aus: Buck, Günther: Hermeneutik und Bildung. Elemente einer

Werbung
aus: Buck, Günther: Hermeneutik und Bildung. Elemente einer verstehenden
Bildungslehre. München: Wilhelm Fink Verlag 1981, S. 24 - 37
Hermeneutik und Bildung
IV.
Der Zusammenhang, ja sogar die Identität von Bildung und Hermeneutik
(Auslegung) ist durch eine traditionelle Ansicht verdeckt. Es ist die Ansicht,
Hermeneutik habe es primär und fast ausschließlich mit der Explikation von Texten
zu tun. Diese Ansicht hat noch Diltheys Unternehmen belastet, eine Hermeneutik
der lebensweltlichen Praxis überhaupt, also eine Hermeneutik mit universalem
Anspruch, zu entwerfen und ihre Leistungen zu analysieren mit dem Ziel, eine
"Bildungslehre
des
Menschen"5
Handlungshermeneutik
leidet
bei
zu
gewinnen.
Dilthey
Dieses
erkennbar
Unternehmen
unter
der
einer
traditionellen
Fixierung der philosophischen Hermeneutik an die Probleme der Texthermeneutik.
Daraus ist unter anderem die merkwürdige und schädliche Einseitigkeit in der
Bewertung der Bildungsfunktion der literarischen, der "geisteswissenschaftlichen",
Disziplinen hervorgegangen, durch die die Theorie der Bildung immer noch belastet
wird.
V.
Das Problem der Handlungshermeneutik stellt sich auf den ersten Blick unter der
Antizipation, daß die Sprachlichkeit des Handelns konstitutiv für die Interpretation
von Handeln sei. Sprachlichkeit scheint zunächst für die Selbstkundgabe, für den
"Ausdruck" der Handelnden elementar zu sein und dann auch in der Form der
Kunde, d. h. der nachträglichen Rede über Handeln, die
24
Möglichkeit einer Auslegung des Handelns zu garantieren. Indessen ist es vielleicht
aussichtslos,
die
Möglichkeit
einer
Handlungshermeneutik
nur
unter
der
Voraussetzung zu betrachten, daß Hermeneutik an die Existenz sprachlicher
Verlautbarung, eines Textes oder eines Analogons von Text, gebunden sei. Die
Theorie der Hermeneutik kann demgegenüber mit gutem Recht darauf hinweisen,
daß für das Verstehen von Handlung und Handlungskontexten die Kategorie der
Sinnobjektivation, die u.a. auch sprachliche Verlautbarung einschließt, hinreicht.
Handeln, menschliche Praxis überhaupt, stellt sich für ein Verstehen völlig
hinreichend dar, auch wenn es im Sinn sprachlicher Artikulation stumm bleibt oder
sich nur unzureichend äußert. Praxis stellt sich dar für fremdes oder späteres
eigenes Verstehen, auch wenn der Handelnde im Vollzug seines Handelns sich des
Sinnes, der sich da zeigt, gar nicht eigens bewußt ist. Diese Unbewußtheit kann
statthaben, obwohl der Handelnde sein Tun zugleich sprachlich auszudrücken und
verständlich zu machen versucht. Praxis zeigt sich dann eben trotz ihrer
sprachlichen Artikulation, ja sogar gerade mittels ihrer, als im Grunde unbewußt
und als befangen oder irregehend.
Handeln als Handeln ist nämlich immer Darstellung seiner selbst, ist Darstellung
eines in ihm leitenden Sinnes, der nicht notwendigerweise auch bewußter, dem
Handelnden gegenwärtiger Sinn ist. Eben diese Qualität des Handelns ist nun aber
geeignet, die Gemeinsamkeit von Handlungshermeneutik und Texthermeneutik
verständlich zu machen aus einem Grund, der nicht primär und ausschließlich
sprachlicher Natur ist. Man kann den Begriff der Handlung universalisieren und
Sprechen, d.h. aber jede Erzeugung sprachlicher Gebilde, die als "Texte" zu
nehmen sind, als einen Modus von Handeln auffassen. Die Hermeneutik von Texten
ließe sich so am Ende begreifen als eine besondere, aber in dieser Besonderheit
auch paradigmatische Form von Handlungshermeneutik. Diese Betrachtungsweise
ist so neuartig nicht. Sie wiederholt auf ihre Weise den für die neuzeitliche
Philosophie seit Kant charakteristischen Vorgang, bestimmte "Handlungen" (Akte)
des theoretischen und praktischen Subjekts zu analysieren. Besonders E. Husserl
hat
dieses
Verfahren
methodisch
kultiviert
und
auf
der
Einsicht
in
den
Selbstdarstellungs-
25
Charakter des Handelns die Möglichkeit und die Prozedur der Phänomenologie
begründet. Die Möglichkeit einer phänomenologischen Beschreibung intentionaler
Akte beruht ja in der Tat darauf, daß der Akt-Sinn sich im Aktvollzug darstellt und
durch eine eigens auf diesen Vollzug gerichtete Reflexion erfahren werden kann. Es
ist eben das Wesen des intentionalen Akts, es ist überhaupt das Wesen jedes
irgendwie gerichteten Bewußtseins, sich an ihm selber zur Darstellung zu bringen
für ein anderes Bewußtsein bzw. für ein reflexives Bewußtsein. Was kommt hier zur
Darstellung, und wie kommt es zur Darstellung?
Man könnte vermuten, die durch die Intentionalität etwas sichtbar machende
Leistung der intentionalen Akte bestehe darin, daß sie eben ein intentum, ein
Gemeintes, Gewolltes usw. als solches vor Augen stellten: die Wahrnehmung das
Wahrgenommene, das Wollen, das Thema des Wollens usw., je nach dem, was zur
Intention als spezifisches intentionales gegenständliches oder thematisches Korrelat
dazugehört. Aber es ist trivial zu sagen, die Intention lasse als Intention das
Intendierte sehen. Das ist nicht der Kern der phänomenologischen Entdeckung
Husserls.
Die
eigentliche
Entdeckung,
die
Husserl
mit
der
Analyse
der
Intentionalität gelungen ist, ist vielmehr dies: Was sich im "Phänomen" der
phänomenologischen Betrachtung von ihm selbst her zeigt, das ist nicht einfach das
Thema des intentionalen Akts, sofern es eigens gemeint ist, d.h. im Zentrum der
Aufmerksamkeit steht und dem "Bewußtsein" vorschwebt.
Nicht das Bewußt-Haben als solches vollbringt schon die Darstellung, die der
intentionalen Handlung eigentümlich ist. Denn was sich hier darstellt, das ist nicht
so sehr das Thema des Meinens, sondern das Tun des Meinens selbst. Darin ist das
Thema des Meinens nur insofern dargestellt, als es in der Tat Thema des sich
darstellenden
Tuns
des
Meinens
ist.
"Phänomen"
der
phänomenologischen
Deskription ist der Vollzug des Meinens, nicht das Gemeinte. Phänomen ist das, was
in allem Thematisch-Haben gerade nicht Thema ist. Die Darstellungsleistung ist also
relativ "unbewußt". Ein für das vollziehende Subjekt selbst latenter Sinn stellt sich
im Vollzug dar. Phänomenologie ist Bewußtmachung, Explikation eines zuvor im
Vollzug für den Vollziehenden selbst nur unter der Hand, implicite, leitenden Sinnes.
26
VI.
Explikation eines im Vollzug zwar sich darstellenden und insofern für andere
Subjekte sichtbaren, wenn auch dem handelnden Subjekt primär nicht bewußten,
bloß impliziten Sinnes: das ist die Leistung der phänomenologischen Erkenntnis.
Eben darin aber beruht ihre paradigmatische Bedeutung für eine Theorie der
Hermeneutik. Denn der Grundzug aller Auslegung, derjenigen von Texten ebenso
wie derjenigen von Handlungen, ist Explikation von im Vollzug nur implizit
gegebenem Sinn, ist ausdrückliche Wiederholung und Aneignung von solchem, was
in
der
zu
interpretierenden
Praxis
-
auch
der
Praxis
sprachlicher
Art
-
unausdrücklich mitgeleistet ist.
Jede Auslegung weist diese Struktur auf, einfach deshalb, weil sie Reflexion über
das Auszulegende ist. Allein schon das ist ein hinreichendes Argument gegen die
Auffassung, die Auslegung, z. B. eines Textes, habe ihren Gegenstand so zu
verstehen,
wie
ihn
der
Autor
verstanden
habe6
.
Jeder
Interpret
spielt
unvermeidlich die Rolle eines, der einem bei einer Praxis Begriffenen - und
möglicherweise in diese Praxis Verstrickten - zusieht und allein schon deshalb mehr
sieht als der Tätige selbst. Die Rekonstruktion der Praxis, als die man jede
Auslegung begreifen kann, kann nur so die Perspektive des Tätigen wiederholen,
daß sie aus der spezifischen Befangenheit dieses Tätigen heraustritt und den
Vollzug gleichsam von außen sieht, d. h. die Tätigkeit nicht einfach imitiert, sondern
reflektiert.
Interpretation kopiert das Interpretierte nicht einfach, sie wiederholt es anders. Sie
macht es so wie jemand, der sich handelnd an einem Beispiel orientiert. Der
Interpret eines Textes z. B. wiederholt die Meinung des Autors dadurch, daß er sie
kommentiert. Dazu zwingt ihn meist schon die historische Distanz, die den Text der
Selbstverständlichkeit entrückt hat. Es ist dieser zusätzliche Aufwand, wie er etwa
im Kommentar steckt, es ist diese Differenz der Ausdrücklichkeit, die Interpreten
und Autor trennt, angesichts deren man gelegentlich gesagt hat, der Interpret
verstehe
den
Autor
besser,
als jener sich
selbst
verstanden
habe.
Nicht
rechthaberisches Besserwissen der Sache, von der der Autor redet, ist damit
gemeint, sondern der Zuwachs an Erkenntnis, der daraus entspringt, daß der
27
Interpret die Sprache des Autors, seine Art, die Sache zu sagen, noch einmal zum
Thema machen kann und muß. So z. B., wenn er einen bestimmten Wortgebrauch
analysiert, um zu zeigen, was der Autor in allem ausdrücklichen Reden über die
Sache durch die Art und Weise seines Redens unausdrücklich mitgesagt hat.
Solches unausdrückliche Meinen der Sache ist keineswegs ein uneigentlicher Modus
einer Ausdrücklichkeit, die eigentlich statthaben müßte; sie ist keine defiziente
Form von Ausdrücklichkeit, so wie etwa eine vergessene oder unterschlagene
begriffliche Voraussetzung, die eine Theorie fehlerhaft macht. Unausdrücklichkeit ist
eine Charakteristik von Ausdrücklichkeit selbst. Sie gehört zur Konstitution von
Ausdrücklichkeit. Das unausdrücklich Bleibende ist das Unausdrückliche am
Ausdrücklichen, einfach deshalb, weil alles Ausdrückliche und alles besondere
Meinen eine bestimmte Praxis, weil sie ein bestimmter Vollzug sind. Zu jeder
bestimmten Praxis gehört, damit sie Praxis bleiben kann, eine Selbstvergessenheit,
die verhindert, daß das Handeln zugleich sich selbst gegenständlich erfaßt. Das wird
deutlich an der Praxis der Sprache: ausdrücklich redend über etwas bin ich doch
unfähig, die im Reden über etwas unausdrücklich bleibenden Hinsichten meines
Redens vollständig zugleich zum Thema meines Redens zu machen. Denn solange
ich rede, d. h. ausdrücklichen Sinn herausstelle, rede ich ja, d. h. ich produziere
oder übernehme als Sprechender einer tradierten Sprache einen Sinn, den ich im
Sprechen nicht mehr eigens herausstelle. Hegel hat diese Struktur als diejenige des
endlichen "Bewußtseins" beschrieben.
Im Licht des soeben Gesagten können wir zunächst einige Anwendungen
vornehmen. Wir haben innerhalb der Texthermeneutik den Fall behandelt, wo ein
Text eine gegenständliche Meinung vermitteln will. Der Text handelt von einer
Sache, er argumentiert zum Beispiel. So ein philosophischer Text. Texte dieser Art
sind in der Regel nach dem Ideal weitreichender Ausdrücklichkeit konstruiert.
Absolute Ausdrücklichkeit ist ihnen, wie ihre Interpretierbarkeit zeigt, versagt.
Interpretation
expliziert,
ausdrücklichen
Meinung
was
bei
der
notwendigerweise
Konstruktion
des
unausdrücklich
Kontextes
geblieben
ist.
ihrer
Am
anderen Ende der Skala steht der Text, der ein literarisches Kunstwerk ist. In der
Regel beansprucht
28
er nicht, eine gegenständliche Meinung zu vermitteln. Er ist kein "Diskurs". Deshalb
erscheint der sprachliche Vollzug an ihm nicht als unausdrückliche Bedeutung im
Verhältnis zum ausdrücklich Bedeuteten (Gemeinten). Der sprachliche Vollzug
schlägt sich vielmehr nieder in der ästhetischen Qualität der „Form", und die
Leistung der Auslegung besteht hier in der Explikation der Form. Diese Explikation
ist phänomenologisch einigermaßen schwierig zu erfassen, weil die mögliche Vielfalt
ihrer Realisierung ein Reflex des mehrdeutigen Status des herkömmlicherweise
"Form" Genannten, zwischen inhaltlicher Bedeutung und bloß formaler Relation
Schwankenden, zu sein scheint. - Endlich der Fall der Handlungshermeneutik, bei
der wir weitgehend "stummes" - wenn auch nicht absichtsvoll verschlossenes und
also zweideutiges – Handeln voraussetzen wollen. Ausdrücklich erscheinen hier
einzelne
praktische
"Äußerungen"
des
handelnden
Subjekts:
bestimmte
Handlungen, Maßnahmen. Unausdrücklich, mehr oder weniger unausdrücklich bleibt
i. a. das, was diese einzelnen Äußerungen zusammenhält, sie in einem "Kontext"
vereinigt: die Absichten, die Zwecke, die Motive, die das handelnde Subjekt
bewegen7.
Die Motive sind dem Handelnden mehr oder weniger bewußt, ja es ist möglich und
sogar häufig, daß jemand in gänzlicher Unbewußtheit seines Motivs handelt, ohne
deshalb abnorm zu sein. Auch in diesem Zusammenhang gilt, analog zur Praxis der
Rede, daß dem Handelnden absolute Ausdrücklichkeit unerreichbar ist, sogar
hinsichtlich der Vergegenwärtigung seiner Motive. Alles Handeln muß am Ende
diese Möglichkeit, latente Motive nicht völlig vor Augen bringen zu können, d. h. auf
eine letzte Selbstrechtfertigung verzichten zu müssen, anerkennen. Vermutlich
handelt es sich bei dieser Grenze des praktischen Bewußtseins nicht einfach um ein
factum brutum, das unreflektiert akzeptiert werden muß; vielmehr scheint sie
positiv im Phänomen der Tradition begründet, die alles Handeln bestimmt. Die
Aufgabe der nachkommenden Interpretation besteht darin, jene wirksamen - und
gerade als unausdrückliche wirksamen — Motive ausdrücklich zu vergegenwärtigen,
um der Besessenheit durch Tradition zu entgehen.
29
VII.
Hermeneutik (Auslegung) hat also, wie gezeigt, als vermutlich einzige ihren
Spielarten gemeinsame Charakteristik die Struktur der Explikation von implizitem
Sinn, der sich in je verschiedenen praktischen Vollzügen darstellt. Die Praxis der
Sprache ist dafür paradigmatisch: im Sprechen einer bestimmten Sprache dient mir
die Sprache auf der semantischen Ebene dazu, gewisse Sachverhalte ausdrücklich
zu formulieren. Ich gebe dem Andern die Sache ausdrücklich zu verstehen. Indem
ich dabei in Sätzen spreche, mache ich über die inhaltlichen semantischen
Bestimmungen hinaus noch Gebrauch von zusätzlichen Hinsichten, die ich beim
Sprechen selber im Normalfall nicht oder kaum thematisiere und die auch vom
Adressaten meiner Rede nur im Falle schwieriger oder gestörter Verständigung
durch Beachtung des Wie meines Sprechens — der Wortwahl, der syntaktischen
Fügung usw. — ausdrücklich wahrgenommen werden. Das sind inhaltliche
(semantische) Nuancen, die den gebrauchten Ausdrücken aus der allgemeinen und
besonderen Geschichte ihres Gebrauchs zukommen, und es sind bestimmte Regeln
des Sprechens, die sich nachträglich als syntaktische Regeln vergegenwärtigen
lassen. Im Sprechen selbst jedoch habe ich die mitvollzogenen inhaltlichen
Hinsichten und die syntaktischen Regeln nicht für sich, unabhängig von den
konkreten Anwendungen, vorstellig. Ich verstehe sie, aber nur so, daß ich "mich
auf sie verstehe", nämlich auf ihren Gebrauch. Ich "beherrsche" die Sprache, d. h.
ihr inhaltliches Repertoire, und ich "kann" ihre Syntax. Für einen, der meine Rede
unabhängig von der konkreten Verständigungssituation, gleichsam von außen,
betrachtet, stellt sich daran ein Sinn dar, den der Redende aktualisiert, aber nicht
eigens ausgesprochen hat. Er kann diesen semantischen und syntaktischen Sinn für
sich formulieren und die Regeln, die ich nur angewendet habe, zum Gegenstand
einer Analyse machen. Das in meiner Rede Implizierte wird ihm Thema einer
theoretischen Betrachtung. Er treibt Linguistik. Linguistik ist Hermeneutik der
Sprachpraxis, Explikation des im Sprechen nur implicite gegenwärtigen Sinnes.
Das in allen Vollzügen unausdrücklich präsente konstitutive
30
Unausdrückliche können wir auch charakterisieren als unbewußte Leistung:
unbewußt im Verhältnis zur Bewußtheit dessen, was der Vollzug im einzelnen
intendiert. Das Unbewußte ist hier daher ein relativ Unbewußtes, relativ zur
Bewußtheit dessen, worauf der Vollzug gerichtet ist. Diese Relativität der
Unbewußtheit läßt Grade zu. Der im Vollzug präsente Sinn kann mehr oder weniger
bewußt, mehr oder weniger unbewußt sein. Sicher ist nur die Differenz, die den
Vollzugssinn vom gegenständlich präsenten intendierten Sinn als einen unbewußten
unterscheidet. "Unbewußt" meint wie wir gesehen haben, nicht unwirksam; im
Gegenteil: die Wirksamkeit der den Vollzug ermöglichenden Sinnleistung beruht
gerade darauf, dass diese Leistung unthematisch bleibt, gleichsam unter der Hand
geschieht.
Hermeneutik
jeder
Art
kann
also
unter
dem
angegebenen
Aspekt
als
Bewußtmachung eines zuvor unbewußten Sinnes begriffen werden. Für die
Texthermeneutik hat diese Einsicht seit der romantischen Hermeneutik im Grunde
bis über Dilthey hinaus gegolten, sofern hier Interpretation vorzüglich als
Bewußtmachung
der
im
unbewußten
Schaffen
des
Genies
wirksamen
Selbstauslegung des Lebens und der geschichtlichen Vernunft begriffen worden ist.8
Die
Theorie
des
sozialwissenschaftlichen
Verstehens
nähert
sich
diesem
Gesichtspunkt neuerdings wieder mehr, seit es deutlich wird, welche Rolle hier die
Aufklärung unbewußter Motive spielt.
VIII.
So ist neuerdings von J. Habermas9 die Konzeption des Unbewußten in die Theorie
der
Hermeneutik
eingeführt
worden,
um
speziell
das
sozialwissenschaftlich
orientierte Verstehen auf einen zureichenden Begriff zu bringen und vor allem um
das
hermeneutische
Verfahren
selbst
in
seither
nicht
geübter
Weise
zu
komplettieren und zu revidieren. Habermas' Vorschlag einer "Tiefenhermeneutik"
hat den Begriff des Unbewußten und seiner Aufklärung bekanntlich zur Grundlage
eines neuen Selbstverständnisses und einer neuen Praxis der Hermeneutik zu
machen versucht. Nun
31
könnte eine Erinnerung daran prinzipiell förderlich sein, daß es Interpretation jeder
Art mit der Bewußtmachung unbewußter Leistungen zu tun hat. Indessen scheint
Habermas'
Versuch
einer
Erweiterung
der
vertrauten
Möglichkeiten
der
Hermeneutik durch Einführung eines sehr speziellen Begriffs des Unbewußten mit
erheblichen Unzulänglichkeiten belastet, die eine phänomenologische Kritik nötig
machen.
Habermas'
Idee
einer
Tiefenhermeneutik
adaptiert
Freuds
Konzeption
des
Unbewußten, um einer Gefahr aller Auslegung, nämlich der unkritischen Hörigkeit
vor der Tradition, zu steuern. Der Rückgriff auf Freuds Modell der reflexiven
Aufklärung des mit Zwangscharakter wirkenden Unbewußten soll Hermeneutik als
ein
Moment
geschichtlicher
Selbstbefreiung
ermöglichen.
In
dieser
Absicht
akzeptiert Habermas jedoch auch Freuds Begriff des Unbewußten, und damit sitzt
er einer Zweideutigkeit im gängigen Ausdruck "das Unbewußte" auf, die seit Freud
existiert und die den Sachverhalt, der getroffen werden soll, eher verdeckt. Ich
skizziere im folgenden die Differenz zwischen dem Unbewußten im Sinne Freuds
und dem Unbewußten, dessen Bewußtmachung das Geschäft der Hermeneutik ist.
Dabei nehme ich das Resultat einer Analyse vorweg, die der Leser in Kapitel III
dieses Buches findet.
Das Unbewußte im Sinne von Freud und Habermas ist nicht von Anfang an und
prinzipiell kein Thema des "Bewußtseins". Es ist vielmehr das UnbewußtGewordene. Unbewußte Motive sind hier ursprünglich Themen des Bewußtseins,
und sie sind unbewußt geworden, weil sie Themen des Bewußtseins gewesen sind.
Sie sind aus dem Bewußtsein verdrängt. Die Unbewußtheit des Motivs und seine
Bewußtmachung sind epistemologisch kontingent, d.h. das Motiv kann an sich den
Status "unbewußt" oder "bewußt" haben; es ist ihm nicht wesentlich, unbewußt zu
sein. Im Gegenteil: es ist ihm sogar wesentlich, bewußt zu sein. Es ist nur aus
zufälligen Gründen unbewußt geworden und macht sich deshalb durch seelische
Dysfunktion
und
Leiden
bemerkbar.
Wegen
dieser
Kontingenz
ist
die
Bewußtwerdung und Erinnerung des unbewußten Motivs vermutlich nicht, wie
Habermas nahelegt, ein Lern- und Bildungsprozeß,
32
sondern eine Therapie, d.h. die Reparatur eines Mangels, Zurechtrückung einer
schief verlaufenden Geschichte.
Die
Unausdrücklichkeit
von Sinn, der durch Interpretation an sprachlichen
Objektivationen oder an Handlungszusammenhängen ausdrücklich formuliert wird,
ist dagegen nicht kontingent wie die Unbewußtheit des Motivs, von der die
Psychoanalyse ausgeht, sondern essentiell. Das Unausdrückliche könnte hier nicht
ursprünglich auch ausdrücklich sein. Es ist nicht unausdrücklich geworden wie ein
beliebiges Thema, von dem sich die Aufmerksamkeit abwendet oder das mit
Erinnerungsverbot belegt wird (und eben deshalb seine Wirksamkeit durchsetzt),
sondern es ist von vornherein und notwendigerweise als Wirksames unausdrücklich.
Daß im Sprechen bei aller Ausdrücklichkeit etwas unausdrücklich bleibt, das sich
nicht im Sprechen über ... darstellt, sondern am Sprechen, ist kein Mangel und kein
aberrantes Sprachverhalten, sondern die Vollzugsweise von Sprache selbst. Auch
dem bewußtesten und aufmerksamsten Sprechen gelingt es nicht, im Vollzug des
Sprechens über beliebige Themen diesen Vollzug zugleich vollständig zum Thema
des Sprechens zu machen.
Jede Ausdrücklichkeit - jedes „Bewußtsein" - behält wesensmäßig ein irreduzibles
Moment von Unausdrücklichkeit an sich, das durch kein noch so reflektiertes
Verhalten eingeholt werden kann. Jede Reflexion in bezug auf das unausdrücklich
Bleibende trifft angesichts ihrer selbst auf dieses Phänomen, das konstitutiv ist für
die Seinsart von "Bewußtsein".
Wir können also sagen, daß unausdrücklich bleibender Sinn im Unterschied zu dem,
was die Psychoanalyse und Habermas vor Augen haben, zur Normalität von
Sprechen, von Lebenspraxis und ganz generell von "Bewußtsein" gehören. Eben
deshalb ist seine Bewußtmachung durch andere oder - nachträglich – durch das
Subjekt des Vollzugs keine wie auch immer geartete Therapie, kein Durchschauen
von Zwangsmechanismen. Hermeneutische Explikation gehört zur Normalität von
Sprechen
und
Handeln
und
wird
höchstens
provoziert
Verstehen und Zusammenspiel der Handelnden.
Sie
durch
mißlingendes
hat überhaupt keinen
Entlarvungscharakter wie die psychoanalytische Reflexion, die deshalb so ge-
33
eignet eignet erscheint für das Geschäft der Ideologiekritik.
Übrigens
ist
sie
ebensowenig
analytische
Freilegung
vergessener
oder
unterschlagener Voraussetzungen, deren Mangel einer Theorie kritisch angelastet
werden kann, weil solche Voraussetzungen in den inhaltlichen Zusammenhang der
Theorie gehören. Hermeneutik rückt auch in dieser Weise nichts zurecht. Sie ist
auch nicht, wie oft vermutet, Entschlüsselung eines absichtlich "verschlüsselten"
Sinns. Die Notwendigkeit der Interpretation ergibt sich in der Regel nicht aus der
Absicht, die Kommunikation mittels Chiffrierung einzuschränken, sondern aus
zeitlicher
oder
sozialer
Distanz.
Für den Interpreten besteht vielmehr die
Forderung, einen Text so zu interpretieren, als habe dessen Autor geradenwegs und
ohne Umschweife alles mitgeteilt, was er mitzuteilen gehabt hat. Freilich sagt man
bisweilen, man verfüge nicht über den "Schlüssel" zu einem Text oder einer Praxis.
In Wahrheit meint man aber den Horizont, der, wie in jeder Erfahrung, erst den
Bedeutungszusammenhang stiftet, der das Einzelne überhaupt verständlich macht.
IX.
So ist Hermeneutik als Bewußtmachung des im praktischen Vollzug der Leistungen
relativ unbewußt Bleibenden eine Form der Aufklärung des gelebten Lebens:
zunächst des anderen oder vergangenen Lebens, das wir auslegend in der Tat
besser verstehen, als es sich selbst verstanden hat; vor allem aber ist sie
Selbstaufklärung
des
in
den
Zusammenhängen
der
Lebenspraxis
wie
der
Erkenntnispraxis (Wissenschaft) tätigen Subjekts, das sich in seinen Vollzügen und
den dabei gleichsam unter der Hand leitenden Motiven und Hinsichten zu fassen
bekommt. Selbstkonfrontation und insofern auch mögliche Selbstkritik ist die
Leistung dieser hermeneutischen Reflexion. Es geht hier zu wie in den Atempausen
des alltäglichen Lebens, wo wir uns, prinzipiell nachträglich, besinnen über unser
Tun, seine möglichen Motive, aber auch seine Vergessenheiten und Versäumnisse.
Die Nachträglichkeit dieser Selbstbesinnung zeigt übrigens nicht an, daß die
Reflexion nicht mehr in der Praxis enga-
34
giert sei, auf die sie sich zurückwendet. Sie ist gerade in ihrer Nachträglichkeit
Moment des praktischen Zusammenhangs, aus dem sie entspringt. Die Art ihrer
Rückbeziehung auf die Praxis manifestiert ihre praktische, auf künftiges Handeln
zielende Absicht.
Diese sich aus der geschichtlichen Praxis als deren Moment verstehende Reflexion
ist vermutlich nach dem Scheitern der Idee der philosophischen Selbstreflexion als
einer absoluten, aller Verstrickung in Praxis enthobenen Theoria, wie sie Hegel
vertreten
hat,
die
allein
noch
mögliche
Weise
des
philosophischen
Selbstbewußtseins. Es ist ein durchaus endliches und praktisches Bewußtsein, das
sich der geschichtlichen Bedingtheit und Zufälligkeit, die es auszeichnet, nicht zu
entziehen
versucht,
sondern
diese
übernimmt.
Dieser
Verzicht
auf
Situationsunabhängigkeit und Übergeschichtlichkeit verleiht der hermeneutischen
Reflexion
am
Ende
einen
Erfahrungscharakter,
auch
wenn
sie
über
die
Verstrickungen bloßer Empirie hinaus ist.10 Eben dieser Erfahrungscharakter ist es,
der über ihre Tauglichkeit entscheidet, höchste und wichtigste Stufe eines prinzipiell
nicht abschließbaren Prozesses der Bildung zu sein. Denn Reflexion heißt hier Sichseiner-Bewußtwerden, d. h. Sich-zu-sehen-Bekommen bei dem, womit man
vorgängig schon befaßt ist. Die Vollendung der Bildung, die Gebildetheit des
Gebildeten, besteht in Wahrheit darin, daß einer nicht fertig und angekommen ist,
sondern offen bleibt für neue Erfahrung und Selbsterfahrung.
X.
Die Erörterung des Zusammenhangs von Hermeneutik und Bildung zeigt zunächst
folgende Grundstruktur: Bildung ist in sich hermeneutisch strukturiert, sofern sie
erstens die handelnde Aneignung und Einübung einer Praxis oder eines Ensembles
von Handlungszusammenhängen voraussetzt und zweitens die weitere Aneignung
und Sicherheit dieser vorausgesetzten Praxis in der Form einer Interpretation der
Praxis leistet, die reflexiv den Handelnden mit sich selbst verständigt, ihm seine
Praxis bewußt macht. Einübung der Praxis meint dabei sowohl die Erlernung
lebensweltlicher Fertig-
35
keiten (wie z. B. Sprechen) und sittlicher Tugenden als auch Erkenntnis- und
Erfahrensweisen, wie sie in den etablierten Wissenschaften vorliegen und die
lebensweltliche Praxis immer mehr bestimmen.
Die hermeneutische Leistung der Reflexion, die zur Bildung selbst gehört,
wiederholt sich in der Theorie der Bildung, die im Wesen nichts ist als
Verständigung der Handelnden mit sich selbst11. Sie ist die höchste und methodisch
kultivierte Form der Bewußtmachung des im Handeln zuvor als Unbewußtes
Wirksamen.
Aus dieser ganz allgemeinen strukturellen Voraussetzung ergibt sich eine Reihe von
Fragen und Aufgaben allgemein-didaktischer Art. Sie sind geeignet, die Bedeutung
der
hermeneutischen
Philosophie
als
einer
Philosophie
der
Bildung
zu
demonstrieren. Die erste Gruppe ist diejenige von Fragen ebenso allgemeiner
struktureller Natur wie z.B. die nach der formalen Struktur von Lern- und
Bildungsprozessen oder die nach der Bedeutung so elementarer Vorgänge wie des
Lernens am Beispiel, der Einübung von Gewohnheiten und deren Verhältnis zur
reflexiven Sittlichkeit. - Die zweite Gruppe, diejenige spezieller didaktischer
Aufgaben, die aus den soeben behandelten Strukturproblemen folgen, betrifft
Fragen der hermeneutischen Legitimierung von Inhalten der Bildung, besonders
von schulischen Inhalten: Aufgaben einer Hermeneutik der Bildungsinhalte, die
nach dem Scheitern der hermeneutischen Theorie von E. Weniger in einer gegen
Weniger kritisch erneuerten Weise wieder möglich und notwendig geworden ist.
Diese Aufgaben im Gefolge einer neuen Handlungshermeneutik ergeben sich alle
aus dem von der Phänomenologie (Heidegger und Husserl) mit Entschiedenheit
formulierten
zentralen
Problem
einer
"lebensweltlichen"
Begründung
aller
geschichtlich-kulturellen Leistungen einschließlich der Wissenschaften. Hierher
gehört die lebenspraktische Legitimierung von Bildungsinhalten, die Teile der
Lebenspraxis
selbst
Hermeneutik
der
sind
(z.B.
Gebrauchssprachen),
wissenschaftlich
bestimmten
und
vor
allem
Unterrichtsfächer,
die
eine
ein
handlungshermeneutisches Verständnis von Wissen und Wissenschaft liefert noch
diesseits der Ebene der Abstraktionen und oft bloß methodologi-
36
schen Finessen, auf der die sogenannte Wissenschaftstheorie zumeist angesiedelt
ist.
Anmerkungen (S.213):
5
6
Vgl. W. Dilthey, Gesammelte Schriften Bd IX, S. l.
Es ist Diltheys Fehler gewesen, Verstehen und Auslegen auf die Annahme einer grundlegenden
Mimesis, eines "Nachbildens" subjektiver "Erlebnisse" zu gründen! Vgl. dazu Gesammelte Schriften Bd
VII, S. 213 ff.
7
Nachkommendes Verstehen (Auslegen) des Handlungskontextes formuliert ausdrücklich den
Motivzusammenhang. Am einfachsten - auch als didaktisches Beispiel am einfachsten - ist das dann,
wenn, wie Max Weber eingeschärft hat, der Kontext "zweckrational" ist. Eine bestimmte Absicht wird,
zunächst hypothetisch, als organisierendes Prinzip einzelner Handlungen in Ansatz gebracht.
Kriminalgeschichten nutzen dieses Verstehensschema. - Zweckrationales Handeln hat freilich als
Paradigma auch den Nachteil, die Idee totaler Ausdrücklichkeit nahezulegen.
8
Vgl. dazu Dilthey: "Das letzte Ziel des hermeneutischen Verfahrens ist, den Autor besser zu verstehen,
als er sich selber verstanden hat. Ein Satz, welcher die notwendige Konsequenz der Lehre von dem
unbewußten Schaffen ist." ("Über die Entstehung der Hermeneutik", in: Gesammelte Schriften Bd. V,
S. 331).
9
Vgl. besonders J. Habermas, Zur Logik der Sozialwissenschaften. Frankfurt/M., S. 297. sowie Ders.,
Erkenntnis und Interesse. Frankfurt/M. 1968, S. 267.
10
Zur Erfahrungscharakteristik der hermeneutischen Erkenntnis vgl. H. G. Gadamer, Wahrheit und
Methode, 1960, S. 329 ff.
11
Insofern kann man sagen, die Bildung vollende sich als - hermeneutische –Theorie der Bildung.
37
Herunterladen