Art. 480 3. März 1998 35. Sitzung 3. März 1998, 14.00 Uhr Vorsitzender: Dr. Andreas Brunner, Oberentfelden Protokollführer: Marc Pfirter, Staatsschreiber Tonaufnahme/Redaktion: Norbert Schüler Präsenz: Anwesend 166 Mitglieder Abwesend mit Entschuldigung 34 Mitglieder Entschuldigt abwesend: Bertschi-Hitz Patrizia, Ennetbaden; Binder Andreas, Baden; Binggeli Peter, Mellingen; Birri René, Stein AG; Bopp-Saxer Edith, Seengen; Bossard Martin, Kölliken; Brentano Max, Brugg AG; Erne Leo, Döttingen; Fischer Patrick, Bremgarten AG; Hagenbuch-Spillmann Hans, Oberlunkhofen; Hähni Bernhard, Safenwil; Herzog-Ernst Marianne, Oberhof; Humbel Näf Ruth, Birmenstorf AG; Kaufmann Rainer, Rupperswil; Knecht Hansjörg, Leibstadt; Knörr Werner, Aarau; Kunz-Egloff Barbara, Brittnau; Kym-Mächler Eveline, Rheinfelden; Lämmler Liset, Wettingen; Leitch Thomas, Hermetschwil-Staffeln; Leoff Patricia, Hägglingen; Locher Urs, Zofingen; Magon Rosi, Windisch; Meier Judith, Schneisingen; Müller Geri, Baden; Nyffenegger Stefan, Gontenschwil; Roth Regine, Möhlin; Rüegger Kurt, Rothrist; Sacher Martin, Schinznach Dorf; Sailer-Albrecht Elisabeth, Widen; Troller-Zumsteg Martin, Münchwilen AG; Vögtli Theo, Kleindöttingen; Weiersmüller-Scheuzger Susanne, Rohr AG; Wilhelm Anita, Neuenhof; 480 Gedenksitzung aus Anlass "200 Jahre moderne Schweiz" Aarauer Turmbläser Ansprache von Grossratspräsident Dr. Andreas Brunner Sehr geehrte Frau Landammann, sehr geehrter Herr Ständeratspräsident, sehr geehrte Herren Regierungsräte, verehrter Herr Einwohnerrat, liebe Kolleginnen und Kollegen, meine Damen und Herren, Zu den bedeutendsten politischen Gedanken des Griechischen Altertums gehört Platons Schrift über den Staat: die Politeia. Besorgt um den Menschen als geselliges und gesellschaftliches Wesen, als "zoon politikon", besorgt auch um das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft, erklärt Platon in dieser Schrift, dass es einem Staat nur dann gut gehen könne, wenn die Philosophen Könige oder die Könige Philosophen sind. Auf unsere Zeit, auf unsere Staatsstruktur und unser Demokratieverständnis übertragen, liesse sich sagen, dass es um unser Staatswesen dann gut bestellt ist, wenn die Politiker ganzheitlich denken und die so Denkenden auch politisieren. Dieses Denken kann ein Nachdenken sein über das, was früher in unserem Gemeinwesen geschah, und wir können darüber nachdenklich werden. Das Denken eines Politikers kann aber auch ein Vordenken sein, um scheinbar Unmögliches möglich zu machen, im Sinne aktiver Zukunftsgestaltung. Dann würde Denken das bedeuten, was Bertolt Brecht, dessen 100. Geburtstag in diese Tage fällt, gesagt hat: "Denken heisst verändern". Die Selbständigkeit und Selbstgewissheit des Denkens hat der französische Philosoph und Mathematiker Descartes vor gut 350 Jahren quasi dogmatisiert: "Cogito, ergo sum - ich denke, also bin ich." Denken kann aber auch ein Gedenken sein. Für ein solches haben wir versammelten Parlamentarierinnen und Parlamentarier heute die uns vom Volk zugewiesenen Plätze eingenommen, um des doppelten Ereignisses zu gedenken: 200 Jahre Helvetik und 150 Jahre Bundesstaat. Mit Ihnen begrüsse ich auch den hohen Regierungsrat, mit Frau Landammann Dr. Stéphanie Mörikofer an der Spitze. Sie wird heute am Schluss zu uns sprechen. Mein Gruss geht auch an Herrn Ryan Tandjung, der als jüngster gewählter Einwohnerrat unseres Kantons zu uns sprechen wird. Mit einem besonders freundeidgenössischen Gruss heissen wir Herrn Ständeratspräsident Prof. Dr. Ulrich Zimmerli unter uns willkommen. Als Hauptreferent dieses Tages wird er uns "Die Rolle des Parlamentes im modernen Bundesstaat" aus seiner langen und engagierten Tätigkeit als eidgenössischer Parlamentarier vor Augen führen. Den Tusch zu ihren Worten haben unsere Redner bereits von den vier Aarauer Turmbläsern erhalten. Ihnen und den übrigen musikalisch Mitwirkenden sei im Namen von uns allen herzlich gedankt. Lassen Sie mich kurz den Hintergrund darlegen, warum wir hier in diesem Saal eine Gedenkfeier im Rahmen des Grossen Rates durchführen wollen. Mit dem Jahre 1798 wurden zwei Errungenschaften eingeführt, die bis heute unverrückbare Grundpfeiler unseres Staatsverständnisses sind, nämlich die Rechtsgleichheit und die strikte Gewaltenteilung. Die Wichtigkeit als Schlüsselgelände des Territoriums, das 1803 zum Kanton Aargau wurde, war schon im Altertum bekannt. Das führte dazu, dass das aargauische Kantonsgebiet immer stark umkämpft war und bis 1798 Untertanengebiet blieb. Dies aus mehreren Gründen, auf die 705 15. November 1994 schon mehrfach an anderer Stelle eingegangen wurde. Die helvetische Verfassung brachte auf dem Papier die aller und somit das Ende der Möglichkeit, sich Untertanengebiete zu halten. Diese Errungenschaft überstand alle Wirren und wurde auch fester Bestandteil der Bundesverfassung von 1848. Die entscheidende Zeit der Umgestaltung erfolgte zwischen dem 26. Dezember 1797 und dem 12. April 1798. Bei beiden Daten stand Aarau im Mittelpunkt des Geschehens. Am 26. Dezember 1797 wurde in Aarau die letzte Tagsatzung der Alten Eidgenossenschaft eröffnet, die dann am 31. Januar 1798 aufgelöst wurde. Und am 12. April 1798 wurde wiederum in Aarau die "eine und unteilbare helvetische Republik" ausgerufen. Ich verzichte darauf, auf die Ereignisse dazwischen einzugehen, sondern verweise dazu auf das treffliche Buch "Die Revolution im Aargau". In einem der Punkte dieser Verfassung wurde die strenge Gewaltentrennung formuliert. Demnach üben die gesetzgebende Gewalt der Grosse Rat, gebildet durch je 8 Kantonsvertreter, und der Senat, gebildet durch je 4 Kantonsvertreter, aus. Bei Gesetzen besitzt ausschliesslich der Grosse Rat, bei Verfassungsänderungen der Senat das Initiativrecht. Die ausführende Gewalt hat ein durch die gesetzgebenden Räte bestelltes Direktorium von 5 Mitgliedern inne, das seinerseits vier Minister ernennt. Wir sehen in diesem Wahlverfahren das gleiche Prozedere, wie es heute noch bei den Bundesratswahlen gilt. Richterliche Behörden sind der Oberste Gerichtshof, in den jeder Kanton einen Richter abstellt, die Kantons- und die Distriktsgerichte. Diese Ordnung galt für den Zentralstaat, der ja bekanntlich bis im September 1798 in Aarau residierte. Die Kantone wurden durch zentralistische Regierungsstatthalter geleitet. In unserem Kanton hielt der Parlamentarismus erst mit der Mediationsakte und der darauf folgenden Kantonsgründung 1803 Einzug. Doch das Prinzip der strikten Gewaltentrennung war mit dem Jahre 1798 unumkehrbar eingeführt. Der Zentralismus, der alle historischen Gegebenheiten missachtete, und die Tatsache, dass eine fremde Gewalt der Schweiz die neue Ordnung aufzwingt, erwiesen sich eher als verhängnisvolle Belastung für die neue Verfassung. Der heutige Zwiespalt gegenüber der Helvetik hat seine Gründe zu einem erheblichen Teil in der inneren Gegensätzlichkeit jener Zeit selbst. Die am 12. April proklamierte Republik war der erste Verfassungsstaat mit dem Volk als Souverän; doch war die Schweiz ein besetztes Land, das von Frankreich staats- und aussenpolitisch abhängig war. Die Befreiung der Untertanengebiete, die formelle Gewährleistung einzelner Menschenrechte und die Einführung der parlamentarischen Demokratie waren ein schlagartiger Fortschritt. Doch die Aufhebung der kantonalen Selbstbestimmung und speziell der Landsgemeinden, die Lasten von Besetzung und Kriegen, die neuen Aufgaben und die mit Rücksicht auf das Eigentum nicht einfach gestrichenen Grundzinsen machten die neue Ordnung in der Praxis verhasst. Es brauchte 50 Jahre, die Zeit von 1798 bis 1848, um die Errungenschaften der Helvetik mit den Eigenarten und Traditionen der Eidgenossenschaft zu verbinden. Die Verfassung von 1848 beendete dann eine für unser Land sehr verworrene und bewegte Zeit, in der sich aargauische Persönlichkeiten in 706 Art. 770 Rechtsgleichheit einem hohen Masse hervortaten. Ich zitiere Wilhelm Hamm aus der "Schweiz" 1848: "Erst in den neuesten Zeiten hat der Canton Aargau in dem Bunde der Eidgenossenschaft eine Stellung eingenommen, welche ihn zu einem der wichtigsten und massgebendsten Theilen derselben gemacht hat. Das junge Land hat in kurzer Zeit eine Selbständigkeit gewonnen, sein Volk hat eine Energie bewiesen, welche hohe Achtung verdienen." Lassen Sie mich zum Schluss noch einige Überlegungen zum Umgang mit Neuem anstellen. Der Gedenkakt '200 Jahre moderne Schweiz' vom 17. Januar in der Aarauer Stadtkirche hat Ihnen Werden und Bedeutung der Helvetik mit all ihren Leistungen, Veränderungen, mit all ihren Folgen und Auswirkungen auf die Gemeinden, Kantone und auf unseren Bundesstaat ins Bewusstsein gerufen. Die Bürgerinnen und Bürger sahen sich damals fast von heute auf morgen Veränderungen und Forderungen, um nicht zu sagen Überforderungen, ausgesetzt, zu denen ihre Meinung nicht gefragt war. Das Neue klopft immer an unsere Türen und Tore, und wir müssen diesem Neuen, wenn wir es als gut befunden, Einlass gewähren. Wir können immer wieder beobachten, dass das Neue meistens von kleinen Gruppen oder Eliten ausgeht und Prozesse auslöst oder einleitet, die wir Parlamentarierinnen und Parlamentarier vordenkend begleiten müssen. Die Geschichte hat es uns immer wieder gelehrt, dass zu einer These die Antithese nicht der Weisheit und des Fortschrittes letzter Schluss ist. Es ist viel mehr die Synthese, die nur durch Einfühlungsvermögen, frei von Argwohn und Voreingenommenheit und mit viel gutem Willen gemeinsam zustandekommen kann. Was nützt es, wenn wir zwar innovative Ideen erwarten, diesen dann aber doch kritisch, allzu kritisch gegenüberstehen. Nur weil wir dann, da es uns heute noch gut geht, das Neue doch nicht für nötig befinden. Die Frage sei erlaubt, ob wir nicht zu sehr festgefahren sind, um mutige Schritte zu gehen, Schritte, die wir zum Wohle der kommenden Generation dringend fällen müssten, deren Folgen wir aber nicht mehr tragen und ertragen müssen. Bewahren und verändern war und ist immer die Aufgabe eines Parlamentes, wo immer deren Mitglieder parteipolitisch auch stehen. Das Wichtigste ist immer noch, einen Standpunkt zu haben und einzunehmen, so wie es uns der Syrakuser Archimedes vor über 2200 Jahren gesagt hat: "Gib mir einen Platz, wo ich stehen kann, und ich werde die Welt bewegen." Ich kenne kein Wort, das Wesen und Voraussetzung von Bewahren und Verändern besser wiedergäbe und gleichzeitig auf das hinweist, worauf es im Leben ankommt: einen Standpunkt einnehmen. Standpunkt einnehmen, Standpunkt zeigen, Standpunkt vertreten schafft auch in unserem politischen Alltag in uns allen jene Sicherheit, die wir benötigen, um uns in einem gesicherten Umfeld zu bewegen. Damit weise ich, auch unsere kantonalen Grenzen überschreitend, auf den 150jährigen Bundesstaat hin, dem anzugehören und in ihm wirken zu dürfen wir stolz und dankbar sind. Darum bekennen wir uns zu beidem: Allons-y Argovie; Allons-y Helvétie! 35. Grossratssitzung vom 3. März 1998 (Nachmittag) / 1. Entwurfexemplar vom 27. März 1998 Damit erkläre ich die Gedenksitzung für eröffnet. (Beifall) Vorsitzender: Ich möchte Ihnen noch folgende Mitteilung machen: Sie stellen fest, dass auf der Regierungsbank unser JAZZ-Improvisations-Ensemble der Alten Kantonsschule Aarau Leitung: Fritz Renold Politik braucht Jugend Ansprache von Ryan Tandjung, Mitglied des Einwohnerrates der Stadt Aarau Geschätzte classe politique: Sie werden sich wohl fragen, wer ich bin, was ich hier zu suchen habe und weshalb gerade ich hier neben all den Politgrössen auftreten darf. Ich werde Ihnen diese Frage gerne beantworten: Meine Name ist Ryan Tandjung, ich bin Kantonsschüler der Alten Kantonsschule in Aarau. Und mit 18 Jahren bin ich der jüngste Einwohnerrat der Stadt Aarau und wahrscheinlich auch des Kantons. Wer mich etwas genauer betrachtet, wird wohl auch gemerkt haben, dass meine Urahnen wohl kaum in der Schweizer Geschichte zu finden sind. Meine Eltern sind für das Studium aus dem asiatischen in den europäischen Raum gekommen. Ich meinerseits bin in Aarau geboren und habe auch beinahe mein ganzes Leben hier in der Kantonshauptstadt verbracht. Obwohl ich Ausländer, genauer Auslandchinese zweiter Generation bin, liegen mir der Kanton Aargau und seine Bewohnerinnen und Bewohner sehr am Herzen. Heute wird im Aargau gefeiert, ich mache mit. Wir gedenken der Taten, ohne welche die Schweiz heute nicht in dieser Form existieren könnte. Damals, 1798 und 1848, war die Jugend immer mit von der Partie, ja sie war sogar die treibende Kraft, als es darum ging, vom Adel loszukommen und das neue System willkommen zu heissen. Heute scheint die Jugend sich eher weniger für derartige Vorgänge zu interessieren. Sie scheint sich ganz abzuschotten, und manchmal ist es auch so, als ob die Jugendlichen heute keinen Einsatz für die Gesellschaft leisten wollten. Dennoch beschleicht mich das Gefühl, dass, wer dies glaubt, einen Irrweg begeht. Wir alle wissen, was Politik ist, wir betreiben sie ja, doch eine Definition finden auch wir auf Anhieb nicht. Für mich ist Politisieren das Mitgestalten an der Gesellschaft, die Diskussion, um zu einem Konsens zu gelangen, aber auch das Interesse an der eigenen Umgebung. Und nicht die Annahme, alles sei selbstverständlich, sondern auch einmal aus Eigeninitiative selbst Hand anlegen, um etwas zu bewirken. Deshalb finde ich äusserst wichtig, dass sich Jugendliche für die Politik engagieren. Jugendlichen fehlt es zwar an Erfahrung, doch sehen sie die Sachlage meist auch nicht so verkrampft und finden oft neue Lösungsansätze, ob sie nun realisierbar seien oder ob der Weg zuerst über eine Vision führe. Auch haben sie das Recht und auch die Pflicht, als vollwertige Mitglieder der Gesellschaft am Gemeinschaftsleben mitzuarbeiten. Jugendliche können somit sehr gut Erfahrungen sammeln, indem sie debattieren lernen und gemeinsam nach einem Konsens suchen. Dies würde der Gesellschaft von grossem Nutzen sein, da eine aktive Jugend dem wachsenden Desinteresse vieler Erwachsener an der Politik entgegenwirken könnte. Und um zu verhindern, dass in vierzig Jahren dasselbe Szenario droht und die Stimmbeteiligung ins Bedeutungslose sinkt, Landstatthalter, Herr Dr. Ulrich Siegrist, fehlt. Er kann dieser Sitzung nicht beiwohnen und musste sich aus Rekonvaleszensgründen entschuldigen. sind die Massnahmen jetzt zu ergreifen, und nicht erst dann, wenn die Probleme auftauchen. Es gibt zweifellos heute schon genug Jugendliche, die sich für das Wohlergehen der Gesellschaft einsetzen. Jugendliche sind oftmals aktiver als man denkt, sie sind es einfach nicht im Sinne der Gesellschaft und der heutigen Politik. Politik ist, um es etwas mit jugendlichen Worten auszudrücken, "out". Nach Meinung vieler Jugendlicher lohnt es sich nicht, jahrelang an etwas zu arbeiten, wenn es dann innerhalb von kürzester Zeit so oder so verworfen wird. Es fehlt die notwendige Ausdauer, und auch die Vertrautheit mit dem politischen System. Jugendliche finden es nicht passend, fast endlos zu diskutieren und somit die Erwachsenen zu imitieren. Doch das hat nicht nur seine Nachteile! Sollte denn die Jugend da weiterfahren, wo wir jetzt stehen? Die Jugend hat nach neuen Ausdrucksformen gesucht, nach einer kreativen Politik. Jugendliche versuchen sich durch Musik, Theater oder ähnliches am Gesellschaftsleben zu beteiligen und üben somit in gewissem Masse ebenfalls Politik aus. Es ist oftmals eine Politik, der mehr Aufmerksamkeit geschenkt wird und die deshalb auch etwas mehr Zufriedenheit verschafft. Hier spielt auch das politische Ziel eine weit weniger wichtigere Rolle als der Weg dorthin. Doch ein Resultat, das für die Jugend von lägerfristiger Wichtigkeit wäre, springt dabei nicht heraus. Aber weshalb konnte eine solche Entwicklung zustandekommen? Viele Jugendliche fühlen sich in der Politik nicht ernstgenommen und resignieren oftmals vor der Realität der Politik. Der Jugend wird so der Mut zur Vision genommen, und die Jugend endet meist in der allzu harten Realität, die einen nichts mehr glauben oder hoffen lässt. Mit anderen Worten: Ein Jugendlicher engagiert sich vor allem aus eigenen Interessen, aber auch aus der Gewissheit, etwas erreicht zu haben oder etwas erreichen zu können und sich für etwas eingesetzt zu haben. Doch oftmals werden den heute vorhandenen Jugendlobbies wenig Gehör geschenkt. Und Erfolg kann bei den Jungpolitikerinnen und Jungpolitikern beinahe niemand verbuchen. Durch die latente Frustration nimmt die Motivation stetig ab, und am Ende haben wir die Bescherung: Uninteressierte und unzufriedene Bevölkerungsmassen. Ich habe mir die Freiheit genommen, meine Freunde zu fragen, was denn Politik für sie bedeute. Im grossen und ganzen, das muss gesagt werden, sind die Meinungen ziemlich mies. Der Tenor, vor allem in bezug auf die Jugendpolitik, war dennoch klar herauszuhören: Die Jugend möchte nicht, dass die Erwachsenen für sie Bestimmungen festsetzen. Wahrscheinlich genausowenig, wie Sie wollen, dass Ihnen eine Horde von Jugendlichen vorschreibt, wie Sie nun die Tagesgeschäfte zu führen hätten, ohne dass Sie auch nur das kleinste Wort mitreden könnten. Denn, Hand aufs Herz: Die Jugend ist Ihnen doch egal! Einige von Ihnen werden sich wohl brüsten, sie hätten viel für die Jugendlichen getan. Andere wiederum werden sich wohl fragen, was man der ach so verwöhnten Jugend denn noch geben sollte. Setzt man sich denn nicht schon genug für sie ein? Diese Frage ist wohl berechtigt. Es ist nicht damit getan, den Begriff "Jugend" in irgendeine Motion zu integrieren oder überzeugt zu sein, man setze sich für die 707 3. März 1998 Jugendlichen ein, indem man Bestimmungen festsetzt, die angeblich der Jugend nutzen. Jugendliche werden dabei aber nicht gefragt! Viele von ihnen haben gewiss das Gefühl, die behaupten, sie verstünden etwas von der Jugend, tun es nicht. Denken Sie nun nicht, Sie seien jene, die sicher nicht zu jener Gruppe gehören, denken Sie nun an Ihre jugendliche Vergangenheit zurück! Man kann die Jugend als Gesamtheit auch nicht einfach mit einem Geldbetrag an irgendeine Jugendorganisation abspeisen und irgendeinen Jugendlichen danach nicht mehr beachten, ob er nun in jener Organisation ist oder nicht. Ihre Unterstützung ist wichtiger als Geld! Die Jugend bin ich - nicht. Genausowenig wie ein einziges Mitglied hier im Saale den ganzen Aargau symbolisiert, repräsentiere ich die Gesamtheit der Jugend. Die Jugend ist, nicht weniger als die Erwachsenenwelt, in unzählige kleine Gruppen aufgesplittert. Um den grössten Teil der Jugendlichen zufriedenzustellen, macht es keinen Sinn, einen einzigen Jugendlichen zu befragen und in den politischen Kreislauf zu integrieren. Die Gesamtheit der Aargauer Jugend kann nicht in einer Person vertreten sein. Die Jugendbewegung ist kein Einmann-Unterfangen! Sie können mithelfen, liebe Grossrätinnen und Grossräte! Sie können den Jugendlichen die Chance geben, auf die Politik einen wenn auch sehr kleinen Einfluss zu nehmen. Es ist nicht so, dass nun alle Ideen der Jugendlichen gleich verwirklicht werden sollten oder der Einfluss grösser sein müsse als der des Grossen Rates. Nein, von grösster Wichtigkeit ist aber, dass Jugendlichen Beachtung geschenkt wird. Und falls einmal eine gute und realistische Idee vorhanden sein sollte, muss man sich dafür einsetzen und die Idee unterstützen. Aber auch Visionen dürfen nicht ausgelöscht werden, denn nicht selten werden Ziele durch Visionen erreicht. Man soll den Jugendlichen Pflichten und Rechte geben, damit sie sich ihrer Fähigkeiten bewusst werden und ihre Verantwortung in der Gesellschaft auch wahrnehmen und somit lernen, mit Kompromiss und Niederlage umzugehen. Es hängt am Ende nicht davon ab, wie viele Jugendliche dann tatsächlich später in die Politik einsteigen oder wie das Engagement nun genau aussieht. Wichtig ist es, dass sich die Jugendlichen für die Politik interessieren. Deshalb sollte man ihnen auch die Chance geben, etwas politische Luft zu schnuppern, um somit erfahren zu können, dass Politik auch interessant sein kann. Meine Damen und Herren: Politik braucht Jugend! Ich glaube fest daran, dass all dies möglich ist und die Politik die Jugend bekommt. Ich hoffe auch, dass Sie mithelfen, die Jugendlichen für die Politik zu motivieren. Stellen Sie sich selbst Fragen: Wieviel bedeutet mir die Jugend? Wieviel habe ich für die Jugend geleistet? Was kann ich weiterhin tun? Suchen Sie Antworten darauf, und Sie sind gewiss vom Irrweg abgekommen. Zeigen Sie auch Verständnis und Toleranz für neuere und visionäre Meinungen, und beachten Sie die Jugendlichen. Einen ersten Schritt haben sie bereits getan: Sie haben mir zugehört! - Herzlichen Dank! (grosser Beifall) 708 Art. 480 Jugend vollständig zu verstehen. "Wir sind ja auch einmal alle jung gewesen, also wissen wir wie das ist", wird es wohl heissen. Tempora mutantur! Viele, nicht alle, die heute Chorgemeinschaft Oberentfelden-Kirchleerau Leitung: Bruno Kalberer Die Rolle des Parlaments im modernen Bundesstaat Ansprache von Ständeratspräsident Prof. Dr. Ulrich Zimmerli, Gümligen/Bern Herr Grossratspräsident, Frau Landammann, Herren Regierungsräte, meine sehr verehrten Damen und Herren Grossrätinnen und Grossräte, meine Damen und Herren, Traditionsgemäss beschäftigt sich die schweizerische "Öffentlichkeit mit der institutionellen Bedeutung des Parlaments bestenfalls anlässlich von Jubiläen - wie 1991, als die Parlamentsdienste eine vielbeachtete Festschrift "Das Parlament - oberste Gewalt des Bundes" publizierten, oder wie heute, wo die Rolle des Parlaments anlässlich der Gedenksitzung des aargauischen Grossen Rates unter dem Leitmotiv "200 Jahre moderne Schweiz" zum Thema gemacht wird. Ausserhalb dieser Feierstunden hat sich die schweizerische Öffentlichkeit bisher darauf beschränkt, kleine institutionelle Reformen abzulehnen (wie im Herbst 1992, als das Schweizervolk einen Ausbau der persönlichen Infrastruktur der Parlamentsmitglieder ablehnte) oder periodisch - vorzugsweise im Vorfeld von eidgenössischen Wahlen - die Abschaffung des Ständerates zu propagieren. Im übrigen scheint man stolz darauf zu sein, dass das eidgenössische Parlament (inklusive Parlamentsdienste) den Bund ungefähr gleichviel kostet wie die Bundesanwaltschaft bzw. mehr als 20 Millionen Franken billiger ist als die Siloverbotsentschädigung, die ihrerseits weniger als 3 % der Direktzahlungen an die Landwirtschaft ausmacht. Wenn das Parlament heute unter einem quasi permanenten Minderwertigkeitskomplex leidet, hat dies andere Gründe: es hat längst vor der entsprechenden Diagnose der Politologen und Staatsrechtler erkannt, dass es mit der ihm verfassungsmäs-sig zugedachten Rolle der "obersten Gewalt im Bunde" nicht mehr weit her ist, dass mit dem sogenannten Milizsystem eine unehrliche Fiktion aufrechterhalten wird und die Entscheidmechanismen teilweise hoffnungslos veraltet sind. Deshalb benutze ich die Gelegenheit gerne, heute in dieser Feierstunde ein paar vielleicht provokative Gedanken zur Rolle des Parlaments im modernen Bundesstaat zu äussern. Ich brauche dabei glücklicherweise nicht am Nullpunkt zu beginnen, sondern kann bereits an dieser Stelle darauf verweisen, dass es der klare Wille des Parlaments und des Bundesrates ist, im Rahmen der sogenannten Staatsleitungsreform auch die Stellung der eidgenössischen Räte zu überdenken und dabei insbesondere das Verhältnis zwischen Bundesversammlung und Parlament namentlich in den Bereichen politische Steuerung, Gesetzgebung, Wahlen, Aussenpolitik, Finanzbefugnisse und Oberaufsicht neu zu regeln. Ob daraus eine echte Parlamentsreform wird, hängt davon ab, ob der in letzter Zeit vielstimmig geäusserte Reformwillen ein Lippenbekenntnis bleibt oder in konkrete und politisch mehrheitsfähige Reformvorschläge umgesetzt werden kann. Wir haben nicht mehr viel Zeit, wenn unser System nicht abstürzen soll! Art. 480 1. Gesetzgebung - zeitgemässe Gewaltentrennung: Ich bin kein Deregulierungs-Fanatiker. Wissenschaftliche Untersuchungen, namentlich jene der von den Zusatzbericht der Staatspolitischen Kommissionen der eidgenössischen Räte zur Verfassungsreform vom 6. März 1997, BBI 1997 III 245 ff., sowie die Stellungnahme des Bundesrates vom 9. Juni 1997, BBI 1997 III, 1484), haben indessen gezeigt, dass das Parlament sich zu stark auf gestalterische Detailarbeit konzentriert, statt sich im Rahmen eines umfassenden verfassungsmässigen Steuerungsauftrags auf die wirklich wichtigen Grundsatzentscheidungen zu beschränken. Darin liegt die wohlverstandene demokratische Legitimität des gesetzgeberischen Wirkens unseres Parlaments. Nimmt die Komplexität der Sachfragen zu, ist vermehrt qualifiziertes Spezialwissen für den Erlass und das Finden von Problemlösungsnormen erforderlich. Parlamente sind der Idee nach in den gegenwärtigen Demokratien Diskursforen par excellence. Ihre Aufgabe ist es, neue Konsense auch dort zu suchen, wo alte brüchig geworden sind, und Kompromisse in Konflikten zwischen wirtschaftlichen Interessengruppen und verschiedenen Weltanschauungen zu finden, und zwar ist dabei das immer neu zu umschreibende Gemeinwohl das Ziel (vgl. dazu etwa Jörg Paul Müller, Demokratische Gerechtigkeit, Eine Studie zur Legitimität rechtlicher und politischer Ordnung, dtv Wissenschaft, München 1993, S. 161). Deshalb sind die Gesetzgebungskompetenzen zwischen der Bundesversammlung und dem Bundesrat neu abzugrenzen. Das bedingt eine verantwortungsbewusste Auseinandersetzung mit einem zeitgemässen Gewaltenteilungsgrundsatz, der die Handlungsfähigkeit unseres Staates einerseits nicht gefährden darf, andererseits aber auch ein modernes Demokratieund Gesetzmässigkeitsprinzip zu respektieren hat. Bedenkt man weiter, dass die Gesetzgebung eines europäischen Kleinstaates zunehmend von äusseren Faktoren bestimmt sein wird, darf über Vereinfachungen und Flexibilisierungen des Gesetzgebungsverfahrens m. E. nur im Zusammenhang mit Lösungsvorschlägen zur Umsetzung des Völkerrechts ins Landesrecht und zusammen mit einer echten Reform der Volksrechte diskutiert werden. Bei näherer Prüfung erweist sich also die unausweichliche Auseinandersetzung um eine zeitgemässe Neuordnung der Gesetzgebungskompetenzen unter dem Gesichtswinkel der Transparenz und der Praktikabilität als zentrales Element der Staatsleitungsreform. Versagt hier der Reformprozess, so verliert unser Staat schon bald seine Handlungsfähigkeit. Ich möchte eine erste These aufstellen, die folgendermassen lautet: These: Das Gesetzgebungsverfahren muss im Bundesstaat Schweiz dringend und grundlegend überarbeitet werden. Dabei sind die Rechtsetzungskompetenzen zwischen Parlament und Exekutive (Bundesrat) im Lichte eines neuen Verständnisses der Gewaltenteilung abzugrenzen. Mit Blick auf die Erhaltung der Handlungsfähigkeit unseres Staates ist damit eine massvolle Verstärkung des Repräsentationsprinzips verbunden, weshalb eine Reform der Volksrechte nicht ohne gleichzeitige Renovation des Gesetzgebungsverfahrens verabschiedet werden kann. 2. Parlament und Aussenpolitik: Im Gegensatz zu vielen Parlamentskolleginnen und -kollegen bin ich nicht der Meinung, dass es Sache des Parlaments sein sollte, in letzter 3. März 1998 staatspolitischen Kommissionen eingesetzten Experten (vgl. dazu etwa den Verantwortung die grundlegenden Zielsetzungen der Aussenpolitik zu umschreiben. Wer solches fordert, führt gewissermassen den Gesetzesvorbehalt in die Aussenpolitik ein, was bedeuten würde, dass dem Bundesrat in der Aussenpolitik praktisch nur noch Vollzugsaufgaben verbleiben. Das kann nicht der Sinn einer effizienten Aussenpolitik eines Kleinstaates sein, der ganz besonders rasch und flexibel sowie professionell auf wechselnde Rahmenbedingungen reagieren können muss. Andererseits kann nicht genug betont werden, dass die schweizerische Aussenpolitik ein partnerschaftliches Zusammenwirken von Parlament und Bundesrat geradezu voraussetzt. In diesem Sinne ist die Verantwortung zwischen Parlament und Exekutive also durchaus geteilt, aber die operative Kompetenz muss mit erheblicher Gestaltungsfreiheit beim Bundesrat bleiben. Dieser ist freilich gehalten, seine heute schon bestehenden Informationspflichten dem Parlament gegenüber (Art. 47bisa Abs. 2 des Geschäftsverkehrsgesetzes (GVG, SR 171.11) lautet: Der Bundesrat informiert die Ratspräsidenten sowie die aussenpolitischen Kommissionen regelmässig, frühzeitig und umfassend über die Entwicklung der aussenpolitische Lage, über die Vorhaben im Rahmen von internationalen Organisationen und über die Verhandlungen mit auswärtigen Staaten.) noch ernster als bisher zu nehmen und auf diese Weise dafür zu sorgen, dass das Parlament die internationale Entwicklung verfolgen und die Verhandlungen der Schweiz mit auswärtigen Staaten und internationalen Organisationen begleiten kann, wie es das Gesetz von ihm verlangt (Art. 47bisa Abs. 1 GVG). Vom Parlament darf und muss andererseits verlangt werden, dass es sich umfassender und sorgfältiger als bisher mit den periodischen bundesrätlichen Berichterstattungen über die Aussen- und Aussenwirtschaftspolitik befasst, denn die Aussenpolitik hat zunehmend Reflexwirkungen auf die Innenpolitik. Für mich bedeutet dies auch, dass nicht nur die Mitglieder der aussenpolitischen Kommissionen Auslandkontakte pflegen müssen. Sodann drängt sich auf, das Engagement im Europarat zu verstärken, denn in dieser Organisation vermag die Schweiz - in ihrem eigenen Interesse - auch als Nichtmitglied der EU Wesentliches zur Zusammenarbeit in Europa beizutragen. Fazit: Die Problemlösungskompetenz des Parlaments wird vermehrt daran gemessen werden, wie ausländische oder völkerrechtlich normierte Regelungen in die Entscheidungsprozesse einbezogen und auf ihre Tauglichkeit hin überprüft werden können. Und das wiederum verlangt zusätzliche parlamentarische Ressourcen. Deshalb meine zweite These: These: Aussenpolitik wird immer mehr auch zur Innenpolitik. Das bedeutet nicht, dass das Parlament neuerdings die grundlegenden Zielsetzungen der Aussenpolitik zu bestimmen und dem Bundesrat einen verbindlichen Rahmen für die operative Aussenpolitik zu setzen hätte. Anderseits kann es durchaus Sinn machen, die Ziele und Mittel der schweizerischen Aussenpolitik im Rahmen der laufenden Verfassungsrevision transparenter zu machen und damit zusätzlich demokratisch zu legitimieren. Das Parlament ist aber allemal gehalten, seine Auslandkontakte im Rahmen seiner Zuständigkeiten zu 709 3. März 1998 intensivieren und sich dadurch Problemlösungskompetenz anzueignen. Art. 480 zusätzliche 3. Reform der Oberaufsicht: Neben der Funktion als gesetzgebende Behörde und als Wahlorgan steht für das Parlament die Oberaufsicht über die Verwaltung im Verwendung der von ihm bewilligten Ressourcen und die Wirkung der eingesetzten Mittel (Zusatzbericht der Staatspolitischen Kommission (Anm. 1) Ziff. 151.3). Darüber hinaus zwingt die gegenwärtig auf allen Ebenen geführte Diskussion über die Rolle des Parlaments im Rahmen des New Public Management (NPM; wirkungsorientierte Verwaltungsführung) zur kritischen und zukunftsweisenden Auseinandersetzung mit der Frage, was wirksame verfassungsmässige Oberaufsicht bedeute. Dabei muss von Anfang an klar sein, dass die parlamentarische Oberaufsicht als politische Kontrolle sinngemäss auf das Wesentliche ausgerichtet sein muss. Entscheidend ist dabei die Verknüpfung zwischen den staatlichen Aufgaben und den finanziellen Konsequenzen: Das Parlament muss in der Lage sein, den politischen Preis einer "Bestellung" zu erkennen und gleichzeitig ihre Finanzierung zu beschliessen. Das Parlament muss sich zudem inskünftig intensiver der Kontrolltätigkeit im Sinne eines Controlling widmen, soll aber deswegen nicht minder auch aus eigenem Antrieb politisch aktiv werden im Sinne der berühmten Inputfunktion. Die Überprüfung der Einhaltung von Produktegruppenbudgets und von Leistungsaufträgen kann ein Mass an Auseinandersetzung mit der Sache erfordern, welches über die traditionelle parlamentarische Aufsichtstätigkeit hinausgeht. Ferner ist zu beachten, dass mit der parlamentarischen ControllingTätigkeit zwangsläufig eine mitschreitende Kontrolle verbunden ist, auch das ist teilweise neu. Hinzu kommt, dass je nach Grad der Dezentralisierung, Auslagerung oder Privatisierung von Staatsaufgaben (Stichwort "4-KreiseModell" im Bund) die Intensität der Aufsicht unterschiedlich ausfällt. Das allein schon genügt und macht deutlich, dass die parlamentarische Oberaufsicht neu zu definieren ist. In diesem Zusammenhang stellen sich allerdings heikle Fragen zum staatsrechtlichen Rollenverständnis und zur Tragweite des Gewaltenteilungsprinzips (vgl. zum Ganzen Ulrich Zimmerli "Privatisierung" und parlamentarische Oberaufsicht, Beitrag anlässlich der Berner Tage für die juristische Praxis 1997, erscheint demnächst im entsprechenden Sammelband). Meine dritte These: Das Parlament steht den Herausforderungen des "New Public Management" zur Zeit recht hilflos gegenüber. Sowohl beim Bund wie auch bei den Kantonen erlauben es ihm weder die geltenden Verfassungsnormen noch die organisationsrechtlichen Bestimmungen auf Gesetzesebene, jene Verantwortung glaubwürdig mitzutragen, die ihm im demokratischen Rechtsstaat zugewiesen ist. Die Rechtsgrundlagen zur parlamentarischen Oberaufsicht sind insbesondere im Lichte des NPM rasch in ein staatspolitisch verträgliches Mass umzuarbeiten. Für die Anpassung der Rechtsgrundlagen können Pilotprojekte willkommene Entscheidungsgrundlagen liefern. 4. Bundesversammlung und Kantone - Zweikammersystem: Nationalrat und Ständerat sind im Sinne eines vollkommenen Zweikammersystems gleichberechtigt. Der 710 Vordergrund der verfassungsmässigen Aufgaben. Heute ist anerkannt, dass beim Parlament neben dem bereits erwähnten Steuerungsdefizit bei der Gesetzgebung ein empfindliches Manko bei der Kontrolle und Evaluation besteht: Das Parlament hat zu wenig Kenntnisse über die Umsetzung der Gesetze, die eine Rat ist Ausdruck des nationalen Gedankens, der andere steht für Gleichheit der Gliedstaaten im Bundesstaat. Nach Artikel 160 der neuen Verfassung (Fassung gemäss Beschluss des Nationalrates vom 22. Januar 1998) "sorgt die Bundesversammlung für die Pflege der Beziehungen zwischen Bund und Kantonen". Soweit die Theorie. Seit Jahren wird seitens der Kantone geltend gemacht, die Zusammenarbeit zwischen Bund und Kantonen lasse zu wünschen übrig und namentlich der Ständerat sei nicht in der Lage, die Interessen der Kantone im bundesstaatlichen Entscheidungsprozess gebührend zu vertreten. Am 8. Oktober 1993 wurde die Konferenz der Kantonsregierungen (KdK) gegründet, insbesondere mit dem Zweck, in "kantonsrelevanten Angelegenheiten des Bundes die erforderliche Koordination und Information der Kantone sicherzustellen". Nicht zuletzt angesichts der fortschreitenden internationalen Verflechtungen staatlicher Interessen ist es verständlich, dass die Kantone vermehrt in die Willensbildung auf nationaler Ebene einbezogen werden möchten. Es ist das Verdienst der KdK, dass die Bestimmungen über das Zusammenwirken von Bund und Kantonen in der neuen Verfassung gegenüber dem Entwurf des Bundesrates klarer gefasst werden konnten. Unbestritten ist auch, dass der Föderalismus - quasi als dialektisches Prinzip unseres Bundesstaates - stets aufs Neue an die sich wandelnden Bedürfnisse angepasst werden muss. Institutioneller Garant dafür ist und bleibt aber m. E. in erster Linie das Parlament und vor allem der Ständerat. Ich bestreite, dass die Anliegen der Kantone im Ständerat ungenügend vertreten würden. Wohl ist es den Mitgliedern der Bundesversammlung von Verfassungs wegen verboten, nach Instruktionen zu stimmen (Art. 91 BV) Das bedeutet aber keineswegs, dass der Ständerat "abgehoben" von den Anliegen und Interessen der Kantone politisieren, die sie vertreten. Intensive Kontakte mit den Kantonsregierungen sind üblich und aus der Sicht des Ständerates erwünscht. Sodann darf darauf hingewiesen werden, dass gegenwärtig drei aktive und neun ehemalige Regierungsräte im Ständerat wirken - das sind mehr als ein Viertel der Mitglieder. Damit soll nicht gesagt sein, dass über die Zusammensetzung und die Wahl des Ständerates nicht diskutiert werden kann. Den Kantonen, die für das Wahlverfahren zuständig sind, steht es frei, nach Reformen zu suchen. Im Sinne eines Denkmodells könnte ich mir beispielsweise vorstellen, dass eine effiziente und politisch breit abgestützte Deputation im Ständerat gleichzeitig mit den Wahlen in die Kantonsregierung vom Volk bestimmt werden könnte, dass die Standesvertretung mit beratender Stimme in der Kantonsregierung Einsitz nimmt (sozusagen als "Botschafter" oder "Aussenminister") sowie status- und besoldungsmässig den Regierungsmitgliedern gleichgestellt wird. Damit würde der Ständerat zwar zumindest für die grossen Kantone professionalisiert. Wenn man von seinen Mitgliedern aber professionelle Leistung verlangt - und das ist ja unbestritten -, steht m. E. nichts entgegen, auch den ehrlichen organisationsrechtlichen Schritt zu tun. Diese Art. 480 Vision ist aber so brisant, dass ich auf weitere Ausführungen dazu wohl besser verzichte ... Warnen möchte ich indessen davor, im Rahmen einer institutionellen Reform unseres Föderalismus den Ständerat zu einer Länderkammer nach dem Muster des deutschen Bundesrates umzufunktionieren (vgl. dazu etwa Matthias Heger, Deutscher Bundesrat und Schweizer Ständerat, Beiträge zum Parlamentsrecht, Berlin 1990). Die Trotzdem: Ich könnte mir vorstellen, dass sich die Mitglieder des Ständerates und die Vertreterinnen und Vertreter der Konferenz der Kantonsregierungen mindestens einmal jährlich zu einem institutionalisierten Gedankenaustausch treffen. Warum nicht während der Septembersession im Rathaus des Äusseren Standes zu Bern, das war immerhin der erste Versammlungsort des Ständerates)? Sodann könnte die Bundesversammlung während einer Legislatur jeweils eine Session in der französisch-sprachigen Schweiz oder im Tessin durchführen, um auf diese Weise zu dokumentieren, dass die Verhandlungssprache im Parlament nicht unbedingt das Englische zu sein braucht ... Meine vierte These: Das Parlament ist heute mehr denn je gehalten, auf die Anliegen und Interessen der Kantone Rücksicht zu nehmen. Es darf dabei aber das bundesstaatliche Gesamtwohl unseres Landes nicht aus den Augen verlieren und muss den Mut haben, institutionellen Begehrlichkeiten von föderalistischen Schattenorganisationen energisch entgegenzutreten. Andererseits steht nichts entgegen, über die Rolle des Ständerates im Zusammenhang mit einer echten Staatsleitungsreform eine Grundsatzdiskussion zu führen und das Zweikammersystem nötigenfalls zu optimieren. 5. Milizsystem: Wir Parlamentarier haben uns daran gewöhnt, überlastet zu sein. Wir wollen es offenbar so. Warum? Zum "Sonderfall Schweiz" gehört auch das Bekenntnis zum politisch-kulturellen Milizsystem. Der schweizerische Milizgedanke hat eine alte Tradition und geht weit über den Bereich der Landesverteidigung hinaus. Die Schwierigkeiten beginnen aber bereits bei der Definition des Begriffs Miliz. Miliz in diesem Sinne bedeutet, "sich brauchen lassen" für den demokratischen Staat, damit dieser seine vielfältigen Aufgaben möglichst bürgernah und unter Ausnutzung besonderer Fähigkeiten, Talente und Beziehungen der Direktbetroffenen erfüllen kann. Die Schweiz lebt in der Tat von Leuten, die mehr tun als ihre Pflicht, die also am Staat auf allen Ebenen aktiv mitbauen, ohne dafür eine besondere öffentliche Anerkennung oder ein Entgelt zu fordern, das der tatsächlich geleisteten Arbeit entspricht. Von den in unserem politischen Milizsystem tätigen Personen wird also erwartet, dass sie genügend Zeit für ihr Amt aufzubringen vermögen, dass sie den Sachproblemen gewachsen sind, dass sie etwas von Management verstehen und die Führungsinstrumente zur Planung, Entscheidung und Kontrolle einzusetzen vermögen, dass sie das Instrumentarium demokratischer Willensbildung beherrschen, dass sie kreativ und innovativ sind und aufgrund aller dieser Tugenden als Vorbilder anerkannt werden. Kurz: Wir verlangen Unmögliches. Deshalb wird es immer schwieriger, Persönlichkeiten für den freiwilligen Dienst am Gemeinwesen zu finden; die Komplexität des 3. März 1998 Erfahrungen in unserem nördlichen Nachbarland zeigen, dass damit eine Blockierung der Entscheidungsvorgänge verbunden sein kann, die für den Kleinstaat Schweiz mit seiner halbdirekten Demokratie unerträglich werden könnte. Sodann sollte die Konferenz der Kantonsregierungen gerade im Interesse eines wohlverstandenen Föderalismus davon absehen, sich im bundesstaatlichen Meinungsbildungsprozess als Konkurrenzorgan zu verstehen. Wirkens zugunsten der Öffentlichkeit schreckt immer mehr Leute ab, Verantwortung zu übernehmen. Das hängt auch damit zusammen, dass in unserer Leistungsgesellschaft die erforderliche Frei-Zeit eben rarer geworden ist und man auf allen Ebenen mehr Professionalität fordert. Soziologie, Politikwissenschaften und Jurisprudenz beschäftigen sich deshalb mit Grund seit einigen Jahren mit der Frage, wie unser Milizsystem im politisch-kulturellen Bereich optimiert und an die Erfordernisse eines leistungsfähigen, föderalistisch strukturierten, demokratischen Staates angepasst werden könnte, ohne seinen Kerngehalt zu verlieren. Natürlich will ich Sie nicht weiter mit theoretischen Ausführungen zum politischen Milizsystem der Schweiz belasten. Eines muss ich allerdings doch noch beifügen: Es sprechen gewichtige Gründe gegen einen umfassenden Systemwechsel und damit gegen die generelle Einführung eines Berufsparlaments (vgl. dazu namentlich Urs Marti, Zwei Kammern – ein Parlament, Ursprung und Funktion des schweizerischen Zweikammersystems, Frauenfeld 1990, S. 105 ff.). Zwar würde die Politik dadurch professioneller. Das Parlamentsmitglied müsste aber sein Mandat hauptberuflich ausüben, und damit würden erwünschte Synergieeffekte dahinfallen. Sodann würde die Gefahr entstehen, dass sich das Parlament zu sehr vom Volk entfernt. Mit dem Systemwechsel wären grundlegende staatspolitische Veränderungen verbunden. Ein Ausbau der parlamentarischen Hilfsdienste zu einer eigentlichen parlamentarischen Gegenverwaltung wäre unumgänglich. Der Trend zum Zentralismus und zum Zentralstaat würde begünstigt. Für Mandatsinhaberinnen und Mandatsinhaber aus entfernteren Regionen würde sich die Frage eines Zweitwohnsitzes in der Bundeshauptstadt stellen. Die bisher intensiven Beziehungen und Wechselwirkungen zwischen der Wählerschaft und dem Mittelpunkt des politischen Wirkens - heute ja wieder besonders aktuell - wären nicht mehr in einem genügenden Ausmass gegeben. Deshalb meine 5. These: These: Jedes Volk hat das Parlament, das es verdient. Die Bundesversammlung ist de facto schon lange kein Milizparlament mehr. Wenn sie den Anforderungen des modernen Bundesstaates, nicht zuletzt im Sinne der vorgängig formulierten These, gewachsen sein soll, muss im Rahmen einer Parlamentsreform, die als dringlich erscheint, rasch eine Formel gefunden werden, die dem richtig verstandenen parlamentarischen "Sonderfall-Schweiz" Rechnung trägt, sonst verliert das Parlament umgehend auch noch den Rest seiner ohnehin schon beschränkten Handlungsfähigkeit. 6. Schlussbemerkung: Allein schon eine fahrlässig summarische Skizze der Funktionen des Parlaments im modernen Bundesstaat macht deutlich, wie interessant die Zeit ist, in der wir Politikerinnen und Politiker heute leben Sie sehen: ich formuliere bewusst optimistisch. Nur haben 711 3. März 1998 es noch lange nicht alle gemerkt. Möge das Jubiläumsjahr 1998 dazu beitragen, dass uns rechtzeitig ein Licht aufgeht! (Beifall) JAZZ-Improvisations-Ensemble der Alten Kantonsschule Aarau Leitung: Fritz Renold Art. 480 Sehr geehrter Herr Präsident, verehrte Grossrätinnen und Grossräte, Herren Kollegen, meine Damen und Herren, 1. Von Gottes oder der Menschen Gnaden: Gewaltenteilung als staatspolitisches Grundprinzip ist ein junges Kind der politisch-philosophischen Menschheitsgeschichte. Geschichte im Sinne von schriftlicher und damit nachvollziehbarer Überlieferung umfasst einen Zeitraum von etwa 7000 Jahren. Während rund 6800 Jahren war diese Geschichte, Gewaltenteilung im politischen Alltag Referat von Landammann Dr. Stéphanie Mörikofer-Zwez von einigen lokalen und zeitlichen Ausnahmen abgesehen, geprägt durch absolute Herrscher - selten auch durch Herrscherinnen - oder allenfalls durch Oligarchien. Macht, Reichtum und Herrschergewalt wurden von Einzelnen beansprucht, welche ihre Legitimation direkt auf ein göttliches Mandat zurückführten - sei es, dass sie sich direkt als Abkömmlinge der Götter bezeichneten, sei es dass sie als von Gottes Gnaden Bevollmächtigte auftraten. Gestützt wurde diese Legitimation und damit der Machtanspruch der Herrschenden in der Regel durch die jeweilige Staatsreligion. Weltliche und geistliche Macht bildeten im gegenseitigen Interesse eine Symbiose, die zusätzlich durch militärische Mittel abgestützt wurde. Diese Form der Herrschaft mit ihren Königen, Kaisern, dem Adel und der Geistlichkeit war nicht einfach schlecht - auch wenn wir uns heute kaum mehr vorstellen können, in einem solchen System zu leben. Die Macht des Herrschers bedeutete neben Willkür und fehlenden Individualrechten auch Schutz der Menschen vor Faustrecht, bedeutete Überlebensmöglichkeit und oft auch Rechtsstaat für den zivilrechtlichen Bereich. Erst die mit der Aufklärung sich durchsetzenden Ideen der menschlichen Individualrechte, die Idee von Freiheit und Gleichheit aller Menschen, entzogen den Staatsformen der Monarchie und der Aristokratie die rechtfertigende Basis. Die Legitimation der Herrschenden kam neu nicht mehr von Gott, sondern von den Menschen, vom Volk. In der "Virgina Declaration of Rights" (Bill of Rights) vom 12. Juni 1776 heisst es im 2. Artikel: "Alle Macht steht dem Volke zu und leitet sich folglich von ihm her. Alle Amtsträger sind ihm als Bevollmächtigte und Diener jederzeit verantwortlich." Die entsprechende Passage in der "Déclaration des Droits de l'Homme et du Citoyen" vom August 1789 lautet: "Der Ursprung aller Souveränität ruht seinem Wesen nach im Volke. Keine Körperschaft, niemand kann Autorität ausüben, die nicht ausdrücklich daraus hervorgeht." Interessanterweise fehlt im französischen Text der Hinweis auf die Verantwortung der Amtsträger gegenüber dem Souverän. Ebenso interessant ist, dass der französische Text die Gewaltenteilung mit keinem Wort erwähnt. Zentrales Anliegen der "Déclaration des Droits de l'Homme" sind die individuellen Freiheitsrechte, deren Einschränkung nur auf der Basis eines Gesetzes erfolgen darf: Willkürverbot also und Legalitätsprinzip. Wie die Volkssouveränität im politischen Alltag durchgesetzt werden soll, dazu äussern sich die Autoren der französischen Menschenrechtsdeklaration nicht, ganz im Gegensatz zur 712 "Virginia Declaration of Rights", welche in Artikel 5 unter anderem festhält: "Die legislative und die exekutive Gewalt des Staates soll von der richterlichen getrennt und unterschieden sein." Wer die weitere Geschichte der letzten 200 Jahre verfolgt, kann unschwer feststellen, dass die Festlegung der Volkssouveränität als Legitimationsprinzip noch keine Garantie für eine demokratische Herrschaftsform darstellt. Die Diktatur des Proletariats mag zwar eine Volksherrschaft sein, eine Demokratie ist sie nicht. Zur Demokratie im echten Sinne des Wortes gehört unteilbar beides: Die Legitimation der Ausübung staatlicher Macht durch das Volk und die Teilung der Gewalten. Nur so können letztlich die menschlichen Freiheitsrechte garantiert und kann staatlicher Willkür ein Riegel geschoben werden. 2. Selbständigkeit der richterlichen Gewalt: Wie bereits aus der Formulierung der Bill of Rights von 1776 hervorgeht, ist die Gewaltenteilung offensichtlich kein gleichseitiges Dreieck: Die gesetzgebende und die ausführende Gewalt des Staates sollen klar von der richterlichen Gewalt getrennt sein. Wie die gesetzgebende und die ausführende Gewalt zu trennen wären, war schon damals weit weniger klar und ist es teilweise auch geblieben. Dies spiegelt sich auch in der aargauischen Kantonsverfassung vom 25. Juni 1980. Grundsätzlich wird in § 68 Abs. 2 festgehalten, dass für die Organisation der Behörden der Grundsatz der Gewaltenteilung gilt. In personeller Hinsicht wird dies in § 69 Abs. 3 konkretisiert, indem festgehalten wird, dass "niemand gleichzeitig Mitglied des Grossen Rates und des Regierungsrates oder Mitglied einer dieser Behörden und des Obergerichtes sein" kann. In materieller Hinsicht wird die Unabhängigkeit der Gerichte in § 95 Abs. 1 klipp und klar festgelegt: "Die Gerichte sind unabhängig und nur Gesetz und Recht unterworfen". Allerdings fallen die Richter und Richterinnen, welche diese Gerichte bilden, nicht vom Himmel, sondern werden gewählt - durch das Volk in die Bezirksgerichte, durch den Grossen Rat in die kantonalen Gerichte. Zudem unterstehen die kantonalen Gerichte wie alle kantonalen Behörden und Organe der Oberaufsicht des Grossen Rates - allerdings nur für seine organisatorischen Belange und nicht für ihre Rechtsprechung. Die Grauzone einer möglichen Einflussnahme auf die Rechtsprechung über Wahlmanöver und Aufsichtsrecht verlangt vom Grossen Rat und vor allem von seinen einschlägigen Kommissionen im politischen Alltag ein erhebliches Mass an demokratischem Fingerspitzengefühl, Art. 480 was die Einhaltung der Gewaltenteilung betrifft. Ausrutscher bei Wahlen im Sinne von Denkzetteln für missliebige Obergerichtsurteile und Oberrichter kommen vor, bilden jedoch glücklicherweise seltene Ausnahmen. Ernsthafte Versuche des Grossen Rates, die richterliche Unabhängigkeit der kantonalen Gerichte in Frage zu stellen, hat es in den 13 Jahren, die ich persönlich überblicke, keine gegeben. In jüngerer und jüngster Zeit zeichnen sich allerdings zwei Konfliktlinien ab, die für die Zukunft einige Fragen aufwerfen: - Im Bau- und Planungsrecht hat der Grosse Rat verschiedentlich Entscheide gefällt, welche mit Beschwerde - Eine zweite Konfliktlinie ergibt sich, wenn im Rahmen der Budgethoheit der Grosse Rat über die Mittel bestimmt personell und finanziell - welche dem Obergericht zur Verfügung stehen. Während langer Zeit wurden entsprechende Anträge des Obergerichtes jeweils stillschweigend oder murrend bewilligt. Im Zuge der Sparanstrengungen wurden vom Obergericht im Rahmen des Budgets 1998 verlangte Mittel nicht zugestanden. Es ist einerseits verständlich, dass der Grosse Rat für die kantonalen Gerichte die gleichen finanziellen Masstäbe anlegen möchte wie für die Verwaltung - andererseits dürfen finanzielle Restriktionen die Funktionsfähigkeit der Gerichte nicht beeinträchtigen. Die zuständige Justizkommission wird im Rahmen ihrer Oberaufsichtsfunktion mögliche Fehlentwicklungen genau verfolgen müssen. 3. Parlament und Exekutive: Theorie und Praxis: Während die Aufgabe der richterlichen Behörden von der Exekutive und der Legislative, wie bereits dargelegt, klar und unmissverständlich abgegrenzt werden kann, ist die Aufgabenausscheidung zwischen Legislative und Exekutive deutlich schwieriger. Gemäss Kantonsverfassung ist der Grosse Rat die oberste aufsichtsführende und, unter Vorbehalt der Volksentscheide, die gesetzgebende Behörde (§ 761). Weitere Kernkompetenzen sind die Festlegung des Budgets und die Abnahme der Staatsrechnung (§811) sowie die Aufgabe, über "die grundlegenden Pläne der staatlichen Tätigkeit" zu befinden, wobei der Rat Änderungen verlangen kann (§79 1). Der Regierungsrat auf der anderen Seite ist die leitende und oberste vollziehende Behörde des Kantons (§871). Er steht der kantonalen Verwaltung vor und beaufsichtigt die anderen Träger von öffentlichen Aufgaben (§901). Er sorgt für die rechtmässige und wirksame Tätigkeit der Verwaltung, bestimmt im Rahmen von Verfassung und Gesetz die zweckmässige Organisation (§902) und bezeichnet unter Vorbehalt der Befugnisse der Stimmberechtigten und des Grossen Rates die hauptsächlichen Ziele und Mittel staatlichen Handelns. Er plant und koordiniert die staatlichen Tätigkeiten (§891). Vom Grundsatz her ist die Idee bestechend einfach: Der Grosse Rat setzt die Leitplanken staatlicher Tätigkeit in Form von Gesetzen, Dekreten sowie sogenannten grundlegenden Plänen der staatlichen Tätigkeit und bewilligt die dafür nötigen Mittel im Budget. Anschliessend kontrolliert er, ob die Mittel richtig eingesetzt wurden und ob sich die Verwaltung bei ihrer Tätigkeit an Recht und Gesetz gehalten hat. Der Regierungsrat sorgt für eine rationelle und gesetzeskonforme Verwaltungstätigkeit und 3. März 1998 an das Verwaltungsgericht angefochten wurden - zum Teil mit Erfolg. Hier stellt sich die grundsätzliche Frage, wer im Konfliktfall letztlich entscheidet - die Legislative oder die richterliche Behörde in Anwendung der vom Souverän beschlossenen Gesetze? Diese Frage, welche sich letztlich um die Einbindung der Legislative in die Verfassung und in die vom Volk verabschiedeten Gesetze dreht, taucht auch bei der Diskussion um die Verfassungsgerichtsbarkeit auf Bundesebene wieder auf. Nach der herrschenden Lehre ist vor allem bei Fragen, welche die Grundrechte tangieren, das Gericht die letzte entscheidende Instanz. Das mag richtig sein. Allerdings muss man sich bewusst sein, dass damit zusätzlich zur Teilung auch eine faktische Hierarchisierung der Gewalten anerkannt wird. stellt dort, wo der Grosse Rat zuständig ist, die nötigen Anträge in Form von Botschaften. In der Praxis des politischen Alltags treten jedoch Wechselwirkungen auf, welche den Grundsatz der Gewaltenteilung wesentlich stärker beeinflussen als die schlanke Einfachheit des Verfassungstextes erahnen lässt. Nehmen wir als Beispiel den Budgetprozess. Die Regierung, gemäss Verfassung verantwortlich für die rechtmässige und wirksame Verwaltungstätigkeit, legt ein Budget vor, das nach ihrer Auffassung die für die Staatstätigkeit notwendigen Mittel - und nur diese - enthält. Der Grosse Rat seinerseits könnte der Auffassung sein, dass erstens das Defizit zu gross und zweitens die Steuern zu hoch sind und beschliesst wesentliche Reduktionen der zur Verfügung stehenden Mittel. Falls sich die Regierung nicht verrechnet hat, wäre damit die ordentliche Staatstätigkeit grundsätzlich gefährdet. Die Regierung könnte die ihr im Rahmen der Gewaltenteilung zustehende Aufgabe und Verantwortung in der Folge gar nicht korrekt wahrnehmen. Falls sie dann doch in eigener Kompetenz und auf der Basis des geltenden Recht anders entscheiden muss, würde dies letztlich zu einer Aushöhlung der Budgetkompetenz des Grossen Rates führen. Noch pointierter wird der Gegensatz zwischen Budgetrecht und Gesetzesrecht, wenn einzelne Budgetposten gestrichen werden, die zur gesetzeskonformen Aufgabenerfüllung zwingend notwendig sind. Ich möchte hier nicht an "Rasenmäherentscheide" erinnern, denen staatspolitisch doch eher eine untergeordnete Bedeutung zukommt. Unhaltbar wird es aber zum Beispiel, wenn die Legislative die nötigen Mittel zur Erfüllung eines interkantonalen Vertrages verweigert, ohne bei diesem Entscheid die Kündigungsmodalitäten zu beachten. Der Grosse Rat zwingt damit die Regierung grundsätzlich zu einem rechtswidrigen Verhalten, das der gleiche Grosse Rat anschliessend im Rahmen seiner Aufsichtsfunktion wiederum rügen könnte. Schwierig zu handhaben - wir haben es im vergangenen Jahr wieder im Massstab 1:1 erlebt - sind auch die Kompetenzen des Grossen Rates bei der Festlegung der grundlegenden Pläne der staatlichen Tätigkeit. Wo die Richtlinien der staatlichen Tätigkeit, über welche die Legislative befindet, aufhören und die Verwaltungstätigkeit, für welche die Regierung verantwortlich ist, beginnt, lässt sich kaum klar festlegen - entsprechend gross ist das Konfliktpotential und entsprechend schwierig ist die Ausscheidung der Verantwortlichkeiten. Im Gegensatz zum Budget- und zum Richtlinienbereich war bei der Gesetzgebung die Trennung zwischen Exekutive und 713 3. März 1998 Art. 480 Legislative bisher wenig problematisch. Die Tendenz, die Vorarbeiten für die Gesetzgebung der Verwaltung zu entziehen und Gesetzestexte direkt in parlamentarischen Kommissionen zu erarbeiten, könnte allerdings zu Konflikten mit der Kantonsverfassung führen, die in §901 vorsieht, dass der Regierungsrat dem Grossen Rat Entwürfe für Verfassungsänderungen, Gesetze und Dekrete vorlegt. 4. Schlussfolgerungen und Ausblick: Der Grundsatz der Gewaltenteilung zwischen Legislative und Exekutive ist, wie die wenigen angeführten Beispiele zeigen, nicht ganz einfach zu handhaben. Vielfache Verflechtungen, speziell im Rahmen des Budgetrechtes, lassen eine saubere Trennung oft nicht zu. Die Situation könnte allerdings wesentlich entschärft werden, wenn der Grosse Rat sich darüber klar Erschwerend hat sich bis heute bei der Diskussion zwischen Exekutive und Legislative ausgewirkt, dass die Steuerung der Aufgaben vom Parlament praktisch nur über Ausgabenbeschlüsse wahrgenommen werden konnte. Während bei einzelnen Ausgabenvorlagen der Zusammenhang zwischen der zu lösenden Aufgabe und den entstehenden Kosten relativ transparent ist, ist dieser Zusammenhang beim Budget für den Grossen Rat kaum mehr durchschaubar. Die aus einmal beschlossenen Gesetzen und aus den Aufgaben der Verwaltung entstehenden Kosten sind kaum nachvollziehbar und die Folgen von Veränderungen bei den Budgetposten damit auch nicht. Ich bin überzeugt, dass die neuen Formen der wirkungsorientierten Verwaltung, welche beim Budgetierungsprozess Aufgaben und Ausgaben transparent verknüpfen, wesentlich bessere Entscheidgrundlagen liefern werden. Damit wird es allerdings auch schwieriger, mit Budgetkürzungen zu operieren ohne gleichzeitig über die Aufgabenerfüllung zu entscheiden. Im Sinne der politischen Redlichkeit ist jedoch den neuen Mechanismen eine Chance zu geben. Die Diskussion um Trennung und Verflechtung der Gewalten zwischen Exekutive und Legislative wird allerdings auch in einem ausgeklügelten System der Aufgabendefinition und damit verbunden der Mittelallokation nie ganz verschwinden, weil es letztlich ja wird, dass staatliche Aufgaben und Verpflichtungen nicht im Rahmen der Mittelzuteilung geändert werden können. Auch der Grosse Rat ist bei seinen Budgetentscheidungen nicht völlig frei, sondern muss sich an geltende Gesetze und Verträge halten. Änderungen, welche zu Einsparungen führen, können in gesetzlich oder vertraglich geregelten Bereichen nicht durch Streichung von Budgetkrediten, sondern nur Änderung von Gesetzen und Verträgen erreicht werden. Um dies noch an einem plakativen Beispiel zu illustrieren: Grössere Schulklassen können nicht dadurch eingeführt werden, dass der Grosse Rat die Mittel für die Lehrerbesoldungen drastisch reduziert, sondern nur durch eine - vom Volk gutzuheissende - Änderung des Schulgesetzes. um politischen Einfluss und damit auch um ein Stück Macht geht. Das System von Checks and balances, von Kontrolle und Gleichgewichten, auf dem die demokratische Gewaltenteilung basiert, ist grundsätzlich ein System, das den Konflikt braucht. Dieser Konflikt muss jedoch im Rahmen gewisser Spielregeln ablaufen, damit Resultate entstehen und nicht Scherbenhaufen. Zudem braucht es ein Mindestmass an gemeinsamem Willen, die Aufgaben des Staates sinnvoll zu definieren und sie zugunsten der Bevölkerung zu erfüllen - nicht zur Erhaltung oder Stärkung der eigenen Macht. Unser demokratisches System ist in seinen Ursprüngen nun 200 Jahre alt und seit 150 Jahren in der Bundesverfassung verankert. In dieser Zeit ist längst nicht alles nach dem Theoriebuch gelaufen. Letztlich hat aber der gemeinsame Wille, diesem Land zu dienen, dafür gesorgt, dass wir über die Runden gekommen sind. Zusammen mit meinen vier Kollegen freue ich mich darauf, die Zusammenarbeit, aber auch den konstruktiven Konflikt mit Ihnen, die hier im Saal das Volk vertreten, weiterzuführen und damit, wie wir das alle gelobt haben, die Wohlfahrt dieses Kantons und seiner Einwohnerinnen und Einwohner auch in Zukunft zu fördern. (Beifall) Aarauer Turmbläser _________________________________________________ 714