - den „Kanzlerkandidaten“. Der Wahlkampf wurde personalisiert geführt: der Herausforderer Willy Brandt als Kanzlerkandidat gegen den richtigen Kanzler. Die Strickmuster der Personalisierung wurden beibehalten. Bei jeder Bundestagswahl treten sich Kanzler und –kandidat gegenüber. Die jeweilige Opposition verfeinerte diese Methode mehr und mehr. So ist es spätestens seit 2002 üblich, die Suche nach dem Spitzenkandidaten der Oppositionspartei als „K-Frage“ zu inszenieren. Vorbild dafür war Gerhard Schröder, der 1998 gegen seinen Rivalen Oskar Lafontaine zum Kanzlerkandidaten der SPD „gekürt“ wurde, nachdem er eine Landtagswahl in Niedersachsen gewonnen hatte. Politik bedarf der Personalisierung, weil sie sonst schwer oder gar nicht zu vermitteln ist. Politik braucht aber auch die Personalisierung, weil sie immer Machtkampf ist, bei dem sich Personen „bekriegen“, um Ämter ringen – je höher diese Ämter sind, desto heftiger. Seit Max Weber99 ist bekannt, dass Herrschaft Charisma des Herrschenden voraussetzt. Charisma ist die Fähigkeit, die Menschen glauben zu machen, dass die betreffende Person zur Führung berufen ist. Ursprünglich war Charisma religiös begründet: Der Prophet verkündete Gottes Wort. Später wurden persönliche Eigenschaften wie Redebegabung, Bildung oder Aussehen als Charisma angesehen, wenn es jemand verstand, mit Einsatz dieser Eigenschaften Menschen zu beeinflussen. In der Fernsehgesellschaft wird unter Charisma Medientauglichkeit verstanden wird. Der Begriff ist säkularisiert. Ulrich Sarcinelli weist darauf hin, dass die Organisation eines großen Staatswesens ohne die Zuweisung persönlicher Verantwortung nicht vorstellbar ist: „In demokratietheoretischer und praktischer Hinsicht wird die personale Zuordnung politischer Verantwortlichkeiten öffentlich wahrnehmbarer Eliten zur Voraussetzung dafür, dass der Souverän seine politische Sanktionsmacht ausüben kann.“100 Hier wird die Verantwortlichkeit der Repräsentanten gegenüber dem Volke beschrieben. Das ist die Grundidee der repräsentativen Demokratie. Doch in der Mediendemokratie geht es um anderes. Hier rückt das politische Alltagsgeschäft in den Hintergrund gegenüber der Inszenierung in den Medien. In Wahlkämpfen – in Anklang an die USA vielfach auch „Kampagnen“ genannt – wird dies besonders deutlich. Das Publikum – das Volk, der Souverän – wird gelockt mit Events, Bildern, Shows und Ersatzthemen. Ein Ersatzthema ist die Resonanz von Fernsehauftritten, speziell Fernsehduellen. 99 Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriss der verstehenden Soziologie, 2 Halbbände, Köln/Berlin 1964 100 Ulrich Sarcinelli, Elite, Prominenz, Stars? Zum politischen Führungspersonal in der Mediendemokratie; in: Axel Balzer / Marvin Geilich / Shanim Rafat (Hg.). Politik als Marke. Politikvermittlung zwischen Kommunikation und Inszenierung, Münster 2005, S. 62 ff 112 Obwohl in Deutschland das Parlament und nicht der Kanzler vom Volke gewählt wird, entwickeln sich Bundestagswahlkämpfe immer mehr zu Duellen zwischen Kanzler und Herausforderer. Das orientiert sich an den USA, wo bei Präsidentschaftswahlen die Kandidaten für ein Amt gegeneinander antreten. Dort sind es meist zwei Bewerber: ein Republikaner und ein Demokrat. In den USA wurde das Fernsehduell erfunden: Nixon gegen Kennedy. Aber in Deutschland ist die Verfassungslage anders. Wohl deshalb hat man sich erst 2002 entschlossen, auch hier Fernsehduelle zu veranstalten. Das Format „Zwei gegeneinander“ wurde eingehalten, obwohl sich der Vorsitzende einer kleineren Partei auch „Kanzlerkandidat“ nannte und dagegen klagte. Der Schein-Kanzlerkandidat kam nicht zum Zuge, nicht bei den Konkurrenten, nicht bei den Medien, nicht bei Gericht. Gegenüber standen sich Gerhard Schröder, der Amtsinhaber von der SPD und Edmund Stoiber, der Kandidat der Union. Ihre Stäbe und die Medien bereiteten die Duelle – es waren zwei – bis in die geringsten Kleinigkeiten vor – von der Sprechzeit bis zum Fragerhythmus der Moderatoren. Die Medien überschlugen sich vorab und spielten die in einem käfighaften Raum aufgenommenen Duelle als Großereignisse hoch. Doch dann war die Enttäuschung groß, wie eine unmittelbare Nachbetrachtung zeigte: Hatte jemand ein Duell gesehen? Oder war es eine Dressurnummer wie im Zirkus: Zwei an sich wilde Raubtiere kommen friedlich in die Manege, machen Männchen, lassen sich brav führen, nehmen kaum Notiz voneinander und fauchen nur ganz unterdrückt? Es war eine Dressurnummer. So weit ist es mit unserer Fernsehgesellschaft gekommen: Der mächtigste Politiker Deutschlands und sein aussichtsreichster Herausforderer lassen sich von zwei grauen Männern in einen blauen Käfig sperren, mit Minuten- und Sekundenangaben schuhriegeln und bereitwillig über ihre jeweiligen Ehefrauen ausfragen. Angeblich sind Personalisierung und Mediatisierung das A und O moderner Wahlkampfführung. Doch hier, in ihrer letzten Konsequenz, hat diese Theorie eine Praxis zutage gefördert, in der Personen zu Schablonen werden und das Medium den Charme eines statistischen Büros entwickelt. Hätte es doch – schließlich waren wir bei den „Privaten“ – wenigstens eine Unterbrechung durch Werbung gegeben. Wie schön wäre es gewesen, Schröder hätte zu Stoiber „Streber“ gesagt oder Stoiber zu Schröder „Pfau“. Doch nichts dergleichen geschah. 75 Minuten lang klebten zwei gut gekleidete Herren wie Angeklagte hinter leuchtenden Pulten, vor ihnen zwei undefinierbare Fragesteller, von denen einer am Ende der Veranstaltung durch plötzliche Dreistigkeit auffiel, als er ankündigte, er würde den Verlierer der bevorstehenden Kanzlerwahl nicht vergessen. 113 An der Zähmung und Dressur der Politiker Gerhard Schröder und Edmund Stoiber hatten viele mitgewirkt. Zunächst die Kontrahenten selber, weil sie in den blauen Käfig wollten. Sie glaubten offensichtlich mehr an die Macht der Medien als an ihr politisches Können. So gewann das Fernsehen Macht über sie: Stoiber musste pauken, durfte nicht mehr fahrig sein, „Merkel“ und nicht „Christiansen“ sagen, wenn er die CDU-Vorsitzende meinte. Schröder hingegen durfte nicht mehr mit seinem Anzug von Brioni und dicken Zigarren angeben, er musste den abgeklärten Staatsmann spielen, an dem Edmunds Spitzen abprallten und den schlechte Umfrageergebnisse nicht aus der Ruhe brachten. Beide gehorchten den Politikberatern und sagten zum Schluss, sie seien a) für den Abbau der Arbeitslosigkeit, b) für Hilfen an die Flutopfer und c) für den Frieden. Immer schön in der Mitte bleiben, keine Originalitäten liefern, keine Randgruppen bedienen: Das bringt Quoten, das bringt Wählerstimmen. In der Zuspitzung zum „Duell“, das keines war, ist die Theorie von den Quoten und Stimmen jedoch fragwürdig geworden. Wo es auf Spitz und Knopf geht – der oder der? – übernimmt der in der Politik „Mitte“ genannte Durchschnitt die Regie. Da verlieren die Kandidaten ihre Ecken und Kanten, wird aus „Politainement“ die Minuten und Sekunden zählende Eieruhr. Die Talkkultur zerplatzt wie ein Luftballon. Übrig bleiben zwei Politiker, die sich am besten wieder beleben lassen sollten. Stoiber hätte ruhig `mal wieder seine Zahlenkolonnen aufmarschieren lassen, Alfred Biolek mit Rezzo Schlauch verwechseln und den „Roten“ polemisch eins drauf geben können. Schröder hätte öffentlich eine Currywurst verzehren, die Hartz-Vorschläge mit ruhiger Hand an die Betroffenen weiterleiten und dem Stoiber die Kirch-Insolvenz hämisch aufs Butterbrot schmieren können. Manche der vielen Unentschlossenen unter den Wählern hätten dann hinter den Schablonen womöglich die Menschen erkennen und dem einen oder dem anderen doch ihr Vertrauen - auf Zeit, versteht sich – schenken können. Hat Schröder bedauert, dass er den „Duellen“ zugestimmt hat? Aus solchen Veranstaltungen der Nivellierung konnte selbst der Medienkanzler keine Funken mehr schlagen. ARD und ZDF sagten – was das Beste gewesen wäre - das zweite Duell nicht ab. Die Kontrahenten wollten es leider auch nicht tun. Aber sie hätten ein wenig auf ihre Würde achten sollen und sich verbitten, von Medienvertretern gerüffelt zu werden, dass sie erst sprechen dürften, wenn sie gefragt würden. Die Fernsehanstalten hätten Publikum in den Käfig lassen können, damit die Kontrahenten eine Resonanz hätten für Witz und Schlagfertigkeit. Sie haben es nicht getan. 114 Dass die „Duelle“, die keine waren, die Wahl entscheiden würden, war indes kaum mehr zu glauben. Politiker und Medienmacher konnten die Dressur der Kandidaten von brav und falsch auf wild und echt kurzfristig nicht mehr rückgängig machen, falls sie das überhaupt wollten. Eigentlich war die ganze Sache ohnehin Unsinn. Wir sind nicht in den USA, wählen keinen Präsidenten, sondern den Deutschen Bundestag. In dem sind fünf bis sechs Parteien vertreten. Von deren Stärkeverhältnissen hängt es ab, wer die Regierung bildet. Da sind weder Kandidat noch Herausforderer im blauen Käfig, sondern sie hocken in Sitzungssälen und Hinterstübchen des Parlamentes, und dort heißen die Fraktionen CDU/CSU, SPD, Grüne, FDP und PDS – jedenfalls nicht SAT, RTL, ARD oder ZDF. Das ist die Wirklichkeit außerhalb des blauen Käfigs. Das war 2002. Schröder hatte in der Zuschauergunst am Ende besser abgeschnitten als sein Herausforderer. Der „Medienkanzler“ wollte auch 2005 solche Duelle, um sich gegen Angela Merkel durchzusetzen. Doch bei der Union war man zögerlich. Man einigte sich auf nur ein Duell, das am 4. September 2005 um 20:30 h von ARD, ZDF, RTL und Sat 1 übertragen wurde. Die vorgesehene Zeit betrug 90 Minuten. Um 23:10 h meldete „süddeutsche.de“: „Blitzumfragen. Schröder gewinnt TV-Duell. Kompetenter, sympathischer, glaubwürdiger: Bundeskanzler Gerhard Schröder hat das mit Spannung erwartete TV-Duell mit UnionsKandidatin Angela Merkel nach ersten Umfragen für sich entschieden.“ 48 % der Befragten hätten Schröder vorne gesehen und 28 % Merkel.101 Wie sich dieses Ergebnis aber auf das Wahlergebnis auswirken würde, wusste niemand zu sagen. Das rot-grüne Lager lag zu diesem Zeitpunkt 12 % hinter schwarz-gelb. Im Nachhinein lässt sich vermuten, dass das Duell der Start war für die „Aufholjagd“ der SPD das schließliche Wahlergebnis. Nicht die Programme der Parteien zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit, zur Reform des Staatswesens und seiner Systeme und zur Außenpolitik haben demnach das Wahlresultat beeinflusst, sondern die von Fernsehzuschauern empfundene „Kompetenz“; „Sympathie“ und „Glaubwürdigkeit“ der Spitzenkandidaten. Mit der Verantwortlichkeit der Handelnden gegenüber dem Volke hat das sehr wenig zu tun, mit ihrer Medienwirkung umso mehr. Offen bleibt, wie sich die Medienwirkung von Kandidaten und gewählten Politkern zu ihrer Politikfähigkeit verhält. „Politikfähigkeit“ soll heißen Durchsetzungskraft in Verwaltungen, politischen Zirkeln und vor allem die Prädestination zur Formulierung einer Problemlage angemessener politischer Ziele. Gerade diese Prädestination schien Gerhard Schröder oft zu 101 süddeutsche.de, 4.9.2005 115 fehlen, und so hatte man bereits 1998 den Eindruck, dass ein Medienkanzler gewählt worden war, der zwar Wahlen gewinnen konnte, aber nachher nicht genau wusste, wozu. Doch die wahre politische Szene lässt sich nur vorübergehend durch professionell geplante Personalisierungen und Inszenierungen verstellen. Schon bei der Wahl 2002 sah es schlecht aus für die Regierung Schröder. Zwar bot die Elbeflut mit einem tatkräftig im Ölzeug einherschreitenden Kanzler noch eine Inszenierungschance, doch ob das gereicht hätte, die Sache zu wenden, bleibt offen. Die Politik gewann wieder die Oberhand, und am Ende war es das entschiedene „Nein“ Gerhard Schröders zu George Bushs Irakkrieg, was ihn rettete. Er nutzte die Chance und stieß entgegen der programmatischen Ausrichtung seiner eigenen Partei die mit dem Namen „Hartz“ verbundenen Veränderungen des Sozialsystems an. Das nun brachte ihn in die Bredouille. Er musste im Mai 2005 die Notbremse ziehen und Neuwahlen inszenieren. Es gelang ihm, bis zum Wahlgang im September des gleichen Jahres, seine eigene Partei nach vorne und die Union nach unten zu ziehen, so dass die großen Parteien fast gleich stark waren. Gefühle des Triumphs über das Erreichte und gleichzeitig die Enttäuschung, dass es zur Fortsetzung der eigenen Kanzlerschaft doch nicht reichte, bescherten dem Fernsehpublikum einen unkontrollierten Fernsehauftritt. Die Personalisierung hatte ihre Wirkung getan, aber die wahren politischen Verhältnisse forderten dennoch ihren Tribut: Union und SPD mussten sich einstellen auf eine gemeinsame Kanzlerschaft unter Angela Merkel. Personalisierung wird von den Wahlkampfstäben betrieben, um die politische Lage zu verschönern. Die Medienwirkung und das öffentliche Charisma der Spitzenkandidaten ziehen am politischen Himmel auf wie Wolken. Aber der Himmel reist immer wieder auf, und der Blick wird frei auf die Weite der politischen Realitäten. Für Journalisten sind solche Inszenierungen interessant. Sie bringen Quoten oder Leser. Politikwissenschaftler jedoch sollten stets die gesamte Wetterlage im Blick haben. Sie müssen versuchen, durch die Wolken mit ihren eigenen Methoden „hindurch zu schauen“. Dass auch die Mehrheit der Wähler durchzuschauen verstünde, wäre wohl zu viel verlangt. 116 11. Verostet die Republik? Die Politik braucht Quereinsteiger! Das Publikum wunderte sich: 15 Jahre nach der deutschen Vereinigung steanden an der Spitze der beiden deutschen Großparteien „Ossis“. CDU und SPD waren gleichermaßen 40 Jahre lang „Bonner Parteien“. Als solche – auch wenn mancher sich anfänglich dagegen gewehrt hatte – haben sie sich nach 1989 in der zu den „neuen Ländern“ mutierten DDR breit gemacht. In den Parteien galt wie in der gesamten Republik: Das Sagen hatten die „Wessis“: erstens, weil sie die Sieger waren und zweitens, weil sie sich die Mehrheiten gesichert hatten. Das System, die Erfahrung, das Geld und die Methoden kamen aus dem Westen, und es galt als ausgemacht, dass die Ossis im Eilverfahren alles erlernen sollten. Die Parteivorsitze und die Regierungen blieben in westdeutscher Hand. Bei der SPD waren alle Nachlassverwalter des Erbes von Willy Brandt Wessis: Hans-Jochen Vogel, Björn Engholm, Rudolf Scharping, Oskar Lafontaine, Gerhard Schröder und schließlich Franz Müntefering. Bei der CDU herrschte Helmut Kohl acht Jahre weiter über die nach dem Lande auch vereinigte Partei. Ihm folgte 1998 der Baden-Württemberger und ehemalige „Kronprinz“ Wolfgang Schäuble. Soweit war alles „normal“. Da putschte Angela Merkel, die Generalsekretärin und das „Mädel aus dem Osten“ zugleich gegen Kohl und Schäuble. Sie setzte sich zum Erstaunen der „Anden“-Netzwerker102 an die Spitze der alten AdenauerPartei. Eine Ostdeutsche - geschieden, kinderlos und evangelisch: Das hielten viele der Unions-Karrieristen in den Ländern nicht aus. So wurde ihr 2002 der CSU-Bayer Edmund „Der „Andenpakt“ (auch: „Pacto Andino Segundo“) ist ein nichtoffizielles Karriere-Netzwerk bzw. eine Seilschaft innerhalb der CDU von ursprünglich zwölf etwa gleichaltrigen Politikern aus Westdeutschland. Er wurde 1979 auf einer Südamerikareise der Jungen Union geschlossen. Generalsekretär ist Bernd Huck, der sich aus der aktiven Politik zurückgezogen hat. Dabei wurde unter anderem verabredet, dass Mitglieder des Paktes niemals gegeneinander kandidieren sollen und keiner den anderen öffentlich zum Rücktritt auffordert – woran sie sich bis heute gehalten haben. Über die Versicherung gegenseitiger politischer Loyalität hinaus wird der Andenpakt von seinen Mitgliedern auch für weltweit organisierte Reisen genutzt. Christian Wulff und Günther Oettinger bestätigten 2005 die Existenz des Paktes und ihre Mitgliedschaft im „pacto andino“ in der Veranstaltung „treffpunkt foyer“ der Stuttgarter Nachrichten. Als vorwiegend westlich und katholischer Männerbund wird er vielfach als innerparteiliche Konkurrenz zu Angela Merkel angesehen. Mit dem Andenpakt wurden in verschiedenen Medienberichten bekannte Politiker der CDU in Verbindung gebracht, darunter mehrere Ministerpräsidenten“: Roland Koch (Ministerpräsident von Hessen),Peter Müller (Ministerpräsident des Saarlands), Christian Wulff (Ministerpräsident von Niedersachsen), Günther Oettinger (Ministerpräsident von Baden-Württemberg BadenWürttemberg), Matthias Wissmann (ehemaliger Bundesverkehrsminister), Christoph Böhr (CDUParteivorsitzender Vorsitzender in Rheinland-Pfalz), Franz Josef Jung (Bundesverteidigungsminister, Elmar Brok (Mitglied der Europäischen Volkspartei (EVP), Mitglied des EVP-Fraktionsvorstands im Europäischen Parlament), Friedbert Pflüger (Mitglied der CDU/CSU-Fraktion im Deutscher Bundestag, Parlamentarischer Staatssekretär bei Bundesverteidigungsministerium, Spitzenkandidat der Berliner CDU 2006),Volker Bouffier (Innen- und Sportminister von Hessen), Ole von Beust (Erster Bürgermeister von Hamburg), Friedrich Merz (CDU-Finanzpolitiker), nachträglich im November 2005 aufgenommen. http://de.wikipedia.org/wiki/Andenpakt_(CDU) 102 117 Stoiber als Kanzlerkandidat vorgesetzt - lieber einer aus der guten alten „Schwesterpartei“ und aus Wolfratshausen an der „K-Spitze“ als eine Pfarrerstochter aus Templin! Aber Stoiber – der vom legendären „FJS“ geschulte - schaffte es nicht. Er zog sich halb schmollend, halb triumphierend angesichts heimischer Wahlergebnisse nach Bayern zurück. Dort zögerte er, ob er Präsident der EU-Kommission, Bundespräsident, noch einmal Kanzlerkandidat werden oder doch lieber Ministerpräsident in Bayern bleiben wollte – im „schönsten Amt auf der Welt“. Derweil rang ihm Angela Merkel – die kühle Physikerin allmählich den Rang ab. Sie wurde die Nr. 1 im Unionslager, und Stoiber landete nach einem virtuellen Ausflug in die deutsche Hauptstadt am Ende als Kopie seiner selbst wieder in München, wo die Diadochen schon aus der Deckung gekommen waren. Schröder wiederum – der aus Juso-Zeiten trainierte - behielt 2002 die Macht und setzte eine „Hartz IV“ genannte Veränderung des Sozialsystems durch, wodurch zuerst die eigene Partei erschüttert, dann die Betroffenenszene verwirrt und emotionalisiert und am Ende er selber verdrängt wurde: zuerst aus dem Amte des SPD-Vorsitzenden, dann aus dem Kanzleramt. Franz Müntefering, sein sozialdemokratischer Schatten, musste schließlich vor den führenden Sozialdemokraten für die ganze „Basta“-Politik büßen und war darüber so empört, dass er den SPD-Vorsitz – das „schönste Amt nach Papst“ – hinschmiss. Über die Glienicker Brücke rollte da Matthias Platzeck aus Potsdam an und setzte sich flugs an die Spitze der SPD. Es schien mit der großen Koalition so gekommen, dass mit Angela Merkel aus Templin und Matthias Platzeck aus Babelsberg zwei Ossis an der Spitze der Politik in Deutschland stehen würden. Wie konnte das geschehen, und verostete die Republik? Man sollte nicht übertreiben. Zwar stehen „Angie“ und der „Deichgraf“ vorne in der politischen Riege, aber gleich danach gibt es noch genügend viele „Wessis“. Merkels Stützen in Berlin heißen Wolfgang Schäuble und Michael Glos – zwei alte Bekannte aus der Bundesrepublik vor 1989. Hinter Platzeck stehen Kurt Beck, der Pfälzer und Ute Vogt, die sozialdemokratische Südwest-Hoffnung. Den Vizekanzler gibt „Münte“ aus dem Sauerland. Auch der Bundespräsident ist kaum ein Ossi – trotz seines Geburtsortes. Die FDP wird schlingernd vom „fröhlichen Rheinländer“ Guido Westerwelle geführt. Bei den Grünen teilen sich Renate Künast, die West-Berliner Pflanze und Fritz Kuhn aus Südwest die Führung. Sogar bei der ostdeutsch dominierten „Linkspartei“ PDS wird die Fraktion gleichberechtigt vom ehemaligen SEDler Gregor Gysi, dem Parade-Ossi und vom ehemaligen SPDler von der Saar, dem Parade-Wessi aus dem Bundestagswahlkampf von 1990, Oskar Lafontaine, geführt. Dennoch: Was haben Merkel und Platzeck, dass sie sich gegen eingeübteste Seilschaften durchsetzten und die ersten Plätze belegen konnten? 118 - Dass sie beide in Brandenburg aufwuchsen, dürfte Zufall sein: Es hätte auch Thüringen oder Mecklenburg sein können. - Dass sie Naturwissenschaftler sind, sollte den Juristen und Lehrern aus dem Westen zu Denken geben. Gebraucht wird in der Politik offenbar nicht nur die Kunst der Rechtsauslegung und die Fähigkeit zur Betroffenheitsrhetorik, sondern auch positivanalytisches Denken. - Dass sie nach der Wende nicht gleich zu den Großparteien liefen, sondern zuerst zum „Demokratischen Aufbruch“ (Merkel) und zu „Bündnis 90“ (Platzeck) und dass sie jeweils von dort zu Quereinsteigern bei CDU und SPD wurden, hat ihnen offensichtlich genützt. Frisches politisches Denken, frischer politischer Stil waren in den Altparteien offenbar nicht weit verbreitet. - Geholfen hat den beiden auch, dass sie in der Anfangszeit ihrer Westkarrieren einflussreiche und evangelisch engagierte Förderer aus dem Osten hatten. Merkels Mentor war Rainer Eppelmann und Platzecks Ziehvater Manfred Stolpe. Diese haben Mut gemacht und vorgelebt, wie es gehen kann. - Was Merkel und Platzeck den jeweiligen westdeutschen Altnetzwerkern vor allem voraus haben: Sie hatten ein Leben gelebt ohne Politik, ohne die Bundesrepublik, bevor sie von der westdeutsch geprägten Politik vereinnahmt wurden. Das gibt ihnen Lebenserfahrung und eine Stärke, über die Juso- und JU-Sozialisierte nicht verfügen. Diese kennen nur ihre Partei, und sie waren ihr Leben lang nichts anderes als deren Funktionäre. Was soll Menschen befähigen, ein Land zu führen, wenn sie ihr ganzes Leben lang nichts anderes getan haben, als an ihrer politischen Karriere zu basteln, Beziehungen zu knüpfen und die Partei als Ersatzwelt zu begreifen? Von allem, was – wie sie sagen: „draußen im Land“ – geschieht, wissen sie nur aus zweiter Hand – aus den Medien, aus den Umfragen, aus ihren internen „Runden“. Selbst die Korrektivfunktion der Mitgliederversammlung der Partei, wo schlichte Nichtpolitiker das Wort ergriffen – ist aus der Mode gekommen. So hat sich im Westen eine Politikergeneration nach oben gemauschelt, die zwar das politische Subsystem aus dem Effeff kennt, die Politik am Ende aber nicht kann. Das ist noch nicht einmal ihre eigene Schuld: Die heutigen Politiker aus dem Westen können nicht dafür, dass sie keine Erfahrungen aus der Geschichte mitbringen konnten wie die ersten westdeutschen Politiker vom Format Konrad Adenauers, Kurt Schumachers oder Theodor Heuss`. Die Schuld der gegenwärtigen Politiker ist es natürlich auch nicht, dass kein Erlebnis wie der Krieg sie prägte. Das jedoch war bei Helmut Schmidt, Helmut Kohl und Hans- 119 Dietrich Genscher der Fall. Aus dem Kriegserlebnis hatten sie ihre politischen Ziele und Werte abgeleitet: dafür zu wirken, dass es nie wieder dazu kommen möge. Dass die Netzwerkpolitiker an ihrer Sozialisation unschuldig sind, erspart ihnen nicht die Feststellung, dass sie im Kern ungeeignet sind für die Politik. Sie haben keinen inneren Kompass, sind – wie David Riesman103 es formulierte – „außengeleitet“ durch Umfragen, Quoten, Wahlen, Medien. Sie schaffen es nicht, den Sozialstaat zu reformieren. Dennoch müssen sie immer so tun, als könnten sie es. Darunter leiden sie, und sie stürzen sich mehr und mehr in ein von Terminen diktiertes Politikerleben. Es ist ein Hundeleben. Zeit zum Nachdenken, zum Abwägen, zum Zweifeln gibt es nicht. Weiter, immer weiter. Gelegentlich passiert es, dass sie auf dem falschen Fuß erwischt werden, dass es nicht so läuft, wie sie sich das gedacht haben. Dann laufen sie wie kleine Kinder einfach davon. So tat es Lafontaine, so taten es Gysi, Schröder, Müntefering und Stoiber. Alle Welt sieht plötzlich: Sie haben keinen „inneren Kompass“, der ihnen den Weg weisen würde durch schwieriges Terrain. Das Publikum muss sich nicht wundern, wenn Leute wie Platzeck oder Merkel in solcher Lage nach vorne kamen. Diese kennen ein anderes Leben als die Politik, können eins und eins zusammenzählen und wissen, dass plötzlich ein ganzes System zusammenbrechen kann und dennoch die Welt nicht untergeht. Sie haben – dank ihrer Biographie – das von Max Weber für den Stand der Politiker geforderte „Augenmaß“. Ob sie freilich in der Lage waren, politische Konzepte für die Fortentwicklung des Landes zu definieren, blieb offen. Vielleicht sagt ihnen ihre Erfahrung, dass sie dazu die Größe aufbringen müssen, die jeweils besten Köpfe des Landes zusammen zu rufen. Und vielleicht wissen sie, dass die besten Köpfe nicht jene sind, die sich am eifrigsten aufdrängen oder solche, die den Medien am publikumswirksamsten erscheinen. Einer scheiterte jedenfalls sehr schnell an der großen Aufgabe: Matthias Platzeck. Nach ein paar Monaten schon folgte ihm der Pfälzer Kurt Beck als Parteivorsitzender. Ganz so schlimm schlimm schien es also nicht zu sein mit der Verostung der Politik. Doch ob die alteingesessene Methode Beck die SPD voranbringt, bleibt offen. Die politischen Parteien sollten die Erfolge von Angela Merkel und Matthias Platzeck zum Anlass nehmen, die Art der Rekrutierung der politischen Führung zu reformieren. Nicht wer nach dem Studium zu einer Stiftung geht, danach Referent einer Fraktion, dann selber Mandatsträger wird und irgendwann einmal von irgendwem als „ministrabel“ klassifiziert 103 David Riesman u.a.; Die einsame Masse, Hamburg 1956 120 wird, hat den Marschallstab im Gepäck, sondern eher schon einer, der außerhalb der Politik sein Leben bestanden hat und danach in die Politik wechselt. Die Politikfunktionäre klassischer westlicher Art sind zumeist Autisten. Sie meinen, wie sie denken, sei es richtig und fallen aus allen Wolken, wenn Widerspruch aus der sie einhüllenden Scheinwelt kommt. Widerspruch aus der richtigen Welt dagegen stört sie nicht. Die da draußen wüssten es halt nicht besser, glauben sie. Solche Politiker braucht das Land immer weniger, und deshalb setzen sich ab und zu andere durch: innengeleitete Menschen. Das Schicksal der Ostdeutschen hatte ihnen die Chance gegeben, solche Alternativen anzubieten. Mindestens zwei von ihnen hatten – wenigstens für einen Moment - dabei Erfolg. Das eingefahrene westdeutsche politische System werde ein klein wenigverändert. Noch einmal wird die Geschichte eine derartige Chance nicht bieten. Deswegen müssen die Parteien selber Mechanismen schaffen, durch die „Quereinsteiger“ gefördert werden. Ob diese dann aus dem Osten oder aus dem Westen kommen, wird zweitrangig sein. 121 12. Perspektiven „Politische Kultur“ ist ein Sammelbegriff für die politischen Institutionen und die allgemein oder partiell gültigen Werthaltungen in einem Gemeinwesen, sofern diese für die Politik relevant sind. Jedes politische System hat eine politische Kultur - gleichgültig, ob es sich um eine Dynastie, eine Diktatur oder einen Rechtsstaat handelt. In westlichen Demokratien wird eine politische Kultur, in der Menschenrechte, Demokratie, Wohlstand und Stabilität geachtet und angestrebt werden, positiv bewertet. Für westliche Beobachter stellte sich nach dem 2. Weltkrieg die werteschwangere Frage, ob in Westdeutschland auf die Diktatur des Nationalsozialismus eine demokratisch politische Kultur gefolgt sei. In international vergleichenden Studien wurde daher die politische Kultur in der Ära Adenauer empirisch untersucht.104 Darin kam zum Ausdruck, dass die Bürger der neuen Bundesrepublik die Demokratie zwar mit trugen, aber doch gewisse autoritätsverhaftete Einstellungen aufwiesen. Diese Einstellungen bezogen sich vor allem auf den Staat („Vater Staat“) und waren wohl der Grund dafür, dass Konrad Adenauer als Kanzler dieses Staates eine so starke politische Stellung hatte einnehmen können. Erstaunlich ist, dass das positive Verhältnis zum Staat als einer ordnenden und notwendigen Instanz den Nationalsozialismus überdauert hatte. Ja, dass es den Nationalsozialismus gegeben hatte, ist überhaupt eine Folge des in Deutschland tief verwurzelten Vertrauens in den Staat, der seine überwölbende Rolle auch dennoch behält, wenn er offensichtlich zerstörerisch und verbrecherisch agiert. Staat bleibt Staat, wenn auch die Inhalte radikal wechseln. So konnte beispielsweise für das Berufsbeamtentum eine Kontinuität geschaffen werden, die sich von der Weimarer Republik über den Hitler-Staat bis in die Bundesrepublik fortsetzt. Es ist bekannt, dass im angelsächsischen Denken, besonders in den USA, der Staat nicht diese überwölbende Rolle hat, sondern mehr als ein – wenn auch mächtiger, oft lästiger – Akteur in einem Interessenwettstreit zwischen eigenen privaten und allgemeinen öffentlichen Ansprüchen erscheint. „Uncle Sam“ sorgt nicht unbedingt für das Wohl der Seinen. Er ist kein Protektor, sondern ein Fordernder, in Interventionist. Der Hinweis auf das „staatsgläubige“ Denken der deutschen Nachkriegsdemokraten kann insofern nicht als minderer Grad einer reifen demokratischen Kultur verstanden werden, sondern als ein Unterschied in der politischen Kultur vor allem der USA und Deutschlands. Überhaupt ist die Gefahr von Analysen politischer Kultur aus US-amerikanischer Sicht, dass „anders“ als „weniger entwickelt“ verstanden wird. 104 Vor allem hierzu: Gabriel Almod / Sidney Verba, The Ciciv Culture. Political Attitudes and Democracy in Five Nations, Princeton 1963 122 a) Rückgriff auf Weimar Dass die Bundesrepublik nach 1945 wieder umschalten konnte auf den Zustand einer bürgerlich-demokratischen politischen Kultur, ist nicht primär eine Folge der „ReEducation“-Bemühungen der Alliierten, sondern hauptsächlich ein Rückgriff auf die demokratische politische Kultur der Weimarer Republik. Wiedergegründet wurden die Weimarer Parteien. Auch die Union (CDU und CSU) rekrutierte sich aus dem alten Zentrum, der konservativen DNVP und den Liberalen. Die SPD wurde wiedergegründet. Die FDP knüpfte an beide liberalen Parteien DDP und DVP an. Der Föderalismus war das A und O der staatlichen Wiedergründung, und für seine Repräsentanz wurde die deutsche Bundesrats- und nicht die amerikanische Senatslösung gewählt. Aus dem Reichs- wurde der Bundeskanzler – dieser allerdings mit alleiniger Verantwortung gegenüber dem Parlament, mit der Richtlinienkompetenz und der Abwahlmöglichkeit nur über ein konstruktives Misstrauensvotum gestärkt. Der Präsident wurde zum obersten Notar der Republik, gewählt durch die Bundesversammlung und nicht direkt durch das Volk. Einen Ersatzkaiser sollte es nicht mehr geben. Aus der Erfahrung heraus, dass der Rechtsstaat von Weimar, ohne juristisch aufgehalten zu werden, in eine Führerdiktatur übergleiten konnte, wurde das Bundesverfassungsgericht kreiert, und es hat sich seitdem als „Hüter der Verfassung“ weitgehend bewehrt.105 Zwar waren die Millionen von Mitgliedern der NSDAP 1945 buchstäblich von einem Tag auf den anderen wie in Luft aufgelöst; die NS-Ideen von Führerstaat, Eroberungslust, Rassenüberheblichkeit und Judenhass jedoch steckten noch in vielen Köpfen. Aber sie waren tabuisiert. Wo sie hochkamen wie bei der rechtsextremen SRP („Sozialistische Reichspartei“),106 ging der Staat mit Parteienverbot dagegen vor. Nazireden verstießen – wie man später gesagt hätte – gegen die politische Korrektheit. Das wusste schnell ein jeder. Im vorpolitischen Alltag aber und in den Familienkreisen waren die alten Sprüche noch gegenwärtig. Wer damals aufwuchs, konnte hören, wie die Alten, wenn sie zusammenkamen, redeten: Hitler sei gar nicht so schlecht gewesen, er hätte nur nicht mit den Juden anfangen sollen. Um die Autobahnen beneide uns die ganze Welt. Der „Ami“ hätte 1945 mit uns weiter nach Osten 105 Dass die Demokratie sich in Deutschland nach 1945 so stabil entwickelte, hat also damit zu tun, dass man an eine im Lande vorhanden gewesene demokratische Kultur, auch wenn sie brutal zerstört worden war, anknüpfen konnte: Personell und institutionell. Bei ihrem Einmarsch im Irak verwiesen die Amerikaner gerne auf das „erfolgreiche“ Modell Deutschland und übersahen, dass es im Irak diese demokratische Vorgängerkultur nicht gegeben hatte. 106 Horst W. Schmollinger, Die Sozialistische Reichspartei; in: Richard Stöss (Hg.) Parteienhandbuch. Die Parteien der Bundesrepublik Deutschland 1945 – 1980, Bd. I und II, Opladen 1983 und 1984; hier: Band 2, S.2274 ff 123 gegen den „Iwan“ gehen sollen. Die Juden seien selbst schuld an ihrem Schicksal, sie hätten sich vor 1933 zu sehr nach vorne gedrängt: usw., usw. b) „Skeptische Generation“ In der offiziellen Politik war dergleichen nicht relevant. Die Legitimität des demokratischen politischen Systems in der Ära Adenauer wurde vor allem durch das „Wirtschaftswunder“ fundamentiert. Die durch Krieg und Niederlage ausgezehrten Menschen stürzten sich in den Arbeitsprozess, schufen materielle Werte wie Lebensmittel, später Kühlschränke, Autos und Fernseher, nach denen sie lechzten und die sie so haben wollten wie im nun bewundernd eingebildeten Paradies auf Erden: wie in „Amerika!“ Die Masse der Bevölkerung gab sich dem Schaffen und Konsumieren des Wirtschaftswunders hin. Nach den verbrecherischen Heilsparolen des unter gegangenen Regimes begehrten sie nun Diesseitiges. Die junge „skeptische Generation“107 wollte von Ideen nichts hören und sich mit Gütern bescheiden. Die Politiker rekrutierten sich aus zwei Generationen: Die alten demokratischen Politiker der Weimarer Zeit übernahmen zunächst die Führung: Konrad Adenauer, Theodor Heuss, Kurt Schumacher und viele andere. Zu ihnen gesellten sich sehr bald um ihre Jugend betrogene Frontsoldaten und Flakhelfer: Helmut Schmidt, Franz Josef Strauß, Rainer Barzel und HansDietrich Genscher. Diese hatten Lebenserfahrungen und darauf basierend klare politische Ziele: Niemals mehr sollte die Demokratie von einer Diktatur oder von hochfahrenden Visionen verdrängt werden können: „Misstrauisch gegenüber Utopien und großen weltanschaulichen Würfen, betrieben sie Politik nüchtern und pragmatisch.“108 So einer war auch Rudolf Augstein, der Gründer und Herausgeber des „Spiegels“. Dieser wuchs mit seinem Magazin zum Symbol der zivilen demokratischen Distanz zum allzu oft nur formalen Rechtsstaat der Ära Adenauer heran. Damit lebte Augstein besonders der studentischen Jugend zu Beginn der 60er Jahre eine an den Menschenrechten orientierte demokratische Kultur vor. In die gleiche Richtung gingen Wirkungen der Spruchpraxis des Bundesverfassungsgerichtes wie im Falle des „Fernsehurteils“ vom 28. Februar 1961, das ein von Konrad Adenauer gewolltes kommerzielles Staatsfernsehen („Deutschland Fernsehen GmbH“) stoppte. Stattdessen nahm am 1. April 1963 neben dem von der ARD ausgestrahlten Fernsehen eine zweite öffentlich-rechtliche Anstalt, das „ZDF“, regelmäßigen Sendebetrieb auf. c) Paradigmenwechsel: APO und 68er 107 108 Helmut Schelsky, Die skeptische Generation. Eine Soziologie der deutschen Jugend, Düsseldorf-Köln 1963 Jürgen Leinemann, Höhenrausch. Die wirklichkeitsleere Welt der Politiker, München 2004, S. 128 124 Augstein und die „Spiegel“-Affaire wurden zum Katalysator für einen Paradigmenwechsel in der politischen Kultur der Bundesrepublik. Auf Weisung der Bundesanwaltschaft wurden in der Nacht vom 26. auf den 27. Oktober 1962 die Redaktionsräume des Nachrichtenmagazins „Der Spiegel“ durchsucht. Anlass war eine angeblich die Sicherheit der Bundesrepublik gefährdende Veröffentlichung über das NATO-Manöver „Fallex 62“. Die Durchsuchung, die Festnahme von Journalisten und die harte Haltung Adenauers („Ein Abgrund von Landesverrat“) sowie des Verteidigungsministers Franz Josef Strauß brachte eine intellektuelle und linksbürgerliche Öffentlichkeit gegen die Bundesregierung und die reaktionär erscheinende Union auf. Der Verteidigungsminister musste demissionieren, und am 19. November 1962 zog die FDP ihre Bundesminister aus dem Kabinett zurück.109 Rudolf Augstein wurde zum Helden der Hörsäle der Bundesrepublik. „Rudi“ war für die studentische Generation das Idol der Zeit. Durch ihn war deutlich geworden, dass die formaldemokratischen Strukturen der Ära Adenauer inhaltlich angereichert werden mussten durch ein Verständnis von Demokratie als Verhaltensnorm der Bürger und des gesamten Staatsapparates auch im Alltag. Es führt ein direkter Weg von der „Spiegel“-Affaire hin zur Regierungserklärung des ersten 1969 gewählten sozialdemokratischen Bundeskanzlers Willy Brandt, der seine innenpolitischen Ambitionen auf die Formel brachte: „Mehr Demokratie wagen“. Nach der Erkenntnis, dass eine lebendige Demokratie nicht nur Strukturen wie allgemeine Wahlen und daraus hervorgehende Parlamente braucht, sondern auch eine unabhängige Justiz und eine wirklich freie Presse, setzte sich in der studentischen Jugend mehr und mehr die Erfahrung durch, dass außerparlamentarisch organisierte Öffentlichkeit mit Demonstrationen, Versammlungen und auch Regelverletzungen mehr Gerechtigkeit und Bürgerfreiheit schaffen könnten. Der „Außerparlamentarischen Opposition“ (APO) folgten Bürgerinitiativen auf kommunaler Ebene und die Entfaltung eines neuen politischen Bewusstseins. Dieses Bewusstsein verließ die Vorstellung des pateranalistischen Staates und rückte Bedürfnisse der Persönlichkeit ins Zentrum. Diese Bedürfnisse orientierten sich zunächst auf den sozialen Status („Chancengleichheit“), später auf allgemeine politische Werte wie „Umweltschutz“ oder „Frieden“. Beobachter nennen das den Übergang von materialistischen zu postmaterialistischen Werten.110 Diese Veränderungen betrafen die in der Bundesrepublik sozialisierte Jürgen Dittberner, „Sind die Parteien noch zu retten?“. Die deutschen Parteien: Entwicklungen, Defizite und Reformmodelle, Berlin 2004, S. 33 110 Ronald Inglehart, Modernization and postmodernization: cultural, economic, and political change in 43 societies Princeton 1997 109 125 Nachkriegsgeneration. Der Irritation über die Festnahmen und Durchsuchungen beim „Spiegel“ folgten - das Aufdecken eines „Bildungsnotstandes“ von den Zwergschulen bis hin zu den Ordinarienuniversitäten, - die durch deren Vietnam-Intervention bewirkte Abkehr vom Idol der USA, - ein Ende der Toleranz gegenüber den Hitlerverniedlichungen der Vorgängergeneration und - die Einsicht in die umweltzerostörerische Wirkung der bis dahin so unkritisch betriebenen Industrialisierung. Die Veränderungen im politischen Bewusstsein ereigneten sich vorzugsweise im studentischen Milieu und wurden dort forciert durch „linke“ Gruppierungen wie den SDS („Sozialistischer Deutscher Studentenbund“) und den SHB („Sozialdemokratischer Hochschulbund“), dann auch durch den LSD („Liberaler Studentenbund Deutschland“). Das waren Studentenorganisationen der politischen Parteien SPD und FDP, die - wie der SDS – entweder von der Mutterpartei „verstoßen“ wurden oder sich von ihr abwandten. Die sich aus der Studentenschaft entwickelnde „APO“ bekam Zulauf durch die bittere Polemik der „Springer-Presse, die autoritäre Reaktion der Ordinarien-Universitäten und das brutale Vorgehen der Polizei gegen studentische Protestaktionen. Der tödliche Schuss eines Polizeibeamten gegen den Studenten Benno Ohnesorg am 2. Juni 1967 vor der Deutschen Oper in Berlin anlässlich des Besuchs des Schahs von Persien hatte eine breite Mobilisierung zur Folge. Den bisher vor allem sozialistisch und marxistisch ausgerichteten Protestaktionen schlossen sich auch Liberale und Konservative unter der akademischen Jugend an.111 Die studentische Protestbewegung – im Nachhinein die „68er“-Bewegung genannt112 – hatte im Ergebnis zu einer Vertiefung, aber auch Individualisierung des demokratischen Bewusstseins geführt. Bürgerinitiativen außerhalb der Parteien und des offiziellen politischen Systems wären ohne die „68er“ nicht entstanden, und dass die „Grünen“ 1983 in das Kartell des Zweieinhalb-Parteiensystems eindringen konnten113, geht unter anderem auf die studentische Protestbewegung zurück. Es bildete sich aus der Bewegung auch eine Nebenströmung, die sich in den Terrorismus verirrte und in die mörderische „Rote Armee Fraktion (RAF“) mündete. Die Reaktion des Staates auf diese Entwicklung war hart und unerbittlich. Schon der erste sozialdemokratische Bundeskanzler hatte dem „Radikalenerlass“ zugestimmt, nach dem als „Verfassungsfeinden“ deklarierten „Linken“ der Zutritt zum öffentlichen Dienst verwehrt werden sollte und Strafgesetze verschärft wurden. Willy Brandts 111 Jürgen Dittberner, Berlin Brandenburg und die Vereinigung. Und drinnen tobt das pralle Leben. Eine Innenansicht, Berlin 1994, S. 36 f 112 Jürgen Dittberner, „Sind die Parteien noch zu retten?“, a.a.O., S. 59 ff 113 Joachim Raschke, Die Grünen. Wie sie wurden, was sie sind, Köln 1963 126 Nachfolger Helmut Schmidt ging nicht auf erpresserische RAF-Forderungen ein mit der Folge, dass der als Geißel genommene BDI-Präsident Hans-Martin Schleyer von der RAF ermordet wurde. So gab es zur allgemeinen gesellschaftlichen Demokratisierung eine Gegenentwicklung: Der Staat verpflichtete sich zu einer „wehrhaften Demokratie“, die es nicht wie in den 30er Jahren noch einmal zulassen wollte, dass sich aus einem Rechtsstaat eine Diktatur entwickelte. Die Anfänge der „68“ lagen nicht nur in der Abkehr von materiellen und der Hinwendung zu postmateriellen Werten. Es ereignete sich ein allgemeiner Paradigmenwechsel: Das 50erJahre-Idol der USA geriet zum Ziel tiefer Ablehnung und böser verbaler Angriffe. Der Dualismus des Kalten Krieges wurde aufgelöst in Richtung einer Annäherung zwischen Ost und West, und das Tabu, sich nicht mit den Lehren insbesondere von Karl Marx zu beschäftigen, wurde zunächst im akademischen Lehrbetrieb, dann in den intellektuellpolitischen Debatten gebrochen. War „Amerika“ in den fünfziger Jahren das Vorbild in der Demokratie, der Kultur und im Konsum, so verdüsterte sich das Bild, als die USA einen Interventionskrieg gegen ein kleines Volk in Vietnam führten. Aus Befreiern wurden Interventionisten, aus Demokraten Nationalisten und aus Konsumenten Umweltzerstörer. Es war weder die offizielle Politik, die solchen Wandel im Amerika-Bild vollzog, noch war es die Masse des Volkes: Studenten und intellektuelle Minderheiten fingen an, das Idol zu demontieren. Dafür ernteten sie zunächst den Hass der Straße sowie der politischen Eliten einschließlich ihrer publizistischen Antreiber. Es sollte über vierzig Jahre dauern, bis die Amerika-Distanz ungeniert die offizielle deutsche Politik vereinnahmt hatte: Insofern waren Gerhard Schröder und Joseph Fischer wahrhaftig späte „68er“! Ohne die durch die DDR-Sozialisation aufgebaute USAFeindlichkeit vieler Ostdeutscher jedoch wäre diese rot-grüne Außenpolitik nicht möglich geworden. Der Antiamerikanismus der „68er“ war wie jeder Tabubruch ursprünglich schlechten Gewissens in die Öffentlichkeit getragen worden. Dagegen hatte allerdings geholfen, dass es im westlichen Ausland Parallelentwicklungen gegeben hatte: Demonstrationen in Paris und vor allem in den USA selber wie hauptsächlich in Berkeley. So konnten die deutschen Antiamerikanisten sagen, sie wären nicht gegen das amerikanische Volk – da seien sie ja solidarisch mit den „Genossen“ in Berkeley beispielsweise – nein: Sie würden sich gegen das politökonomische US-System wenden, das die Völker – sogar das eigene – versklaven wolle. 127 Das passte zur Marx-Renaissance. Vom westorientierten Konrad Adenauer bis zum nationalen Sozialdemokraten Kurt Schumacher114 war sich die westdeutsche Nachkriegsgesellschaft einig gewesen: Nationalsozialismus und Kommunismus seien gleichermaßen totalitäre Systeme. Von Schumacher stammt das Wort, die Kommunisten seien „rot lackierte Nazis“. Die Theoretiker des Kommunismus waren in dieser Zeit des Kalten Krieges im Westen verfemt. Niemand musste fürchten, sich zu blamieren, wenn er das „Kapital“ und „Mein Kampf“ auf eine Stufe stellte. Da war es eine Provokation und ein weiterer Tabubruch, als vor allem der SDS damit begann, Marx-Rezeptionen in die Öffentlichkeit zu tragen. Das allerdings war die Folge jenes Unvereinbarkeitsbeschlusses, mit dem die SPD nach ihrem an der CDU orientierten Godesberger Programm 1969 den störrischen Studentenbund SDS aus der soziademokratischen Familie verstieß. d) Sozial-liberal So sehr hatten die studentischen Proteste das politische Klima im Lande verändert, dass der „CDU-Staat“115 1969 sein Ende fand und die sozial-liberale Koalition unter Willy Brandt und Walter Scheel neue Wege ging. Das Bündnis wähnte sich getragen von einer neuen Interessenlage: derjenigen der „neuen Mittelschicht“. Die aufgrund ihrer beruflichen Qualifikation unabhängigen Beschäftigten seien die Avantgarde der Gesellschaft, am Wohle des Ganzen orientiert und deswegen die Träger der „Friedens“-politik mit dem Osten und der Reformen im Innern. Das schien sich vor allem in der Ostpolitik zu zeigen. Die Konfrontation zu den kommunistisch beherrschten Staaten Osteuropas, ja sogar zum deutschen Gegenmodell „Deutsche Demokratische Republik (DDR)“, wurde aufgegeben und ein „Wandel durch Annäherung“ erhofft. Dazu beigetragen hatte auch 1961 der Bau der Mauer durch Berlin, als alle Welt sehen konnte, dass die deutsche und europäische Spaltung durch Konfrontation weiter vertieft wurde. So kam es zu den Verträgen, die Bonn mit Moskau, Warschau und OstBerlin abgeschlossen hatte sowie zum Vier-Mächte-Abkommen über Berlin. Im Innern setzte die sozial-liberale Koalition eine Bildungsreform durch, welche die Chancengleichheit erhöhen sollte, tatsächlich neue Bildungswege und –einrichtungen schuf und dadurch breiten Schichten der Bevölkerung formal höherrangige Ausbildungen ermöglichte. Das Ideal der „antiautoritären Erziehung“ kam auf, und es dauerte lange, bis erkannt wurde, dass das zu Lasten von Leistung und Qualität geschehen war. Die Entwicklung der Bildungsleitlinien in der Bundesrepublik ist ein Beispiel für den oft dialektischen Verlauf politischer Kultur. 114 115 Peter Merseburger, Der schwierige Deutsche. Kurt Schumacher. Eine Biographie, Stuttgart 1995 Wolf-Dieter Narr (Hg.), Auf dem Weg zum Einparteienstaat, Opladen 1977 128 These: Noch der Bundespräsident Heinrich Lübke hatte von den Vorzügen der Zwergschulen in Deutschland geschwärmt. Da brachten Bildungsforscher und –politiker das Wort vom „Bildungsnotstand“ auf (Antithese). Die Öffentlichkeit verstärkte diese Analysen, und die Politik reagierte. Es wurden Schulen und Universitäten neu geschaffen, Gesamtschulen und Gesamthochschulen gegründet. Lehrer in den Schulen traten antiautoritär und schlurfig auf. Die Ordinarien- wurde durch die Gruppenuniversität ersetzt. Qualitätsstandards wurden Mengenerfolgen geopfert, und tatsächlich stieg der formale Ausbildungsstand der nachwachsenden Generationen an (neue These). Nur litt darunter die Leistung; Spitzenförderungen gerieten ins Hintertreffen. Wirtschaftführer, neoliberale und konservative Parteiführer bemängelten dies, und setzten sich für Elitenförderung ein. Dafür wurde öffentliches wie privates Kapital mobilisiert (Antithese zur neuen These). Nun galt das Hochschulsystem der USA als vorbildlich, und selbst die rot-grüne Bundesregierung zeigte sich von „Pisa“-Studien über das mangelhafte deutsche Bildungssystem beeindruckt. Sie stellte gleichermaßen Mittel zur Verfügung für Ganztagserziehung und Hochschulstudiengänge. Das „Mehr Demokratie wagen“ der Sozialliberalen stieß in der Innenpolitik an Grenzen. Politiker verschärften zur Bekämpfung des aus der Studentenbewegung erwachsenen Radikalismus und Terrorismus staatliche Repressionen. Die neue Ostpolitik war implantiert, aber die Wirtschaftslage verschlechterte sich. Willy Brandt und Walter Scheel wurden abgelöst durch Helmut Schmidt und Hans-Dietrich Genscher. Ökonomisches und administratives Krisenmanagement kamen auf die Agenda, Parteipolitik gewann die Oberhand. Die SPD wollte die „Belastbarkeit der Wirtschaft“ testen und die von den Amerikanern gewünschte „Nachrüstung“ des Westens verhindern - alles gegen den erklärten Willen des eigenen Kanzlers Helmut Schmidt. Da fürchtete die FDP, von der kriselnden SPD in einen Abwärtsstrudel gerissen zu werden und seilte sich vom Koalitionspartner ab. Am Ende, 1982, war davon die Rede, dass die Gemeinsamkeiten von SPD und FDP aufgebraucht wären, und mit Hilfe eines Teiles der FDP kam es 1982 zum Kanzler- und Koalitionswechsel. e) „Geistig-moralische Wende“ Der neue Bundeskanzler, Helmut Kohl von der CDU, sprach von der Notwendigkeit einer „geistig-moralischen Wende“, die seine Regierung herbeiführen wolle. Er wollte anknüpfen an die aus seiner Sicht gute, alte Adenauer-Zeit und ihre Spielregeln. Doch daraus konnte nichts werden. Obwohl sich die sozialliberale „neue Mittelschicht“ als Hirngespinst erwiesen hatte, denn die höheren Angestellten und Beamten liefen 1982/83 in Scharen zur CDU/CSU über, war doch in der Bevölkerung ein Bewusstseinsstand erreicht, dass eigene Rechte auch 129 gegen den Staat durchgeboxt werden müssten, und die allgemeine Ost-West-Entspannung hatte trotz eines erneuten Wettrüstens zwischenstaatliche Beziehungen geschaffen, für die die politischen Handlungsmuster Konrad Adenauers nicht mehr passten. Die Grünen drangen ins Parteiensystem ein und wandelten sich von einer „Anti-ParteienPartei“ binnen 20 Jahren zur braven Regierungs- und Kriegspartei. In der allgemeinen politischen Kultur machte sich in der Ära Kohl als Spätfolge aus der „68er“-Zeit Besitzstandsdenken und Egoismus breit. Das Gemeinwohl galt immer weniger, das Ego umso mehr. Nicht einmal eine Volkszählung wagte der Staat anzusetzen, weil er sich nicht einer Klageflut aussetzen wollte, die angestrengt wurde von Staatsbürgern, welche durch die Statistik ihre „individuellen Freiheitsrechte“ verletzt sahen. Eine Rechthabergesellschaft war entstanden, und die Regierung Kohl schritt aus Furcht vor Wählerverlusten nicht dagegen ein. So reduzierte sich die politische Kultur auf Besitzstandswahrung, und die öffentliche Debatte wurde durch einige Dogmen politischer Korrektheit geregelt: - Der Nationalsozialismus war schlecht, und rechte politische Strömungen sind es ebenfalls. - Im Lande lebende Ausländer bereichern die multikulturelle Gesellschaft und sollen integriert werden. - Die Gewerkschaften haben das Recht, von den Arbeitgebern die höchstmöglichen Löhne zu erzwingen und zusätzlich „Errungenschaften“ wie die 35-Stundenwoche und den Kündigungsschutz. - Strukturelle Arbeitslosigkeit gibt es nicht; das soziale Netz fängt vorübergehend beschäftigungslos Gewordene auf und führt sie wieder zurück in den ersten Arbeitsmarkt. - „Die Rente ist sicher.“ - Jeder Bürger hat das Recht, sich gegen den Staat und jede Institution auch mit Hilfe der Gerichte zur Wehr zu setzen, wenn er sich in seinen Interessen getroffen fühlt. - Soziale Defizite oder Benachteiligung so unterschiedlicher Gruppen wie Frauen oder Behinderte sind administrativ durch Quoten auszugleichen. - Es ist das gute Recht eines jeden, den offiziellen politischen Organen zu misstrauen und ihnen durch „Runde Tische“, Beiräte, Kommissionen, Plebiszite oder „Bürgerinitiativen“ in die Arme zu fallen. All dies ließ die Regierung Kohl laufen aus Furcht vor Amtsverlust, obwohl man wusste, dass viele dieser Dogmen nicht zu halten waren und dass man in skandinavischen Staaten, in den USA und in Großbritannien zur gleichen Zeit tiefgreifende Veränderungen in den sozialen und politischen Strukturen der Gemeinwesen durchführte. Helmut Kohl glaubte es seinen Wählern nicht zumuten zu können, auch das deutsche Wirtschafts- und Sozialsystem zu 130 verändern. Auch die FDP wurde ein Teil der „Machtmaschine“ Kohl und spielte nur noch die Rolle einer „Partei der zweiten Wahl“.116 Die konservativ-liberale Regierung konnte die aus internationalem Druck entstandene steigende Arbeitslosigkeit nicht abfangen, nicht das Gesundheits-, das Renten- oder das Steuersystem reformieren. Sie war den Ansprüchen ihrer Moderatoren- und Krisenmanagerrolle nicht gewachsen und wäre 1990 abgewählt worden, hätte nicht das Geschenk der deutschen Einheit sie gerettet. f) Deutsche Einheit Als der Ostblock zusammenbrach, ergriffen Helmut Kohl und Hans-Dietrich Genscher nach anfänglichem Zögern den „Mantel der Geschichte“ und setzten auf die deutsche Einheit. Der Wunsch nach der Einheit des Nationalstaates gehörte zu den Wertvorstellungen älterer Politiker wie Willy Brandt und Richard von Weizsäcker. In der westdeutschen Bevölkerung war die nationale Einheit dagegen gerade bei den Jüngeren kein relevanter Wert, und entsprechend agierten der Kanzlerkandidat der SPD von 1990, Oskar Lafontaine und die Grünen. Aber Kohl und Genscher setzten auf die schnelle deutsche Einheit: Sie erhielten dafür die Unterstützung einer Mehrheit der Ostdeutschen, ihrer Generationsgenossen in Westdeutschland und der „Elder Statesmen“ aller Parteien. Mit der Einheit stießen zwei politische Kulturen in Deutschland aufeinander. Wie hätte es anders sein sollen, nachdem die politische Sozialisation in Ost und West bei wichtigen Werten geradezu gegensätzlich verlaufen war? Wurden im Westen Egoismus, Leistung und Durchsetzungsfähigkeit als grundlegend vermittelt, so waren es im Osten Gemeinschaft, Solidarität und soziale Sicherheit. War vom Westen aus trotz aller Antiamerikanismen New York der Mittelpunkt der Welt, so war es vom Osten her Moskau. Der Osten sollte sich an den Westen anpassen. Das führte zu unterschiedlichen Verarbeitungsprozessen. Systemkritiker im Untergang des Staatskommunismus verabsolutierten ihre in der Wende gemachten Erfahrungen und waren danach für westliche Verhältnisse ungewohnt rigoros und unerbittlich in der Verurteilung der Machtträger des alten Systems. Die Verlierer und die sich missverstanden Fühlenden aus dem alten System wollten dagegen ihre eigene Identität „einbringen“ und machten die PDS stark. Die meist bei den Grünen gelandeten Rigoristen aus dem Osten wie die von „Bündnis 90“ und eben die PDS waren neue Elemente im Parteiensystem, verloren aber bald an Einfluss. Entgegen der Erwartungen von 1990 passte sich der Osten nicht an den damaligen Wohlstand des Westens an, sondern der Westen selber büßte Arbeitsplätze ein. Dieser Prozess jedoch 116 Jürgen Dittberner, FDP- Partei der zweiten Wahl, Ein Beitrag zur Geschichte der liberalen Partei und ihrer Funktionen im Parteiensystem der Bundesrepublik, Opladen 1987 131 war im Osten Deutschlands noch stärker: Die ökonomische Schere zwischen Ost und West schloss sich nicht, sondern öffnete sich weiter. Das ist die Hauptursache dafür, dass sich ein ostdeutsches Milieu bis ins neue Jahrhundert erhielt, gehegt von der PDS, die bei den Landtagswahlen davon profitierte. 2005, nachdem die rot-grüne Bundesregierung – möglicherweise handwerklich unzulänglich – eine Reform des Sozialstaates gewagt hatte, schwappte die Verunsicherung in den Westen über. Ob der aus PDS und WASG bestehenden „Linken“ über 2005 hinaus eine dauerhafte Verankerung eines sozialistischen Elementes in der politischen Kultur des ganzen Deutschlands gelingen wird, bleibt abzuwarten. Immerhin haben es Politiker wie Oskar Lafontaine – nun für die Linkspartei – und Gregor Gysi geschafft, die Möglichkeit einer offiziellen sozialistischen politischen Kraft in Deutschland zu enttabuisieren. In der „alten Bundesrepublik“ wäre ein Erfolg einer „Linkspartei“ ausgeschlossen gewesen. g) Rot-Grün Wenn auch die Zeit der rot-grünen Koalition 2005 jäh endete, so hat sich von 1998 an einiges in der politischen Kultur in Deutschland geändert: - Die Einbürgerung länger in Deutschland lebender Ausländer wurde erleichtert; die Zuwanderung weiterer erschwert. Was die offizielle Politik bislang ignoriert hatte, galt nun als Tatsache: Deutschland ist ein Einbürgerungsland. - Das Monopol der Ehe zwischen Mann und Frau als Basis der Gesellschaft wurde gebrochen; gleichgeschlechtliche „Ehen“ sind möglich. - Der absolute Wert der traditionellen Familie wurde aufgegeben. Temporäre Beziehungen und „Singlehaushalte“ wurden der Ehe gleichgesetzt. Die absolute Fortschrittsgläubigkeit im Hinblick auf neue Technologien wurde konterkariert durch den eingeleiteten Ausstieg aus der Atomenergie und durch die vor allem von den Grünen initiierten Debatten über die Grenzen der Gen- und Zellentechnologie. - Die - trotz aller Antiamerikanismen in der Bevölkerung - bis dahin gepflegte diplomatische Rücksichtnahme auf die Interessen der Führungsmacht USA wurde im Bunde mit Frankreich und Russland bei den Entscheidungen über den Irakkrieg aufgegeben. - Der Anspruch, die Menschenrechte als einen Maßstab der deutschen Außenpolitik zu nehmen, wurde wie im Falle Tschetscheniens gegenüber Russland, Guantanamo gegenüber den USA und generell gegenüber China fallen gelassen. Wirtschaftinteressen wurden über moralische Ansprüche gestellt. 132 - Die Einordnung deutscher Politik hinter die Ziele der Europäischen Union wurde aufgegeben, wie die mehrfache Nichtbeachtung der vereinbarten Defizitkriterien beim Haushalt gezeigt hat. - Deutschland definiert sich als „größere Mittelmacht“, die eigene Interessen auch ohne Rücksicht auf traditionelle Verbündete durchsetzte. - Der Begriff „Reform“ wurde umgedeutet: Rot-Grün wagte unter der Überschrift „Hartz I – IV“ einen Rückbau des Sozialstaates, wie ihn Schwarz-Gelb nicht geschafft hatte, mit der Folge, dass besonders die SPD ein Defizit bei ihrem Leitthema „soziale Gerechtigkeit“ bekam. Gegen den angewachsenen Druck nach politischer Korrektheit gab es gelegentlich aufflammendes Aufbegehren. Das von den Grünen, aber auch von der SPD favorisierte Gesellschaftsbild von der „multikulturellen Gesellschaft“ forderte vor allem Konservative heraus. Sie sprachen von der Notwendigkeit einer „deutschen Leitkultur“, was wiederum wütenden Protest rot-grüner Aktivisten hervor rief. Als Folge des 11. September 2001 kamen Verdächtigungen gegen undurchschaubare muslimische Gruppen auf. Diese könnten Brutstellen des Terrors sein. Schließlich kam der Begriff von „Parallelgesellschaften“ in die Debatte eingeführt. Hiermit waren vor allem türkische Kreise gemeint, die jenseits der deutschen Kultur und Sprache existierten, sich durch Frauenzuzüge aus Anatolien rekrutierten und in denen es zu „Ehrenmorden“ an Frauen kam, die sich in Deutschland integrierten und den Wertvorstelllungen der Herkunftsfamilie entzogen. Die Vorstellung einer heilen „multikulturellen“ Gesellschaft erwies sich als illusionär. Kein Zweifel: Rot-Grün hat die politische Kultur in Deutschland verändert. Es bleibt abzuwarten, wie die „Antithesen“ zu diesen Wertvorstellungen in der Ära der zweiten großen Koalition in Deutschland lauten werden. Wird es eine Renaissance der klassischen Familie geben, weil die Gesellschaft unter Kindermangel leidet? Welche Folgerungen wird man daraus ziehen, dass Menschen allen Primärstrukturen zum Trotz Kinder nur in die Welt setzen, wenn sie ökonomische Sicherheit verspüren? – Wie wird sich das Verhältnis zu den im Land lebenden und in das Land strömenden Ausländer, auch angesichts einer kontroversen Türkei-Politik, entwickeln? – Welche Folgen außer dem Einzug der Linkspartei 2005 in den Deutschen Bundestag werden die sozialen Einschnitte aus dem Jahre 2003 haben? - Wird die Konjunktur anspringen, oder werden große Bevölkerungsschichten verarmen: Wird es zu sozialen Konflikten kommen? Die Zukunft der politischen Kultur in Deutschland ist ungewiss. Wie steht es in dieser Situation mit der Konsistenz der wichtigsten politischen Institutionen? 133 h) Die Konsistenz der politischen Institutionen Der Föderalismus, der durch ein Mischwahlsystem gewählte Bundestag, die Bundesregierung mit dem Bundeskanzler an der Spitze, der Bundespräsident und das Bundesverfassungsgericht sind jene politischen Institutionen, deren Bedeutung sich mit der Entwicklung der politischen Kultur in Deutschland seit 1949 zwar gewandelt, im Prinzip jedoch gehalten hat. I) Der Föderalismus Eine der Grundlagen der gesamten politischen Entwicklung im Westen Deutschlands nach dem Nationalsozialismus ist der Föderalismus. Die deutschen Länder existierten bereits, als die Bundesrepublik 1949 entstand. Auch in der Sowjetischen Besatzungszone („SBZ“) gab es vor der DDR Länder, die dort allerdings zugunsten eines über „Bezirke“ zentral verwalteten Staates abgeschafft wurden. Im Westen wurde der Parlamentarische Rat, die verfassungsgebende Versammlung, aus von den Landtagen gewählten Abgeordneten gebildet. Die föderale Struktur der Bundesrepublik orientierte sich an historischen Vorbildern, im Grunde zurückgehend bis ins Heilige Römische Reich Deutscher Nation mit seinen starken Territorialfürsten. Die deutschen Bundesländer nach 1945 wurden wegen der Auflösung Preußens neu zugeschnitten wie im Falle Nordrhein-Westfalen oder orientierten sich an alten Territorien wie im Falle Bayerns. Es war der Wunsch der Deutschen nach dem 2. Weltkrieg, dass Deutschland dezentral sein sollte und der Bundesstaat nur die übergeordneten Aufgaben wie die Außenpolitik oder die Gestaltung der Grundlagen des Finanzwesens übernehmen sollte. Im Bundesrat sollten die Länderregierungen an der Politikgestaltung des Gesamtstaates beteiligt werden. Somit wählte man eine spezifisch deutsche Struktur und lehnte das amerikanische Senatsmodell ab. Der Bundesrat, dieses Parlament aus Regierungsmitgliedern, usurpierte viel Macht. Noch einmal gestärkt wurde dieses Verfassungsorgan von der großen Koalition unter Kurt-Georg Kiesinger und Willy Brandt durch das Stabilitätsgesetz und die Gemeinschaftsaufgaben. Der deutsche Föderalismus wurde als Unikum gesehen, das aber den Belangen des Bundes und der Länder zunächst gerecht zu werden schien: „Unitarischer Bundesstaat“. 117 Solange die Wirtschaft der Bundesrepublik stark war, galt der deutsche Beteiligungsföderalismus als vorbildlich. Nachdem jedoch seit den 90er Jahren die Arbeitslosigkeit anstieg, wurde der Bundesrat als Blockadeorgan bezeichnet, bis 1998 von der Regierung Kohl, ab 2000 von der 117 Arthur Benz/Gerhard Lehmbruch (Hg.), Föderalismus, PVS, Sonderheft 32 134 Regierung Schröder. „Politikverflechtung“ wurde zur „Politikverflechtungsfalle“ 118 und zum Systemmangel. Das ist ein Paradoxon des gelebten Föderalismus in Deutschland: Dass die Ministerpräsidenten der Länder einerseits den Bundesrat als nationale Bühne benutzen und den Eindruck erwecken, als wären sie alle 16 große Staatsmänner und die Chefs von 16 Nebenregierungen auf gleicher Augenhöhe mit der Bundesregierung und dass die Bundesregierung andererseits über Gemeinschaftsaufgaben, Mischfinanzierungen und Rahmengesetze die Länder auf ihren eigenen Gebieten kujoniert. Die Leidtragenden sind neben den nicht mehr durchschauenden Bürgern die Landesparlamente und der Bundestag. Denn die Landesparlamente haben in Bundesratssachen und bei Staatsverträgen praktisch nichts zu sagen. Der Bundestag kann beschließen, was er will: Wenn es dem bürokratisch abgeschirmten Bundesrat nicht passt, ist das wertlos. So kam es, dass die Ministerpräsidenten im Bundesrat das große Wort über Bundespolitik führen, während die Ministerialbürokratie des Bundes den Bundesländern vorschreibt, ob sie an der Universität X eine neue Fakultät aufmachen dürfen oder nicht. Selbst da, wo der Bund den Ländern Eigenständigkeiten beließ, hatte er sie als „nützliche Idioten“ benutzt: Wo einige Länder aus purer Finanznot danach lechzten, die Rechte der Beamten zu beschneiden, ließ der Bund sie gewähren und ersparte sich den Ärger mit der entsprechenden Lobby. Ist eine kleine Reform zu begrüßen oder zu befürchten? Zu begrüßen wäre sie, weil es einige notwendige Korrekturen an der Verfassungswirklichkeit gäbe. Zu befürchten wäre sie, weil die „politische Klasse“ genannte Gemeinschaft der Junkies der Politikverflechtung weiterhin ihren Stoff erhielte und Deutschland benebelte, anstatt die Kräfte des offenen politischen Konfliktes und der ökonomischen Konkurrenz als Quellen von Innovation, Fortschritt und wachsendem Wohlstand frei zu setzen. Der einst so sehr gelobte deutsche Föderalismus steckt auch nach dem Ende von Rot-Grün in der Krise. Es ist unwahrscheinlich, dass diese Grundstruktur Deutschlands zukünftig einen Wandel von Grund auf erfährt. Nirgendwo ist die Rede davon, anstelle des Bundesrates einen von den Bürgern gewählten Senat zu setzen. Das Thema „Länderfusion“ soll nicht behandelt werden. Somit ist zu erwarten, dass der Föderalismus weiterhin zu den Schwachstellen der politischen Kultur in Deutschland gehören wird. II) Das Parlament 118 Fritz Scharpf u.a., Politikverflechtung. Theorie und Empirie des kooperativen Föderalismus in der Bundesrepublik, Kronberg/Ts. 1976 135 Der Deutsche Bundestag ist das einzige direkt vom Volke legitimierte Verfassungsorgan. Der Bundestag wählt den Bundeskanzler, initiiert also die Regierung. Er ist zu 50 % an der Wahl des Bundespräsidenten beteiligt und wählt die Hälfte der Mitlieder des Bundesverfassungsgerichtes. Der Bundestag hat umfassende Kontrollrechte gegenüber der Bundesregierung. Er soll die politische Meinungsbildung im Lande prägen und die Quelle der politischen Macht während der Legislaturperioden sein. Seit 1949 wird der Bundestag über Landeslisten in einem Mischsystem aus Mehrheits- und Verhältniswahl gewählt. Die wichtigere ist die Verhältniswahlstimme, die „Zweitstimme“ – nach ihr richtet sich die Zusammensetzung des Parlamentes. Dieses Wahlsystem wurde akzeptiert, weil es die Bevölkerung angemessen zu repräsentieren schien und stets klare Mehrheiten zutage brachte. 2005 änderte sich das: Die Union und die SPD verloren ihren Status von Volks- und waren nur noch Großparteien. Die Kleinparteien FDP, Grüne und „Links“ hatten sich so stark festgelegt, dass sie mit jeweils einer der Großparteien keine Mehrheit bilden wollten. Damit stellt sich die Frage nach einer Reform des Wahlsystems in Richtung Mehrheitswahl, falls „politische Stabilität“ ein zentraler Wert der politischen Kultur ist. Bei Bundestagswahlen wird das Parlament gewählt. Mehr und mehr jedoch wurde personalisiert – nicht bei den Wahlkreisabgeordneten, sondern bei den nationalen Parteispitzen. Beim ersten Bundeskanzler Konrad Adenauer hieß es: „Auf den Kanzler kommt es an“. 1961 reiste Klaus Schütz im Auftrag der SPD in die USA und studierte die Kampagne Richard Nixons gegen John F. Kennedy. Schütz brachte die Idee mit, gegen den richtigen Kanzler – immer noch Adenauer – einen „Kanzlerkandidaten“ zu stellen: Willy Brandt. Seitdem nominieren die großen Oppositionsparteien „Kanzlerkandidaten“, und Bundestagswahlen werden – unterstützt durch das Fernsehen – als „Duelle“ zwischen amtierenden Kanzlern und angreifenden Kandidaten gesehen. Aus Parlamentswahlen sind Persönlichkeitskampagnen geworden. Die politische Kultur könnte darauf reagieren, dass - sie es entweder bei diesem Gegensatz zwischen Verfassungsanspruch und -wirklichkeit belässt, - sie nach dem Vorbild der USA eine Persönlichkeitswahl um das wichtigste politische Amt veranstaltet oder - sie ablässt von der übertriebenen Personalisierung bei Bundestagswahlen. Dass das letztere geschieht, ist am unwahrscheinlichsten. Bei der politische Meinungsbildung hatte der Bundestag seit eh und je Konkurrenten: die Parteien, die Medien, Interessenverbände und Bürgerinitiativen. Finden aber die ganz großen 136 politischen Debatten noch im Bundestag statt? Das wird vielfach bestritten: In den 50er Jahren sei im Bundestag entschieden worden über die Westintegration der Republik, ebenso über die Wiederbewaffnung. Aber waren es nicht die Bundesregierung und die einzige frei gewählte Volkskammer der DDR, die den Weg frei gemacht haben für die Wiedervereinigung? Sind die Einschnitte ins Sozialsystem – „Hartz“ genannt –am Ende vom Bundestag nur noch „abgenickt“ worden? Gerade bei der politischen Meinungsbildung scheint der Bundestag Bedeutung eingebüßt zu haben. Für das Volk sind Talkshows im Fernsehen interessanter als Bundestagsdebatten. Andererseits gab es nach der deutschen Vereinigung zwei Entscheidungen, die nach allgemeinem Verständnis nur der Bundestag treffen konnte: die über den Sitz der Hauptstadt und über die Errichtung eines Holocaustmahnmals in Berlin. Welche Kommission, welche Fernsehstation hätte hier entscheiden können? Ein altbekanntes Problem ist, dass Parlamente sich schwer tun, Verwaltungen zu kontrollieren. Max Weber empfahl den Parlamenten, dem in den Verwaltungen versammelten Sachverstand eine möglichst große Zahl von sachverständigen Beratern der Parlamente entgegen zu stellen.119 Der Bundestag ist diesem Rat gefolgt, hat die Zahl seiner Beschäftigten und die seiner Fraktionen aufgestockt, hat Untersuchungsausschüsse und Enquetekommissionen eingesetzt. Aber der Ministerialbürokratie gegenüber wird das Parlament stets quantitativ unterlegen sein. Hinzu kommt, dass der Bundestag als „arbeitendes Parlament“ in den Ausschüssen viel mit Regierungsvertretern kooperiert, so dass auch hausintern eine erhebliche Politikverflechtung entsteht. Das Ansehen der Mitglieder des Bundestages in der Bevölkerung ist schlecht. Hier müsste der Bundestag einiges reformieren oder bedenken, wenn er eine größere Nähe zum Volke will: - Abgeordnete des Bundestages oder der Länderparlamente verdienen zwischen 7009 € (Bundestag) und 2252 € (Hamburg). Dazu kommen zwischen 3551 € (Bundestag) und 420 € (Hamburg) steuerfreie Aufwandsentschädigungen. Funktionsträger (z. B. Fraktionsvorsitzende) erhalten mehr, mindestens doppelte Diäten. Damit sind die Abgeordneten angemessen bezahlt und nicht auf Zusatzeinkommen angewiesen. Als Abgeordneter kann man in Deutschland „von der Politik leben“120. Weitere Diätenerhöhungen würden dem Ansehen des Parlamentes schaden. - Um den Kontakt zu außerpolitischen Gesellschaftsbereichen zu wahren und die Möglichkeiten zu sichern, nach Ablauf des Mandats wieder einen „bürgerlichen Beruf“ 119 Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriss der verstehenden Soziologie. Studienausgabe in 2 Halbbänden, Köln/Berlin 1964 120 Max Weber, Politik als Beruf, Stuttgart 1992 137 auszuüben, ist es sinnvoll, wenn Abgeordnete neben ihrem Mandat anderen Beschäftigungen nachgehen. Solche Beschäftigungen dürfen die Ausübung des Mandats weder zeitlich noch politisch behindern. Sie sollten allgemeinverständlich publik gemacht werden. - Abgeordneten sollte untersagt sein, Lobbytätigkeiten für die einschlägig bekannten Verbände und Tätigkeiten für Beraterfirmen auszuüben, da hier die Gefahr besteht, dass sie ihre Mandate vermarkten. - Damit keine Verfestigungen entstehen und das demokratische Prinzip des Wechsels gestärkt wird, sollte eine Wiederwahl von Abgeordneten nur einmal möglich sein. - Um die Parlamente arbeitsfähig zu machen und den Status der einzelnen Abgeordneten zu erhöhen, bedarf es einer Verkleinerung der Parlamente: Der Bundestag könnte auf 300 und das Berliner Abgeordnetenhaus z. B auf 100 tatsächliche Mitglieder reduziert werden. - Die Tätigkeit als Abgeordneter sollte wie jede andere Berufstätigkeit in die allgemeine Rentenversicherungs- und Krankenversicherungspraxis einbezogen werden. - Über Zweifelsfragen bei den Einkünften der Abgeordneten sollte der jeweilige Ältestenrat entscheiden. - Die Veröffentlichungspflicht für alle bezahlten – auch ehrenamtlichen - und unbezahlten Funktionen von Abgeordneten sowie von Mitgliedschaften sollte ausgebaut und vom jeweiligen Parlamentspräsidenten streng überwacht werden. Die Rechnungshöfe sollten prüfen, ob die Parlamentspräsidenten ihren entsprechenden Pflichten nachkommen und im Falle der Pflichtverletzung die Öffentlichkeit informieren. - Letzten Endes müssen die für die Aufstellung von Parlamentskandidaten zuständigen Parteigliederungen bei jeder Nominierung prüfen, ob ein Kandidat sein Mandat im Sinne des Artikels 38 des Grundgesetzes wahrnimmt. Das muss nach den Prinzipien Transparenz und Kontrolle erfolgen. Wenn die Kluft zwischen den politischen Empfinden in der Bevölkerung und dem Lebensstil der „Volksvertreter“ eingeebnet werden soll, damit der Deutsche Bundestag das wichtigste politische Organ in Deutschland bleibt, werden solche Reformen nötig sein. Trotz einiger geplanter Reformen: Eine grundlegende Neuorientierung des Status der Abgeordneten ist in der Zeit der großen Koalition nicht vorgesehen. III) Die Regierung Auch bei der Bundesregierung hat der Parlamentarische Rat Kompromisse zwischen verschiedenen Prinzipien gemacht. Einerseits ist der Bundeskanzler mehr als der „Primus inter paris“: Er wird als einziges Mitglied der Regierung vom Bundestag gewählt; die Minister werden auf seinen Vorschlag hin vom Bundespräsidenten ernannt oder entlassen. 138 Der Bundeskanzler bestimmt die Richtlinien der Politik („Richtlinienkompetenz“). Andererseits gilt für das Bundeskabinett das Ressort- und das Kollegialprinzip: Jeder Minister ist für seinen Geschäftsbereich selbständig verantwortlich, und das Kabinett entscheidet als Ganzes (Artikel 65 Grundgesetz). Wie die Vorgaben der Verfassung in der Praxis umgesetzt worden, hängt von den Persönlichkeiten ab, die jeweils die Ämter wahrnehmen und ebenso von den koalitions- und parteipolitischen Rahmenbedingungen.121 „Adenauer glaubte im März 1951 sich nur auf einen einzigen Minister verlassen zu können, nämlich den Außenminister, der er selbst war. Schmidt übte nach eigener Einschätzung „ein schlimmes Amt“ aus. Des Bundeskanzlers Bürde spürten in der einen oder anderen Weise gewiss auch die Minister. Von Kohl ist behauptet worden, das Kabinett diene nur noch zum Abnicken`“.122 Im Kabinett Brandt dagegen hätten „umfangreiche Debatten“ stattgefunden.123 Und bei Gerhard Schröder? Einer, der meint es zu wissen, berichtet: „Man spricht im Bundeskabinett nicht offen, weder miteinander noch übereinander. Gerhard Schröder, der den Ton angeben will, liebt die feine Ironie, vor allem auf Kosten der anderen.“124 Abzuwarten bleibt, wie die Kanzlerin Angela Merkel als erste Frau das wichtigste politische Amt Deutschlands prägen wird. Vielfach wird behauptet, die Praxis der Regierungstätigkeit habe sich von den Vorgaben der Verfassung entfernt. Parteien und Koalitionen würden in Koalitionsvereinbarungen die Grundlagen der Regierungsarbeit bestimmen, und auch der Bundeskanzler müsse sich daran halten. Hierbei ist zu bedenken, dass jede Kanzlerin und jeder Kanzler an den Koalitionsoder Parteiverhandlungen beteiligt ist und dort Einfluss nehmen kann. Auch in Parteikreisen hat er informell eine herausgehobene Stellung. Gleichwohl werden Koalitionsausschüsse – an denen die jeweiligen Partei- und Fraktionsvorsitzenden teilnehmen - häufig als „Überkabinette“ bezeichnet. In der Tat geht von ihnen nicht nur für den jeweiligen Kanzler, sondern besonders für die Minister eine bindende Wirkung aus. Aus der Zeit der ersten großen Koalition wird berichtet, dass der Vizekanzler und Außenminister Willy Brandt besonders unter dem Kanzlerstatus seines Kollegen Parteivorsitzenden Kurt-Georg Kiesinger Udo Kempf / Hans-Georg Merz (Hg.), Kanzler und Minister 1949 – 1998. Biografisches Lexikon der deutschen Bundesregierungen, Wiesbaden 2001 122 a.a.O., S. 57 123 a.a.O., S. 66 124 Michael Schwelien, Joschka Fischer. Eine Karriere, Hamburg 2000, S. 72 121 139 gelitten habe. 125 Derartiges ist im Verhältnis zwischen Franz Müntefering und Angela Merkel nicht zu erwarten. Gegen die Vorstellungen der Verfassung verstößt die informelle Regel, dass in Koalitionen jede Partei ihre Kabinettsmitglieder selber bestimmen könne. Hier wird der Bundeskanzler oft zum Vollstrecker dessen, was in Fraktionsversammlungen beschlossen wird. Hält er sich dann nicht an Personalvorschläge seiner Koalitionspartner, riskiert er den Verlust der Mehrheit und der Macht. So schien es selbstverständlich zu sein, dass bei der Bildung der großen Koalition 2005 die Unions- und die SPD-Seite ihre jeweiligen Minister unabhängig voneinander nominiert hatten. Auf der anderen Seite kann man davon ausgehen, dass jeder Regierungschef vor parteioffiziellen Nominierungen vertrauliche Konsultationen erwartet. Volkes Meinung ist, Politiker – besonders Minister - sollten Fachleute sein. Hingegen: Drei Qualitäten, sagt Max Weber, seien für einen Politiker erforderlich: „Leidenschaft, Verantwortungsgefühl, Augenmaß.“ Leidenschaft ist gemeint als „Hingabe an die Sache“, für diese Sache bedarf es der „Verantwortlichkeit“, und Augenmaß ist die „Fähigkeit, die Realität mit innerer Sammlung und Ruhe auf sich wirken zu lassen.“126 „Leidenschaft, Verantwortungsgefühl, Augenmaß“ – von Fachverstand ist nicht die Rede. Der Politiker soll für das Gemeinwesen Entscheidungen treffen und diese durchsetzen können. Das ist sein Handwerk. Er soll, wie es modern heißt: „Mehrheiten organisieren“. Dass die Entscheidungen von Sach- und Fachverstand getragen werden, dafür steht den Bundesministern die Ministerialbürokratie zur Verfügung. Als Politiker allerdings muss er in der Lage sein, sich seines „Apparates“ zu bedienen und nicht von ihm geführt zu werden. Gerhard Schröder hat das Kommissionswesen auch deshalb strapaziert, weil er nicht von der Ministerialbürokratie und den dort versammelten „Bedenkenträgern“ abhängig sein wollte. Dafür hat er seinen Fachministern ein Stück ihrer politischen Macht genommen und sie in die Abhängigkeit der Kommissionen mit den darin versammelten „Experten“ gebracht. Andererseits schließen weder Max Weber noch andere Wissenschaftler aus, dass es nicht schaden kann, wenn ein Minister zusätzlich zu den drei genannten Eigenschaften über Fachkenntnisse verfügt. Es gibt informelle Regeln, derartiges wenigstens an einigen Stellen sicher zu stellen. So soll ein Justizminister stets Jurist sein. Das erleichtert ihm die Diskussion mit seiner Klientel. Weiterhin galt es lange Zeit als angebracht, dass Wissenschaftsminister in den Ländern Hochschullehrer sein sollten. Seit davon mehr und mehr abgegangen wurde, vertiefte sich der Gegensatz zwischen den wissenschaftlichen Institutionen und den Ministerien – zum Schaden der Institutionen. Das Beispiel zeigt, wie günstig sich eine 125 126 Peter Merseburger, Willy Brandt. 1919 – 1992. Visionär und Realist, München 2002, S. 486 ff Max Weber, Soziologie. Weltgeschichtliche Analysen. Politik, Stuttgart 1964, S. 167 140 politische Kultur auswirken könnte, in der Minister zusätzlich zu den Weberschen Eigenschaften über Fachverstand verfügten. Es ist ein Problem der modernen politischen Kultur, dass Minister in der Öffentlichkeit nicht mehr als verantwortliche Ressortpolitiker wahrgenommen werden, sondern als Medienfiguren. Es geht nicht mehr um den Bundesfinanzminister, sondern um „Hans im Glück“ oder „Hans im Unglück“. Joseph Fischer war nicht in erster Linie der Bundesaußenminister, sondern „Joschka Superstar“. Einer seiner Vorgänger hatte es zum „Genschman“ gebracht. Und Angela Merkel war schon „Angie“, bevor sie zur Kanzlerin gewählt wurde. Bei solchen Betrachtungen wird ein Riss in der politischen Kultur offenbar – der Riss zwischen politischer Verantwortlichkeit einerseits und Mediendarstellung andererseits.127 IV) Der Bundespräsident Braucht Deutschland einen Bundespräsidenten? Der Bundespräsident ist die abgespeckte Version des Reichspräsidenten der Weimarer Republik. Dieser war der Ersatzkaiser in der Republik, der den Deutschen den Trennungsschmerz aus dem Verlust der Monarchie mildern sollte. Der Reichspräsident hatte weitgehende Vollmachten. Er konnte den Reichskanzler einsetzen, den Reichstag auflösen oder mit Notverordnungen regieren. Er wurde direkt vom Volke gewählt. Der letzte Reichspräsident Paul von Hindenburg wurde gegen den Kandidaten Adolf Hitler gewählt, setzte diesen aber 1933 als Reichskanzler ein, weil er glaubte, die konservativen Minister seines Kabinetts würden mit dem schon fertig werden: ein fataler Irrtum! Nach 1945 wollte niemand einen Ersatzkaiser. Der Bundespräsident sollte so etwas wie der „oberste Notar“ der Republik sein. Gewählt wird er von der Bundesversammlung. Diese „besteht aus den Mitgliedern des Bundestages und einer gleichen Anzahl von Mitgliedern, die von den Volksvertretungen der Länder ... gewählt werden.“128 Die Bundesversammlung tritt alle fünf Jahre zusammen – nur, um den Bundespräsidenten zu wählen. Spätestens dann wird der deutschen Öffentlichkeit bewusst, dass es einen Bundespräsidenten gibt, und es wird vorgeschlagen, das Staatsoberhaupt direkt wählen zu lassen. Ist die Wahl vorbei, ist diese Diskussion wieder vergessen. Nicht der Bundespräsident, sondern der Bundeskanzler ist die stärkste politische Figur. Zwar schlägt der Bundespräsident dem Bundestag einen Kanzler als Kandidaten vor, aber gewählt werden muss er mit der „Kanzlermehrheit“ im Bundestag. Gelingt dieses nicht auf Anhieb, so 127 Axel Balzer / Marvin Geilich / Shamin Rafat (Hg.), Politik als Marke. Politikvermittlung zwischen Kommunikation und Inszenierung, Münster 2005 128 Artikel 54 (3) des Grundgesetzes 141 kann der Bundestag auch einen Kanzler ohne Vorschlag des Präsidenten wählen. Diesem bleibt dann nur die Ernennung des Kanzlers. Im Falle einer negativ beschiedenen Vertrauensfrage des Kanzlers, kann der Präsident den Bundestag auflösen, aber nur dann, wenn der Kanzler ihm das vorschlägt.129 Mit Notverordnungen regieren kann der Präsident jedenfalls nicht. Der Bundespräsident vertritt Deutschland nach außen, auch völkerrechtlich. Er ernennt Beamte und Richter, die von anderen Stellen ausgesucht werden. Vielfach wird verlangt, der Bundespräsident müsse parteipolitisch neutral sein. Angesichts der Tatsache, dass es letzten Endes Parteien sind, die ihn wählen, ist das eine ziemlich blauäugige Vorstellung. Im Allgemeinen wird sich der Präsident im Tagesgeschäft mäßigen, denn er hat nicht mehr darum zu kämpfen, auf der politischen Karriereleiter weiter voran zu kommen. Tut er das nicht, gibt es Ärger: Als am 5. März 1969 in Berlin Gustav Heinemann von der SPD und der FDP gegen den CDU-Kandidaten Gerhard Schröder im dritten Wahlgang gewählt wurde, sprach er von einem Stück „Machtwechsel“, denn dies war die Ouvertüre zur nachher gegen die Union gebildeten sozial-liberalen Koalition. Die Empörung in der Öffentlichkeit über die Bemerkung des neuen Präsidenten war groß, besonders in konservativen Kreisen. Roman Herzog (1994 – 1999) hatte versucht, die Möglichkeit, dass der Präsident durch seine Reden Einfluss nehmen könne, zu institutionalisieren. Er schuf die „Berliner Rede“ als feste Einrichtung. Schon vor einer Rede ließ das Präsidialamt verkünden, der Bundespräsident werde Bedeutendes sagen. Zur Rede geladen wurden Repräsentanten der politischen Klasse. Sie sahen den Präsidenten hinter seinem Pult, neben ihm eine schwarz-rot-goldene Flagge und saßen den Pflichttermin ab. Die erste Rede fand am 26. April 1997 statt. Es war die „RuckRede“: „Wir brauchen wieder eine Vision, wir brauchen einen neuen Gesellschaftsvertrag zugunsten der Zukunft – durch Deutschland muss ein Ruck gehen!“130 Das war’s. Die Politpromis eilten zu ihren Anschlussterminen, und ein Ruck ging längst noch nicht durch Deutschland. Der Präsident hatte keinen Draht zur herrschenden politischen Kultur im Lande. Anders Richard von Weizsäcker (1984 – 1994). Seine Rede zum Jahrestag der Kapitulation am 8. Mai 1985 ist Legende: 129 Artikel 68 des Grundgesetzes Günter Scholz / Martin E. Süskind, Die Bundespräsidenten. Von Theodor Heuss bis Johannes Rau, Stuttgart/München 2003, S. 406 130 142 „Wir dürfen den 8. Mai 1945 nicht vom 30. Januar 1933 trennen.“131 Weizsäcker hatte Einfluss auf die politischen Diskussionen, und ein wenig auch auf die historischen Entscheidungen seiner Zeit. Durch Wort und Tat engagierte er sich in der Hauptstadtdebatte für Berlin und gehörte damit zu jenen älteren Politikern, die vielleicht den Ausschlag gaben für die Spreemetropole. Die Bedeutung eines Bundespräsidenten liegt einerseits in seiner Persönlichkeit, andererseits in seinem politischen Gewicht. Theodor Heuss, der erste Bundespräsident (1949 – 1959) und ehemalige Reichstagsabgeordnete, war vor seiner Wahl FDP-Vorsitzender. Er hatte diese Partei gegründet und mit Konrad Adenauer die erste Koalitionsregierung der Bundesregierung geschmiedet. Heuss war ein politisches Schwergewicht und eine beeindruckende Persönlichkeit dazu. In seiner Amtszeit nahm er Einfluss auf das politische Tagesgeschäft, allerdings weniger öffentlich, sondern mehr intern. Davon zeugen die Gespräche, die Kanzler und Präsident regelmäßig führten und die nicht nur dem Informationsaustausch dienten, sondern auch der Verabredung politischer Interventionen.132 In der Nachkriegszeit entwickelte sich der schwäbische Gelehrte Heuss darüber hinaus zu einer Vaterfigur des zivilen Neuanfangs und war eine gute Ergänzung zum harten Parteipolitiker Konrad Adenauer. Braucht Deutschland einen Bundespräsidenten? Es hängt von der Epoche und vom Amtsinhaber ab. Das Amt ist ein Atavismus, der aus der Zeit stammt, als an der Spitze des Staates der Kaiser stand. Theodor Heuss, Gustav Heinemann und Richard von Weizsäcker waren Bundespräsidenten, die Einfluss nahmen auf die politische Kultur. Den anderen gelang das weniger. Natürlich braucht Deutschland ein Staatsoberhaupt - eines, das Deutschland nach außen vertritt, das die obersten Richter ernennt und das Entscheidungen wie die Auflösung des Bundestages verfügt, wenn die Regierung nicht weiter kommt. Das könnte der Bundestagspräsident tun. Der Bundestagspräsident als Staatsoberhaupt würde das Gewicht des Bundestages stärken, und er würde eine gewichtige politische Figur neben dem Kanzler sein: formal höherrangig, im politischen Tagesgeschäft diesem aber unterlegen. Durch einen Bundestagspräsidenten, der Bundespräsident ist, würde in der allgemeinen politischen Kultur der Wert der Repräsentation, des Parlamentes gegenüber der medialen Personalisierung und der Entertainisierung gestärkt. 131 a.a.O., S. 354 Konrad Adenauer und Theodor Heuss, Unter vier Augen. Gespräche aus den Gründerjahren 1949 - 1959, bearbeitet von Hans Peter Mensing, Berlin 1999 132 143 V) Das Bundesverfassungsgericht Das Bundesverfassungsgericht genießt in der allgemeinen politischen Kultur einen hohen Rang. Es wird als „Hüter der Verfassung“, als oberster Schlichter in politischen Streitfragen und als Verteidiger der Grundrechte anerkannt. Wie sehr diese Rolle des Gerichtes in der politischen Kultur verankert ist, ergibt sich aus der Tatsache, dass bis 1998 die Verfassungsbeschwerden 96 % der Geschäftstätigkeit des Bundesverfassungsgerichtes ausmachten. Es mindert die anerkannte Schiedsrichterrolle in der Bevölkerung offenbar nicht, dass die Erfolgsquote mit 2,62 % äußerst gering ist.133 Neben diesen Verfassungsbeschwerden ist das Gericht zuständig für Verfassungsstreitigkeiten (Organ-, Bund-/Länderstreitigkeiten), abstrakte und konkrete Normenkontrollverfahren und Verfahren der Grundrechtsverwirkung wie z.B. des Parteienverbots. Das Verfassungsgericht entstand ebenfalls aus den Erfahrungen mit der Weimarer Republik, in der sich kein starkes Gericht den Nationalsozialisten in den Weg gestellt hatte. Es steht gleichwertig neben den anderen Verfassungsorganen und hat darin kein historisches Vorbild. Das Gericht hat sich sein Ansehen durch seine Spruchpraxis erarbeitet. Dass es gelegentlich verabschiedete Gesetze ganz oder teilweise für verfassungswidrig erklärt, unterstreicht seine Unabhängigkeit von der politischen Macht. Doch ist hier das Urteil nicht immer einhellig: 2005 wurde in weiten Kreisen der Öffentlichkeit kritisiert, dass das Gericht die vom Bundeskanzler eingeleitete und vom Bundespräsidenten verfügte Auflösung des Parlamentes „durchgewinkt“ hatte. So ist es in die Bewertung des Betrachters gestellt, wenn man erfährt, dass die Zustimmung zum Gericht in der Bevölkerung bei 50 % liegt.134 Das Gericht ist auf eine generelle Akzeptanz angewiesen, denn es hat keine eigenen Machtmittel, seine Entscheidungen durchzusetzen. Auch wo Entscheidungen des Gerichtes angezweifelt wurden, ist es niemals zu einer offenen Verweigerung der Anerkennung gekommen. Angezweifelt wurden beispielsweise der „Kruzifix-Beschluss“ von 1995 gegen das Anbringen von Kruzifixen in Klassenräumen im Land Bayern oder die „Soldaten-sindMörder“-Entscheidungen von 1994 und 1995, durch die jene zitierte Gleichstellung geschützt wurde. Es gilt als Spielregel der politischen Kultur in Deutschland, auch solche Entscheidungen hinzunehmen. Obwohl das Gericht gar nicht von sich aus aktiv werden kann, formuliert es ab und an Vorgaben für die Richtung politischer Entscheidungen. Das war in der Abtreibungsfrage so oder – ein ganz anderes Beispiel: in der Frage der Parteienfinanzierung. In einer langen Kette 133 Werner Billing, Bundesverfassungsgericht; in: Uwe Andersen / Wichard Woyke (Hg.), Handwörterbuch des politischen Systems der Bundesrepublik Deutschland,4. Auflage, Opladen 2000, S. 100 134 a.a.O., S. 102 144 von Entscheidungen hat das Gericht seit den 50er Jahren von den Parteien geschaffene Quellen öffentlicher Finanzierung gestopft, gleichzeitig aber immer wieder Wege gewiesen, die zwar mühsam waren, aber dennoch neue Quellen erschlossen. Dem Gericht und nicht dem Bundestag und den etablierten Parteien ist es zu verdanken, dass von der staatlichen Wahlkampffinanzierung auch solche Parteien profitieren können, die die 5-%-Grenze unterschritten haben. Auf diese Weise konnten sich die Grünen finanziell aufrüsten, bevor sie 1983 in den Bundestag einzogen. Bundesverfassungsrichter werden je zur Hälfte vom Bundestag und vom Bundesrat für eine Amtsperiode von zwölf Jahren gewählt. Das sichert ihnen - jedenfalls materiell - eine Unabhängigkeit, auch von der Politik. Die Wahlausschüsse des Bundestages und des Bundesrates suchen solche Persönlichkeiten aus, die politisch nicht „aus dem Ruder laufen“. Die großen Parteiblöcke CDU/CSU und SPD bestimmen die Richter praktisch in einem gegenseitigen Konsensverfahren. Extremisten haben keine Chance, in Karlsruhe die rote Robe anzulegen. Ein gewisser parteipolitischer Haut Gout haftet der Richterwahl dennoch an. Karlsruhe ist ein Zwillingsgericht mit zwei Senaten, und eine zeitlang wurde der eine als der „schwarze“ und der andere als der „rote Senat“ betitelt. Der erste Bundesjustizminister der Bundesrepublik, Thomas Dehler, wollte die politische Anbindung des Gerichtes vermeiden und kämpfte für eine Rekrutierung aus der Richterschaft.135 Er wollte überhaupt das Verfassungsgericht in den allgemeinen Instanzenzug des Justizwesens integrieren. Als Verfassungsorgan aber steht das Gericht – obgleich Verfassungsrecht sprechende Instanz – auf der Seite der Politik. „Karlsruhe“ gilt in der politischen Kultur Deutschlands als akzeptierter Garant der Rechtstaatlichkeit des politischen Systems und als institutionalisierter Beweis für die Gültigkeit der Verfassung. Wegen des raschen Wertewandels wird „Karlsruhe“ auch zukünftig wichtig sein. Aber seine Monopolstellung könnte es verlieren. Über Karlsruhe ist nicht mehr der „blaue Himmel“, seit es den Europäischen Gerichtshof gibt. Dieser und nicht das deutsche Gericht hat durchgesetzt, dass auch Frauen in der Bundeswehr Dienst tun dürfen. Das europäische Gericht hat darüber hinaus im Falle der Caroline von Monaco entschieden, dass das Persönlichkeitsrecht von „Promis“ höherrangig sei als das Recht der Presse auf Berichterstattung. Das hatte das deutsche Verfassungsgericht anders entschieden. Was sich hier anbahnt, ist nicht nur auf die Welt der Gerichte beschränkt. Die Internationalisierung macht besonders in einem Staatenbund wie der EU vor keinen nationalen Landesgrenzen der politischen Kultur Halt. Die Debatte um einen Beitritt der 135 Udo Wengst, Thomas Dehler. 1897 – 1967. Eine politische Biographie, München 1997 145 Türkei zeigt, dass auch ein Rückgriff auf traditionelle „christlich-jüdische Werte“ nicht alles sein wird: Auf neuem Niveau stellt sich die seit den Zuwanderungen der 60er Jahre unbeantwortete Frage, ob und wie es gelingen kann, dass eine zukünftige Gesellschaft von einer politischen Kultur geleitet ist, deren Quellen nicht nur im Abendland, sondern auch im Orient liegen. 146