Prof. Dr. Hans-Werner Hahn Vorlesung WS 2011/12 Mi 8-10 REVOLUTIONEN UND REFORMEN: EUROPA 1780/89-1815 15. Die Neuordnung auf dem Wiener Kongress Peter BURG, Der Wiener Kongreß. Der Deutsche Bund im europäischen Staatensystem. München 1984. Karl GRIEWANK, Der Wiener Kongress und die europäische Restauration 1814/15, 2. Aufl. Leipzig 1954. Henry A. KISSINGER, Das Gleichgewicht der Großmächte. Metternich, Castlereagh und die Neuordnung Europas 1812-1822, Düsseldorf 1991. Wolfram SIEMANN, Metternich. Staatsmann zwischen Restauration und Moderne, München 2010. I. Der Wiener Kongress Der Wiener Kongress (November 1814-Juni 1815) sollte alle noch offenen Fragen der europäischen Neuordnung regeln und eine stabile Gesamtordnung schaffen. Wichtigste Persönlichkeiten: METTERNICH, GENTZ (Österreich); HARDENBERG u. W. v. HUMBOLDT (Preußen); Zar Alexander I. u. NESSELRODE (Russland); CASTLEREAGH (England); TALLEYRAND (Frankreich). Die handlungsleitenden Prinzipien des Wiener Kongresses waren neben dem Gleichgewichtsgedanken RESTAURATION und LEGITIMITÄT (legitime Herrschaft). Beide wurden aber auch von Konservativen wie Metternich nicht dogmatisch, sondern pragmatisch gehandhabt. Es gab keine völlige Restauration des vorrevolutionären Europas, sondern nur eine Teilrestauration. Wichtige Veränderungen der napoleonischen Ära - etwa die süddeutschen Königreiche und Großherzogtümer - wurden als legitim anerkannt und durch die Wiener Kongressakte legalisiert. Im Verlaufe des Kongresses führte der Streit um die polnisch-sächsische Frage zu einer ersten schweren Zerreißprobe, die die antinapoleonische Allianz vorübergehend sprengte. Preußen und Russland setzten sich für eine Lösung ein, nach der Russland weite Teile Polens (Zar als Monarch des Königreichs Polen) und Preußen das gesamte Königreich Sachsen erhalten sollten. Gegen Russland, das unter Alexander I. einen expansiven Kurs steuerte, und seinen Juniorpartner Preußen formierte sich eine aus England, Österreich und Frankreich gebildete Defensivallianz. Frankreich gewann unter seinem Außenminister Talleyrand neuen Handlungsspielraum. Die Kriegsgefahr wurde durch Kompromisse in der polnisch-sächsischen Frage beigelegt. Russland erhielt das sogenannte Kongresspolen, somit nur einen größeren Teil der beanspruchten Gebiete, Preußen erhielt nur einen Teil Sachsens. II. Ergebnisse des Wiener Kongresses Stärkung der Niederlande, Piemont-Sardiniens und Westverschiebung Preußens (Rheinland) als Riegel gegen neue französische Expansionsabsichten. Für die deutschen Entwicklungen des 19. Jahrhunderts war wichtig, dass Preußen durch die territorialen Veränderungen weit nach Deutschland hinein wuchs, während sich Österreichs Schwerpunkt durch den Verzicht auf die Rückerwerbung des Breisgaus und der habsburgischen Niederlande (Belgien) und den gleichzeitigen Erwerb neuer italienischer Gebiete weiter nach Süden und Südosten verlagerte. Die territorialen und staatlichen Regelungen wurden ohne Beteiligung der betroffenen Bevölkerung beschlossen (Vorwurf des Länder- und Seelenschachers). Deshalb hat der Wiener Kongress in der nationalen Geschichtsschreibung lange Zeit eine sehr negative Beurteilung erfahren. Später relativierte sich diese Sicht, weil mit der neuen Ordnung ein Jahrhundert "relativen" Friedens – keine größeren gesamteuropäischen Kriege – begann. 1 Hinzu kommt, dass die Entscheidungen des Kongresses noch nicht automatisch zur Politik der Restauration führten, sondern dass die Situation zunächst in vielen Fragen offener war. Auch manche Vereinbarungen wie die proklamierte Freiheit der Schifffahrt auf Europas großen Strömen und die von England durchgesetzte Ächtung des Sklavenhandels waren zukunftsweisend. Exkurs: Über die Sklaverei wurde seit der Aufklärung verstärkt diskutiert. Das revolutionäre Frankreich setzte dem Sklavenhandel und der Sklaverei nach Aufständen in der Karibik (TOUSSAINT L`OUVERTURE) 1793/94 vorläufig ein Ende. Unter Napoleon wurde dies wieder rückgängig gemacht. Die wichtigsten Anstöße zur Abschaffung des Sklavenhandels und der Sklaverei kamen aus England, wo sich seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert eine von religiös-humanitären Zielsetzungen bestimmte Bewegung ("ABOLITION-MOVEMENT") unter William WILBERFORCE für die Abschaffung der Sklaverei einsetzte. III. Restauration in Frankreich und Rückkehr Napoleons Die 1814 in Frankreich von den Bourbonen zugestandene "Charte constitutionelle" schien reformerische Hoffnungen zu bestätigen. Es war der Versuch eines Kompromisses zwischen den legitimistischen Ansprüchen des französischen Königshauses und dem von der Revolution eingeführten Prinzip der Volkssouveränität. Bevor sich die neue Ordnung entwickeln konnte, wurde sie im März 1815 durch Napoleons Rückkehr nach Frankreich wieder gefährdet. Napoleon nutzte die Unzufriedenheit vieler Franzosen mit den neuen politischen Verhältnissen, die von der Sorge über restaurative Bestrebungen der Bourbonen und von wirtschaftlichen Krisen genährt wurde. Die europäischen Großmächte erneuerten im März 1815 ihr Bündnis gegen Napoleon, beschleunigten das Zustandekommen des Wiener Vertragswerks (9. Juni 1815 Wiener Kongressakte) und besiegten Napoleon am 18. Juni 1815 in der Schlacht bei WATERLOO/BELLE ALLIANCE (Wellington, Blücher). Napoleon dankte am 22. Juni 1815 endgültig ab und wurde nach St. Helena gebracht (Tod 1821, St. Helena-Legende: Napoleon als Befreier der europäischen Völker, Napoleonmythos in Frankreich). Der 2. Pariser Frieden vom November 1815 blieb vor allem auf britisches Drängen im Rahmen des Versöhnungsfriedens (Gleichgewicht!), legte Frankreich aber einige härtere Bedingungen auf. IV. Heilige Allianz und europäisches Staatensystem nach 1815 Die "Heilige Allianz" vom 26. September 1815 ging auf Überlegungen des Zaren Alexanders I. zurück, der damit die Monarchen und Völker des "christlichen Europas" zur Solidarität aufrufen wollte. Metternich formte die Vorschläge um und machte sie zum Symbol einer antirevolutionären Restaurations- und Stabilitätspolitik. Wichtiger als die Heilige Allianz wurde die am 20. November 1815 zwischen Russland, Großbritannien, Österreich und Preußen abgeschlossene Quadrupelallianz, in der man sich nochmals den gegenseitigen Beistand gegen ein auf Revanche drängendes Frankreich versprach und auf Anregung Castlereaghs regelmäßige Konferenzen der Großmächte vereinbarte (Konferenzdiplomatie). Auch Castlereaghs Konzepte wurden von Metternich in seinem Sinne umgeformt. Für einige Jahre wurde Metternich zum Lenker des europäischen Staatensystems, das er nun immer mehr ins restaurative Fahrwasser zu drängen versuchte, nicht zuletzt auch durch die Politik im 1815 geschaffenen Deutschen Bund. 2 V. Deutsche Neuordnung 1814/15 Die staatliche Neuordnung des deutschen Raumes war nach der Niederlage Napoleons und der mit ihr verbundenen Auflösung des Rheinbundes eine der wichtigsten Aufgaben des Wiener Kongresses. Eine Wiederherstellung des Alten Reiches war angesichts der inzwischen eingetretenen tief greifenden Veränderungen ebenso wenig möglich wie ein unitarischer Nationalstaat nach französischem Muster. Hiergegen sprachen die föderativen Traditionen der deutschen Geschichte, die insgesamt noch eher schwache Stoßkraft der nationalen Bewegung und vor allem das Bestreben der europäischen Großmächte, ein auf dem Gleichgewicht beruhendes System zu schaffen. In ein solches System passte kein einheitlicher deutscher Block hinein. Für die europäischen Mächte kam im Grunde nur ein Bund unabhängiger deutscher Staaten in Frage. Ziel der preußischen Politik war eine bundesstaatliche Lösung, um so die preußische Hegemonie über den deutschen Norden festzuschreiben. Österreich hat zunächst Pläne einer preußisch-österreichischen Doppelhegemonie unterstützt, dann aber gemeinsam mit den süddeutschen Mittelstaaten Bayern und Württemberg eine staatenbündische Lösung durchgesetzt, die auch von den europäischen Großmächten favorisiert wurde. Am 8. Juni 1815 wurde die Deutsche Bundesakte unterzeichnet. VI. Strukturen des Deutschen Bundes Der Deutsche Bund war ein lockerer Staatenbund, der sich aus 37 Monarchien und vier freien Städten zusammensetzte. Der institutionelle Rahmen mit der als Gesandtenkongress zusammentretenden Bundesversammlung in Frankfurt (Engerer Rat und Plenum) war schwach ausgebildet. Es gab kein oberstes Bundesgericht, wie es Preußen und auch kleinere Staaten gefordert hatten. Österreich fungierte zwar als Präsidialmacht, doch waren damit keine besonderen Führungsfunktionen in der Exekutive verbunden. In allen Grundsatzfragen besaßen die Gliedstaaten ein Vetorecht. Preußen und Österreich, die nicht mit ihrem gesamten Staatsgebiet zum Bund gehörten, übten faktisch eine Art Doppelhegemonie aus. Diese war aber rechtlich in keiner Weise festgeschrieben. Die europäische Funktion des Bundes kam auch darin zum Ausdruck, dass drei europäische Monarchen zugleich Herrscher von Bundesstaaten waren (Engl. König – Hannover; dän. König – Holstein; niederl. König – Luxemburg). Im übrigen war der Bund in keiner Weise identisch mit den deutschen Sprachgrenzen (Böhmen, Italien). Hauptziel des Bundes war die Erhaltung der äußeren und inneren Sicherheit und Unverletzlichkeit seiner Gliedstaaten. Eine eigene außenpolitische Rolle hat der Bund nicht gespielt. Jeder Staat konnte seine eigene Außenpolitik betreiben, sofern diese nicht gegen den Bund oder einzelne seiner Staaten gerichtet war. VII. Bewertung des Deutschen Bundes Die Bundesakte stieß nach 1815 auf heftigste Kritik der liberalen und nationalen Kräfte. Dieses Negativbild baute die preußisch-kleindeutsche Geschichtsschreibung (Treitschke) weiter aus, die im Deutschen Bund eine nicht lebensfähige Zwischenlösung der deutschen Frage sah. Sie habe nur den "notwendigen" Weg zum preußisch geführten Einheitsstaat aufgehalten. Auch wenn der Deutsche Bund im Laufe seiner Geschichte letztlich innenpolitisch in erster Linie ein Instrument von Reaktion und Repression wurde, hat sich in der Geschichtsschreibung der letzten Jahre eine differenziertere Sicht durchgesetzt. Zwei Punkte werden heute besonders hervorgehoben: a) die friedenserhaltende Funktion des Deutschen Bundes im europäischen Gleichgewichtssystem. 3 b) das Entwicklungspotential, das die Deutsche Bundesakte von 1815 anfangs durchaus enthielt und das die Chance geboten hätte, dem Staatenbund nach und nach bundesstaatliche Züge zu geben. Zahlreiche Artikel im zweiten Teil der Bundesakte nährten die Hoffnung, dass man nach 1815 zu fortschrittlichen und gesamtdeutschen Lösungen kommen würde. Hierzu zählten das Verfassungsversprechen für die Einzelstaaten (Art. 13), die Artikel über die Gleichberechtigung der christlichen Konfessionen, die Freizügigkeit, einheitliche Regelung der Pressegesetzgebung und die Wirtschaftsgesetzgebung. Die Bundesakte enthielt wichtige Ansätze. Erst die Politik nach 1815, die allmähliche Durchsetzung des Metternichschen Systems, blockierte dann für lange Zeit alle in der Bundesakte angelegten Entwicklungschancen. Der Deutsche Bund wurde für Jahrzehnte zum Hort der Reaktion und des Stillstandes. Das hat seinem Image geschadet und hat alle späteren Versuche bis in die frühen 1860er Jahre, doch noch eine große Bundesreform zustande zu bringen, erheblich erschwert. 4