Geschichtliche Stationen der Religionspsychologie

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o. Univ. Prof. Dr. Susanne Heine
[email protected]
020100 Vorlesung
Religion als Erfahrung: Einführung in die Religionspsychologie
Wintersemester 2006/07
Dokumentation
der auf Folie präsentierten Quellentexte, Tabellen und Graphiken, die im Rahmen der
Vorlesung analysiert und kommentiert wurden.
Ouvertüre: Die Wende zum Subjekt
“Die Kenntnis der Rechte des Menschen ist für den, welcher eine rechtliche Verfassung einführen will, zwar unentbehrlich, aber doch bloße Präliminarkenntnis. Er muss über die Theorie dieser Rechte hinausgehen, wenn er die Mittel, sie zu realisieren, entdecken will. Erfahrung allein ... kann den Stoff zu den praktischen Veranstaltungen liefern, ohne welche das
vollkommenste System der Rechte ewig nur ein reizendes Schattenbild bleibt. In jeder bürgerlichen Verfassung muss Macht übertragen, muss Macht irgendwo konzentriert werden, um
das Recht zu schützen. Wo soll diese Macht ihren Sitz haben? Wie soll sie ausgeübt werden?
Was soll ihr Schranken setzen? ... Auf diese überaus wichtigen Fragen weiß die reine Theorie
der Rechte keine Antwort zu geben. Nur Kenntnis des Menschen, des Einzelnen und großer
Massen, Kenntnis menschlicher Fähigkeiten, Neigungen, Schwachheiten und Leidenschaften,
anhaltende Beobachtung, Vergleichung mannigfaltiger Lagen und Umstände, Studium der gesellschaftlichen Verhältnisse und vielleicht erst eine lange Reihe kostbarer Versuche kann sie
beantworten.”
Friedrich Gentz, Nachtrag zu dem Räsonnement des Herrn Professor Kant über das Verhältnis von Theorie und Praxis, Berlinische Monatsschrift, Dezember 1793, in: Kant. Gentz.
Rehberg. Über Theorie und Praxis, Hans Blumenberg u.a. (Hg.), Einleitung v. Dieter
Henrich, Frankfurt 1967, 89-111; Zit. 103.
Eigenes Erleben als Maxime der Glaubwürdigkeit
„Ein andres sind erfüllte Weissagungen, die ich selbst erlebe: ein andres, erfüllte Weissagungen, von denen ich nur historisch weiß, daß sie andere wollen erlebt haben.
Ein andres sind Wunder, die ich mit meinen Augen sehe, und selbst zu prüfen Gelegenheit
habe: ein andres sind Wunder, von denen ich nur historisch weiß, daß sie andre wollen gesehen und geprüft haben. ...
Einführung in die Religionspsychologie/ VO/Susanne Heine/ WS 2006/07
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Daran liegt es: daß dieser Beweis des Geistes und der Kraft itzt weder Geist noch Kraft mehr
hat; sondern zu menschlichen Zeugnissen von Geist und Kraft herabgesunken ist. ...
... ich leugne gar nicht, daß Christus Wunder getan: sondern ich leugne, daß diese Wunder,
seitdem ihre Wahrheit völlig aufgehört hat, durch noch gegenwärtig gangbare Wunder erwiesen zu werden, seitdem sie nichts als Nachrichten von Wundern sind, mich zu dem geringsten
Glauben an Christi anderweitige Lehren verbinden können und dürfen. ...
Das, das ist der garstige Graben, über den ich nicht kommen kann, so oft und ernstlich ich
auch den Sprung versucht habe.“
G.E. Lessing, Über den Beweis des Geistes und der Kraft (1777), in: G. E. Lessing, Werke,
Herbert G. Göpfert (Hg.), Bd. VIII, Darmstadt 1996, 9-14; Zitate: 9, 10, 11, 13.
Religionskritik
„Das Wunder speist Hungrige, heilt von Natur Blinde, Taube, Lahme, errettet aus Lebensgefahren, belebt selbst Tote auf die Bitten ihrer Verwandten. Es befriedigt also menschliche
Wünsche. ... Der Wunsch bindet sich an keine Schranke, kein Gesetz: er ist ungeduldig; er
will unverzüglich, augenblicklich erfüllt sein. Und siehe da! So schnell als der Wunsch, so
schnell ist das Wunder. Die Wunderkraft realisiert augenblicklich, mit einem Schlag, ohne
alles Hindernis die menschlichen Wünsche. Daß Kranke gesund werden, das ist kein Wunder,
aber daß sie unmittelbar auf einen bloßen Machtspruch hin gesund werden, das ist das Geheimnis des Wunders. Nicht also durch das Product oder Object, welches sie hervorbringt würde die Wundermacht etwas absolut Neues, nie Gesehenes, nie Vorgestelltes, auch nicht
einmal Erdenkbares verwirklichen, so wäre sie als eine wesentlich andere und zugleich objective Thätigkeit factisch erwiesen - sondern allein durch den Modus, die Art und Weise unterscheidet sich die Wunderthätigkeit von der Thätigkeit der Natur und Vernunft. Allein die
Thätigkeit, welche dem Wesen, dem Inhalt nach eine natürliche, sinnliche, nur dem Modus
nach eine übernatürliche, übersinnliche ist, diese Thätigkeit ist nur die Phantasie oder Einbildungskraft. Die Macht des Wunders ist daher nichts andres als die Macht der Einbildungskraft.“
Ludwig Feuerbach, Das Wesen des Christentums, 1841, 167-168.
Apologie
„Das Streiten, welche Begebenheit eigentlich ein Wunder sei, und worin der Charakter desselben eigentlich bestehe, wieviel Offenbarung es wohl gebe, und inwiefern und warum man
eigentlich daran glauben dürfe, und das offenbare Bestreben, so viel sich mit Anstand und
Rücksicht tun läßt, davon abzuleugnen, ... das ist eine von den kindischen Operationen der
Metaphysiker und Moralisten in der Religion. ... Ja, wer nicht eigene Wunder sieht auf seinem
Standpunkt der Betrachtung der Welt, in wessen Inneren nicht eigene Offenbarungen aufsteiEinführung in die Religionspsychologie/ VO/Susanne Heine/ WS 2006/07
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gen, wenn seine Seele sich sehnt, die Schönheit der Welt einzusaugen, ...; wer nicht hie und
da mit der lebendigsten Überzeugung fühlt, daß ein göttlicher Geist ihn treibt und daß er aus
heiliger Eingebung redet und handelt; wer sich nicht wenigstens ... seiner Gefühle als unmittelbarer Einwirkungen des Universums bewußt ist, und etwas eigenes in ihnen kennt was
nicht nachgebildet sein kann, sondern ihren reinen Ursprung aus seinem Innersten verbürgt,
der hat keine Religion. …
Ihr [der Religion] Wesen ist weder Denken noch Handeln, sondern Anschauung und Gefühl.
Anschauen will sie das Universum, in seinen eigenen Darstellungen und Handlungen will sie
es andächtig belauschen, von seinen unmittelbaren Einflüßen will sie sich in kindlicher Paßivität ergreifen und erfüllen lassen. …
Geraubt nur hat der Mensch das Gefühl seiner Unendlichkeit und Gottähnlichkeit, und es
kann ihm als unrechtes Gut nicht gedeihen, wenn er nicht auch seiner Beschränktheit sich
bewußt wird, der Zufälligkeit seiner ganzen Form, des geräuschlosen Verschwindens seines
ganzen Daseins im Unermeßlichen.“
Friedrich D. E. Schleiermacher, Über die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren
Verächtern (1799), Günter Meckenstock (Hg.), Berlin-New York 2001,108, 109, 79, 80.
„ ... auch auf der höchsten Stufe der christlichen Frömmigkeit und beim klarsten Bewußtsein
der ungehemmtesten Selbsttätigkeit bleibt doch die Schlechhinnigkeit des Abhängigkeitsgefühls in bezug auf ihn [Gott] unverringert. Und dies soll der Ausdruck bezeichnen, das Sichschlechthin abhängig-Finden sei die einzige Weise, wie Gott und ich im Selbstbewußtsein
zusammen sein kann.“
Friedrich D. E. Schleiermacher, Der christliche Glaube (21830), M. Redeker (Hg.), Berlin
1960, 173 (§ 32, 2b).
Bleibende Spannungen
„Wenn man heute in Deutschland als psychologischer Wissenschaftler empirisch-religionswissenschaftliche Forschungsarbeiten durchführen oder initiieren möchte, so läuft man Gefahr, sich angesichts der besonderen Entwicklung der deutschsprachigen Religionspsychologie einigen Mißverständnissen ausgesetzt zu sehen: Wendet man sich an die psychologische
Fachöffentlichkeit, muß man sich nicht nur mit den Problemen einer fehlenden Forschungstradition und -infrastruktur auseinandersetzen, sondern auch befürchten, von den Fachkollegen voreilig als Vertreter einer Religionsapologetik mißverstanden oder in die Nähe der methodischen Traditionen der theologischen Religionspsychologie oder der Psychoanalyse gerückt zu werden und damit seine wissenschaftliche Reputation zu gefährden. Wendet man
sich hingegen an Theologen oder Religionswissenschaftler, wird man, um nicht in den Verdacht einer unreflektierten Religionskritik oder eines psychologischen Reduktionismus zu geEinführung in die Religionspsychologie/ VO/Susanne Heine/ WS 2006/07
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raten, sein Wissenschaftsverständnis gesondert begründen und erläutern müssen, wobei man
feststellen wird, daß eine kommunikationsermöglichende Forschungssprache vielfach erst
entwickelt werden muß. Wendet man sich schließlich an eine breitere gesellschaftliche Öffentlichkeit, wird man zu berücksichtigen haben, daß die persönliche Religiosität zwar einen
zentralen, aber in der Regel sehr privaten Lebensbereich darstellt.“
Vorwort in: Helfried Moosbrugger/Christian Zwingmann/Dirk Frank (Hg.), Religiosität, Persönlichkeit und Verhalten. Beiträge zur Religionspsychologie, Münster-New York 1996, V.
(Hervorhebungen von S.H.).
A „dilemma so characteristic of academic psychology: when presenting ‘theories’ which the
majority of its practitioners considers ‘scientific’, the interested public is bored stiff, whereas
what the public recognizes as interesting ‘psychology’ (for instance psychoanalysis, not to
mention the work of Jung) is regarded by ‘real’ psychologists as too ‘speculative’.“
Troels Norager, Experience and Interpretation. Reflections on the Problem of Conceptualizing Religious Experience, in: Archiv für Religionspsychologie, Bd.21, Göttingen 1997, 7079, Zit. 70.
Gegenstand der Religionspsychologie
„Simply put, we study people, not religion, and this is not a denigration of religion, but a
statement of psychology’s basic goal.”
Spilka, Bernard / McIntosh, Daniel N., ed. (1997), The Psychology of Religion. Theoretical
Approaches, Colorado-Oxford, XI.
„Viele erwarten von der Psychologie, daß sie sie ins Herz der Religion einführe und ihnen
deren tiefsten Sinn enthülle. ... Wir müssen solche Erwartungen enttäuschen. ... Die Psychologie aber als positive Wissenschaft, befaßt sich nur mit den Erscheinungen: sie erforscht die
Religion, so wie sie sich im Menschen manifestiert und strukturiert.“
Vergote, Antoine (1970 [1966]), Religionspsychologie, Olten-Freiburg, 15f.
Die Religionspsychologie ist „das wissenschaftliche Studium dessen, wie die Religion in der
Psyche der Menschen, d.h. in ihren Gedanken, ihrem Verhalten und Erlebnis funktioniert“
Holm, Nils G. (1997), Religionspsychologie gestern und heute, in: Archiv für Religionspsychologie, 22, 15-27; 16.
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Kapitel I: Das empirische Theoriemodell
„Das vorwissenschaftliche Denken begrenzt seinen Gegenstand nicht; kaum hat es eine besondere Erfahrung gemacht, versucht es sie schon für die verschiedensten Bereiche zu verallgemeinern“. [...]
„Der wissenschaftliche Geist kann sich nur konstituieren, wenn er den nicht wissenschaftlichen Geist ausrottet.“
„Die Bilder [...], deren sich die Alltagserfahrung bedient, um ihren vor-wissenschaftlichen
Einsichten Ausdruck zu verleihen, sind ebenso ein Hindernis auf dem Wege des wissenschaftlichen Fortschritts wie ein unverzichtbarer Bestandteil all jener Mythen und Vorstellungen,
aus denen sich die Dichtung speist.“
Bachelard, Gaston (21984), Die Bildung des wissenschaftlichen Geistes, Frankfurt/Main, 119,
14, 21 (Vorwort Lepenies).
Die Methode der Abstraktion
„Nehmen wir an, ein Fischkundiger sei dabei, das Leben im Ozean zu erforschen. Er wirft
sein Netz ins Wasser und fördert dann eine Auswahl von Fischen zutage. Er prüft seinen Fang
und verfährt in der gewohnten Art eines Wissenschaftlers, um das, was der Fang kundtut, in
ein System zu bringen. Er gelangt dabei zu zwei Verallgemeinerungen: 1. Kein Seegeschöpf
ist weniger als zwei Zoll lang. 2. Alle Seegeschöpfe haben Kiemen. Beides stimmt für seinen
Fang, und er nimmt versuchsweise an, daß beides, sooft er auch den Fang wiederhole, wahr
bleiben werde. [...] Ein Zuschauer kann einwenden, daß die erste Verallgemeinerung falsch
sei.‘ Es gibt eine Menge von Seegeschöpfen, die weniger als zwei Zoll lang sind. Nur eignet
sich dein Netz nicht dazu, sie zu fangen.‘ Der Fischkundige weist diesen Einwand verächtlich
ab.‘ Alles, was mit meinem Netz nicht gefangen werden kann, liegt ipso facto jenseits des
Rahmens fischkundlichen Wissens und ist kein Teil des Fischreiches, wie es als Gegenstand
fischkundlichen Wissens definiert wurde. Kurz gesagt, was mein Netz nicht fangen kann, ist
kein Fisch.”
Arthur Eddington, Philosophie der Naturwissenschaften, Bern 1939, 28f.
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Der Gegenstand der Religionspsychologie
„Deshalb ist ‚das psychische Leben der Person’ die allgemeinste Gegenstandsbestimmung der
Psychologie.“
Heinz Müller-Pozzi, Psychologie des Glaubens, München 1975, 30.
„Der eigentümliche Forschungsgegenstand der Religionspsychologie ist das Seelenleben,
soweit es religiös ausgerichtet ist ... .“
Wilhelm Pöll, Religionspsychologie. Formen religiöser Kenntnisnahme, München 1965, 16.
„In der ‚Psychologie der Religion’ gelangen die eigentümlichen Vorstellungen, Gefühle,
Gedanken, Handlungen, welche die subjektive Wirklichkeit der Religion bilden, zu einer mit
den Hilfsmitteln und Methoden der Psychologie unternommenen Darstellung.“
Oswald Külpe, Einleitung in die Philosophie, 19074, 103.
„Sie [die Religion] ist ein großes Ganzes, in dem sich der Mensch zu etwas Transzendentem etwas anderem, jemandem anderen, verschiedenen Mächten, Göttern, Teufeln u.s.w - relatiert
und das Engagement alleine oder mit anderen zusammen ausdrückt. Die Religionspsychologie
wird dann das wissenschaftliche Studium dessen, wie die Religion in der Psyche der
Menschen, d.h. in ihren Gedanken, ihrem Verhalten und Erlebnis funktioniert.“
Nils Holm, Religionspsychologie gestern und heute, in: Archiv für Religionspsychologie, Bd.
22, Göttingen 1997, 15-27, 16.
Dem Religionspsychologen genügt es, „die Glaubensvorstellungen soweit zu prüfen und zu
systematisieren, als sie als Wort-, Symbol- und Verhaltensäußerungen beobachtet werden
können. Die Existenz Gottes außer acht lassen bedeutet also, daß man die im Kern der
Religion beschlossene Existenzübertragung nicht selber vollzieht und sich damit begnügt,
daran in einer gewissen affektiven und vernünftigen Sympathie teilzunehmen, soweit es die
Anerkennung einer menschlichen Möglichkeit fordert. ... Die Psychologie … als positive
Wissenschaft, befaßt sich nur mit den Erscheinungen: sie erforscht die Religion, so wie sie
sich im Menschen manifestiert und strukturiert.“
Antoine Vergote, Religionspsychologie, Olten 1970, 15f.
Einführung in die Religionspsychologie/ VO/Susanne Heine/ WS 2006/07
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Graphische Darstellung der empirischen Arbeitsweise:
Arno Anzenbacher, Einführung in die Philosophie, Linz 1981, 23.
Religionspsychologie
1. Ihr Gegenstand ist ein Teilbereich der Erfahrungswelt, und die Ergebnisse als Beschreibungs- und Begründungszusammenhänge sind nur in diesem Teilbereich bestätigungsfähig;
2. durch ein Konstrukt wird ihr Thema auf einen bestimmten Gesichtspunkt hin eingeschränkt
während andere Gesichtspunkte unbeachtet bleiben;
3. ihr Thema kommt nur in der Weise in den Griff der Forschung, den die Methode zulässt.
Die Bestimmung von Religion/Religiosität
„Das Feld für die empirische Religionspsychologie ist unbegrenzt, d.h. sie reicht, so weit es
religiöse Gefühle, Erlebnisse, Vorstellungen etc. gibt. ... Die ganze Religionsgeschichte mit
ihrem unermeßlichen noch lange nicht aufgedeckten und vorgelegten Inhalt an Vorstellungen,
Gefühlen, Handlungen, Kulten, Riten, Ausdrucksformen will beachtet sein. Neben der Beobachtung des eigenen Seelenlebens tritt die des fremden, neben die Gegenwart die unübersehbare Vergangenheit, neben die gleichmäßigen Massen von Daten gewöhnlicher Art die Verwertung der Erlebnisse der religiösen Persönlichkeiten, Genien, Stifter, Propheten: Confucius,
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Zarathustra, Buddha, Muhammed, Augustin, Luther etc.; neben die objektive Geschichtsschreibung die subjektiven Bekenntnisse, Zeugnisse, Selbstportraitierungen; neben das normale gesunde religiöse Leben die verschiedenen Krankheitsformen desselben. Das ergibt fürwahr eine Sammlung von riesigem Umfang und weitschichtigem Material.“
Adolf Frey, Eine Untersuchung über die Bedeutung der empirischen Religionspsychologie für
die Glaubenslehre, Leiden 1911, 14.
„ [...] the term ‚religious experience‘ covers an exeedingly disparate array of events – from
the vaguest glimmerings of something sacred to rapturous mystical unions with the divine.
Clearly some basic elements must be systematically extracted from these diverse phenomena
if they are to be discussed with any conceptual quality.“
„ … involving some communication, however slight, with a divine essence, that is, with God,
with ultimate reality, with transcendental authority”
Stark, Rodney / Glock, Charles Y., American Piety. The Nature of Religious Commitment,
Berkeley-Los Angeles-London 1968, 125, 15.
Das empirische Relativ
„Liegen derartige Relationen bei den Merkmalsausprägungen der beobachtbaren Sachverhalte
(im empirischen Relativ) vor, so können die Objekte hinsichtlich ihrer Merkmalsausprägungen unter Erhaltung ihrer Relation oder ihrer Struktur im Zahlenraum abgebildet werden. Es
entsteht ein numerisches Modell der Beobachtungen, in dem selbstverständlich nur die Relationen gelten dürfen, die auch im empirischen Relativ Gültigkeit haben. Daß gerade gegen
dieses Postulat häufig verstoßen wird, indem numerische Operationen, z.B. statistische Berechnungen, ausgeführt werden, die unter Rücksicht auf die Strukturen im empirischen Relativ unzulässig sind, führt zu Forschungsartefakten und zu berechtigter Kritik der Ergebnisse.“
Edward Haub, Die Messung der Religiosität, in: Edgar Schmitz (Hg.), Religionspsychologie.
Eine Bestandsaufnahme des gegenwärtigen Forschungsstandes, Göttingen u.a. 1992, 265f.
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Ein Konstrukt wird durch Definitionen von Religion/Religiosität gebildet: Was an einer Ausdrucksform kann als genuin religiös qualifiziert werden? Die Definition bestimmt die Auswahl der Indikatoren.
Indikatoren sind Merkmale bzw. häufig beobachtete Eigenschaften, von denen man annimmt, dass sich in ihnen Religiosität ausdrückt wie etwa: Glaube an Gott, regelmäßiger
Vollzug von Riten, Gebetspraxis, Bibelkenntnis, visionäre oder mystische Erlebnisse, Gefühle
der Geborgenheit oder der Angst.
Das Konstrukt wird operationalisiert im Messinstrument: Fragebögen bzw. Skalen
Die Skalen bestehen aus Items, also Fragen, die in bestimmter Weise angeordnet sind.
Das Ziel ist, Korrelationen zu finden, also auffällig häufige Zusammenhänge. Dazu müssen
Eigenschaften, die Unterschiede aufweisen, in Relation zueinander gebracht werden wie etwa
regelmäßiger Vollzug von Riten und Gefühle der Angst.
Relationen zu nicht-religiösen Eigenschaften können etwa in Hinblick auf physische oder
psychische Gesundheit versus Krankheit untersucht werden oder im sozial-politischen Bereich auf autoritäre versus demokratische Einstellung.



Religiosität kann Gegenstand der Untersuchung sein als Erfahrung, aber auch als Haltung, Verhalten oder Motivation.
Sie kann unter verschiedenen Aspekten betrachtet werden wie: soziale Interaktion,
Kognition oder Symbolbildung.
Es lassen sich Untersuchungsbereiche spezifizieren: in Kindheit und Entwicklung, bei
besonderen Ereignissen wie Eheschließung oder Krankheit, Sterben und Tod sowie im
Kontext von Grunderfahrungen wie Liebe, Angst oder Schuld, aber auch in Bezug auf
„mental disorder“.
Religiosität als „commitment“ in fünf Dimensionen (Mehrdimensionalität):
 religiöse Erfahrung (experiential)




Glaubensüberzeugung (ideological, belief)
Praxis (ritualistic)
Wissen (intellectual)
Konsequenzen für Haltung und Handeln (consequencial).
Stark, Rodney / Glock, Charles Y. (1968), American Piety. The Nature of Religious
Commitment.
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Messen lassen sich:

die Häufigkeit des Vorkommens: Zustimmung-Ablehnung

Einstellungen als Wert, den bestimmte religiöse Indikatoren für die
Untersuchungspersonen haben, die aufgefordert werden, Urteile abzugeben

die Relation zu nicht-religiösen Indikatoren
Normative Voraussetzungen (Prämissen)

stecken in den empirischen Wissenschaften, da diesen die Philosophie des Empirismus
zugrunde liegt;

stecken im psychologischen Konzept, das gewählt wird, und dessen Menschenbild;

stecken im Konstrukt aufgrund der Auswahl von Indikatoren: „Do not forget what you
have decided to neglect“ (Allport, Gordon W. (1968), The Person in Psychology.
Selected Essays, Boston, 271)

können in die Operationalisierung einfließen, wenn die konkreten Fragen die Indikatoren nicht exakt zum Ausdruck bringen (z.B. bei Allport);

können aufgrund des Vorverständnisses der Interpreten in die Interpretation der
Ergebnisse einfließen.
„The type of psychology one choses to follow reflects inevitably one’s philosophical presuppositions about human nature”.
Allport, Gordon W. (1968), The Person in Psychology. Selected Essays, Boston, 23.
Psychologische Modelle
Die Auswahl der Teilbereiche wird vom „verborgenen Menschenbild“ bestimmt:
1. Das physiologische Modell: „sucht speziell nach den Zusammenhängen zwischen dem Verhalten und den Strukturen und Prozessen im zentralen Nervensystem“.
Methode: z.B. elektrische Stimulierung der Hirnareale und Beobachtung der Reaktionen.
Erhard Oeser, Gehirn, Bewußtsein, Erkenntnis, Darmstadt 1988.
2. Das behavioristische Modell: interessiert sich ausschließlich für „das sichtbare Verhalten
und dessen Beziehung zu Reizgegebenheiten in der Umwelt des Individuums“.
Methode: z.B. Suche nach Auslösern und Verstärkungen (wiederholte Erfahrung) in der Biographie.
John B. Watson, B. F. (Burrhus Frederic) Skinner
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3. Das psychodynamische Modell (Tiefenpsychologie): „Menschliches Handeln entspringt ererbten, biologisch festgelegten Trieben und den Versuchen, Konflikte zwischen den persönlichen Bedürfnissen des Individuums und der Forderung der Gesellschaft nach sozial angepaßtem Verhalten zu lösen.“
Methode: z.B. Erhebung von Frustrationen in der Biographie.
Sigmund Freud und die verschiedenen psychoanalytischen Schulen sowie C.G. Jungs Tiefenpsychologie
.
4. Das kognitionspsychologische Modell: geht davon aus, dass das Individuum seine eigene
Interpretation der Welt durch geistige Prozesse konstruiert. Gegenstand der Erforschung sind
die Weisen der Informationsverarbeitung, durch die eine Person „z.B. die Umwelt aktiv nach
jenen Informationen absucht, die sie für eine bestimmte Entscheidung braucht“.
Methode: z.B. Erhebung und Protokollierung von Vorstellungen, Gedanken und Gefühlen in
bestimmten Situationen.
Howard Gardner, Dem Denken auf der Spur: Der Weg der Kognitionswissenschaft, Stuttgart
1989.
5. Das humanistische Modell: nimmt an, dass Menschen weder von Triebkräften noch von
Umweltdeterminanten bestimmt, sondern selbst-aktive Wesen sind, „von Natur aus gut und
fähig, ihren eigenen Weg zu wählen: Selbstverwirklichung als natürliche Selbstentfaltung.
Methode: z.B. Suche nach den die Selbstentfaltung einschränkenden Bedingungen.
Carl. R. Rogers, Abraham Maslow
Zitate aus: Philip G. Zimbardo, Psychologie, Berlin-Heidelberg-New York 61995, 8-15.
Gordon W. Allport: Das I-E-Konzept
Extrinsisch motivierte Religiosität:
-
utilitaristisch: Interesse an Sozialprestige, Geselligkeit, gesellschaftlichen Beziehungen,
Sicherheit,
-
selbstbezügliches (shield for selfcenteredness), zweckbestimmtes, instrumentelles Verhältnis
zur Religion (consensual religion),
-
setzt sich nicht mit den religiösen Lehren auseinander
-
übernimmt herrschende Urteile und Vorurteile.
“The extrinsically motivated individual uses his religion.”
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Intrinsisch motivierte Religiosität:
-
Religion als Leitmotiv des Lebens, um alles mit dem Glauben in Einklang zu bringen,
-
um ihrer selbst willen gelebte Überzeugung (committed religion),
-
setzt sich mit den religiösen Lehren auseinander,
-
vorurteilskritisch.
“The intrisically motivated lives his religion.”
Allport, Gordon W. / Ross Michael J. (1967), Personal Religious Orientation and Prejudice,
in: Journal of Personality and Social Psychology, 5, 432-443.
ergänzt durch (Vierfelder-Typologie/Ralph W. Hood, 1970):
Allgemein proreligiöse Orientierung
„undifferenciated proreligious“: bejahen intrinsische und extrinsische Items
Allgemein antireligiöse Orientierung
„undifferenciated antireligious“: lehnen intrinsische und extrinsische Items ab.
E-Items Nach Allport:
 eine moralische Lebensführung ist wichtiger als das, was ich glaube
 religiöse Motive dürfen meinen Alltag nicht beeinflussen
 der Glaube gibt mir Trost in Schmerz und Unglück und
 führt zu einem glücklichen und friedlichen Leben
Empirische Wissenschaft
(Erfahrungswissenschaft, Tatsachenwissenschaft):
Prämissen



Erfahrung als einzige Quelle des Wissens
Subjekt-Objekt-Trennung
thematische Reduktion: eingeschränkt auf Teilbereiche


methodische Abstraktion: eingeschränkt auf beobachtbar, messbar etc.
erkenntnisleitende Frage nach den empirischen Bedingungen und Gründen des Empirischen
Kausallogik: Ursache-Wirkung-Zusammenhang; Empirisches wird durch anderes Empirisches erklärt
Korrelation: Empirisches wird mit anderem Empirischen in Zusammenhang gebracht


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Methoden




gezielte, planmäßige Beobachtung innerhalb eines Teilbereichs
Protokollierung des Beobachteten: deskriptiv (beschreibend)
Auswertung: klassifizieren, quantifizieren (Statistik), um Gesetzmäßigkeiten bzw. signifikante Zusammenhänge zu erheben
Experiment zum Zwecke des Beweises der Gesetzmäßigkeiten bzw. des Zusammenhangs
unter künstlichen Bedingungen (Labor, Versuchspersonen).
Ziel
Prognostik: Vorhersage von Zusammenhängen, z.B. Verhalten unter bestimmten Bedingungen
Zweck
Verfügbarkeit: Techniken, Training
Leistungen des empirischen Verfahrens:





Kenntnis der Vielfalt konkreter Erfahrungswelten
Anschluss rein begrifflichen Denkens an die phänomenale Welt
schlägt ‘Schneisen’ in die Masse der Phänomene, damit: Reduktion von Komplexität;
macht Prognosen möglich: z.B. Sicherung (Zivilisation) oder Einschätzbarkeit (des Verhaltens).
Anstoß zur Toleranz gegenüber den Erfahrungen anderer
Grenzen des empirischen Verfahrens:
1. Keine Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit von Erfahrung; die Erfahrung ist



jedoch bedingt durch subjektive Voraussetzungen der Beobachtung:
spezifische Aufmerksamkeit;
Interesse, geschichtlich und gesellschaftlich bedingt durch: Biographie, Persönlichkeitsstruktur, Schulzugehörigkeit, ‘Zeitgeist’;
wertende Voreinstellung: Kritik oder Apologetik;
2. Die Frage nach der Bedingung der Möglichkeit von Erfahrung setzt ein ‚Ich’ voraus, das
nicht aus der Erfahrung gewonnen wird:
 Identität des Selbst-Bewusstseins;
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
Begriffsbildung aus der Eigentätigkeit der Vernunft (z.B. Abstraktion, Kausalität);

Gestaltung des Erfahrungsmaterials zum Gegenstand (Subjekt-Objekt-Differenz, nicht
Trennung): Konstrukte;
Praxis: handeln (aus selbst-bewusster Motivation) versus sich verhalten (aufgrund eines
äußeren Wirkungszusammenhangs).

Probleme in der Einschätzung des empirischen Verfahrens:










Verkennen des methodischen Reduktionismus: der Teilaspekt wird zum ‚Ganzen’, wenn
man z.B. das ‚Wesen’ des Menschen von einem einzigen Modell her bestimmt;
Identifikation von Modell und Wirklichkeit als sei das Modell deren vollständige und erschöpfende Darstellung;
unlösbarer Streit der Modelle um ihren Geltungsanspruch, da keine Kriterien der
Entscheidung vorhanden; Lösung durch „dogmatischen Machtspruch“ (Dietrich Benner);
Exaktheit auf Kosten größerer Zusammenhänge (z.B. Naturwissenschaft – Ökologieproblem)
Ausblenden der Identität des Selbst-Bewusstseins: Entfremdung des Menschen von sich
selbst;
Praxis auf Anwendung von erhobenen Gesetzmäßigkeiten bzw. Korrelationen reduziert;
Ausblenden der subjektiven Anteile beim Beobachten, d.h. des eigenen Standpunkts: die
wertende Voreinstellung fließt in das Verfahren ein;
Verwechslung von Tatsache und Wahrscheinlichkeitsurteil;
Identifikation von Wissenschaftlichkeit mit dem empirischen Verfahren;
nicht-empirische Verfahren fallen unter das Verdikt der ‚Weltanschauung’ oder ‚Ideologie’: seien ‚bloß spekulativ’.
Graphische Darstellung der Grenzen der empirischen Arbeitsweise:
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Arno Anzenbacher, Einführung in die Philosophie, Linz 1981, 139.
Transzendent/Transzendenz:
Annahme einer nicht sinnlichen, übernatürlichen Welt jenseits der erfahrbaren Welt.
Transzendental:
Keine Erklärung von Empirischem aus Empirischem, sondern:
Frage nach den Bedingungen der Gegebenheit von Empirischem in den menschlichen Formen
des Erkennens.
„Das Auge kommt im Gesichtsfeld nicht vor, und nichts im Gesichtsfeld weist darauf hin, daß
es von einem Auge gesehen wird. … Wie muß das Auge beschaffen sein, damit ein
Gesichtsfeld möglich ist?“
Arno Anzenbacher, Einführung in die Philosophie, Linz 1981, 139.
Geschichtliche Stationen der Religionspsychologie
USA:
Clark University School, Begründer: Stanley Hall (1844-1924), Schüler Edwin Starbuck
(1866-1947) und James Leuba (1868-1946); William James (1842-1910), Schüler James
Pratt.
Deutschland:
- Würzburger Schule (experimentell): ausgehend von Wilhelm Wundt (1832-1920) Oswald
Külpe (1862-1915), Schüler Karl Girgensohn (1875-1925);
- Dorpater Schule (Estland, bis 1940): Karl Girgensohn, Schüler Werner Gruehn (18871961);
- Wilhelm Stählin (1883-1975): Gründer der „Gesellschaft für Religionspsychologie“
(1914; Wilhelm Keilbach 1961); Publikationsorgan: Archiv für Religionspsychologie.
- Kurt Gins; Dänemark: Villiam Gronbaek;
- Gustav Vorbrodt; Wilhelm Pöll (1965; 1974).
-
Ausgehend von William James: Georg Wobbermin (1869-1943); Karl Beth (Wien).
Psychodynamisch: Sigmund Freud (1856-1939), Carl Gustav Jung (1875-1961)
Skandinavien:
Hjalmar Sundén (Lehrstuhl Uppsala 1967, 1908-1993); Schüler Nils Holm (Abo/Finnland,
1943-), Owe Wikström (Uppsala).
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Belgien: Antoine Vergote (Louvain la Neuve, Institutsvorstand 1961-1987), Schüler JeanMarie Jaspard (Institutsvorstand bis 2001); Dirk Hutsebaut (Leuven).
Niederlande: Jan van der Lans (Nijmegen, 1933-2002); Jacob van Belzen (Amsterdam).
Foren religionspsychologischer Forschung und Diskussion (Auswahl):
Europa:
-
Internationale Gesellschaft für Religionspsychologie: Archiv für Religionspsychologie,
1914 begründet von Wilhelm Stählin, fortgeführt von Werner Gruehn (1928-36) und Wilhelm Keilbach (1961-76); Wahl 2006: Jozef Corveleyn
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Deutsche Gesellschaft für Psychologie, seit 1994: Arbeitskreis für Religionspsychologie
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Cahiers de Psychologie Religieuse (Belgien, seit 1957)
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Societa Italiana di Psicologia della Religione, Varese (Mario Aletti): newsletter
USA:
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American Psychological Association (Division 36), Washington, DC; newsletter
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Society for Scientific Study of Religion (seit 1948): „Journal for the Scientific Study of
Religion“ (seit 1961)
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The Chicago Center for Religion and Science; Zygon: Journal of Religion and Science
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International Journal for the Psychology of Religion
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Journal for Mental Health, Religion and Culture
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International Journal for the Psychology of Religion
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Journal of Religion and Health
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http://www.psywww.com/psyrelig/
Einführung in die Religionspsychologie/ VO/Susanne Heine/ WS 2006/07
16
Kapitel II:
Der Pionier William James
Er ging in einen Ankleideraum, um etwas zu holen, „als plötzlich ohne irgendeine Warnung,
gerade als käme sie aus der Dunkelheit, eine entsetzliche Angst um meine Existenz mich
überfiel. [...] Es war, als gebe der Boden unter mir nach, als schwände etwas bisher Solides in
meiner Brust völlig dahin, und ich wurde zu einer Masse schüttelnder Angst. Nach diesem
Erlebnis war das Universum für mich völlig verändert. Ich wachte Morgen für Morgen mit
einem entsetzlichen Magendruck auf und mit einem Gefühl der Unsicherheit des Lebens, das
ich nie vorher gekannt hatte [...] . Es war wie eine Offenbarung; und obwohl das unmittelbare
Gefühl vorbeiging, hat die Erfahrung mich seither in stete Sympathie mit den morbiden
Gefühlen anderer gebracht. [...] Ich entsinne mich meiner Verwunderung darüber, wie andere
Leute leben konnten, wie ich selbst gelebt habe, so völlig ohne Bewußtsein von der Grube
voller Unsicherheit unter der Oberfläche des Lebens.“
William James, Die Vielfalt religiöser Erfahrung, Frankfurt/Main-Leipzig 1997 (1902), 183f.
Der Gegenstand der Religionspsychologie
Gegenstand: nicht institutionelle, sondern persönliche Religion:
„Ich spreche jetzt nicht von dem Ihnen bekannten Durchschnittsgläubigen, der die konventionellen Gebräuche seines Landes befolgt, sei er Buddhist, Christ oder Mohammedaner. Dessen
Religion ist von anderen Menschen für ihn gemacht worden, sie ist ihm durch Überlieferung
mitgeteilt worden, sie ist dazu bestimmt, durch Nachahmung feste Formen anzunehmen, und
sie wird als Gewohnheit festgehalten. Das Studium dieses religiösen Lebens aus zweiter Hand
würde uns wenig nützen. Vielmehr müssen wir nach den ursprünglichen Erfahrungen suchen
... . Diese Erfahrungen können wir nur bei Individuen finden, für die Religion weniger eine
dumpfe Gewohnheit ist als vielmehr einem heftigen Fieber gleicht. ...
Deshalb werden uns diejenigen Dokumente am meisten beschäftigen, die von Menschen
stammen, die es im religiösen Leben zu besonderer Vollkommenheit gebracht haben und die
am besten in der Lage waren, einen verständlichen Bericht über ihre Vorstellungen und Motive zu geben. …
Einführung in die Religionspsychologie/ VO/Susanne Heine/ WS 2006/07
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Deshalb soll Religion ... für uns bedeuten: die Gefühle, Handlungen und Erfahrungen von
einzelnen Menschen in ihrer Abgeschiedenheit, die von sich selbst glauben, daß sie in Beziehung zum Göttlichen stehen.”
William James, Die Vielfalt religiöser Erfahrung, Frankfurt/Main-Leipzig 1997 (1902), 61,
41/42, 39, 63/64.
James – der Empiriker
„pure experience“: „It is only virtually or potentially either object or subject as yet. For the
time being, it is plain, unqualified actuality, or existence, a simple that. In this naïf immediacy
it is of course valid; it is there, we act upon it; […] but the immediate experience in its
passing is always ‘truth’, practical truth, something to act on, at its own movement.”
William James, Essays in Radical Empiricism, Perry, Ralph Barton, ed., 1947 (1912), 23f.
“Nothing which I can feel like that can be false.”
William James, The Priciples of Psychology, 1998 (1890), Bd. II, 308f.
„James setzt bei dem ein, was er ... ‚reine Erfahrungen’ nennt. Er zeigt, daß wir nicht gezwungen sind, unsere alltägliche Situation, in der wir Dinge und deren kontextuelle Verankerungen wahrnehmen, entlang der Cartesianischen Unterscheidung zwischen ‚res extensa‘ und
‚res cogitans‘ dichotomisch – d.h. durch den Kontrast von ‚wahrnehmendem Bewußtsein‘ und
‚dinglicher Realität‘- aufzuschlüsseln. Diese cartesianische Opposition führt ja, so James, in
nächster Konsequenz in die unauflösbare Frage, wie Objekt und Subjekt einander (emirischkausal? oder ‚transzendental‘?) ‚affizieren‘. James möchte den Gordischen Knoten der neuzeitlichen Philosophie ... durchhauen, indem er die prekäre Dualität von ‚Subjekt‘ und ‚Objekt‘ im Blick auf ein ‚kontinuierliches‘ ... Gefüge von ‚reinen Erfahrungen‘, die in verschiedenen Kontexten verschiedenartig fungieren, zu unterlaufen sucht. ‚The parts of experience
hold together from next to next by relations that are themselves parts of experience.‘ ...
Der Begriff der ‚reinen Erfahrung‘ muß das, was Descartes unter dem Titel ‚denkendes Bewußtsein‘ abhandelte, schon mitenthalten. Die ‚erfahrene‘ Realität ist niemals unrelational‚nackte‘ Realität, sondern immer eine ‚von uns‘ berührte (‚irgendwie beschriebene‘) Realität.
…
Einführung in die Religionspsychologie/ VO/Susanne Heine/ WS 2006/07
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Jedes Erfahrbare hat einen – relational auf ‚uns‘ spezifizierten – speziellen Status von ‚pure
experience‘. Dieser relationale Bezug ... kann freilich, und das ist die zweite Pointe des ‚radikalen Empirismus‘, nicht in einer ‚starken Theorie‘ des Subjekts ‚transzendental‘ erkundet
werden. Denn auch die ‚Anlaufstellen‘ der Erfahrung sind, so James, nur als bewegliche
Kontinuen von ‚pure experiences‘ denkbar.”
Ludwig Nagl, Pragmatismus, Frankfurt/Main-New York 1998, 83, 85, 84.
Die Bibel kann „trotz Irrtümer, Passionen und willkürlicher menschlicher Zusammenstellung
durchaus als Offenbarung gelten ..., solange es ein wahrer Bericht über die inneren Erlebnisse
von offenen Menschen ist, die mit den Herausforderungen des Schicksals kämpfen. …
Die moderne Psychologie hat herausgefunden, daß bestimmte psychophysische Verbindungen
tatsächlich bestehen, und nimmt daher als brauchbare Hypothese an, daß die Abhängigkeit
geistiger Zustände von körperlichen Bedingungen durchgehend und vollständig sein muß. ...
Aber nun frage ich Sie, in welcher Weise kann eine solche, von der Existenz [Genesis] ausgehende Darstellung von Tatsachen der Geistesgeschichte über deren spirituellen Wert [Geltung] entscheiden?“
William James, Die Vielfalt religiöser Erfahrung, Frankfurt/Main-Leipzig 1997 (1902), 39,
40/4, 47.
James- der Pragmatist
Über Genesis und Geltung
„1. Was ist die Natur des Gegenstandes? Wie kam er zustande? Welches ist seine Verfassung,
sein Ursprung, seine Geschichte?“ („Seinsfrage“, „Existenzurteil“)
2. „Was ist die Wertigkeit, die Bedeutung oder der Sinn eines Gegenstandes in seiner jetzigen
Gegebenheit?“ („Werturteil“ oder „spirituelles Urteil“)
Pragmatismus
Einführung in die Religionspsychologie/ VO/Susanne Heine/ WS 2006/07
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Der Wert „religiöser Meinungen ... kann nur durch spirituelle Urteile bestimmt werden; durch
Urteile, die sich primär auf unser eigenes unmittelbares Gefühl stützen und sekundär auf das,
was wir aufgrund ihres Erfahrungszusammenhanges mit unseren moralischen Bedürfnissen
und allem anderen, was wir für wahr halten, bestätigen können.”
Letzter Prüfstein „für den Wahrheitsgehalt einer Anschauung ist nicht ihre Herkunft, sondern
die Art und Weise, wie sie sich auf das Ganze auswirkt. Genau dies ist auch unser empirisches
Kriterium; und letzten Endes sind selbst die hartnäckigsten Verfechter eines übernatürlichen
Ursprungs gezwungen gewesen, dieses Kriterium anzuwenden. Denn unter den Visionen und
Botschaften gab es immer welche, die so offenkundig unsinnig waren, unter den Trancezuständen und Krampfanfällen waren immer welche, die für Verhalten und Charakter so wenig
brauchbar waren, daß sie unmöglich als bedeutungsvoll oder gar als göttlich durchgehen
konnten. ...
Am Ende blieb auch ihnen nur unser empirisches Kriterium: An ihren Früchten sollt ihr sie
erkennen, nicht an ihren Wurzeln.“
William James, Die Vielfalt religiöser Erfahrung, Frankfurt/Main-Leipzig 1997 (1902), 51,
53.
„Das einzig verständliche Motiv der Denkbewegung ist, zu einer festen Überzeugung bzw.
zur Denkruhe zu gelangen. Erst wenn unsere Gedanken über einen Gegenstand in einer Überzeugung zur Ruhe gekommen sind, können wir von einem festen und sicheren Boden aus in
bezug auf diesen Gegenstand tätig werden. Überzeugungen sind, kurz gesagt, Regeln fürs
Handeln; und die ganze Denktätigkeit ist nur ein Schritt bei der Ausbildung aktiver Gewohnheiten. Gäbe es einen Anteil im Denken, der auf die praktischen Konsequenzen des Denkens
keinen Einfluß hätte, gehörte dieser Anteil nicht zu den eigentlichen Bedeutungselementen
des Denkens. …
Die Religion behauptet, daß das, wovon sie berichtet, Erfahrungstatsachen seien. ... Begriffliche Prozesse können diese Tatsachen klassifizieren, definieren, interpretieren; aber sie produzieren sie nicht ... . ... Die Philosophie [und Theologie] bleibt in diesem Bereich eine
sekundäre Tätigkeit, die die Wahrheit des Glaubens nicht rechtfertigen kann. ...
Zu den internen Problemen einer solchen [Religions] Wissenschaft gehört, daß sie an einen
Punkt kommt, an dem sie gezwungen ist, die rein theoretische Haltung niederzulegen und
ihren Knoten entweder ungelöst zu lassen oder durch tätigen Glauben zu zerschlagen.”
Einführung in die Religionspsychologie/ VO/Susanne Heine/ WS 2006/07
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William James, Die Vielfalt religiöser Erfahrung, Frankfurt/Main-Leipzig 1997 (1902),
437/38, 447, 476.
“Der Pragmatismus ist zu allem bereit, er folgt der Logik oder den Sinnen und läßt auch die
bescheidenste und persönlichste Erfahrung gelten. Er würde auch mystische Erfahrungen
gelten lassen, wenn sie praktische Folgen hätten. Als annehmbare Wahrheit gilt ihm einzig
und allein das, was uns am besten führt, was für jeden Teil des Lebens am besten paßt, was
sich mit der Gesamtheit der Erfahrungen am besten vereinigen läßt. Wenn theologische Ideen
das können, wenn speziell der Gottesbegriff sich hierzu bewährt, wie könnte da der
Pragmatismus die Existenz Gottes leugnen. Er könnte gar keinen Sinn darin erblicken, ein
Urteil, das pragmatisch so erfolgreich war, als unwahr zu betrachten.“
William James, Der Pragmatismus. Ein neuer Name für alte Denkmethoden; Übersetzung von
Jerusalem, Wilhelm; Einleitung von Oehler, Klaus, 21994 (1977), 51.
Pragmatismus – Option
„Die Entscheidung ... zwischen zwei Hypothesen, wollen wir eine Option nennen. Es gibt
deren mehrere Arten. Eine Option kann sein:
1. lebendig oder tot;
2. unumgänglich oder vermeidlich;
3. bedeutungsvoll oder unerheblich;“
eine Option ist dann „echt, wenn sie unumgänglich, lebendig und bedeutungsvoll ist“.
William James, Der Wille zum Glauben, in: Ekkehard Martens (Hg.), Pragmatismus.
Ausgewählte Texte, Stuttgart 1975, 129.
Problem des Pragmatismus
Pragmatismus liegt vor, „wo hauptsächlich nach der ethischen Bewährung und Fruchtbarkeit
gefragt wird, die Anwendung ... des Gesichtspunktes des Wertes und Nutzens auf das Gebiet
der religiösen Erfahrung. ...
Was ist denn nun der Kern des Wertes, des Erfolges, der Verwendbarkeit? Was macht das
Wesen dieses Wertes aus? Wer sagt uns, was heilsam, nützlich, gut, gesund, förderlich ist,
was ‘gute Folgen’ sind? Um das zu erfahren und zu eruieren, muß man doch darüber im KlaEinführung in die Religionspsychologie/ VO/Susanne Heine/ WS 2006/07
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ren sein, was das Ziel des Handelns ist, sonst lässt sich der Wert eines Dinges als eines Mittels
zum Ziele nicht bestimmen.”
Adolf Frey, Eine Untersuchung über die Bedeutung der empirischen Religionspsychologie für
die Glaubenslehre, Leiden 1911, 17; 22.
James – der Ontologe
„This self is the true, the intimate, the ultimate, the permanent Me which I seek. This judge is
God, the Absolute Mind, the ‚Great Companion‘. [...] The impulse to pray is a necessary
consequence of the fact that whilst the innermost of the empirical selves of a man is a Self of
the social sort, it yet can find its only adequate Socius in an ideal world.“
William James, The Priciples of Psychology, 1998 (1890), Bd. I, 315f.
„Ich möchte deshalb die Hypothese aufstellen, daß das ‚MEHR‘, mit dem wir uns in der religiösen Erfahrung verbunden fühlen, was immer es auf der uns abgewandten Seite sein mag,
auf der uns zugewandten Seite die unterbewußte Fortsetzung [das „unterbewußte Selbst“]
unseres bewußten Lebens ist. ... Gleichzeitig bleibt die Ansicht der Theologen gewahrt, der
religiöse Mensch werde von einer äußeren Macht bewegt, denn es gehört zu den Eigentümlichkeiten von Einbrüchen aus der unterbewußten Region, daß sie eine objektive Erscheinung
annehmen und dem Betroffenen eine Einflußnahme von außen suggerieren. …
Was aber in einer anderen Realität Wirkungen hervorbringt, muß selbst eine Wirklichkeit
genannt werden; deshalb halte ich es für philosophisch unentschuldbar, die unsichtbare oder
mystische Welt unwirklich zu nennen. ...
Gott ist wirklich, weil er etwas Wirkliches hervorbringt. ... Die wirkliche Welt ist sicher von
einem anderen Schlag – viel raffinierter gebaut, als es die Naturwissenschaft erlaubt.“
„Würde man gebeten, das religiöse Leben in den denkbar weitesten und allgemeinsten Begriffen zu charakterisieren, so könnte man sagen, es bestehe in der Überzeugung, daß es eine unsichtbare Ordnung gibt und daß unser höchstes Gut in einer harmonischen Anpassung an
diese liegt. Diese Überzeugung und diese Anpassung machen die religiöse Geisteshaltung
aus.“
William James, Die Vielfalt religiöser Erfahrung, Frankfurt/Main-Leipzig 1997 (1902), 491,
492, 493, 496, 85.
Einführung in die Religionspsychologie/ VO/Susanne Heine/ WS 2006/07
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Für eine religiöse Geisteshaltung ist weiter charakteristisch,
-
dass die Anpassung ein Prozess ist, „in dem etwas Wirkliches geschieht, durch den
spirituelle Energie in die Erscheinungswelt einfließt und dort psychologische und
materielle Wirkungen hervorbringt“,
-
dass ein „neuer Geschmack am Leben“ entsteht, „der diesem wie ein Geschenk
beigegeben wird“,
-
„ein Gefühl von Geborgenheit und eine friedliche Grundstimmung sowie überwiegend
liebevolle Empfindungen gegenüber den Mitmenschen“.
„Die Theorien, die die Religion erzeugt, sind, weil sie so variabel sind, sekundär; wenn man
ihr Wesen zu erfassen sucht, muß man sich die konstanteren Elemente des Gefühls und des
Verhaltens anschauen.“
William James, Die Vielfalt religiöser Erfahrung, Frankfurt/Main-Leipzig 1997 (1902), 85,
473, 484/85.
Zur Differenz von Religion und Moral
„Religion ist, was immer sie noch sein mag, die Gesamtreaktion eines Menschen auf das
Leben. ...
Reine Moralität akzeptiert das herrschende Gesetz des Ganzen zwar insofern, daß sie es anerkennt und ihm gehorcht, aber sie gehorcht ihm möglicherweise mit dem schwersten und kältesten Herzen und wird niemals aufhören, es als Joch zu empfinden. In einer starken und ausgebildeten Religion wird dagegen der Dienst am Höchsten niemals als Joch empfunden. ...
Die anima mundi, der der Stoiker die Verfügungsgewalt über sein persönliches Schicksal zubilligt, verlangt Respekt und Unterwerfung, der christliche Gott dagegen will geliebt werden.
...
Es gibt einen Bewußtseinszustand, den ausschließlich religiöse Menschen kennen, in dem an
die Stelle unseres Selbstbestätigungs- und Selbstbehauptungswillens die Bereitschaft tritt, zu
verstummen und zu einem Nichts zu werden in den Fluten und Orkanen Gottes. In diesem
Bewußtseinszustand wird das, was wir am meisten gefürchtet haben, zum sicheren Hort, und
die Todesstunde unserer Moral wird zur Geburtsstunde unserer Spiritualität. ... Wenn Sie
mich fragen, wie die Religion das macht, ... kann ich nicht erklären, denn das ist das GeheimEinführung in die Religionspsychologie/ VO/Susanne Heine/ WS 2006/07
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nis der Religion, und um das zu verstehen, muß man selbst ein religiöser Mensch besonderen
Kalibers gewesen sein.“
William James, Die Vielfalt religiöser Erfahrung, Frankfurt/Main-Leipzig 1997 (1902), 67,
74, 75, 82
Einführung in die Religionspsychologie/ VO/Susanne Heine/ WS 2006/07
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Kapitel III:
Das psychodynamische Modell
III, 1
Psychoanalyse: Sigmund Freud
a) Voraussetzungen der psychoanalytischen Theoriebildung
„Zunächst von seiten der Physiologie: Diese hat uns den Begriff des Reizes und das Reflexschema gegeben, demzufolge ein von außen her an das lebende Gewebe (der Nervensubstanz)
gebrachter Reiz durch Aktion nach außen abgeführt wird. Diese Aktion wird dadurch zweckmäßig, daß sie die gereizte Substanz der Einwirkung des Reizes entzieht, aus dem Bereich der
Reizwirkung entrückt. ...
Der Triebreiz stammt nicht aus der Außenwelt, sondern aus dem Inneren des Organismus
selbst. Er wirkt darum auch anders auf das Seelische und erfordert zu seiner Beseitigung andere Aktionen. ... Der Trieb hingegen wirkt nie wie eine momentane Stoßkraft, sondern immer wie eine konstante Kraft. Da er nicht von außen, sondern vom Körperinneren her angreift, kann auch keine Flucht gegen ihn nützen. Wir heißen den Triebreiz besser 'Bedürfnis';
was dieses Bedürfnis aufhebt, ist die ‚Befriedigung’. ...
Das Nervensystem ist ein Apparat, dem die Funktion erteilt ist, die anlangenden Reize wieder
zu beseitigen, auf möglichst niedriges Niveau herabzusetzen, oder der, wenn es nur möglich
wäre, sich überhaupt reizlos erhalten wollte. ...
Wenn wir dann finden, daß die Tätigkeit auch der höchstentwickelten Seelenapparate dem
Lustprinzip unterliegt, d.h. durch Empfindungen der Lust-Unlustreihe automatisch reguliert
wird, so können wir die weitere Voraussetzung schwerlich abweisen, daß diese Empfindungen die Art, wie die Reizbewältigung vor sich geht, wiedergeben. Sicherlich in den Sinne, daß
die Unlustempfindung mit Steigerung, die Lustempfindung mit Herabsetzung des Reizes zu
tun hat. ...
Wenden wir uns nun von der biologischen Seite her der Betrachtung des Seelenlebens zu, so
erscheint uns der 'Trieb' als ein Grenzbegriff zwischen Seelischem und Somatischen, als psychischer Repräsentant der aus dem Körperinneren stammenden, in die Seele gelangenden
Einführung in die Religionspsychologie/ VO/Susanne Heine/ WS 2006/07
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Reize, als ein Maß der Arbeitsanforderung, die dem Seelischen infolge seines Zusammenhangs mit dem Körperlichen auferlegt ist. ...
... obwohl die Herkunft aus der somatischen Quelle das schlechtweg Entscheidende für den
Trieb ist, wird er uns im Seelenleben doch nicht anders als durch seine Ziele bekannt. ... Das
Objekt des Triebes ist dasjenige, an welchem oder durch welches der Trieb sein Ziel erreichen
kann. Es ist das variabelste am Triebe, nicht ursprünglich mit ihm verknüpft, sondern ihm nur
infolge seiner Eignung zur Ermöglichung der Befriedigung zugeordnet. ...
Die Beobachtung lehrt uns als solche Triebschicksale folgende kennen: Die Verkehrung ins
Gegenteil. Die Wendung gegen die eigene Person. Die Verdrängung. Die Sublimierung.“
Sigmund Freud, Triebe und Triebschicksale (Metapsychologische Schriften, 1915),
Studienausgabe Bd. III, 81ff.
bewußt (bw) - vorbewußt (vbw) - unbewußt (ubw):
„Bewußtsein ist zunächst ein rein deskriptiver Terminus, der sich auf die unmittelbarste und
sicherste Wahrnehmung beruft. Die Erfahrung zeigt uns dann, daß ein psychisches Element,
zum Beispiel eine Vorstellung, gewöhnlich nicht dauernd bewußt ist. ... die jetzt bewußte
Vorstellung ist es im nächsten Moment nicht mehr, allein sie kann es unter gewissen leicht
hergestellten Bedingungen wieder werden. ... Wir sehen aber, daß wir zweierlei Unbewußtes
haben, das latente, doch bewußtseinsfähige, und das Verdrängte, an sich und ohne weiteres
nicht bewußtseinsfähige.“
Freud, Sigmund (1923), Das Ich und das Es, Studienausgabe, Bd. III, 283.
b) Das Instanzenmodell: Es, Ich, Über-Ich
Das Es
„Ein Individuum ist nun für uns ein psychisches Es, unerkannt und unbewußt, diesem sitzt das
Ich oberflächlich auf, aus dem W-System als Kern entwickelt. ... Das Ich ist vom Es nicht
scharf getrennt, es fließt nach unten hin mit ihm zusammen. ... Das Verdrängte ist nur vom
Ich durch die Verdrängungswiderstände scharf geschieden, durch das Es kann es mit ihm
kommunizieren. ...
Einführung in die Religionspsychologie/ VO/Susanne Heine/ WS 2006/07
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Es ist leicht einzusehen, das Ich ist der durch den direkten Einfluß der Außenwelt unter Vermittlung von W-Bw veränderte Teil des Es, gewissermaßen eine Fortsetzung der Oberflächendifferenzierung. Es bemüht sich auch, den Einfluß der Außenwelt auf das Es und seine
Absichten zur Geltung zu bringen, ist bestrebt, das Realitätsprinzip an die Stelle des Lustprinzips zu setzen, welches im Es uneingeschränkt regiert. Die Wahrnehmung spielt für das Ich
die Rolle, welche im Es dem Trieb zufällt. Das Ich repräsentiert, was man Vernunft und Besonnenheit nennen kann, im Gegensatz zum Es, welches die Leidenschaften enthält.“
Sigmund Freud, Das Ich und das Es (1923), Studienausgabe Bd. III, 283, 284, 292, 293f.
Sigmund Freud, Das Ich und das Es, Studienausgabe (1923), Bd. III, 293.
Das Ich
„Man könnte das Verhältnis des Ichs zum Es mit dem des Reiters zu seinem Pferd vergleichen. Das Pferd gibt die Energie für die Lokomotion her, der Reiter hat das Vorrecht, das Ziel
zu bestimmen, die Bewegung des starken Tieres zu leiten. Aber zwischen Ich und Es ereignet
sich allzu häufig der nicht ideale Fall, daß der Reiter das Roß dahin führen muß, wohin es
selbst gehen will.
Das arme Ich ... dient drei gestrengen Herrn, ist bemüht, deren Ansprüche und Forderungen in
Einklang miteinander zu bringen. Diese Ansprüche gehen immer auseinander, scheinen oft
Einführung in die Religionspsychologie/ VO/Susanne Heine/ WS 2006/07
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unvereinbar zu sein; kein Wunder, wenn das Ich so oft an seiner Aufgabe scheitert. Die drei
Zwingherrn sind die Außenwelt, das Über-Ich und das Es. ... Wenn das Ich seine Schwäche
einbekennen muß, bricht es in Angst aus, Realangst vor der Außenwelt, Gewissensangst vor
dem Über-Ich, neurotische Angst vor der Stärke der Leidenschaften im Es.“
Sigmund Freud, 31. Vorlesung (auf der Basis von 'Das Ich und das Es' von 1923),
Studienausgabe Bd. I, 514, 515.
Das Über-Ich (Ichideal)
„Es war uns gelungen, das schmerzhafte Leiden der Melancholie durch die Annahme
aufzuklären, daß ein verlorenes Objekt im Ich wiederaufgerichtet, also eine Objektbesetzung
durch eine Identifizierung abgelöst wird. ...
Vielleicht ist diese Identifizierung überhaupt die Bedingung, unter der das Es seine Objekte
aufgibt. Jedenfalls ist der Vorgang zumal in frühen Entwicklungsphasen ein sehr häufiger und
kann die Auffassung ermöglichen, daß der Charakter des Ichs ein Niederschlag der aufgegebenen Objektbesetzungen ist, die Geschichte dieser Objektwahlen enthält. ...
Nun, da wir uns an die Analyse des Ichs heranwagen, können wir all denen, welche, in ihrem
sittlichen Bewußtsein erschüttert, geklagt haben, es muß doch ein Höheres Wesen im Menschen geben, antworten: 'Gewiß, und dies ist das höhere Wesen, das Ichideal oder Über-Ich,
die Repräsentanz unserer Elternbeziehung. Als kleine Kinder haben wir diese höheren Wesen
gekannt, bewundert, gefürchtet, später in uns selbst aufgenommen.“
Sigmund Freud, Das Ich und das Es (1923), Studienausgabe, Bd. III, 296, 297, 303.
„Die Grundlage dieses Vorgangs ist eine sogenannte Identifizierung, d.h. eine Angleichung
eines Ichs an ein fremdes, in deren Folge dies erste Ich sich in bestimmten Hinsichten so benimmt wie das andere, es nachahmt, gewissermaßen in sich aufnimmt. ... Die Identifizierung
ist eine sehr wichtige Form der Bindung an die andere Person, wahrscheinlich die ursprünglichste, nicht dasselbe wie eine Objektwahl.“
Sigmund Freud, 31. Vorlesung, Studienausgabe Bd. I, 501.
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Walter J. Schraml, Einführung in die Tiefenpsychologie für Pädagogen und Sozialpädagogen,
6
1976 (1968), 110.
Neurose und Psychose
„Die gemeinsame Ätiologie für den Ausbruch einer Psychoneurose oder Psychose bleibt immer die Versagung, die Nichterfüllung eines jener unbezwungenen Kindheitswünsche, die so
tief in unserer phylogenetisch bestimmten Organisation wurzeln. Diese Versagung ist im
letzten Grunde immer eine äußere. ... Der pathogene Effekt hängt nun davon ab, ob das Ich in
solcher Konfliktspannung seiner Abhängigkeit von der Außenwelt treu bleibt und das Es zu
knebeln versucht oder ob es sich vom Es überwältigen und damit von der Realität losreißen
läßt. ...
Die Übertragungsneurose [= Hysterie- Angst- und Zwangsneurose] entspricht dem Konflikt
zwischen Ich und Es, die narzißtische Neurose dem zwischen Ich und Über-Ich, die Psychose
dem zwischen Ich und Außenwelt. ...
Die Übertragungsneurosen entstehen nach dem Ergebnis aller unserer Analysen dadurch, daß
das Ich eine im Es mächtige Triebregung nicht aufnehmen und nicht zur motorischen Erledigung befördern will oder ihr das Objekt bestreitet, auf das sie zielt. Das Ich erwehrt sich ihrer
dann durch den Mechanismus der Verdrängung; das Verdrängte sträubt sich gegen dieses
Schicksal, schafft sich auf Wegen, über die das Ich keine Macht hat, eine Ersatzvertretung,
die sich dem Ich auf dem Wege des Kompromisses aufdrängt, das Symptom; das Ich findet
seine Einheitlichkeit durch diesen Eindringling bedroht und geschädigt, setzt den Kampf geEinführung in die Religionspsychologie/ VO/Susanne Heine/ WS 2006/07
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gen das Symptom fort, wie es sich gegen die ursprüngliche Triebregung gewehrt hatte, und
dies alles ergibt das Bild der Neurose.“
Sigmund Freud, Neurose und Psychose (1923), Studienausgabe Bd. III, 335, 336, 333f.
c) Religion als Zwangshandlung
Methodologische Anmerkung
„Wir haben oftmals die Forderung vertreten gehört, daß eine Wissenschaft über klaren und
scharf definierten Grundbegriffen aufgebaut sein soll. In Wirklichkeit beginnt keine Wissenschaft mit solchen Definitionen, auch die exaktesten nicht. Der richtige Anfang der wissenschaftlichen Tätigkeit besteht vielmehr in der Beschreibung von Erscheinungen, die dann
weiterhin gruppiert, angeordnet und in Zusammenhänge eingetragen werden. Schon bei der
Beschreibung kann man es nicht vermeiden, gewisse abstrakte Ideen auf das Material anzuwenden, die man irgendwoher, gewiß nicht aus der neuen Erfahrung allein, herbeiholt.“
Sigmund Freud, Triebe und Triebschicksale (Metapsychologische Schriften, 1915),
Studienausgabe Bd. III, 81.
„Ich bin gewiß nicht der erste, dem die Ähnlichkeit der sogenannten Zwangshandlungen
Nervöser mit den Verrichtungen aufgefallen ist, durch welche der Gläubige seine Frömmigkeit bezeugt. Der Name ‘Zeremoniell’ bürgt mir dafür, mit dem man gewisse dieser Zwangshandlungen belegt hat. Doch scheint mir diese Ähnlichkeit eine mehr als oberflächliche zu
sein, so daß man aus einer Einsicht in die Entstehung des neurotischen Zeremoniells Analogieschlüsse auf die seelischen Vorgänge des religiösen Lebens wagen dürfte. ...
Die Analyse der Zwangshandlungen hat uns bereits eine Art von Einsicht in die Verursachung
derselben und in die Verkettung der für sie maßgebenden Motive ermöglicht. Man kann sagen, der an Zwang und Verboten Leidende benimmt sich so, als stehe er unter der Herrschaft
eines Schuldbewußtseins, von dem er allerdings nichts weiß ... . Dies Schuldbewußtsein hat
seine Quelle in gewissen frühzeitigen Seelenvorgängen, findet aber eine beständige Auffrischung in der bei jedem rezenten Anlaß erneuerten Versuchung und läßt andererseits eine
immer lauernde Erwartungsangst, Unheilserwartung, entstehen, die durch den Begriff der
Einführung in die Religionspsychologie/ VO/Susanne Heine/ WS 2006/07
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Bestrafung an die innere Wahrnehmung der Versuchung geknüpft ist. Zu Beginn der Zeremoniellbildung wird dem Kranken noch bewußt, daß er dies oder jenes tun müsse, sonst werde
Unheil geschehen ... . Der jedesmal nachweisbare Zusammenhang zwischen dem Anlasse, bei
dem die Erwartungsangst auftritt, und dem Inhalte, mit dem sie droht, ist dem Kranken bereits
verhüllt. Das Zeremoniell beginnt so als Abwehr- oder Versicherungshandlung,
Schutzmaßregel.
Dem Schuldbewußtsein der Zwangsneurotiker entspricht die Beteuerung der Frommen, sie
wüßten, daß sie im Herzen arge Sünder seien; den Wert von Abwehr- und Schutzmaßregeln
scheinen die frommen Übungen (Gebete, Anrufungen usw.) zu haben, mit denen sie jede Tätigkeit des Tages und zumal jede außergewöhnliche Unternehmung einleiten.“
Die zugrunde liegende Tatsache „ist allemal die Verdrängung einer Triebregung. ... Auch der
Religionsbildung scheint die Unterdrückung, der Verzicht auf gewisse Triebregungen
zugrunde zu liegen; es sind aber nicht wie bei der Neurose ausschließlich sexuelle Komponenten, sondern eigensüchtige sozialschädliche Triebe, denen übrigens ein sexueller Beitrag
meist nicht versagt ist.
Nach diesen Übereinstimmungen und Analogien könnte man sich getrauen, die Zwangsneurose als pathologisches Gegenstück zur Religionsbildung aufzufassen, die Neurose als eine
individuelle Religiosität, die Religion als eine universelle Zwangsneurose zu bezeichnen. ...
Ein fortschreitender Verzicht auf konstitutionelle Triebe ... scheint eine der Grundlagen der
menschlichen Kulturentwicklung zu sein. Ein Stück dieser Triebverdrängung wird von den
Religionen geleistet, indem sie den einzelnen seine Trieblust der Gottheit zum Opfer bringen
lassen.“
Sigmund Freud, Zwangshandlungen und Religionsübungen (1907), Studienausgabe, Bd. VII,
12-21 (Hervorhebungen von Freud).
d)
Religion als Illusion
Freuds Kulturtheorie
„Es ist merkwürdig, daß die Menschen, so wenig sie auch in der Vereinzelung existieren können, doch die Opfer, welche ihnen von der Kultur zugemutet werden, um ein Zusammenleben
zu ermöglichen, als schwer drückend empfinden. Die Kultur muß also gegen den Einzelnen
Einführung in die Religionspsychologie/ VO/Susanne Heine/ WS 2006/07
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verteidigt werden, und ihre Einrichtungen, Institutionen und Gebote stellen sich in den Dienst
dieser Aufgabe. ... Es scheint vielmehr, daß sich jede Kultur auf Zwang und Triebverzicht
aufbauen muß; ... Man hat, meine ich, mit der Tatsache zu rechnen, daß bei allen Menschen
destruktive, also antisoziale und antikulturelle Tendenzen vorhanden sind und daß diese bei
einer grossen Anzahl von Personen stark genug sind, um ihr Verhalten in der menschlichen
Gesellschaft zu bestimmen.
... es sind zwei weitverbreitete Eigenschaften der Menschen, die es verschulden, daß die
kulturellen Einrichtungen nur durch ein gewisses Maß von Zwang gehalten werden können,
nämlich daß sie spontan nicht arbeitslustig sind und daß Argumente nichts gegen ihre Leidenschaften vermögen. ...
Einer gleichförmigen Ausdrucksweise zuliebe wollen wir die Tatsache, daß ein Trieb nicht
befriedigt werden kann, Versagung, die Einrichtung, die diese Versagung festlegt, Verbot,
und den Zustand, den das Verbot herbeiführt, Entbehrung nennen.“ Mit den Verboten „hat die
Kultur die Ablösung vom animalischen Urzustand begonnen vor unbekannt wie vielen Tausenden von Jahren“.
„Die Triebwünsche ... werden mit jedem Kind von neuem geboren ... . Es liegt in der Richtung unserer Entwicklung, daß äußerer Zwang allmählich verinnerlicht wird, indem eine besondere seelische Instanz, das Über-Ich des Menschen, ihn unter seine Gebote aufnimmt. Jedes Kind führt uns den Vorgang einer solchen Umwandlung vor, wird erst durch sie moralisch
und sozial. Diese Erstarkung des Über-Ichs ist ein höchst wertvoller psychologischer Kulturbesitz.“
Die ältesten Verbote sind nach Freud: Inzest, Kannibalismus und Mordlust.
„Unendlich viele Kulturmenschen, die vor Mord oder Inzest zurückschrecken würden, versagen sich nicht die Befriedigung ihrer Habgier, ihrer Aggressionslust, ihrer sexuellen Gelüste,
unterlassen es nicht, den anderen durch Lüge, Betrug, Verleumdung zu schädigen, wenn sie
dabei straflos bleiben können, und das war wohl seit vielen kulturellen Zeitaltern immer
ebenso. ...
Einführung in die Religionspsychologie/ VO/Susanne Heine/ WS 2006/07
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Wie für die Menschen im ganzen, so ist für den Einzelnen das Leben schwer zu ertragen. Ein
Stück Entbehrung legt ihm die Kultur auf, an der er teilhat, ein Maß Leiden bereiten ihm die
anderen Menschen, entweder trotz der Kulturvorschriften oder infolge der Unvollkommenheit
dieser Kultur. Dazu kommt, was ihm die unbezwungene Natur - er nennt es Schicksal - an
Schädigung zufügt. ... Die Aufgabe ist hier eine mehrfache, das schwer bedrohte Selbstwertgefühl des Menschen verlangt nach Trost, der Welt und dem Leben sollen ihre Schrecken
genommen werden ... .“
Sigmund Freud, Die Zukunft einer Illusion, Studienausgabe Bd. IX, 140,141, 142, 144, 145,
146, 150.
Über die Entstehung von Religion
„... diese Situation ist nichts Neues, sie hat ein infantiles Vorbild, ... denn in solcher Hilflosigkeit hatte man sich schon einmal befunden, als kleines Kind einem Elternpaar gegenüber, das
man Grund hatte zu fürchten, zumal den Vater, dessen Schutzes man aber auch sicher war
gegen die Gefahren, die man damals kannte. ...
Göttliche Aufgabe wird es nun, die Mängel und Schäden der Kultur auszugleichen, die Leiden
in acht zu nehmen, die die Menschen im Zusammenleben einander zufügen, über die Ausführung der Kulturvorschriften zu wachen, die die Menschen so schlecht befolgen. ... So wird ein
Schatz aus Vorstellungen geschaffen, geboren aus dem Bedürfnis, die menschliche Hilflosigkeit erträglich zu machen, erbaut aus dem Material der Erinnerungen an die Hilflosigkeit der
eigenen und der Kindheit des Menschengeschlechts. ...Wenn nun der Heranwachsende merkt,
daß es ihm bestimmt ist, immer ein Kind zu bleiben, daß er des Schutzes gegen fremde
Übermächte nie entbehren kann, verleiht er diesen die Züge der Vatergestalt, er schafft sich
die Götter, vor denen er sich fürchtet, die er zu gewinnen sucht und denen er doch seinen
Schutz überträgt.“
Sigmund Freud, Die Zukunft einer Illusion, Studienausgabe Bd. IX, 151, 152, 158.
Wunscherfüllungen
„Diese, die sich als Lehrsätze ausgeben, sind nicht Niederschläge der Erfahrung oder
Endresultate des Denkens, es sind Illusionen, Erfüllungen der ältesten, stärksten, dringendsten
Wünsche der Menschheit; das Geheimnis ihrer Stärke ist die Stärke ihrer Wünsche. ...
(vgl. Ludwig Feuerbach)
Einführung in die Religionspsychologie/ VO/Susanne Heine/ WS 2006/07
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Eine Illusion ist nicht dasselbe wie ein Irrtum, sie ist auch nicht notwendig ein Irrtum. ... Für
die Illusion bleibt charakteristisch die Ableitung aus menschlichen Wünschen, sie nähert sich
in dieser Hinsicht der psychiatrischen Wahnidee, aber sie scheidet sich ... auch von dieser. ...
Wir heißen also einen Glauben eine Illusion, wenn sich in seiner Motivierung die
Wunscherfüllung vordrängt, und sehen dabei von seinem Verhältnis zur Wirklichkeit ab,
ebenso wie die Illusion selbst auf ihre Beglaubigung verzichtet. ...
Wer sich einmal dazu gebracht hat, alle die Absurditäten, die die religiösen Lehren ihm zutragen, ohne Kritik hinzunehmen und selbst die Widersprüche zwischen ihnen zu übersehen,
dessen Denkschwäche braucht uns nicht arg zu verwundern. Nun haben wir aber kein anderes
Mittel zur Beherrschung unserer Triebhaftigkeit als unsere Intelligenz. Wie kann man von
Personen, die unter der Herrschaft von Denkverboten stehen, erwarten, daß sie das psychologische Ideal, den Primat der Intelligenz, erreichen werden? ...
Aber ich will meinen Eifer mäßigen und die Möglichkeit zugestehen, daß auch ich einer
Illusion nachjage. Vielleicht ist die Wirkung des religiösen Denkverbots nicht so arg, wie
ich’s annehme, vielleicht stellt es sich heraus, daß die menschliche Natur dieselbe bleibt, auch
wenn man die Erziehung nicht zur Unterwerfung unter die Religion mißbraucht.“
Fällt der Versuch, eine irreligiöse Erziehung zu unternehmen, unbefriedigend aus, „so bin ich
bereit ... zum früheren, rein deskriptiven Urteil zurückzukehren: Der Mensch ist ein Wesen
von schwacher Intelligenz, das von seinen Triebwünschen beherrscht wird. ...
Selbst wenn man es wüßte und beweisen könnte, daß die Religion nicht im Besitz der Wahrheit ist, müßte man es verschweigen und sich so benehmen, wie es die Philosophie des ‚Als
ob’ verlangt. Im Interesse der Erhaltung aller! ...
Es ist ein praktisches Problem, nicht eine Frage des Realitätswerts. ... Angesichts der
Schwierigkeiten, etwas von der Realität zu erkennen, ... wollen wir doch nicht übersehen, daß
auch die menschlichen Bedürfnisse ein Stück der Realität sind, ... das uns besonders nahe
angeht.“
Sigmund Freud, Die Zukunft einer Illusion, Studienausgabe Bd. IX, 164f., 165, 181f., 169,
185.
Einführung in die Religionspsychologie/ VO/Susanne Heine/ WS 2006/07
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„Es kommt darauf an, wieviel reale Befriedigung er von der Außenwelt zu erwarten hat und
inwieweit er veranlaßt ist, sich von ihr unabhängig zu machen; zuletzt auch, wieviel Kraft er
sich zutraut, diese nach seinen Wünschen abzuändern.
Das Leben wie es uns auferlegt ist, ist zu schwer für uns, es bringt uns zuviel Schmerzen, Enttäuschungen, unlösbare Aufgaben. Um es zu ertragen, können wir der Linderungsmittel nicht
entbehren. ... Solcher Mittel gibt es vielleicht dreierlei: mächtige Ablenkungen, die uns unser
Elend gering schätzen lassen. Ersatzbefriedigungen, die es verringern, Rauschstoffe, die uns
für dasselbe unempfindlich machen. ... Ersatzbefriedigungen, wie die Kunst (= eine 'milde
Narkose', 212) sie bietet, sind gegen die Realität Illusionen, darum nicht minder psychisch
wirksam ... .“
Sigmund Freud, Das Unbehagen in der Kultur (1930), Studienausgabe Bd. IX, 215, 207.
„Vielleicht braucht der, der nicht an der Neurose leidet, auch keine Intoxikation, um sie zu
betäuben. Gewiß wird der Mensch sich dann in einer schwierigen Situation befinden, er wird
sich seine ganze Hilflosigkeit, seine Geringfügigkeit im Getriebe der Welt eingestehen müssen, nicht mehr der Mittelpunkt der Schöpfung, nicht mehr das Objekt zärtlicher Fürsorge
einer gütigen Vorsehung. ... Man darf das ‘die Erziehung zur Realität’ heißen, brauche ich
ihnen noch zu verraten, daß es die einzige Absicht meiner Schrift ist, auf die Notwendigkeit
dieses Fortschritts aufmerksam zu machen?
Und was die großen Schicksalsnotwendigkeiten betrifft, gegen die es eine Abhilfe nicht gibt,
die wird er eben mit Ergebung ertragen lernen. Was soll ihm die Vorspiegelung eines Großgrundbesitzes auf dem Mond, von dessen Ertrag doch noch nie jemand etwas gesehen hat.“
Einwand des imaginären Kritikers:
„Angesichts der Schwierigkeiten, etwas von der Realität zu erkennen, ja der Zweifel, ob dies
überhaupt möglich ist, wollen wir doch nicht übersehen, daß auch die menschlichen Bedürfnisse ein Stück der Realität sind, und zwar ein wichtiges, eines, das uns besonders nahe angeht.“
Antwort Freud:
„Ich weiß, wie schwer es ist, Illusionen zu vermeiden; vielleicht sind auch die Hoffnungen, zu
denen ich mich bekannt, illusorischer Natur. Aber einen Unterschied halte ich fest. Meine
Einführung in die Religionspsychologie/ VO/Susanne Heine/ WS 2006/07
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Illusionen - abgesehen davon, daß keine Strafe darauf steht, sie nicht zu teilen - sind nicht
unkorrigierbar wie die religiösen, haben nicht den wahnhaften Charakter. ...
Wir mögen noch so oft betonen, der menschliche Intellekt sei kraftlos im Vergleich zum
menschlichen Triebleben, und recht damit haben. Aber es ist doch etwas Besonderes um diese
Schwäche; die Stimme des Intellekts ist leise, aber sie ruht nicht, ehe sie sich Gehör geschafft
hat. Am Ende, nach unzählig wiederholten Abweisungen, findet sie es doch. Dies ist einer der
wenigen Punkte, in denen man für die Zukunft der Menschheit optimistisch sein darf. ... auf
die Dauer kann der Vernunft und der Erfahrung nichts widerstehen, und der Widerspruch der
Religion gegen beide ist allzu greifbar.
Wir glauben daran, daß es der wissenschaftlichen Arbeit möglich ist, etwas über die Realität
der Welt zu erfahren, wodurch wir unsere Macht steigern und wonach wir unser Leben einrichten können. Wenn dieser Glaube eine Illusion ist, dann sind wir in derselben Lage wie
Sie, aber die Wissenschaft hat uns durch zahlreiche und bedeutsame Erfolge den Beweis erbracht, daß sie keine Illusion ist. ...
Nein, unsere Wissenschaft ist keine Illusion. Eine Illusion aber wäre es zu glauben, daß wir
anderswoher bekommen könnten, was sie uns nicht geben kann.“
Sigmund Freud, Die Zukunft einer Illusion, Studienausgabe Bd. IX, 182, 183, 185f., 187, 188,
189.
e) Der „Mann Mose“
„Wir bemerken jetzt, daß der Schatz der religiösen Vorstellungen nicht allein Wunscherfüllungen enthält, sondern auch bedeutsame historische Reminiszenzen.“
Sigmund Freud, Die Zukunft einer Illusion, Studienausgabe Bd. IX, 176.
„Ich habe seit damals [‚Totem und Tabu’, 1912] nicht mehr bezweifelt, daß die religiösen
Phänomene nur nach dem Muster der uns vertrauten neurotischen Symptome des Individuums
zu verstehen sind, als Wiederkehr von längst vergessenen, bedeutsamen Vorgängen in der
Urgeschichte der menschlichen Familie, daß sie ihren zwanghaften Charakter eben diesem
Ursprung verdanken und also kraft ihres Gehalts an historischer Wahrheit auf die Menschen
einwirken (507) …
Einführung in die Religionspsychologie/ VO/Susanne Heine/ WS 2006/07
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Die Konstruktion geht von einer Angabe Ch. Darwins aus ... . Sie besagt, daß in Urzeiten der
Urmensch in kleinen Horden lebte, jede unter der Herrschaft eines starken Männchens. ... Das
starke Männchen war der Herr und Vater der ganzen Horde, unbeschränkt in seiner Macht,
die er gewalttätig gebrauchte. ... Der nächste entscheidende Schritt zur Änderung dieser ersten
Art von ‚sozialer’ Organisation soll gewesen sein, daß die vertriebenen, in Gemeinschaft lebenden Brüder sich zusammentaten, den Vater überwältigten und nach der Sitte jener Zeit roh
verzehrten. ... die Erinnerung an die gemeinsam vollbrachte Befreiungstat und die Gefühlsbindungen aneinander, ... führten endlich zu ... einer Art von Gesellschaftsvertrag. Es entstand
die erste Form einer sozialen Organisation mit Triebverzicht, Anerkennung von gegenseitigen
Verpflichtungen, Einsetzung bestimmter, für unverbrüchlich (heilig) erklärter Institutionen,
die Anfänge also von Moral und Recht. ... Ein starkes, vielleicht zuerst immer auch gefürchtetes Tier wurde als Vaterersatz gefunden ...“ und verehrt (529f.).
„Es wäre der Mühe wert zu verstehen, wie es kam, daß die monotheistische Idee gerade auf
das jüdische Volk einen so tiefen Eindruck machen ... konnte. Ich glaube, man kann diese
Frage beantworten. Das Schicksal hat dem jüdischen Volke die Großtat und Untat der Urzeit,
die Vatertötung, nähergerückt, indem es dasselbe veranlaßte, sie an der Person des Moses,
einer hervorragenden Vatergestalt, zu wiederholen. Es war ein Fall von ‘Agieren’, anstatt zu
erinnern, wie er sich so häufig während der analytischen Arbeit am Neurotiker ereignet
(536f.). ...
Es ist kaum gleichgültig oder zufällig, daß die gewaltsame Tötung eines anderen großen
Mannes auch der Ausgangspunkt für die religiöse Neuschöpfung des Paulus wurde. ... Dann
ist auch an der Auferstehung Christi ein Stück historischer Wahrheit, denn er war [der auferstandene Moses und hinter ihm] der wiedergekehrte Urvater der primitiven Horde, verklärt
und als Sohn an die Stelle des Vaters gerückt (537). ...
Das arme jüdische Volk, das mit gewohnter Hartnäckigkeit den Mord am Vater zu verleugnen
fortfuhr, hat im Laufe der Zeiten schwer dafür gebüßt. Es wurde ihm immer wieder vorgehalten: Ihr habt unseren Gott getötet. Und dieser Vorwurf hat recht, wenn man ihn richtig
übersetzt. Er lautet dann auf die Geschichte der Religionen bezogen: Ihr wollt nicht zugeben,
daß ihr Gott (das Urbild Gottes, den Urvater, und seine späteren Reinkarnationen) gemordet
habt. ... Wir haben freilich dasselbe getan, aber wir haben es zugestanden, und wir sind seither
entsühnt“ (538).
Einführung in die Religionspsychologie/ VO/Susanne Heine/ WS 2006/07
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„Dem Verhängnis, den Vater beseitigen zu müssen, ist es [das Christentum] nicht entgangen“,
und die Kommunion sei eine „neuerliche Beseitigung des Vaters, eine Wiederholung der zu
sühnenden Tat“. Auch habe die christliche Religion „die Höhe der Vergeistigung nicht
eingehalten, zu der sich das Judentum aufgeschwungen hatte“, sei in „durchsichtiger
Verhüllung“ zum Polytheismus zurückgekehrt und in magische Praktiken zurückgefallen.
Sigmund Freud, Der Mann Mose und die monotheistische Religion, Studienausgabe, Bd. IX,
580, 536.
Die psychologische ‚Wahrheit’:
„Wir haben ... erfahren, ... daß nichts leichter von uns geglaubt wird, als was, ohne Rücksicht
auf die Wahrheit, unseren Wunschillusionen entgegenkommt“ (574).
Die historische ‚Wahrheit’:
„Das heißt, wir glauben nicht, daß es einen einzigen großen Gott heute gibt, sondern daß es in
Urzeiten eine einzige Person gegeben hat, die damals übergroß erscheinen mußte und die
dann zur Gottheit erhöht in der Erinnerung der Menschen wiedergekehrt ist“ (574)
Die Verbindung von Individual- und Menschheitsgeschichte vollzieht sich nach Freud dadurch, „daß im psychischen Leben des Individuums nicht nur selbsterlebte, sondern auch bei
der Geburt mitgebrachte Inhalte wirksam sein mögen, Stücke von phylogenetischer Herkunft,
eine archaische Erbschaft.” ... Freud scheint es möglich, “die Behauptung aufzustellen, daß
die archaische Erbschaft des Menschen nicht nur Dispositionen, sondern auch Inhalte umfaßt,
Erinnerungsspuren an das Erleben früherer Generationen. ... Wenn wir den Fortbestand solcher Erinnerungsspuren in der archaischen Erbschaft annehmen, haben wir die Kluft zwischen
Individual- und Massenpsychologie überbrückt, können die Völker behandeln wie den einzelnen Neurotiker (545, 546, 547). ...
Eine Tradition, die nur auf Mitteilung gegründet wäre, könnte nicht den Zwangscharakter
erzeugen, der den religiösen Phänomenen zukommt. ... Sie muß erst das Schicksal der Verdrängung, den Zustand des Verweilens im Unbewußten durchgemacht haben, ehe sie bei ihrer
Einführung in die Religionspsychologie/ VO/Susanne Heine/ WS 2006/07
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Wiederkehr so mächtige Wirkungen entfalten, die Massen in ihren Bann ziehen kann“ (548)
...
„Aber aus dem jüdischen Volk erhoben sich immer wieder Männer, die die verblassende Tradition auffrischten, die Mahnungen und Anforderungen Moses’ erneuerten und nicht rasteten,
ehe das Verlorene wiederhergestellt war.“ - im Dienste des Triebverzichts als Nötigung zu
einem „Fortschritt in der Geistigkeit“ und des damit verbundenen Erwählungsbewußtseins
(557ff.).
„Während aber der Triebverzicht aus äußeren Gründen nur unlustvoll ist, hat der aus inneren
Gründen, aus Gehorsam gegen das Über-Ich, eine andere ökonomische Wirkung. Er bringt
außer der unvermeidlichen Unlustfolge dem Ich auch einen Lustgewinn, eine Ersatzbefriedigung gleichsam. Das Ich fühlt sich gehoben, es wird stolz auf den Triebverzicht wie auf eine
wertvolle Leistung. [...] Der Fortschritt in der Geistigkeit besteht darin, daß man gegen die
direkte Sinneswahrnehmung zu Gunsten der sogenannten höheren intellektuellen Prozesse
entscheidet, also der Erinnerungen, Überlegungen, Schlussvorgänge“ (562f.).
Kommentare zum „Mann Mose“:
„Aber was mich besonders dran jetzt an Ihrer Auffassung faszinierte, ist ein spezieller Charakter der ‘Wiederkehr des Verdrängten’, nämlich der Umstand, wie damit ganz Hohes und
Kostbares wiederkehrt ... . Bisher stellten wir uns unter ‘Wiederkehr des Verdrängten’ Beispiele neurotischer Prozesse am meisten vor: allerlei zu Unrecht Verdrängtes bedrängte den
Menschen unheimlich mit altersstarren Schemen, weil er das Urvertraute darin spürte und
doch ängstlich von sich abwehrte. Hier sind es nun Beispiele für das Überleben des siegreich
Lustvollsten von einstmals, als ‘wahrster’ Besitz.“
Brief von Lou Andreas Salomé an Freud, aus: Briefwechsel, Ernst Pfeiffer (Hg.), Frankfurt/Main 1966, 227.
„Sie sagen: ‚Allem, was mit der Entstehung einer Religion, gewiß auch der jüdischen zu tun
hat, hängt etwas Großartiges an, das durch unsere bisherigen Erklärungen nicht gedeckt wird.
Es müßte noch ein anderes Moment beteiligt sein, für das es wenig Analoges und nichts
Gleichartiges gibt, etwas Einziges und etwas von der gleichen Größenordnung wie das, was
daraus geworden ist, wie die Religion selbst.’
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Diese Äußerung verdient unseren Beifall, denn hier wird gesagt, was gesagt werden muß: daß
trotz aller Anstrengungen von Religionshistorikern, Theologen und anderen Wissenschaftlern
und ungeachtet der im Lauf von mehr als hundert Jahren erzielten Fortschritte das Wesentliche immer noch nicht greifbar ist, die unheimliche Macht der Religion nämlich, Männer und
Frauen über Jahrhunderte, ja Jahrtausende hinweg in ihren Bann zu ziehen. Wir sollten uns
daher nicht nur für den Ursprung einer Religion interessieren, sondern für ‘das, was daraus
geworden ist’. ... Ebenso wichtig wie der Ursprung, wenn nicht gar wichtiger, ist also die Tradition, die Überlieferung. ... Mit anderen Worten, Kraft und Lebensdauer einer religiösen
Überlieferung lassen sich nicht begreifen, wenn die Überlieferung vor allem geistes- oder
bildungsgeschichtlich dargestellt wird oder auch als Symbolsystem ..., wenn man die psychologische Dimensionen außer acht läßt. ...
Die Psychoanalyse sollte ... auf eine nicht reduktionistische Weise klären ... helfen, welche
unbewußten Wünsche jeweils befriedigt werden, wenn man innerhalb einer bestimmten religiösen Tradition lebt ... .
Nehmen wir an, die Religion, die große Illusion, hat, wie Sie sagen, keine Zukunft. ... Sollten
Sie mir jedoch sagen, es gäbe für sie keine Hoffnung, so würde ich einfach erwidern: Mag
sein, daß Sie recht haben. Vielleicht aber ist Ihre Lehre in diesem Punkt, in der Frage von
Hoffnung oder Hoffnungslosigkeit, und nicht hinsichtlich Ihrer eigenen Gottlosigkeit, besonders unjüdisch.
Der Nutzen der gesamten Antidiskriminierungsliteratur liegt ... nicht in der minimalen Wirkung auf Antisemiten, sondern in dem Trost, die sie den Juden bei der Lektüre bietet. Das
Trösten aber war nie Ihre Stärke ... .“
Yosef Hayim Yerushalmi: Freuds Moses, Berlin 1992, 128/29; 132; 141; 143.
Freuds Judentum
„Sohn, mein teurer, Schelomo. Im siebten der Tage deiner Lebensjahre fing der Geist des
HERRN an, Dich umzutreiben und sprach in Dir: Auf, lies in meinem Buch, das ich schrieb,
und die Quellen des Verstandes, der Urteilskraft und der Vernunft werden Dir aufspringen. ...
Seitdem war das Buch verwahrt wie die zerbrochenen Gesetzestafeln in einem Schrein bei
mir. Für den Tag, an dem Du fünfunddreißig wurdest, gab ich ihm eine neue Lederhaut und
Einführung in die Religionspsychologie/ VO/Susanne Heine/ WS 2006/07
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nannte es: ‘Brunnen, steige auf! Singet von ihm! Und ich bringe Dir dieses zum Gedächtnis
und als Erinnerung der Liebe Deines Vaters, der Dich ewig liebt.
Jakob, Sohn des R. Schelomo Freid
In der Hauptstadt Wien, 29. Nisan 5651, 6. Mai 1891.“
Übersetzung des hebräischen Originaltextes von Yosef Hayim Yerushalmi: Freuds Moses,
Berlin 1992, 104.
„Eher bewegte mich eine Art von Wißbegierde, die sich aber mehr auf menschliche Verhältnisse als auf natürliche Objekte bezog und auch den Wert der Beobachtung als eines Hauptmittels zu ihrer Befriedigung nicht erkannt hatte. Frühzeitige Vertiefung in die biblische Geschichte, kaum daß ich die Kunst des Lesens erlernt hatte, hat, wie ich viel später erkannte,
die Richtung meines Interesses nachhaltig bestimmt.“
Sigmund Freud, Nachschrift 1935 zur Selbstdarstellung [von 1925], GW XVI, 35; der kursiv
gesetzte Satz stellt die spätere Einfügung dar.
III, 2
Objektbeziehungstheorie – Auswahl
Paul W. Pruyser
Einführung in die Religionspsychologie/ VO/Susanne Heine/ WS 2006/07
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Die „dritte Welt“ der Imagination
Skizze von Kleinmann, in: DeMarinis, Valerie (1997), Religious Ritual Function and the Illusionistic
World: Paul Pruyser’s Psychology of Religion in Dialogue with Ritual Studies, in: Archiv für
Religionspsychologie, 22, 166-181; 172.
„As creation of the imagination, both religion and art have to be distinguished on the one hand
from reality in the ordinary sense and on the other hand from solipsistic subjectivity. If too
natural, too realistic, art vanishes into mere representation and religion into mere rationality
(or fundamentalistic double-talk about an unseen world taken as literally as the sensory
world). If too subjective, too autistic, art and religion will fail to get a hearing since they come
too close to delusion and hallucination. Everything depends on using the imagination to keep
its products linked with, but different from, the realities of the outer world and the common
human stratum of the inner world. The culturally successful use of imagination must be
coupled with adequate reality testing to circumvent deterioration into madness. ...
Beyond or between the autistic and the realistic worlds lies a third world that has entities and
events of its own, foreshadowed by Winnicott’s transitional sphere with its transitional
objects. It is the world of play, the world of imagination, the world of illusion. ...
Much of the ‘relatedness’ between people occurs through this collective imagination.
Illusionistic objects and illusionistic thinking are sui generis, irreducible to the strictly private,
ineffable, autistic, and essentially solipsistic mind, or the public, demonstrable, look-and seeentities of the realistic world that bombards the senses. ... Illusionistic thinking pertains to
symbol systems such as religion and the arts and ... to the spirit of science.”
The “illusion processing” is “obviously an exercising of the imagination with the help of
certain cultural resources and guided by certain tutors. ...
To recapture a sense of mystery and transcendence, people must be called back from
‘thingish’ an factual thought to imaginative thought, in which novelty of insight can be
produced. ...
Religion, like art, deals with peculiar entities that are neither utilitarian things in the external
world nor inexpressible private ideas in someone’s head. ...
‘No man is God. This is what I understand to be the functional meaning of ‘God’ in human
experience. Whatever ‘God’ may be ... a concept of the infinite seems to me necessary if we
are to state the all-important fact about man: that he is finite’ (Zit. S. Mead).”
Einführung in die Religionspsychologie/ VO/Susanne Heine/ WS 2006/07
42
Paul W. Pruyser, Religion in Psychodynamic Perspective, ed. By H. Newton Malony/Bernard
Spilka, Oxford University Press, New York 1991, 176; 175; 177; 178; 186; 170; das Zitat: E.
Mead, In quest of America’s religion, in: The Christian Century 87, 1970, 752-756.
Der Verlust der Außenwelt
“In the child’s autistic world, everything is possible as long as it is imaginable - designed by
the omnipotence of thought. Traces of this infantile omnipotence persist in adults: Anyone
who does not like his current situation can daydream (fantasize) a better one.”
Paul W. Pruyser, Religion in Psychodynamic Perspective, ed. By H. Newton Malony/Bernard
Spilka, Oxford University Press, New York 1991, 176.
Die Phantasie wird „so handgreiflich, so mächtig, so gefährlich und so befriedigend wie die
äußere Realität, von der sie dann nicht zu unterscheiden ist. ... Was eine solche Person nicht
kann, ist verstehen. Dies ist nicht so, weil diese Person ihre Erfahrung nicht verstehen will;
vielmehr ist es so, weil ... alles genau das ist, was es eben ist. So existiert das Potential für
Verstehen ganz einfach nicht.“
Thomas H. Ogden, On Potential Space, in: The International Journal of Psycho-Analysis,
1985, 129-141, Zit.: 133/34.
„Die Auslöschung der Grenze zwischen dem Selbst und dem Anderen bedeutet, daß dem
Selbst nie etwas Neues, ‘Anderes’ begegnen kann. Dieses wird verschlungen und so lange
umgeformt, bis sich das Selbst darin wiedererkennt - damit aber wird das oder der Andere
bedeutungslos. ... Die Umrisse, Grenzen und Formen von Zeit- und Beziehungsverhältnissen
sind ausgelöscht.“
Richard Sennett, Verfall und Ende des öffentlichen Lebens. Die Tyrannei der Intimität,
Frankfurt/Main 1983, 329, 408.
Der Verlust der Innenwelt
„From the angle of realism illusions are dangerous, or at least frivolous. Yet single minded
dedication to reality forces the arts to be reproductive ..., science to be utilitarian or
technological, and religion to be the warp and weft of the social fabric that should not be
disturbed. In the clutches of the realistic sphere, symbols are turned into mere emblems and
signs.”
Einführung in die Religionspsychologie/ VO/Susanne Heine/ WS 2006/07
43
Paul W. Pruyser, Religion in Psychodynamic Perspective, ed. By H. Newton Malony/Bernard
Spilka, Oxford University Press, New York 1991, 176.
“Dann wird man sehen, daß sich hinter der Orientierung an der ‘Realität’, die gemeinhin das
Kriterium für Gesundheit ist, eine tiefere und weniger augenfällige Pathologie verbirgt: die
des ‘normalen’ Verhaltens, die Pathologie der Anpassung als Folge der Preisgabe des Selbst.
...
Wenn das fühlende Innere verschlossen ist, wird es unberührt bleiben vom Fluß der Interaktionen des einzelnen mit dem äußeren Leben. ... Das Ausmaß der daraus folgenden inneren
Isolation steht in direktem Zusammenhang mit dem Selbsthaß. Er wird hervorgerufen durch
die aktive Beteiligung an der Unterwerfung unter das Diktat einer ‘Realität’, die die Leugnung autonomer Gefühle verlangt.“
Arno Gruen, Der Wahnsinn der Normalität, 7. A., dtv-München 1996, 20; 22; 23; 24.
Einführung in die Religionspsychologie/ VO/Susanne Heine/ WS 2006/07
44
III, 3
Tiefenpsychologie (Analytische Psychologie):
Carl Gustav Jung
Das kollektive Unbewußte
„Manche Komplexe sind lediglich vom Bewußtsein abgespalten, weil dieses es vorzog, sie
durch Verdrängung loszuwerden. Aber es gibt andere Komplexe, die niemals vorher im Bewußtsein waren und die deshalb niemals willkürlich verdrängt werden konnten. Sie wachsen
aus dem Unbewußten heraus und überschwemmen das Bewußtsein mit ihren seltsamen und
unerschütterlichen Überzeugungen und Impulsen. ...
Es gibt eine Unzahl von magischen Riten zu dem einzigen Zweck, sich gegen die unerwarteten, gefährlichen Tendenzen des Unbewußten zu verteidigen. ...
Meine psychologische Erfahrung hat mir immer wieder gezeigt, daß gewisse Inhalte von einer
Psyche herstammen, die vollständiger ist als das Bewußtsein. Sie enthalten oft eine überlegene Analyse oder Einsicht oder ein Wissen, welche das jeweilige Bewußtsein nicht hervorzubringen vermöchte. Wir haben ein passendes Wort für solche Vorkommnisse - Intuition. ...
man hat einen Einfall, der von selbst entstanden ist, und man kann ihn nur dann erwischen,
wenn man schnell genug zur Hand ist.“
C.G. Jung, Psychologie und Religion (1940), Taschenbuchausgabe dtv (Band: Psychologie
und Religion), München 1991, 16; 21; 45.
Der ontologische Naturbegriff
„Wir haben ebenso Grund zu vermuten, daß das Unbewußte keineswegs ruhend ist, in dem
Sinne, daß es inaktiv wäre, sondern es ist anhaltend beschäftigt mit der Gruppierung und Umgruppierung seiner Inhalte. Diese Aktivität wäre nur in pathologischen Fällen als gänzlich
unabhängig zu denken; normalerweise ist sie dem Bewußtsein koordiniert im Sinne einer
kompensatorischen Beziehung. ...
Ich gebrauche ausdrücklich das Wort ‘kompensatorisch’ und nicht das Wort ‘kontrastierend’,
weil Bewußt und Unbewußt nicht notwendigerweise in einem Gegensatz zueinander stehen,
sondern sie ergänzen sich gegenseitig zu einem Ganzen, zum Selbst. Gemäß dieser Definition
ist daher das Selbst eine dem bewußten Ich übergeordnete Größe. Es um faßt nicht nur die
Einführung in die Religionspsychologie/ VO/Susanne Heine/ WS 2006/07
45
bewußte, sondern auch die unbewußte Psyche und ist daher sozusagen eine Persönlichkeit, die
wir auch sind. ... Die das bewußte Ich kompensierenden Vorgänge enthalten alle jene Elemente, die zur Selbstregulierung der Gesamtpsyche nötig sind. ...
Jeder schöpferische Mensch weiß, daß Unwillkürlichkeit die wesentliche Eigenschaft des
schöpferischen Gedankens ist. Weil das Unbewußte nicht nur reaktive Spiegelung, sondern
selbständige, produktive Tätigkeit ist, so ist sein Erfahrungsgebiet eine eigene Welt, eine
eigene Realität, von der wir aussagen können, daß sie auf uns wirke ... .
Das Unbewußte ist ein reiner Naturvorgang einerseits ohne Absicht, aber andererseits mit
jenem potentiellen Gerichtetsein, das für jeden energetischen Vorgang schlechthin charakteristisch ist. ...
Es gibt seelische Zwecke, die jenseits bewußter Zwecke liegen, ja, ihnen sogar feindlich gegenübertreten können. Ein feindliches oder rücksichtsloses Verhalten des Unbewußten gegenüber dem Bewußtsein finden wir nur dort, wo das Bewußtsein eine falsche und anmaßende Einstellung hat. ...
Es mag dem Leser vielleicht komisch klingen, wenn ich vom Unbewußten sozusagen in persönlicher Weise spreche. Ich möchte dadurch nicht das Vorurteil erregen, daß ich mir das
Unbewußte als persönlich denke. Das Unbewußte besteht aus Naturvorgängen, die jenseits
des Menschlich-Persönlichen liegen. Nur unser Bewußtsein ist persönlich.“
C.G. Jung, Die Beziehungen zwischen dem Ich und dem Unbewußten ([1916] 1928),
Taschenbuchausgabe dtv (Bandtitel s.o.), München 19913, 11; 63; 70; 116; 100; 119.
„Es ist nämlich nie zu vergessen – und das muß man der Freudschen Schule zurufen – daß die
Moral nicht in Form von Tafeln vom Sinai heruntergebracht und dem Volk aufgenötigt
wurde, sondern die Moral ist eine Funktion der menschlichen Seele, die so alt ist wie die
Menschheit. Die Moral wird nicht von außen aufgenötigt – man hat sie schließlich apriori in
sich selbst; nicht das Gesetz, wohl aber das moralische Wesen, ohne das ein Zusammenleben
der menschlichen Sozietät unmöglich wäre.“ Die Moral ist „ein instinktives Regulativ des Handelns“.
C.G. Jung, Über die Psychologie des Unbewußten, GW VII, Zürich 1964 (1953), 28.
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Das Jungsche Seelenmodell nach:
Obrist, Willy (1988), Neues Bewußsein und Religiosität, 79.
Die Archetypentheorie
„Die Träume enthalten Bilder und gedankliche Zusammenhänge, die wir nicht mit bewußter
Absicht erzeugen. Sie entstehen spontan, ohne unser Zutun, und stellen somit eine der Willkürlichkeit entzogene, psychische Tätigkeit dar. Der Traum ist daher eigentlich ein höchst
objektives, sozusagen ein Naturprodukt der Psyche ... . Da nun der psychische Lebensprozeß
... nicht bloß ein kausaler Ablauf, sondern auch ein final orientierter, zweckmäßiger Vorgang
ist, so darf man vom Traum ... Indizien über eine objektive Ursächlichkeit sowohl wie über
objektive Tendenzen erwarten. ... denn es gibt keine wirklich lebendigen Dinge, die nicht irgend einen Zwecksinn hätten ... .
Man wird wohl der Wahrheit am nächsten kommen, wenn man sich vorstellt, daß unsere bewußte und persönliche Psyche auf dem breiten Fundament einer vererbten und allgemeinen
Geistesdisposition ruht, die als solche unbewußt ist, und daß sich unsere persönliche Psyche
zu der Kollektivpsyche etwa verhält wie das Individuum zur Gesellschaft.“
C.G. Jung, Die Beziehungen zwischen dem Ich und dem Unbewußten ([1916] 1928),
Taschenbuchausgabe dtv (Bandtitel s.o.), München 19913, 15; 16; 30/31; 36.
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„Die Inhalte des kollektiven Unbewußten ... sind die sogenannten Archetypen. ... Der Begriff
des Archetypus, der ein unumgängliches Korrelat zur Idee des kollektiven Unbewußten bildet,
deutet das Vorhandensein bestimmter Formen in der Psyche an, die allgegenwärtig oder überall verbreitet sind. ... Das kollektive Unbewußte entwickelt sich nicht individuell, sondern
wird ererbt. Es besteht aus präexistenten Formen, Archetypen, die erst sekundär bewußtwerden können und den Inhalten des Bewußtseins festumrissene Form verleihen. ...
Ich begegne immer wieder dem Mißverständnis, daß die Archetypen inhaltlich bestimmt, das
heißt eine Art unbewußter ‘Vorstellungen’ seien. Es muß deshalb noch einmal hervorgehoben
werden, daß die Archetypen nicht inhaltlich, sondern bloß formal bestimmt sind ... . Inhaltlich
bestimmt ist ein Urbild nachweisbar nur, wenn es bewußt und daher mit dem Material bewußter Erfahrung ausgefüllt ist. ... Der Archetypus ist ein an sich leeres, formales Element,
das nichts anderes ist als eine ‘facultas praeformandi’, eine a priori gegebene Möglichkeit der
Vorstellungsform. Vererbt werden nicht die Vorstellungen, sondern die Formen ... .“
C.G. Jung, Über die Archetypen des kollektiven Unbewußten (1934) und: Über den Archetypus mit besonderer Berücksichtigung des Animabegriffs (1936), Taschenbuchausgabe dtv
(Bandtitel: Archetypen), München 19934, 8; 45; 46; 79.
Gott als archetypisches Bild
„Vom psychologischen Standpunkt aus gesehen, ist die Religion ein psychisches Phänomen,
das irrationalerweise vorhanden ist, so gut wie die Tatsache unserer Physiologie oder Anatomie.“ Briefe II, 1946-1965, Olten: Walter, 1972/1989, 512.
„Die religiösen Symbole ... stammen nicht aus dem Kopf, sondern irgendwo anders her, ...
jedenfalls aus einer psychischen Tiefenschicht, die dem Bewußtsein, das immer nur Oberfläche ist, wenig ähnelt. Darum haben die religiösen Symbole auch ausgesprochenen 'Offenbarungscharakter', das heißt, sie sind in der Regel spontane Erzeugnisse der unbewußten Seelentätigkeit. Sie sind alles, nur nicht ausgedacht; sie sind vielmehr im Laufe der Jahrtausende
allmählich gewachsen, wie Pflanzen, als natürliche Offenbarungen der Menschheitsseele. ...
Auf alle Fälle beweist die Erfahrung, daß die Religionen keineswegs bewußter Erklügelung,
sondern dem natürlichen Leben der unbewußten Seele entstammen ... . Daraus nämlich erklärt
sich ihre universelle Verbreitung und ihre ungeheuere historische Wirkung auf die Menschheit. Eine solche Wirkung wäre unverständlich, wenn die religiösen Symbole nicht zum mindesten psychologische Naturwahrheiten wären.“
Grundwerk, Bd. 9, Mensch und Kultur, Olten: Walter, 41995, 83.
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„Wenn wir die Tatsache in Betracht ziehen, daß die Gottesidee eine ‘unwissenschaftliche’
Hypothese ist, können wir uns leicht erklären, warum die Menschen verlernt haben, in diese
Richtung zu denken. Und sogar, wenn sie einen gewissen Glauben an Gott hegen, würden sie
von der Idee des ‘inneren Gottes’ durch die religiöse Erziehung, welche diese Idee immer als
‘mystisch’ entwertet hat, abgeschreckt. Es ist jedoch gerade diese ‘mystische’ Idee, welche
durch Träume und Visionen dem Bewußtsein aufgedrängt wird. ...
Es wäre ein bedauerlicher Irrtum, wenn jemand meine Beobachtungen als eine Art Beweis für
die Existenz Gottes auffassen wollte. Sie beweisen nur das Vorhandensein eines archetypischen Bildes der Gottheit, und das ist alles, was wir, meines Erachtens, psychologisch über
Gott aussagen können. Aber da es ein Archetypus von großer Bedeutung und starkem Einfluß
ist, scheint sein relativ häufiges Vorkommen eine beachtenswerte Tatsache für jede theologia
naturalis zu sein. Da das Erlebnis dieses Archetypus die Eigenschaft der Numinosität hat, oft
sogar in hohem Maße, kommt ihm der Rang einer religiösen Erfahrung zu.“
C.G. Jung, Psychologie und Religion (1940), Taschenbuchausgabe dtv (Band: Psychologie
und Religion), München 1991, 63.
Zur Entwicklungsgeschichte der Gottesidee
„Diejenige psychologische Tatsache, welche die größte Macht in einem Menschen besitzt,
wirkt als ‘Gott’, weil es immer der überwältigende psychische Faktor ist, der Gott genannt
wird. Sobald ein Gott aufhört, ein überwältigender Faktor zu sein, wird er ein bloßer Name.
Sein Wesentliches ist tot, und seine Macht ist dahin. ...
Die Welt ist, wie sie immer war, aber unser Bewußtsein unterliegt eigentümlichen Veränderungen. Zuerst, in fernen Zeiten ..., lag der Hauptteil des psychischen Lebens anscheinend
außen in menschlichen und nichtmenschlichen Objekten: er war projiziert, wie wir jetzt sagen
würden. ... Zuerst lebten die Götter in übermenschlicher Macht und Schönheit auf der Spitze
schneebedeckter Berge oder in der Dunkelheit von Höhlen ... . Später wuchsen sie zu einem
Gott zusammen, und dann wurde dieser Gott Mensch. Aber in unserer Zeit scheint sogar der
Gottmensch von seinem Throne herabzusteigen und sich im alltäglichen Menschen aufzulösen. ...
Der Platz der Gottheit scheint durch die Ganzheit des Menschen eingenommen zu werden.“
C.G. Jung, Psychologie und Religion (1940), Taschenbuchausgabe dtv (Band: Psychologie
und Religion), München 1991, 84; 86; 85; 87.
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Das „Selbst“ und die Rücknahme der Projektionen
„Wenn wir nun vom Menschen sprechen, so meinen wir dessen unbegrenzbares Ganzes, eine
unformulierbare Totalität, die nur symbolisch ausgedrückt werden kann. Ich habe den Ausdruck ‘Selbst’ gewählt, um die Totalität des Menschen, die Summe seiner bewußten und unbewußten Gegebenheiten, zu bezeichnen. Diesen Ausdruck habe ich übernommen in Übereinstimmung mit der östlichen Philosophie, welche sich seit Jahrhunderten mit denjenigen
Problemen beschäftigt hat, die sich dann ergeben, wenn sogar die Menschwerdung der Götter
überschritten ist. ...
Christus lebte ein konkretes, persönliches und einmaliges Leben, das aber zugleich in allen
wesentlichen Zügen archetypischen Charakter hat. ... Insofern nun das Christusleben in hohem Maß archetypisch ist, stellt es in ebensolchem Maße das Leben des Archetypus dar. ... So
ist darin auch die uns hier angehende Frage des Gottestodes in vollendeter Form vorausgenommen. Christus ist selber der Typus des sterbenden und sich wandelnden Gottes. ...
Es entspricht moderner Bewußtseinshypertrophie, eben jener Hybris, der gefährlichen Autonomie des Unbewußten uneingedenk zu sein und sie nur negativ als Abwesenheit von Bewußtsein zu erklären. Die Annahme unsichtbarer Götter und Dämonen wäre eine psychologisch viel passendere Fomulierung des Unbewußten, obschon dies eine anthropomorphistische Projektion wäre. Da nun die Entwicklung des Bewußtseins die Zurückziehung aller erreichbaren Projektionen verlangt, so kann auch keine Götterlehre im Sinne nichtpsychologischer Existenz aufrecht erhalten werden. Wenn der historische Prozeß der Weltentseelung,
eben der Zurücknahme der Projektionen, so weitergeht wie bisher, dann muß alles, was draußen göttlichen oder dämonischen Charakter hat, zur Seele zurückkehren, in das Innere des
unbekannten Menschen, von wo es anscheinend seinen Ausgang genommen hat.“
„Ich wende mich ja auch gar nicht an die beati possidentes des Glaubens, sondern an jene
vielen, für die das Licht erloschen, das Mysterium versunken, und Gott tot ist. Für die meisten
gibt es kein Zurück, und man weiß auch nicht genau, ob der Rückweg immer der bessere sei.
Zum Verständnis der religiösen Dinge gibt es heute wohl nur noch den psychologischen Zugang, weshalb ich mich bemühe, historisch festgewordene Denkformen wieder einzuschmelzen und umzugießen in Anschauungen der unmittelbaren Erfahrung. ... Alle diese Parallelen
[bestimmte religiöse Motive in verschiedenen Religionen] wollen bloß einen Versuch
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bedeuten, meine psychologischen Beobachtungen historisch einzureihen. Ohne die historische
Verbindung würden sie in der Luft hängen und eine bloße Kuriosität bleiben ...“
C.G. Jung, Psychologie und Religion (1940), Taschenbuchausgabe dtv (Band: Psychologie
und Religion), München 1991, 86, 88, 92, 93, 107.
Jung – Empiriker oder Philosoph?
„Obwohl man mich häufig einen Philosophen genannt hat, bin ich Empiriker und halte mich
als solcher an den phänomenologischen Standpunkt. Ich bin der Ansicht, daß es nicht gegen
die Grundsätze der wissenschaftlichen Empirie verstößt, wenn man gelegentlich Überlegungen anstellt, welche über eine bloße Anhäufung und Klassifizierung des Erfahrungsmaterials
hinausgehen. Ich glaube in der Tat, daß Erfahrung ohne reflektierende Überlegung gar nicht
möglich ist, weil ‘Erfahrung’ ein Assimilierungsprozeß ist, ohne welchen es überhaupt kein
Verstehen gibt. Aus dieser Feststellung folgt, daß ich von einem naturwissenschaftlichen und
nicht von einem philosophischen Standpunkt aus an die psychologischen Tatbestände herangehe. ...
Wenn die Psychologie zum Beispiel von dem Motiv der jungfräulichen Geburt spricht, so
beschäftigt sie sich nur mit der Tatsache, daß es eine solche Idee gibt, aber sie beschäftigt sich
nicht mit der Frage, ob eine solche Idee in irgendeinem Sinne wahr oder falsch sei. Die Idee
ist psychologisch wahr, insoweit sie existiert.
Aber wir sind so sehr an die Meinung gewöhnt, psychische Ereignisse seien willkürliche Produkte des freien Ermessens, ja geradezu Erfindungen des menschlichen Schöpfers, daß wir
uns kaum von dem Vorurteil freimachen können, die Psyche und ihre Inhalte seien ... ein
mehr oder weniger illusorisches Produkt von Annahmen und Urteilen. Tatsache ist, daß gewisse Ideen fast überall und zu allen Zeiten vorkommen und sich sogar spontan von selber
bilden können, gänzlich unabhängig von Migration und Tradition. Sie werden nicht vom Individuum gemacht, sondern sie passieren ihm, ja sie drängen sich dem individuellen Bewußtsein geradezu auf. Das ist nicht Platonische Philosophie, sondern empirische Psychologie.“
C.G. Jung, Psychologie und Religion (1940), Taschenbuchausgabe dtv (Band: Psychologie
und Religion), München 1991, 8; 9.
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Kapitel IV:
Die Humanistische Psychologie - Auswahl
1. Abraham H. Maslows Ontopsychologie
Der ontologisch-teleologische Naturbegriff
“A person is both actuality and potentiality. He [man] doesn’t have to fly to a God. He can
look within himself for all sorts of potentialities, strength, and goodness.”
Abraham Maslow, Toward a Psychology of Being; Vorwort von Richard Lowry, 1999 (1962),
15, 113.
„Jeder von uns hat eine wesentliche innere Natur, die instinktoid, wirklich, gegeben, ‚natürlich’ ist ... . Dieser innere Kern, das Selbst, wächst jedoch nur teilweise durch ... Entdeckung,
Aufdeckung und Akzeptierung dessen zur Reife heran, was es vorher ‚dort’ gibt. Teilweise
hat es auch der Mensch selbst erschaffen. Wir können nicht länger jemanden als ‚voll determiniert’ betrachten, wenn determiniert ‚nur von Kräften außerhalb des Menschen’ bedeutet.“
Es sieht so aus, „als gäbe es einen einzigen elementaren Wert für die Menschheit, ein Fernziel, nach dem alle Menschen streben. Man nennt es verschiedentlich ... Selbstverwirklichung,
Selbstrealisierung, Integration, ... Individuation, Autonomie, Kreativität, Produktivität, doch
alle stimmen überein, daß dies darauf hinausläuft, die Möglichkeiten des Menschen zu realisieren, was bedeutet, voll menschlich zu werden, alles, was der Mensch werden kann. ...
Diese innere Natur, soweit sie uns bislang bekannt ist, ist definitiv nicht primär ‚böse’, sondern eher das, was wir Erwachsenen in unserer Kultur ‚gut’ nennen, zumindest aber neutral.
Um es ganz genau auszudrücken: sie geht dem ‚Guten und Bösen’ voran. ...
Ein guter Mensch (oder ein Tiger oder ein Apfelbaum) ist gut in dem Ausmaß, in dem er den
Begriff ‚menschliches Wesen’ (oder Tiger oder Apfelbaum) erfüllt.“
peak experiences als religiöses Erleben
„Selbstverständlich bedarf ein Mensch im Zustand des Seins keiner Zukunft, weil sie bereits
da ist. Dann hört das Werden für den Augenblick auf, und seine Versprechungen sind in der
Form höchster Belohnungen eingelöst, d.h. in Grenzerfahrungen (peak experiences), in denen
die Zeit verschwindet und die Hoffnungen erfüllt sind. ...
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In Grenzerfahrungen fühlt der Mensch sich gewöhnlich auf dem Gipfel seiner Kräfte, er
glaubt alle seine Möglichkeiten voll auszuschöpfen. Entsprechend der gelungenen Formulierung von Rogers fühlt er sich ‚voll funktionierend’ ... .
Das heißt, die größte Errungenschaft der Identität – Autonomie oder Selbstheit – ist in sich
gleichzeitig eine Transzendenz seiner selbst, ein Hinausgehen über und jenseits der Selbstheit.
Der Mensch kann dann relativ ichlos werden. ...
Auf dieser Ebene habe ich den Menschen gottähnlich genannt, weil die meisten Götter angeblich keine Bedürfnisse, Entbehrungen oder Nöte gekannt, keine Mängel gelitten haben, in
allen Dingen befriedigt waren.“
„Es ist möglich, daß der Existentialismus nicht nur die Psychologie bereichert. Er kann auch
zu einem zusätzlichen Impuls für die Etablierung eines anderen Zweiges der Psychologie werden, der Psychologie des voll entfalteten und authentischen Selbst und seiner Seinsweisen.
Sutich hat vorgeschlagen, sie Ontopsychologie zu nennen. ...
Wenn die Philosophie vom Menschen (von seiner Natur, seinen Zielen, seinen Möglichkeiten,
seiner Erfüllung) sich ändert, dann ändert sich alles, nicht nur die Philosophie der Politik, der
Ökonomie, der Ethik und der Werte, sondern auch die Philosophie der Erziehung, der Psychotherapie und des persönlichen Wachsens, die Theorie, wie man Menschen helfen kann, das
zu werden, was sie werden können und zutiefst werden wollen.
Wir befinden uns jetzt mitten in einer solchen Änderung der Konzeption von den menschlichen Kapazitäten, Potentialitäten und Zielen. Eine neue Vision beginnt sich aus den Möglichkeiten des Menschen und seines Schicksals abzuzeichnen, und es gibt viele Implikationen
nicht nur für unser Konzept der Erziehung, sondern auch für die Wissenschaft, Politik, Literatur, Ökonomie, Religion und sogar für unser Konzept der nichtmenschlichen Welt.“
Alle Zitate aus: Abraham Maslow, Psychologie des Seins, Frankfurt/Main 1994 (1968), 190;
192; 172; 157; 193; 212; 115; 119; 122; 33; 189.
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2. Carl R. Rogers
Die Akt-Potenz-Theorie
Die zentrale Hypothese dieses Ansatzes: „Das Individuum verfügt potentiell über unerhörte
Möglichkeiten, um sich selbst zu begreifen und seine Selbstkonzepte, seine Grundeinstellungen und sein selbstgesteuertes Verhalten zu verändern; dieses Potential kann erschlossen werden, wenn es gelingt, ein klar definierbares Klima förderlicher psychologischer Einstellungen
herzustellen. ...
Aus Praxis, Theorie und Forschung geht eindeutig hervor, daß der personenzentrierte Ansatz
auf einem grundlegenden Vertrauen zum Menschen und allen Organismen basiert. ... Man
kann sagen, daß in jedem Organismus, auf jedweder Entwicklungsebene eine Grundtendenz
zur konstruktiven Erfüllung der ihm innewohnenden Möglichkeiten vorhanden ist. ... Ob wir
von einer Blume oder einem Eichenbaum, einem Regenwurm oder einem schönen Vogel,
einem Affen oder einem Menschen sprechen - wir tun meines Erachtens gut daran, uns vor
Augen zu halten, daß das Leben nicht ein passiver, sondern ein aktiver Prozeß ist. Ob der
Stimulus von innen oder außen kommt, ob die Umwelt günstig oder ungünstig ist, man kann
davon ausgehen, daß die Verhaltensweisen eines Organismus tendenziell der Erhaltung, Entfaltung und Reproduktion des Selbst dienen. Dies ist die Urnatur des Prozesses, den wir
Leben nennen. ...
Diese Selbstverwirklichungstendenz [aktualisierende Tendenz] kann natürlich gehemmt und
deformiert werden, aber man kann sie nicht zerstören, ohne den Organismus zu vernichten.
Ich erinnere mich, daß wir in meiner Kindheit unseren Wintervorrat an Kartoffeln im Keller
aufbewahrten, etwa einen Meter unterhalb eines kleinen Fensters. Die Bedingungen waren
ungünstig, dennoch begannen die Kartoffeln zu treiben - blasse Schößlinge, so ganz anders als
die gesunden grünen Triebe, die aus dem Boden sprießen, wenn man die Knollen im Frühling
in die Erde pflanzt. Aber diese dürftigen, spindeldürren Schößlinge streckten sich immerhin
einen halben oder dreiviertel Meter hoch dem Lichtschein des Fensters entgegen. Diese
Schößlinge waren in ihrem bizarren aussichtslosen Wachstum eine Art verzweifelter Ausdruck jener zielgerichteten Tendenz, von der ich gesprochen habe. ... Das Leben gab nicht
auf, selbst wenn es nicht zur Blüte gelangen konnte. Beim Umgang mit Klienten, deren Leben
schrecklich deformiert ist, ... muß ich oft an diese Schößlinge denken. Die Bedingungen, unter
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denen sich diese Menschen entwickelt haben, waren so ungünstig, daß ihr Leben oft abnormal, verkrüppelt, ja kaum menschlich erscheint. Doch kann man der zielgerichteten Tendenz
in ihnen vertrauen. ...
Deshalb ist es für mich sinnvoll zu sagen, daß das Substrat aller Motivation die organismische
Tendenz zur Selbstverwirklichung ist. ... Zweifellos müssen bestimmte Grundbedürfnisse
zumindest teilweise erfüllt sein, bevor andere Bedürfnisse dringend werden. Dementsprechend kann die Selbstverwirklichungstendenz des Organismus abwechselnd zur Suche nach
Nahrung oder sexueller Befriedigung führen, und dennoch werden auch diese Befriedigungen,
solange die Bedürfnisse nicht überwältigend groß sind, in einer Weise gesucht werden, die die
Selbstachtung steigern und nicht verringern.“
Alle Zitate aus: Carl R. Rogers, Der neue Mensch, Stuttgart 31987 (1979), Kap.3.
3. Friedrich (Frederick, Fritz) S. Perls
“Der Zusammenhang des Organismus mit seinem Feld ist genau der eines dialektischen
Gegensatzes. Um die Homöostase zu erreichen, muß der Organismus die von ihm benötigten
Ergänzungen in der Umwelt finden. Das System der Orientierung macht das ausfindig, was
wir wollen. Wir spüren den Stoff, der uns Befriedigung bringt; wir suchen direkt nach dem,
was wir brauchen (ohne intellektuelle Kenntnisse, ohne uns ein Bild zu machen, ohne es uns
vorzustellen). ...
Meine Phantasie über das Universum ist, daß es ein Bewußtseinsprozeß ist, der in der Theologie ausgedrückt wird, indem man Gott die Attribute der Unendlichkeit, Ewigkeit und Allwissenheit gibt. Ich glaube, daß das Universum Ausdehnung, Dauer und Bewußtheit hat. ...
Z.B. kann man eine Pflanze nehmen und auf eine Stelle Dünger geben, und die Wurzeln der
Pflanze werden in die Richtung des Düngers wachsen ... aus einem Gefühl für ihre Bedürfnisse. ... Immer mehr Seelsorger beginnen auch, den personalen Gott zu leugnen und, sagen
wir, die jüdische Vorstellung von Gott als dem Unaussprechlichen, als der grundlegenden
kreativen Energie des Universums anzunehmen. ...
Überlegtes Handeln, Selbstbeherrschung, Gewissen sind soziale und zugleich biologische
Funktionen. Eine Reintegration kann nur dann erfolgreich sein, wenn alles menschliche Handeln, überlegtes ebenso wie spontanes, Gedanken ebenso wir Instinkte, als biologische Prozesse
angesehen und behandelt werden.“
Friedrich S. Perls, Gestalt – Wachstum – Integration, Hilarion Petzold (Hg.), Paderborn 1980,
62, 173, 174, 62, 35.
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Anhang:
Der Moses des Michelangelo in San Pietro in Vincoli in Rom – für Freud eine Szene des
Triebverzichts: Moses bezähmt seine Wut über das Volk Israel, das er in der Ferne um das
Goldene Kalb tanzen sieht
Dieses Mosesbild hing in der Wohnung von Freuds Herkunftsfamilie: Ein wütender Moses
setzt an, die Gebotstafeln zu zerschmettern
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