WR-Skript 1

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Prof. Dr. Hans-Werner Hahn – SS 2011:
Vorlesung: Geschichte der Weimarer Republik
1. Einführung – Die Ursachen der Revolution von 1918/19
Überblicksliteratur zur Gesamtgeschichte der Weimarer Republik:
Ursula BÜTTNER, Weimar. Die überforderte Republik 1918-1933. Leistung und Versagen in
Staat, Gesellschaft, Wirtschaft und Kultur, Stuttgart 2008.
Eberhard KOLB, Die Weimarer Republik (= OGG 16), 10., durchges. u. erw. Aufl., München
2010.
Gunther MAI, Die Weimarer Republik, München 2009.
Detlef J. PEUKERT, Die Weimarer Republik. Krisenjahre der klassischen Moderne, Frankfurt
a. M. 2006.
Heinrich August WINKLER, Weimar 1918-1933. Die Geschichte der ersten deutschen
Demokratie, 4., durchges. Aufl., München 2005.
Andreas WIRSCHING, Die Weimarer Republik. Politik und Gesellschaft (= EDG 58), 2., erw.
Aufl., München 2008.
Zu den Forschungsfragen ferner:
Karl-Dietrich BRACHER, Die Auflösung der Weimarer Republik. Eine Studie zum Problem
des Machtverfalls in der Demokratie, Villingen 1955 (zahlreiche Neuaufl.).
Karl-Dietrich ERDMANN/ Hagen SCHULZE (Hrsg.), Weimar. Selbstpreisgabe einer
Demokratie. Eine Bilanz heute, Düsseldorf 1980.
Gerald D. FELDMAN, The Weimar Republic: A Problem of Modernization?, in: AfS 26
(1986), S. 1-26.
Björn HOFMEISTER; Kultur und Sozialgeschichte der Politik in der Weimarer Republik 19181933, in: AfS 50, 2010, S. 445-501.
Heinrich August WINKLER (Hg.), Weimar im Widerstreit. Deutungen der ersten deutschen
Republik im geteilten Deutschland, München 2002.
Gliederung der Vorlesung:
I.
II.
III.
Revolution, Versailler Vertrag und innere Krisen 1918-1923
1. Einführung – Ursachen und Beginn der Revolution von 1918/19
2. Die deutsche Revolution 1918/19 und die Weimarer Reichsverfassung
3. Vom Versailler Vertrag zum Vertrag von Rapallo
4. Das Krisenjahr 1923
„Der Schein der Normalität“: 1924-1929
5. Die Außenpolitik Gustav Stresemanns
6. Kultureller Aufbruch und gesellschaftliche Entwicklungen
7. Gesellschaft und politische Kultur
8. Die Innenpolitik 1924-1928, Teil I
9. Die Innenpolitik 1924-1928, Teil II
Die Auflösung der Weimarer Republik 1930-1933
10. Die Große Koalition und ihr Scheitern 1928-1930
11. Die Regierung Brüning 1930-32
12. Weltwirtschaftskrise und Aufstieg der NSDAP
13. Das Scheitern Brünings und Papens „Neuer Staat“
14. Die Kanzlerschaft Schleichers und das Ende der Weimarer Republik
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I. Die Weimarer Republik in der historischen Forschung
Die Geschichtsschreibung der Weimarer Republik stand der ersten deutschen Demokratie
zum größten Teil ablehnend gegenüber. Politisierende Historiker gehörten meist zu den
antidemokratischen Kräften, die das politische System von Weimar bekämpften. Eine erste
wissenschaftliche Aufarbeitung der Geschichte der Weimarer Republik erfolgte durch
emigrierte Historiker, allen voran Arthur ROSENBERG.
Bei den Beratungen und Entscheidungen über das Grundgesetz der Bundesrepublik
Deutschlands spielten die Lehren von Weimar eine große Rolle. Dies schlug sich nieder in
den Entscheidungen über die Stellung des Präsidenten, im konstruktiven Misstrauensvotum
(Zwang zum Kompromiss), im Art. 21 über die Parteien, im Wahlsystem und vor allem beim
Schutz der Verfassungsordnung gegenüber Versuchen ihrer scheinlegalen Aushebelung.
(hierzu jetzt Sebastian ULRICH, Der Weimar-Komplex. Das Scheitern der ersten deutschen
Demokratie und die politische Kultur der frühen Bundesrepublik 1945-1959, Göttingen
2009.)
Die historische Forschung widmete sich zunächst vor allem der Frage des Scheiterns der
Weimarer Republik. 1955 erschien die wegweisende Studie von Karl Dietrich BRACHER, der
in einer strukturgeschichtlichen Analyse die von Anfang an vorhandenen Defizite dieser
Demokratie offenlegte und nicht zuletzt die negative Rolle der traditionalen Eliten hervorhob.
In den sechziger und siebziger Jahren konzentrierte sich die Forschung stärker auf die
Anfangsphase der Weimarer Republik und entwickelte eine differenziertere Sicht der
Revolution von 1918/19. In den achtziger und neunziger Jahren dominierten Fragen der
Wirtschafts- und Sozialpolitik sowie der soziokulturellen Entwicklungen, wobei man sich
zeitlich auch stärker auf die lange unterbelichteten zwanziger Jahre (1924-1929: relative
Stabilisierung) konzentrierte: Krise des Sozialstaats, gesellschaftlicher Wandel und seine
Bewältigung, Kultur der Weimarer Republik. In den letzten Jahren widmet man sich zwar
auch wieder verstärkt der Schlussphase der Weimarer Republik, warnt aber zugleich davor,
sie nur von ihrem Ende her aus der Perspektive des Scheiterns zu sehen. Stattdessen betont
man heute viel stärker die Offenheit der Entwicklungen und die Leistungen der Weimarer
Republik. Man fragt nicht mehr nur nach dem antidemokratischen Denken, sondern nach
Ansätzen demokratischen Denkens, geht von der harten Gegenüberstellung von
republikanisch und antirepublikanisch ab und schätzt in diesem Zusammenhang auch
Bedeutung und Leistungen der sog. „Vernunftrepublikaner“ höher ein. Die veränderten
Zugangs- und Sichtweisen sind nicht zuletzt der kulturgeschichtlichen Öffnung zu verdanken,
durch die neue Einblicke in die weltanschaulich zerrissene Gesellschaft, in die Bedeutung von
politischen Symbolen und in die Ambivalenzen der Moderne ermöglicht werden.
II. Das Ende der Monarchie im Herbst 1918
1) Deutschland im Ersten Weltkrieg
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dominierende politische Rolle der Obersten Heeresleitung (OHL) unter
Generalfeldmarschall Paul von Hindenburg und Generalquartiermeister Erich Ludendorff.
seit 1916: wachsende Versorgungsprobleme und zunehmende soziale Spannungen, erste
Streiks im Frühjahr 1917, politische Reformerwartungen.
April 1917: Osterbotschaft Kaiser Wilhelms II., Ankündigung innenpolitischer Reformen
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(preußisches Dreiklassenwahlrecht).
Trotz wachsender Probleme (Kriegseintritt der USA im April 1917) unternahm die
politische Führung keine energischen Schritte zu einem Verständigungsfrieden oder
innenpolitischen Reformen.
Juli 1917: Friedensresolution der Reichstagsmehrheit aus Sozialdemokratie, Zentrum und
Liberalen (Interfraktioneller Ausschuss), Ziel des Reichstages war es, einen
Verständigungsfrieden anzustreben und das politische System des Kaiserreichs
(Konstitutionalismus) in eine parlamentarische Monarchie umzuwandeln.
Die OHL blieb aber die dominierende Kraft (schleichende Militärdiktatur), zwang
Reichskanzler Theobald von Bethmann Hollweg im Sommer 1917 zum Rücktritt und
versuchte, über den neuen Kanzler Georg Michaelis ohne Rücksicht auf den Reichstag
eigene Akzente zu setzen.
1917 gab es noch einmal neue deutsche Siegeshoffnungen durch die inneren
Entwicklungen in Russland (Februar- und Oktoberrevolution). Am 2. September 1917
kam es zur Gründung der Deutschen Vaterlandspartei als Gegengruppierung zur
Friedensmehrheit des Reichstages.
deutsche Politik der Maßlosigkeit im Frieden von Brest-Litowsk, den das Reich am 3.
März 1918 mit dem revolutionären Russland abschloss. Er stand im Widerspruch zu
Wilsons 14 Punkten vom Januar 1918, auf die sich Deutschland später selbst berief.
Nach der gescheiterten Frühjahrsoffensive wurde die Lage an der deutschen Westfront im
Laufe des Jahres 1918 immer schwieriger. Im Juli und August 1918 erzielten die
Alliierten große militärische Erfolge (8. August: „schwarzer Tag des deutschen Heeres“).
14. September 1918: österreich-ungarische Friedensnote.
28./29. September: Eingeständnis der militärischen Ausweglosigkeit durch die OHL im
Hauptquartier im belgischen Spa, Entschluss zu einem Waffenstillstandsangebot an den
amerikanischen Präsidenten Woodrow Wilson. Vorbereitung der Dolchstoßlegende durch
Ludendorff.
Die ausweglose militärische Lage verstärkte im September 1918 die Forderungen nach
Reform des politischen Systems durch die Reichstagsmehrheit.
Am 3. Oktober kam es zur Umbildung der Regierung, Prinz Max von Baden wurde neuer
Reichskanzler, um gemeinsam mit dem Reichstag politische Reformen in Richtung einer
Parlamentarisierung vorzubereiten.
3./4. Oktober: Auf massiven Druck der OHL schickte die neue Regierung ihr
Waffenstillstandsangebot an die USA. Durch das Eingeständnis der militärischen
Niederlage verspielte das alte System, das die öffentliche Meinung über die wahre Lage
lange im Unklaren gelassen hatte, seinen letzten Kredit. Die Friedensforderungen in der
kriegsmüden Bevölkerung nahmen nun schnell zu und mündeten in die Forderung nach
umfassenden politischen Reformen sowie einer Abkehr von den obrigkeitsstaatlichen
Strukturen, die auch von den amerikanischen Antwortnoten immer klarer verlangt wurde
(vor allem 3. Wilson-Note vom 23. Oktober 1918). Die Monarchie drohte somit auch zum
Hindernis für den Frieden zu werden.
2) Ende der Monarchie und Revolution 1918/19
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25. Oktober 1918: Entlassung Ludendorffs und Berufung General Wilhelm Groeners
28. Oktober: Änderung der Reichsverfassung durch die sog. „Oktoberreform“.
Deutschland wurde nun eine „parlamentarische Monarchie“. Die Oktoberreform drang
aber kaum noch ins politische Bewusstsein der Deutschen. Die maßgeblichen
Repräsentanten des alten Systems taten sich zudem schwer, den mit der Reform
bekräftigten Primat der Politik zu akzeptieren. Am 29. Oktober begab sich Kaiser
Wilhelm II. von Berlin ins deutsche Hauptquartier nach Spa. In der Umgebung des
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Kaisers spielte man Staatsstreichpläne durch, die aber rasch aufgegeben werden mussten.
28./29. Oktober: Beginn der Meuterei bei der deutschen Hochseeflotte. Die seit langem
unzufriedenen Matrosen wehrten sich gegen Pläne der Flottenführung, zu einem letzten
großen „Ehrengefecht“ auszulaufen und dadurch auch den „Flottengedanken“ in
Deutschland zu bewahren. Die Meuterei weitete sich am 3./4. November zum Kieler
Matrosenaufstand aus.
5./6. November: rasches Ausgreifen der Revolutionsbewegung. Getragen wurde die
Bewegung von einer rasch wachsenden Friedenssehnsucht, die allerdings auch mit noch
vagen politischen Reformprogrammen verbunden war (Ende des Obrigkeitsstaates, soziale
Verbesserungen).
7. November: Revolution in München, Ende der Monarchie, Regierungsübernahme durch
Kurt Eisner (USPD)
9. November: Reichskanzler Max von Baden gab die Abdankung des Kaisers bekannt und
ernannte Friedrich Ebert (Führer der MSPD) zum Reichskanzler. Am gleichen Tag rief
Philipp Scheidemann (MSPD) die „Deutsche Republik“ aus.
III. Die deutsche Revolution 1918/19
Literatur zur deutschen Revolution 1918/19:
Alexander GALLUS, Die vergessene Revolution von 1918/19, Göttingen 2010 (auch über
Bundeszentrale für politische Bildung zu beziehen).
Ulrich KLUGE, Die deutsche Revolution von 1918/19. Staat, Politik und Gesellschaft
zwischen Weltkrieg und Kapp-Putsch (= Moderne deutsche Geschichte, Hg. Hans-Ulrich
WEHLER, Bd. 8), Frankfurt a. M. 1985.
DERS., Soldatenräte und Revolution. Studien zur Militärpolitik in Deutschland 1918/19,
Göttingen 1975.
Eberhard KOLB, Die Arbeiterräte in der deutschen Innenpolitik 1918/19, 2. Aufl., Frankfurt a.
M. 1978.
Wolfgang J. MOMMSEN, Die deutsche Revolution 1918-1920. Politische Revolution und
soziale Protestbewegung, in: Geschichte und Gesellschaft 4 (1978), S. 362-391.
Walter MÜHLHAUSEN, Friedrich Ebert 1871-1925. Reichspräsident der Weimarer Republik,
2., durchges. Aufl., Bonn 2007.
Reinhard RÜRUP, Demokratische Revolution und „dritter Weg“. Die deutsche Revolution
1918/19 in der neueren wissenschaftlichen Diskussion, in: Geschichte und Gesellschaft 9
(1983), S. 278-301.
Heinrich August WINKLER, Von der Revolution zur Stabilisierung. Arbeiter und
Arbeiterbewegung in der Weimarer Republik 1918-1924 (= Geschichte der Arbeiter und
Arbeiterbewegung in Deutschland seit dem Ende des 18. Jahrhunderts, Hg. Gerhard A.
RITTER, Bd. 9), Bonn 1984.
DERS., Die Revolution von 1918/19 und das Problem der Kontinuität in der deutschen
Geschichte, in: HZ 250 (1990), S. 303-319.
A. Revolutionsforschung:
Die neuere Forschung spricht nicht mehr von der Novemberrevolution, sondern teilt die
„deutsche Revolution“ von 1918/19 in zwei Phasen:
1. Phase: November/Dezember 1918
2. Phase: Januar bis Mai 1919
Drei Grundrichtungen der Geschichtsschreibung:
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1) Ältere westdeutsche Interpretation (Karl Dietrich ERDMANN): Alternative
parlamentarische Demokratie oder sozialistische Räterepublik/Diktatur.
2) Marxistisch-leninistische Interpretation: ähnliche Interpretation unter umgekehrten
Vorzeichen: „Verrat“ der MSPD, Fehlen einer leninistischen Kaderpartei.
3) Westdeutsche Forschung seit den sechziger Jahren: Suche nach einem „Dritten Weg“
bzw. These, dass man die parlamentarische Demokratie durch eine konsequentere
Reformpolitik auf ein festeres Fundament hätte stellen können. Der MSPD wird hier kein
„Verrat“ vorgeworfen, wohl aber wird kritisiert, dass sie die vorhandenen
Handlungsmöglichkeiten nicht genug genutzt habe, um die Republik auf ein festeres
Fundament zu stellen.
In neueren Arbeiten (etwa bei Heinrich August WINKLER) wird aber wieder stärker
hervorgehoben, wie eng der Handlungsspielraum der MSPD unter den Bedingungen des
verlorenen Krieges, einer höchst angespannten Wirtschafts- und Versorgungslage und der
inneren Konflikte war.
B. Zur Politik von MSPD und USPD
Die Mehrheitssozialdemokratie hat die Revolution weder gewollt noch gemacht. Sie strebte
im Herbst 1918 politische und soziale Veränderungen an, aber nicht durch ein Weitertreiben
der Revolution, sondern durch eine parlamentarische Reformpolitik. Die vielfältigen
Aufgaben waren aus Sicht der MSPD-Führer nur dann zu bewältigen, wenn es gelang, alle
Störungen der öffentlichen Ordnung und des Wirtschaftslebens so gering wie möglich zu
halten. Deshalb kam man nach eigener Ansicht auch an der Kooperation mit den alten Eliten
(Bürgertum) nicht vorbei. Die Fortsetzung der Kooperation mit den bürgerlichen Parteien
wurde jedoch dadurch erschwert, dass die MSPD unter den Druck der weiter links stehenden
Kräfte der Arbeiterbewegung geriet. Hauptkonkurrent war zunächst die USPD, die 1917 von
den Gegnern der parteioffiziellen Kriegspolitik gegründet worden war. Ende 1918 besaß die
USPD etwa 300 000 Mitglieder, die MSPD eine Million. Die USPD zerfiel in zwei Flügel:
Der rechte Flügel um Karl Kautsky, Rudolf Hilferding und Hugo Haase wollte wie die MSPD
Wahlen zur Nationalversammlung, zuvor aber schon Strukturreformen zur Sicherung einer
sozialen Demokratie. Der linke Flügel wollte die Revolution weitertreiben und forderte die
Übernahme der politischen Macht durch die Arbeiter- und Soldatenräte. Innerhalb der Linken
gab es aber programmatische und strategische Unterschiede zwischen den revolutionären
Obleuten und dem Spartakusbund (Karl Liebknecht, Rosa Luxemburg). Obwohl die Position
der radikalen Linken relativ schwach war, vergrößerte sie mit ihren Aktionen die ohnehin
große Bolschewismusfurcht in der deutschen Gesellschaft.
C. Die Bildung des Rates der Volksbeauftragten
In Berlin setzte der Druck von links die MSPD unter Zugzwang, als am 10. November 1918
Arbeiter- und Soldatenräte gewählt wurden, die eine provisorische Regierung einsetzen
sollten. Die MSPD kam der Regierungsneubildung zuvor, indem sie sich noch vor dem
Zusammentritt der Räteversammlung mit der USPD-Führung über die Bildung einer neuen
Regierung auf paritätischer Grundlage verständigte und dafür gewisse Konzessionen machte.
Man bildete zusammen den Rat der Volksbeauftragten: Friedrich Ebert, Philipp Scheidemann
und Otto Landsberg (MSPD), Hugo Haase, Wilhelm Dittmann und Emil Barth (USPD). Die
mehrheitlich noch immer MSPD-treuen Berliner Arbeiter- und Soldatenräte bestätigten am
selben Tag den Rat der Volksbeauftragten als „provisorische Reichsregierung“. Ferner wurde
aus den Arbeiter- und Soldatenräten ein Vollzugsausschuss gebildet, der die Exekutive
überwachen sollte, dessen Einfluss in den folgenden Wochen von Ebert, dem wichtigsten
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Mann des Rates der Volksbeauftragten, aber geschickt reduziert wurde. Wichtigste Aufgaben
des Rates der Volksbeauftragten:
1) Abschluss eines Waffenstillstands (11. November 1919)
2) Bewältigung der öffentlichen Aufgaben, Versorgung der Bevölkerung
3) Entscheidung über die politische Neuordnung
Die ersten beiden Aufgaben, vor allem die Aufrechterhaltung der Versorgung, schränkte den
innenpolitischen Handlungsspielraum der Regierenden von Beginn an erheblich ein. Richard
LÖWENTHAL betont, dass Revolutionen in hochindustrialisierten Staaten nur schwer
durchzuführen seien, und verweist auf eine allgemeine Anti-Chaos-Haltung in der auf
öffentliche Daseinsvorsorge angewiesenen Bevölkerung: „Die Ernährung der Städte, der
Heimtransport der demobilisierten Soldaten, ihre Wiedereingliederung in das
Wirtschaftsleben, die Brennstoff- und Rohstoffversorgung der Industrie, die
Seuchenbekämpfung – das alles hängt vom Funktionieren des öffentlichen Transportwesens
und anderer Verwaltungen ab. Der Zusammenbruch der Versorgung und das administrative
Chaos erscheinen als die dringendsten Gefahren, um derentwillen auch der Fortbestand
vorhandener Machtapparate einstweilen in Kauf genommen wird.“
Schon das gemäßigte USPD-Mitglied Heinrich Ströbel hatte 1920 rückblickend geschrieben:
„Die Rätediktatur und die sofortige Vollsozialisierung waren in Deutschland völlig
ausgeschlossen, und es war eine verhängnisvolle Verkennung der ökonomischen und
politischen Möglichkeiten, dass die äußerste proletarische Linke sich einbildete, das russische
Vorbild ohne weiteres in Deutschland nachahmen zu können.“
Neben dem Grad der Industrialisierung stand aber auch der in Deutschland bereits erreichte
Grad der Demokratisierung einer Revolution russischen Zuschnitts entgegen. Lenins Partei
bolschewistischen Typs spiegelte die besonderen politischen Strukturen des ökonomisch wie
politisch rückständigen Russlands wider. Für die große Masse der deutschen Arbeiterschaft
konnte dieser Parteityp kein Vorbild mehr sein. Das kaiserliche Deutschland war zwar keine
Demokratie westlichen Musters, aber der Prozess der Modernisierung war auch im politischen
System gerade durch das allgemeine Reichstagswahlrecht, die hohe Wahlbeteiligung und die
Mitwirkung des Volkes in verschiedenen Selbstverwaltungsorganen schon relativ weit
fortgeschritten.
D. Die Politik des Rates der Volksbeauftragten und der Reichsrätekongress
Die Strategie der MSPD lief nach dem 9. November 1918 aus innen- wie vor allem auch aus
außenpolitischen Gründen (Legitimation der Regierung, Einheit des Reiches) auf die baldige
Wahl einer verfassungsgebenden Nationalversammlung hinaus. Neben den bürgerlichen
Parteien, die durch diese Wahl die eigene Position zu verbessern hofften und ein wirksames
Bollwerk gegen ein Rätesystem aufbauen wollten, stimmte auch der rechte Flügel der USPD
dieser Haltung grundsätzlich zu. Er verlangte aber, dass schon vor den Wahlen sog.
„Strukturreformen“ zur Sicherung einer „sozialen Demokratie“ durchgeführt werden sollten.
Am 29. November 1918 verabschiedete der Rat der Volksbeauftragten das Gesetz über die
Wahlen zur verfassungsgebenden deutschen Nationalversammlung (neu: Verhältniswahlrecht,
Frauenstimmrecht, Wahlalter: 20 Jahre, vorher 25 Jahre). Die Mehrheit der Arbeiter- und
Soldatenräte stellte sich hinter diesen Kurs. Man verstand sich als Sachwalter der
Regierungskoalition, somit als reine Übergangsorgane. Nur die Minderheit der Räte vertrat
die Ansicht, das Repräsentativprinzip der parlamentarischen Demokratie zugunsten eines
Rätesystems aufzugeben. Diese Meinungsbild zeigte sich auch auf dem ersten
Reichsrätekongress vom 16. bis 20. Dezember 1918 in Berlin: Dort stimmten 344 gegen 98
Delegierte für baldige Wahlen zur Nationalversammlung. Die Grundsatzdebatte wurde vor
allem zwischen Max Cohen-Reuss (MSPD) und Ernst Däumig (USPD, Obleute) geführt (Vgl.
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die Texte in der wichtigen Quellensammlung von Gerhard A. RITTER/ Susanne MILLER, Hg.,
Die deutsche Revolution 1918/1919. Dokumente, 2., erhebl. erw. u. überarb. Aufl., Hamburg
1975). Der Verlauf des Reichsrätekongresses unterstrich somit den eher gemäßigten Charakter der Rätebewegung in der ersten Phase der Revolution. Dennoch traten auf zwei Feldern
auch Unterschiede zwischen der Mehrheit der Delegierten und der Politik der MSPD-Führer
deutlich zutage: in der Militärpolitik und in der Sozial- bzw. Sozialisierungspolitik.
E. Militärpolitik
Am 10. November 1918 kam es zu einer Übereinkunft zwischen Friedrich Ebert und General
Wilhelm Groener von der OHL (Ebert-Groener-Pakt). Man versprach sich gegenseitige
Unterstützung, um das Heer zurückzuführen, die innere Ordnung aufrechtzuerhalten und die
baldige Wahl einer Nationalversammlung durchführen zu können. Die MSPD verzichtete auf
den Aufbau einer eigenen republikanischen Schutztruppe, auch aus Furcht vor linker
Unterwanderung. Sie stützte sich auf das alte Militär, das aber bald damit begann, eine eigene
innenpolitische Ordnungsrolle zu übernehmen. Am 6. Dezember 1918 kam es zu ersten
Straßenkämpfen in Berlin. Die Reformwünsche der Soldatenräte gipfelten in den sog.
„Hamburger Punkten“ vom Dezember 1918, die vom Reichsrätekongress angenommen
wurden. Gefordert wurde unter anderem eine andere Militärpolitik, die auf die
Demokratisierung des Heeres zielte. Die MSPD ging auf diese Wünsche nur sehr zögernd ein
und setzte weiter auf die Zusammenarbeit mit den Führern des alten Militärs.
Forschungskontroverse: Ulrich KLUGE (Soldatenräte und Revolution. Studien zur
Militärpolitik in Deutschland 1918/19, Göttingen 1975) ist der Ansicht, dass eine andere
Militärpolitik der MSPD (der Aufbau einer eigenen, zuverlässigen Miliz) notwendig und
möglich gewesen sei. Gerhard W. RAKENIUS (Wilhelm Groener als erster
Generalquartiermeister. Die Politik der Obersten Heeresleitung 1918/19, Boppard 1977) ist
dagegen der Meinung, Ebert habe angesichts der linksradikalen Gefahr und der fehlenden
Bereitschaft eigener Anhänger, die Regierung notfalls auch mit Waffengewalt zu schützen,
keine andere Wahl als die Kooperation mit dem alten Militär gehabt.
Die Militärpolitik führte schließlich zur Entfremdung zwischen MSPD-Führung und Teilen
der Basis: Am 24. Dezember kam es in Berlin zu den sog. „Weihnachtsunruhen“, als Soldaten
der Volksmarinedivision Regierungsgebäude besetzten und die von der Regierung
herbeigerufenen OHL-Truppen den Aufstand blutig niederschlugen. Am 28. Dezember trat
die USPD aus der Regierung aus, was die weitere Radikalisierung der Partei fördern sollte.
Gustav Noske (MSPD) wurde neuer Volksbeauftragter.
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