Thomas Hobbes und Carl Schmitt

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Politik im 21. Jahrhundert
Thomas Hobbes und Carl Schmitt - oder: Zwei Perspektiven auf die globale Politik
des 21. Jahrhundert
Die Afghanistan-Konferenz sowie die bevorstehenden Rückzüge aus Afghanistan und
dem Irak, aber auch gegenwärtig Syrien rücken von neuem die so genannten Neuen
Kriege und ihre unbegreiflich scheinende Gewalt in den Vordergrund. Diese sind
gekennzeichnet durch den Verfall von Staatlichkeit und das Überhandnehmen
privatisierter Gewalt, die Entwicklung von Bürgerkriegs-Ökonomien und Gewalt-"Märkten",
das Auftreten längst untergegangener Waffenträger wie Söldner, Kindersoldaten und
Warlords sowie durch Kämpfe um Identität, Bodenschätze und grundlegende existenzielle
Ressourcen wie Wasser.
Als ihr äußeres Kennzeichen gilt das vermehrte Auftreten irrational scheinender und
exzessiver Gewalt: Selbstmordanschläge, Formen von Mega-Terror wie bei den
Anschlägen des 11. September 2001, Massakern linker wie rechter, islamistischer oder
sonstiger Bewegungen. Seit Robert Kaplans bahnbrechendem Aufsatz (von 1994) über
die Gefahr einer weltweit kommenden Anarchie steht der paradigmatische Gegensatz von
politisch-gesellschaftlicher Ordnung oder Anarchie im Vordergrund, die letztere vielfach
symbolisiert durch die Vision eines "Kampfes aller gegen alle", wie er von Thomas Hobbes
bereits im 17. Jahrhundert entwickelt wurde.
Einflussreiche amerikanische Publizisten wie Robert Kagan haben die Alternativen so
beschrieben: Die Amerikaner seien vom Mars, die Europäer von der Venus, die
Amerikaner würden sich realistisch an Hobbes orientieren, die Europäer jedoch Immanuel
Kant und seinen Träumereien vom ewigen Frieden nachhängen. Dabei sei doch ein
funktionierender Staat im Anschluss an Hobbes durch das staatliche Gewaltmonopol und
die Individualisierung der Bürger hinreichend charakterisiert. Mehr brauche es nicht: Nur
das staatliche Gewaltmonopol, die gewaltsame Unterdrückung der Bürgerkriegsparteien,
bei gleichzeitiger Gewährung individueller Freiheitsrechte könne den Frieden sichern.
Doch verdeckt die immer wiederkehrende Entgegensetzung der Konzeptionen von
Hobbes und Kant die eigentliche Frage, ob die Neuen Kriege und Prozesse des
Staatszerfalls überhaupt in Hobbeschen Kategorien zu begreifen sind. In fast allen Fällen
der Neuen Kriege und auch der Demokratisierungsprozesse besteht weder ein staatliches
Gewaltmonopol (mit Ausnahme Ägyptens), noch ist die Individualisierung genügend
fortgeschritten. Ganz im Gegenteil, neue Gemeinschaften bilden das Zentrum der
politischen Auseinandersetzung - seien es Stämme wie in Libyen oder religiöse
Gemeinschaften wie die Muslim-Brothers in Ägypten, Warlord-Systeme oder die
Koranschüler, die Taliban, in Afghanistan und Pakistan.
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Obwohl die Entgrenzung der Gewalt in vielen Teilen der Welt wahrzunehmen ist, ist das
Erfassen der Neuen Kriege in Begriffen von Hobbes in dreifacher Hinsicht problematisch.
Erstens handelt es sich mit Ausnahme der afrikanischen Länder südlich der Sahara (SubSaharan Africa) zumeist nicht um den Gegensatz von Ordnung oder Anarchie, der diese
Konflikte bestimmt, sondern vielfach um eine Auseinandersetzung unterschiedlicher
Ordnungsvorstellungen - auch wenn diese aus unserer eurozentristischen Perspektive
dem Chaos nahe zu kommen scheinen. Zweitens sind diese Konflikte nicht um den
Gegensatz von Staat versus Individuum charakterisiert, sondern um denjenigen
unterschiedlicher Gemeinschaften, für die die einzelnen stellvertretend handeln. Und
schließlich führen Furcht und Angst vor dem eigenen Tod in ihnen nicht etwa zu einer
Ermäßigung und der Begrenzung des Kampfes auf Leben und Tod, wie in der Konzeption
von Hobbes, sondern häufig zu deren Eskalation. Selbstmordattentäter töten andere
Menschen nicht aus persönlichem Hass, sondern als Angehörige einer feindlichen
Gemeinschaft.
In allen drei Aspekten kann Carl Schmitt trotz seiner zahlreichen Übereinstimmungen mit
Hobbes als dessen entscheidender Gegenpol angesehen werden. Der Staatsrechtler
Schmitt hatte schon in den 1930er Jahren das Ende der Staatlichkeit hervorgehoben. Dies
bedeutete für ihn jedoch nicht das Ende des Politischen. Vielmehr bestimmte Schmitt
(zweifellos ein staatspolitischer Kronjurist der Nazis) das Politische im Zusammenhang mit
der Unterscheidung von Freund und Feind - als ein Verhältnis, das keineswegs nur die
Beziehung zwischen Individuen, sondern auch die zwischen Gemeinschaften beschreibt.
Schmitt warnte eindringlich vor einer Situation, in der der Gegner als absoluter Feind
wahrgenommen wird.
Würden wir die gegenwärtigen Entwicklungen in der Perspektive einer bevorstehenden
Anarchie oder eines "molekularen Bürgerkrieges" (Enzensberger) analysieren, ergäben
sich hieraus Konzeptionen wie die eines liberalen Imperialismus. Damit verbunden wären
zum Beispiel militärische Praktiken, die sich nicht mehr nach den gängigen
Kriegskonventionen richten, sondern an den Gesetzen des "Dschungels" (Robert Kaplan)
orientieren. Insgesamt würde man wohl auch den Untergang des modernen Staates
(Martin van Creveld) ins Auge fassen müssen. [...]
Die Ersetzung des Hobbes-Paradigmas durch dasjenige von Carl Schmitt rückt zunächst
nicht die weltweite Durchsetzung von zumeist formal-demokratischen, also illiberalen
Staatsformen in den Vordergrund; ohnehin existieren diese Staatsformen vielfach
entweder nur auf dem Papier oder haben sogar zur Entgrenzung von Krieg und Gewalt
beigetragen (Irak, Libanon, Palästina). Stattdessen geht es vorerst um eine Begrenzung
von Krieg und Gewalt in der Weltgesellschaft als zentrale Voraussetzung für die
Entwicklung von demokratischen Gesellschaften. Schmitt schrieb hierzu: "Das große
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Problem ist doch die Begrenzung des Krieges, und diese ist (...) ein zynisches Spiel, (...)
wenn sie nicht auf beiden Seiten mit einer Relativierung der Feindschaft verbunden ist".[...]
Weltweit werden neue Gemeinschaften gebildet oder uralte aktualisiert - als Reaktion auf
die Globalisierung. Mit Schmitt über Schmitt hinaus gehend ist das Politische die
Unterscheidung genauso wie die Vermittlung von Freund und Feind. Oder, um es mit dem
ermordeten israelischen Premierminister Yitzhak Rabin zu sagen: "Frieden schließt man
nicht mit Freunden, sondern mit Feinden."
Andreas Herberg-Rothe auf: http://www.fr-online.de vom 12.12.2011
Aufgaben
1.
Arbeiten Sie die verschiedenen Aspekte der Theorien Hobbes' und Schmitts im
Hinblick auf ihre Relevanz internationaler Sicherheitspolitik heraus. Vorschlag: Informieren
Sie sich über Thomas Hobbes zusätzlich in Ihrem Politikbuch (Kap. 3.1.2, S. 105).
2.
Erläutern Sie, inwieweit und an welchen Stellen die beiden Theorien die aktuelle
Sicht auf internationale Konflikte unterschiedlich akzentuieren.
3.
Publizisten wie Robert Kagan verglichen die USA mit Bewohnern des Mars', die
sich an Hobbes orientierten, die Europäer mit Bewohnern der Venus, die im Sinne Kants
agierten.
Bewerten Sie diese These, indem Sie sie anhand aktueller Konflikte überprüfen.
Vorschlag: Informieren Sie sich über Immanuel Kant in Ihrem Politikbuch (Kap. 3.2.1, S.
104f.)
4.
Ordnen Sie die Ansätze Hobbes und Schmitts in die verschiedenen
Weltordnungsmodelle ein (vgl. Kap. 1.2, S. 26).
[Kolleg Politik und Wirtschaft]
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