Die Rolle des Parlaments im modernen

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Art. 480
3. März 1998
35. Sitzung
3. März 1998, 14.00 Uhr
Vorsitzender:
Dr. Andreas Brunner, Oberentfelden
Protokollführer:
Marc Pfirter, Staatsschreiber
Tonaufnahme/Redaktion:
Norbert Schüler
Präsenz:
Anwesend 166 Mitglieder
Abwesend mit Entschuldigung 34 Mitglieder
Entschuldigt abwesend: Bertschi-Hitz Patrizia, Ennetbaden; Binder Andreas, Baden;
Binggeli Peter, Mellingen; Birri René, Stein AG; Bopp-Saxer Edith, Seengen; Bossard
Martin, Kölliken; Brentano Max, Brugg AG; Erne Leo, Döttingen; Fischer Patrick,
Bremgarten AG; Hagenbuch-Spillmann Hans, Oberlunkhofen; Hähni Bernhard, Safenwil;
Herzog-Ernst Marianne, Oberhof; Humbel Näf Ruth, Birmenstorf AG; Kaufmann Rainer,
Rupperswil; Knecht Hansjörg, Leibstadt; Knörr Werner, Aarau; Kunz-Egloff Barbara,
Brittnau; Kym-Mächler Eveline, Rheinfelden; Lämmler Liset, Wettingen; Leitch Thomas,
Hermetschwil-Staffeln; Leoff Patricia, Hägglingen; Locher Urs, Zofingen; Magon Rosi,
Windisch; Meier Judith, Schneisingen; Müller Geri, Baden; Nyffenegger Stefan,
Gontenschwil; Roth Regine, Möhlin; Rüegger Kurt, Rothrist; Sacher Martin, Schinznach
Dorf; Sailer-Albrecht Elisabeth, Widen; Troller-Zumsteg Martin, Münchwilen AG; Vögtli
Theo, Kleindöttingen; Weiersmüller-Scheuzger Susanne, Rohr AG; Wilhelm Anita,
Neuenhof;
480 Gedenksitzung aus Anlass "200 Jahre moderne
Schweiz"
Aarauer Turmbläser
Ansprache von Grossratspräsident Dr. Andreas Brunner
Sehr geehrte Frau Landammann, sehr geehrter Herr
Ständeratspräsident, sehr geehrte Herren Regierungsräte,
verehrter Herr Einwohnerrat, liebe Kolleginnen und
Kollegen, meine Damen und Herren,
Zu den bedeutendsten politischen Gedanken des
Griechischen Altertums gehört Platons Schrift über den
Staat: die Politeia.
Besorgt um den Menschen als geselliges und
gesellschaftliches Wesen, als "zoon politikon", besorgt auch
um das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft, erklärt
Platon in dieser Schrift, dass es einem Staat nur dann gut
gehen könne, wenn die Philosophen Könige oder die Könige
Philosophen sind. Auf unsere Zeit, auf unsere Staatsstruktur
und unser Demokratieverständnis übertragen, liesse sich
sagen, dass es um unser Staatswesen dann gut bestellt ist,
wenn die Politiker ganzheitlich denken und die so
Denkenden auch politisieren.
Dieses Denken kann ein Nachdenken sein über das, was
früher in unserem Gemeinwesen geschah, und wir können
darüber nachdenklich werden. Das Denken eines Politikers
kann aber auch ein Vordenken sein, um scheinbar
Unmögliches möglich zu machen, im Sinne aktiver
Zukunftsgestaltung. Dann würde Denken das bedeuten, was
Bertolt Brecht, dessen 100. Geburtstag in diese Tage fällt,
gesagt hat: "Denken heisst verändern". Die Selbständigkeit
und Selbstgewissheit des Denkens hat der französische
Philosoph und Mathematiker Descartes vor gut 350 Jahren
quasi dogmatisiert: "Cogito, ergo sum - ich denke, also bin
ich."
Denken kann aber auch ein Gedenken sein. Für ein solches
haben wir versammelten Parlamentarierinnen und
Parlamentarier heute die uns vom Volk zugewiesenen Plätze
eingenommen, um des doppelten Ereignisses zu gedenken:
200 Jahre Helvetik und 150 Jahre Bundesstaat. Mit Ihnen
begrüsse ich auch den hohen Regierungsrat, mit Frau Landammann Dr. Stéphanie Mörikofer an der Spitze. Sie wird
heute am Schluss zu uns sprechen. Mein Gruss geht auch an
Herrn Ryan Tandjung, der als jüngster gewählter
Einwohnerrat unseres Kantons zu uns sprechen wird. Mit
einem besonders freundeidgenössischen Gruss heissen wir
Herrn Ständeratspräsident Prof. Dr. Ulrich Zimmerli unter
uns willkommen. Als Hauptreferent dieses Tages wird er
uns "Die Rolle des Parlamentes im modernen Bundesstaat"
aus seiner langen und engagierten Tätigkeit als
eidgenössischer Parlamentarier vor Augen führen.
Den Tusch zu ihren Worten haben unsere Redner bereits
von den vier Aarauer Turmbläsern erhalten. Ihnen und den
übrigen musikalisch Mitwirkenden sei im Namen von uns
allen herzlich gedankt.
Lassen Sie mich kurz den Hintergrund darlegen, warum wir
hier in diesem Saal eine Gedenkfeier im Rahmen des Grossen Rates durchführen wollen. Mit dem Jahre 1798 wurden
zwei Errungenschaften eingeführt, die bis heute
unverrückbare Grundpfeiler unseres Staatsverständnisses
sind, nämlich die Rechtsgleichheit und die strikte
Gewaltenteilung.
Die Wichtigkeit als Schlüsselgelände des Territoriums, das
1803 zum Kanton Aargau wurde, war schon im Altertum
bekannt. Das führte dazu, dass das aargauische
Kantonsgebiet immer stark umkämpft war und bis 1798
Untertanengebiet blieb. Dies aus mehreren Gründen, auf die
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15. November 1994
schon mehrfach an anderer Stelle eingegangen wurde. Die
helvetische Verfassung brachte auf dem Papier die
aller und somit das Ende der Möglichkeit, sich
Untertanengebiete zu halten. Diese Errungenschaft
überstand alle Wirren und wurde auch fester Bestandteil der
Bundesverfassung von 1848.
Die entscheidende Zeit der Umgestaltung erfolgte zwischen
dem 26. Dezember 1797 und dem 12. April 1798. Bei
beiden Daten stand Aarau im Mittelpunkt des Geschehens.
Am 26. Dezember 1797 wurde in Aarau die letzte
Tagsatzung der Alten Eidgenossenschaft eröffnet, die dann
am 31. Januar 1798 aufgelöst wurde. Und am 12. April 1798
wurde wiederum in Aarau die "eine und unteilbare
helvetische Republik" ausgerufen. Ich verzichte darauf, auf
die Ereignisse dazwischen einzugehen, sondern verweise
dazu auf das treffliche Buch "Die Revolution im Aargau". In
einem der Punkte dieser Verfassung wurde die strenge
Gewaltentrennung formuliert. Demnach üben die
gesetzgebende Gewalt der Grosse Rat, gebildet durch je 8
Kantonsvertreter, und der Senat, gebildet durch je 4
Kantonsvertreter, aus. Bei Gesetzen besitzt ausschliesslich
der Grosse Rat, bei Verfassungsänderungen der Senat das
Initiativrecht.
Die ausführende Gewalt hat ein durch die gesetzgebenden
Räte bestelltes Direktorium von 5 Mitgliedern inne, das
seinerseits vier Minister ernennt. Wir sehen in diesem
Wahlverfahren das gleiche Prozedere, wie es heute noch bei
den Bundesratswahlen gilt.
Richterliche Behörden sind der Oberste Gerichtshof, in den
jeder Kanton einen Richter abstellt, die Kantons- und die
Distriktsgerichte.
Diese Ordnung galt für den Zentralstaat, der ja bekanntlich
bis im September 1798 in Aarau residierte. Die Kantone
wurden durch zentralistische Regierungsstatthalter geleitet.
In unserem Kanton hielt der Parlamentarismus erst mit der
Mediationsakte und der darauf folgenden Kantonsgründung
1803 Einzug. Doch das Prinzip der strikten
Gewaltentrennung war mit dem Jahre 1798 unumkehrbar
eingeführt. Der Zentralismus, der alle historischen
Gegebenheiten missachtete, und die Tatsache, dass eine
fremde Gewalt der Schweiz die neue Ordnung aufzwingt,
erwiesen sich eher als verhängnisvolle Belastung für die
neue Verfassung. Der heutige Zwiespalt gegenüber der
Helvetik hat seine Gründe zu einem erheblichen Teil in der
inneren Gegensätzlichkeit jener Zeit selbst. Die am 12. April
proklamierte Republik war der erste Verfassungsstaat mit
dem Volk als Souverän; doch war die Schweiz ein besetztes
Land, das von Frankreich staats- und aussenpolitisch
abhängig war. Die Befreiung der Untertanengebiete, die
formelle Gewährleistung einzelner Menschenrechte und die
Einführung der parlamentarischen Demokratie waren ein
schlagartiger Fortschritt. Doch die Aufhebung der
kantonalen
Selbstbestimmung
und
speziell
der
Landsgemeinden, die Lasten von Besetzung und Kriegen,
die neuen Aufgaben und die mit Rücksicht auf das Eigentum
nicht einfach gestrichenen Grundzinsen machten die neue
Ordnung in der Praxis verhasst. Es brauchte 50 Jahre, die
Zeit von 1798 bis 1848, um die Errungenschaften der
Helvetik mit den Eigenarten und Traditionen der
Eidgenossenschaft zu verbinden. Die Verfassung von 1848
beendete dann eine für unser Land sehr verworrene und
bewegte Zeit, in der sich aargauische Persönlichkeiten in
706
Art. 770
Rechtsgleichheit
einem hohen Masse hervortaten. Ich zitiere Wilhelm Hamm
aus der "Schweiz" 1848: "Erst in den neuesten Zeiten hat der
Canton Aargau in dem Bunde der Eidgenossenschaft eine
Stellung eingenommen, welche ihn zu einem der wichtigsten
und massgebendsten Theilen derselben gemacht hat. Das
junge Land hat in kurzer Zeit eine Selbständigkeit
gewonnen, sein Volk hat eine Energie bewiesen, welche
hohe Achtung verdienen."
Lassen Sie mich zum Schluss noch einige Überlegungen
zum Umgang mit Neuem anstellen.
Der Gedenkakt '200 Jahre moderne Schweiz' vom 17. Januar
in der Aarauer Stadtkirche hat Ihnen Werden und Bedeutung
der Helvetik mit all ihren Leistungen, Veränderungen, mit
all ihren Folgen und Auswirkungen auf die Gemeinden,
Kantone und auf unseren Bundesstaat ins Bewusstsein
gerufen. Die Bürgerinnen und Bürger sahen sich damals fast
von heute auf morgen Veränderungen und Forderungen, um
nicht zu sagen Überforderungen, ausgesetzt, zu denen ihre
Meinung nicht gefragt war.
Das Neue klopft immer an unsere Türen und Tore, und wir
müssen diesem Neuen, wenn wir es als gut befunden,
Einlass gewähren. Wir können immer wieder beobachten,
dass das Neue meistens von kleinen Gruppen oder Eliten
ausgeht und Prozesse auslöst oder einleitet, die wir
Parlamentarierinnen und Parlamentarier vordenkend
begleiten müssen. Die Geschichte hat es uns immer wieder
gelehrt, dass zu einer These die Antithese nicht der Weisheit
und des Fortschrittes letzter Schluss ist. Es ist viel mehr die
Synthese, die nur durch Einfühlungsvermögen, frei von
Argwohn und Voreingenommenheit und mit viel gutem
Willen gemeinsam zustandekommen kann. Was nützt es,
wenn wir zwar innovative Ideen erwarten, diesen dann aber
doch kritisch, allzu kritisch gegenüberstehen. Nur weil wir
dann, da es uns heute noch gut geht, das Neue doch nicht für
nötig befinden. Die Frage sei erlaubt, ob wir nicht zu sehr
festgefahren sind, um mutige Schritte zu gehen, Schritte, die
wir zum Wohle der kommenden Generation dringend fällen
müssten, deren Folgen wir aber nicht mehr tragen und
ertragen müssen.
Bewahren und verändern war und ist immer die Aufgabe
eines Parlamentes, wo immer deren Mitglieder
parteipolitisch auch stehen. Das Wichtigste ist immer noch,
einen Standpunkt zu haben und einzunehmen, so wie es uns
der Syrakuser Archimedes vor über 2200 Jahren gesagt hat:
"Gib mir einen Platz, wo ich stehen kann, und ich werde die
Welt bewegen." Ich kenne kein Wort, das Wesen und
Voraussetzung von Bewahren und Verändern besser
wiedergäbe und gleichzeitig auf das hinweist, worauf es im
Leben ankommt: einen Standpunkt einnehmen.
Standpunkt einnehmen, Standpunkt zeigen, Standpunkt
vertreten schafft auch in unserem politischen Alltag in uns
allen jene Sicherheit, die wir benötigen, um uns in einem
gesicherten Umfeld zu bewegen. Damit weise ich, auch
unsere kantonalen Grenzen überschreitend, auf den 150jährigen Bundesstaat hin, dem anzugehören und in ihm
wirken zu dürfen wir stolz und dankbar sind.
Darum bekennen wir uns zu beidem: Allons-y Argovie;
Allons-y Helvétie!
35. Grossratssitzung vom 3. März 1998 (Nachmittag) / 1. Entwurfexemplar vom 27. März 1998
Damit erkläre ich die Gedenksitzung für eröffnet. (Beifall)
Vorsitzender: Ich möchte Ihnen noch folgende Mitteilung
machen: Sie stellen fest, dass auf der Regierungsbank unser
JAZZ-Improvisations-Ensemble der Alten Kantonsschule
Aarau
Leitung: Fritz Renold
Politik braucht Jugend
Ansprache von Ryan Tandjung, Mitglied des
Einwohnerrates der Stadt Aarau
Geschätzte classe politique: Sie werden sich wohl fragen,
wer ich bin, was ich hier zu suchen habe und weshalb gerade
ich hier neben all den Politgrössen auftreten darf. Ich werde
Ihnen diese Frage gerne beantworten: Meine Name ist Ryan
Tandjung, ich bin Kantonsschüler der Alten Kantonsschule
in Aarau. Und mit 18 Jahren bin ich der jüngste
Einwohnerrat der Stadt Aarau und wahrscheinlich auch des
Kantons. Wer mich etwas genauer betrachtet, wird wohl
auch gemerkt haben, dass meine Urahnen wohl kaum in der
Schweizer Geschichte zu finden sind. Meine Eltern sind für
das Studium aus dem asiatischen in den europäischen Raum
gekommen. Ich meinerseits bin in Aarau geboren und habe
auch beinahe mein ganzes Leben hier in der
Kantonshauptstadt verbracht. Obwohl ich Ausländer,
genauer Auslandchinese zweiter Generation bin, liegen mir
der Kanton Aargau und seine Bewohnerinnen und
Bewohner sehr am Herzen.
Heute wird im Aargau gefeiert, ich mache mit. Wir
gedenken der Taten, ohne welche die Schweiz heute nicht in
dieser Form existieren könnte. Damals, 1798 und 1848, war
die Jugend immer mit von der Partie, ja sie war sogar die
treibende Kraft, als es darum ging, vom Adel loszukommen
und das neue System willkommen zu heissen. Heute scheint
die Jugend sich eher weniger für derartige Vorgänge zu
interessieren. Sie scheint sich ganz abzuschotten, und
manchmal ist es auch so, als ob die Jugendlichen heute
keinen Einsatz für die Gesellschaft leisten wollten.
Dennoch beschleicht mich das Gefühl, dass, wer dies glaubt,
einen Irrweg begeht. Wir alle wissen, was Politik ist, wir
betreiben sie ja, doch eine Definition finden auch wir auf
Anhieb nicht. Für mich ist Politisieren das Mitgestalten an
der Gesellschaft, die Diskussion, um zu einem Konsens zu
gelangen, aber auch das Interesse an der eigenen Umgebung.
Und nicht die Annahme, alles sei selbstverständlich, sondern
auch einmal aus Eigeninitiative selbst Hand anlegen, um
etwas zu bewirken.
Deshalb finde ich äusserst wichtig, dass sich Jugendliche für
die Politik engagieren. Jugendlichen fehlt es zwar an
Erfahrung, doch sehen sie die Sachlage meist auch nicht so
verkrampft und finden oft neue Lösungsansätze, ob sie nun
realisierbar seien oder ob der Weg zuerst über eine Vision
führe. Auch haben sie das Recht und auch die Pflicht, als
vollwertige
Mitglieder
der
Gesellschaft
am
Gemeinschaftsleben mitzuarbeiten. Jugendliche können
somit sehr gut Erfahrungen sammeln, indem sie debattieren
lernen und gemeinsam nach einem Konsens suchen. Dies
würde der Gesellschaft von grossem Nutzen sein, da eine
aktive Jugend dem wachsenden Desinteresse vieler
Erwachsener an der Politik entgegenwirken könnte. Und um
zu verhindern, dass in vierzig Jahren dasselbe Szenario
droht und die Stimmbeteiligung ins Bedeutungslose sinkt,
Landstatthalter, Herr Dr. Ulrich Siegrist, fehlt. Er kann
dieser Sitzung nicht beiwohnen und musste sich aus
Rekonvaleszensgründen entschuldigen.
sind die Massnahmen jetzt zu ergreifen, und nicht erst dann,
wenn die Probleme auftauchen.
Es gibt zweifellos heute schon genug Jugendliche, die sich
für das Wohlergehen der Gesellschaft einsetzen. Jugendliche
sind oftmals aktiver als man denkt, sie sind es einfach nicht
im Sinne der Gesellschaft und der heutigen Politik. Politik
ist, um es etwas mit jugendlichen Worten auszudrücken,
"out". Nach Meinung vieler Jugendlicher lohnt es sich nicht,
jahrelang an etwas zu arbeiten, wenn es dann innerhalb von
kürzester Zeit so oder so verworfen wird. Es fehlt die
notwendige Ausdauer, und auch die Vertrautheit mit dem
politischen System. Jugendliche finden es nicht passend, fast
endlos zu diskutieren und somit die Erwachsenen zu
imitieren. Doch das hat nicht nur seine Nachteile! Sollte
denn die Jugend da weiterfahren, wo wir jetzt stehen? Die
Jugend hat nach neuen Ausdrucksformen gesucht, nach
einer kreativen Politik. Jugendliche versuchen sich durch
Musik, Theater oder ähnliches am Gesellschaftsleben zu
beteiligen und üben somit in gewissem Masse ebenfalls
Politik aus. Es ist oftmals eine Politik, der mehr
Aufmerksamkeit geschenkt wird und die deshalb auch etwas
mehr Zufriedenheit verschafft. Hier spielt auch das
politische Ziel eine weit weniger wichtigere Rolle als der
Weg dorthin. Doch ein Resultat, das für die Jugend von
lägerfristiger Wichtigkeit wäre, springt dabei nicht heraus.
Aber weshalb konnte eine solche Entwicklung
zustandekommen? Viele Jugendliche fühlen sich in der
Politik nicht ernstgenommen und resignieren oftmals vor der
Realität der Politik. Der Jugend wird so der Mut zur Vision
genommen, und die Jugend endet meist in der allzu harten
Realität, die einen nichts mehr glauben oder hoffen lässt.
Mit anderen Worten: Ein Jugendlicher engagiert sich vor
allem aus eigenen Interessen, aber auch aus der Gewissheit,
etwas erreicht zu haben oder etwas erreichen zu können und
sich für etwas eingesetzt zu haben. Doch oftmals werden
den heute vorhandenen Jugendlobbies wenig Gehör
geschenkt. Und Erfolg kann bei den Jungpolitikerinnen und
Jungpolitikern beinahe niemand verbuchen. Durch die
latente Frustration nimmt die Motivation stetig ab, und am
Ende haben wir die Bescherung: Uninteressierte und
unzufriedene Bevölkerungsmassen.
Ich habe mir die Freiheit genommen, meine Freunde zu
fragen, was denn Politik für sie bedeute. Im grossen und
ganzen, das muss gesagt werden, sind die Meinungen
ziemlich mies. Der Tenor, vor allem in bezug auf die
Jugendpolitik, war dennoch klar herauszuhören: Die Jugend
möchte nicht, dass die Erwachsenen für sie Bestimmungen
festsetzen. Wahrscheinlich genausowenig, wie Sie wollen,
dass Ihnen eine Horde von Jugendlichen vorschreibt, wie
Sie nun die Tagesgeschäfte zu führen hätten, ohne dass Sie
auch nur das kleinste Wort mitreden könnten. Denn, Hand
aufs Herz: Die Jugend ist Ihnen doch egal!
Einige von Ihnen werden sich wohl brüsten, sie hätten viel
für die Jugendlichen getan. Andere wiederum werden sich
wohl fragen, was man der ach so verwöhnten Jugend denn
noch geben sollte. Setzt man sich denn nicht schon genug
für sie ein? Diese Frage ist wohl berechtigt. Es ist nicht
damit getan, den Begriff "Jugend" in irgendeine Motion zu
integrieren oder überzeugt zu sein, man setze sich für die
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3. März 1998
Jugendlichen ein, indem man Bestimmungen festsetzt, die
angeblich der Jugend nutzen. Jugendliche werden dabei aber
nicht gefragt! Viele von ihnen haben gewiss das Gefühl, die
behaupten, sie verstünden etwas von der Jugend, tun es
nicht.
Denken Sie nun nicht, Sie seien jene, die sicher nicht zu
jener Gruppe gehören, denken Sie nun an Ihre jugendliche
Vergangenheit zurück! Man kann die Jugend als Gesamtheit
auch nicht einfach mit einem Geldbetrag an irgendeine
Jugendorganisation abspeisen und irgendeinen Jugendlichen
danach nicht mehr beachten, ob er nun in jener Organisation
ist oder nicht. Ihre Unterstützung ist wichtiger als Geld!
Die Jugend bin ich - nicht. Genausowenig wie ein einziges
Mitglied hier im Saale den ganzen Aargau symbolisiert,
repräsentiere ich die Gesamtheit der Jugend. Die Jugend ist,
nicht weniger als die Erwachsenenwelt, in unzählige kleine
Gruppen aufgesplittert. Um den grössten Teil der
Jugendlichen zufriedenzustellen, macht es keinen Sinn,
einen einzigen Jugendlichen zu befragen und in den
politischen Kreislauf zu integrieren. Die Gesamtheit der
Aargauer Jugend kann nicht in einer Person vertreten sein.
Die Jugendbewegung ist kein Einmann-Unterfangen!
Sie können mithelfen, liebe Grossrätinnen und Grossräte!
Sie können den Jugendlichen die Chance geben, auf die
Politik einen wenn auch sehr kleinen Einfluss zu nehmen. Es
ist nicht so, dass nun alle Ideen der Jugendlichen gleich
verwirklicht werden sollten oder der Einfluss grösser sein
müsse als der des Grossen Rates. Nein, von grösster
Wichtigkeit ist aber, dass Jugendlichen Beachtung
geschenkt wird. Und falls einmal eine gute und realistische
Idee vorhanden sein sollte, muss man sich dafür einsetzen
und die Idee unterstützen. Aber auch Visionen dürfen nicht
ausgelöscht werden, denn nicht selten werden Ziele durch
Visionen erreicht.
Man soll den Jugendlichen Pflichten und Rechte geben,
damit sie sich ihrer Fähigkeiten bewusst werden und ihre
Verantwortung in der Gesellschaft auch wahrnehmen und
somit lernen, mit Kompromiss und Niederlage umzugehen.
Es hängt am Ende nicht davon ab, wie viele Jugendliche
dann tatsächlich später in die Politik einsteigen oder wie das
Engagement nun genau aussieht. Wichtig ist es, dass sich
die Jugendlichen für die Politik interessieren. Deshalb sollte
man ihnen auch die Chance geben, etwas politische Luft zu
schnuppern, um somit erfahren zu können, dass Politik auch
interessant sein kann.
Meine Damen und Herren: Politik braucht Jugend! Ich
glaube fest daran, dass all dies möglich ist und die Politik
die Jugend bekommt. Ich hoffe auch, dass Sie mithelfen, die
Jugendlichen für die Politik zu motivieren. Stellen Sie sich
selbst Fragen: Wieviel bedeutet mir die Jugend? Wieviel
habe ich für die Jugend geleistet? Was kann ich weiterhin
tun? Suchen Sie Antworten darauf, und Sie sind gewiss vom
Irrweg abgekommen. Zeigen Sie auch Verständnis und
Toleranz für neuere und visionäre Meinungen, und beachten
Sie die Jugendlichen. Einen ersten Schritt haben sie bereits
getan: Sie haben mir zugehört! - Herzlichen Dank! (grosser
Beifall)
708
Art. 480
Jugend vollständig zu verstehen. "Wir sind ja auch einmal
alle jung gewesen, also wissen wir wie das ist", wird es wohl
heissen. Tempora mutantur! Viele, nicht alle, die heute
Chorgemeinschaft Oberentfelden-Kirchleerau
Leitung: Bruno Kalberer
Die Rolle des Parlaments im modernen Bundesstaat
Ansprache von Ständeratspräsident Prof. Dr. Ulrich
Zimmerli, Gümligen/Bern
Herr Grossratspräsident, Frau Landammann, Herren
Regierungsräte, meine sehr verehrten Damen und Herren
Grossrätinnen und Grossräte, meine Damen und Herren,
Traditionsgemäss beschäftigt sich die schweizerische
"Öffentlichkeit mit der institutionellen Bedeutung des
Parlaments bestenfalls anlässlich von Jubiläen - wie 1991,
als die Parlamentsdienste eine vielbeachtete Festschrift "Das
Parlament - oberste Gewalt des Bundes" publizierten, oder
wie heute, wo die Rolle des Parlaments anlässlich der
Gedenksitzung des aargauischen Grossen Rates unter dem
Leitmotiv "200 Jahre moderne Schweiz" zum Thema
gemacht wird. Ausserhalb dieser Feierstunden hat sich die
schweizerische Öffentlichkeit bisher darauf beschränkt,
kleine institutionelle Reformen abzulehnen (wie im Herbst
1992, als das Schweizervolk einen Ausbau der persönlichen
Infrastruktur der Parlamentsmitglieder ablehnte) oder
periodisch - vorzugsweise im Vorfeld von eidgenössischen
Wahlen - die Abschaffung des Ständerates zu propagieren.
Im übrigen scheint man stolz darauf zu sein, dass das
eidgenössische Parlament (inklusive Parlamentsdienste) den
Bund ungefähr gleichviel kostet wie die Bundesanwaltschaft
bzw. mehr als 20 Millionen Franken billiger ist als die
Siloverbotsentschädigung, die ihrerseits weniger als 3 % der
Direktzahlungen an die Landwirtschaft ausmacht. Wenn das
Parlament heute unter einem quasi permanenten
Minderwertigkeitskomplex leidet, hat dies andere Gründe:
es hat längst vor der entsprechenden Diagnose der
Politologen und Staatsrechtler erkannt, dass es mit der ihm
verfassungsmäs-sig zugedachten Rolle der "obersten Gewalt
im Bunde" nicht mehr weit her ist, dass mit dem
sogenannten Milizsystem eine unehrliche Fiktion
aufrechterhalten wird und die Entscheidmechanismen
teilweise hoffnungslos veraltet sind.
Deshalb benutze ich die Gelegenheit gerne, heute in dieser
Feierstunde ein paar vielleicht provokative Gedanken zur
Rolle des Parlaments im modernen Bundesstaat zu äussern.
Ich brauche dabei glücklicherweise nicht am Nullpunkt zu
beginnen, sondern kann bereits an dieser Stelle darauf
verweisen, dass es der klare Wille des Parlaments und des
Bundesrates
ist,
im
Rahmen
der
sogenannten
Staatsleitungsreform auch die Stellung der eidgenössischen
Räte zu überdenken und dabei insbesondere das Verhältnis
zwischen Bundesversammlung und Parlament namentlich in
den Bereichen politische Steuerung, Gesetzgebung, Wahlen,
Aussenpolitik, Finanzbefugnisse und Oberaufsicht neu zu
regeln. Ob daraus eine echte Parlamentsreform wird, hängt
davon ab, ob der in letzter Zeit vielstimmig geäusserte
Reformwillen ein Lippenbekenntnis bleibt oder in konkrete
und politisch mehrheitsfähige Reformvorschläge umgesetzt
werden kann. Wir haben nicht mehr viel Zeit, wenn unser
System nicht abstürzen soll!
Art. 480
1. Gesetzgebung - zeitgemässe Gewaltentrennung: Ich bin
kein
Deregulierungs-Fanatiker.
Wissenschaftliche
Untersuchungen, namentlich jene der von den
Zusatzbericht der Staatspolitischen Kommissionen der
eidgenössischen Räte zur Verfassungsreform vom 6. März
1997, BBI 1997 III 245 ff., sowie die Stellungnahme des
Bundesrates vom 9. Juni 1997, BBI 1997 III, 1484), haben
indessen gezeigt, dass das Parlament sich zu stark auf
gestalterische Detailarbeit konzentriert, statt sich im
Rahmen
eines
umfassenden
verfassungsmässigen
Steuerungsauftrags
auf
die
wirklich
wichtigen
Grundsatzentscheidungen zu beschränken. Darin liegt die
wohlverstandene
demokratische
Legitimität
des
gesetzgeberischen Wirkens unseres Parlaments. Nimmt die
Komplexität der Sachfragen zu, ist vermehrt qualifiziertes
Spezialwissen für den Erlass und das Finden von
Problemlösungsnormen erforderlich. Parlamente sind der
Idee nach in den gegenwärtigen Demokratien Diskursforen
par excellence. Ihre Aufgabe ist es, neue Konsense auch dort
zu suchen, wo alte brüchig geworden sind, und
Kompromisse in Konflikten zwischen wirtschaftlichen
Interessengruppen und verschiedenen Weltanschauungen zu
finden, und zwar ist dabei das immer neu zu umschreibende
Gemeinwohl das Ziel (vgl. dazu etwa Jörg Paul Müller,
Demokratische Gerechtigkeit, Eine Studie zur Legitimität
rechtlicher und politischer Ordnung, dtv Wissenschaft,
München 1993, S. 161).
Deshalb sind die Gesetzgebungskompetenzen zwischen der
Bundesversammlung und dem Bundesrat neu abzugrenzen.
Das
bedingt
eine
verantwortungsbewusste
Auseinandersetzung
mit
einem
zeitgemässen
Gewaltenteilungsgrundsatz, der die Handlungsfähigkeit
unseres Staates einerseits nicht gefährden darf, andererseits
aber
auch
ein
modernes
Demokratieund
Gesetzmässigkeitsprinzip zu respektieren hat. Bedenkt man
weiter, dass die Gesetzgebung eines europäischen
Kleinstaates zunehmend von äusseren Faktoren bestimmt
sein wird, darf über Vereinfachungen und Flexibilisierungen
des Gesetzgebungsverfahrens m. E. nur im Zusammenhang
mit Lösungsvorschlägen zur Umsetzung des Völkerrechts
ins Landesrecht und zusammen mit einer echten Reform der
Volksrechte diskutiert werden. Bei näherer Prüfung erweist
sich also die unausweichliche Auseinandersetzung um eine
zeitgemässe Neuordnung der Gesetzgebungskompetenzen
unter dem Gesichtswinkel der Transparenz und der
Praktikabilität
als
zentrales
Element
der
Staatsleitungsreform. Versagt hier der Reformprozess, so
verliert unser Staat schon bald seine Handlungsfähigkeit. Ich
möchte eine erste These aufstellen, die folgendermassen
lautet:
These: Das Gesetzgebungsverfahren muss im Bundesstaat
Schweiz dringend und grundlegend überarbeitet werden.
Dabei sind die Rechtsetzungskompetenzen zwischen
Parlament und Exekutive (Bundesrat) im Lichte eines neuen
Verständnisses der Gewaltenteilung abzugrenzen. Mit Blick
auf die Erhaltung der Handlungsfähigkeit unseres Staates ist
damit
eine
massvolle
Verstärkung
des
Repräsentationsprinzips verbunden, weshalb eine Reform
der Volksrechte nicht ohne gleichzeitige Renovation des
Gesetzgebungsverfahrens verabschiedet werden kann.
2. Parlament und Aussenpolitik: Im Gegensatz zu vielen
Parlamentskolleginnen und -kollegen bin ich nicht der
Meinung, dass es Sache des Parlaments sein sollte, in letzter
3. März 1998
staatspolitischen Kommissionen eingesetzten Experten (vgl.
dazu
etwa
den
Verantwortung die grundlegenden Zielsetzungen der Aussenpolitik zu umschreiben. Wer solches fordert, führt
gewissermassen den Gesetzesvorbehalt in die Aussenpolitik
ein, was bedeuten würde, dass dem Bundesrat in der
Aussenpolitik praktisch nur noch Vollzugsaufgaben
verbleiben. Das kann nicht der Sinn einer effizienten
Aussenpolitik eines Kleinstaates sein, der ganz besonders
rasch und flexibel sowie professionell auf wechselnde
Rahmenbedingungen reagieren können muss.
Andererseits kann nicht genug betont werden, dass die
schweizerische Aussenpolitik ein partnerschaftliches
Zusammenwirken von Parlament und Bundesrat geradezu
voraussetzt. In diesem Sinne ist die Verantwortung zwischen
Parlament und Exekutive also durchaus geteilt, aber die
operative
Kompetenz
muss
mit
erheblicher
Gestaltungsfreiheit beim Bundesrat bleiben. Dieser ist
freilich gehalten, seine heute schon bestehenden
Informationspflichten dem Parlament gegenüber (Art. 47bisa
Abs. 2 des Geschäftsverkehrsgesetzes (GVG, SR 171.11)
lautet: Der Bundesrat informiert die Ratspräsidenten sowie
die aussenpolitischen Kommissionen regelmässig, frühzeitig
und umfassend über die Entwicklung der aussenpolitische
Lage, über die Vorhaben im Rahmen von internationalen
Organisationen und über die Verhandlungen mit
auswärtigen Staaten.) noch ernster als bisher zu nehmen und
auf diese Weise dafür zu sorgen, dass das Parlament die
internationale
Entwicklung
verfolgen
und
die
Verhandlungen der Schweiz mit auswärtigen Staaten und
internationalen Organisationen begleiten kann, wie es das
Gesetz von ihm verlangt (Art. 47bisa Abs. 1 GVG). Vom
Parlament darf und muss andererseits verlangt werden, dass
es sich umfassender und sorgfältiger als bisher mit den
periodischen bundesrätlichen Berichterstattungen über die
Aussen- und Aussenwirtschaftspolitik befasst, denn die
Aussenpolitik hat zunehmend Reflexwirkungen auf die
Innenpolitik. Für mich bedeutet dies auch, dass nicht nur die
Mitglieder
der
aussenpolitischen
Kommissionen
Auslandkontakte pflegen müssen. Sodann drängt sich auf,
das Engagement im Europarat zu verstärken, denn in dieser
Organisation vermag die Schweiz - in ihrem eigenen
Interesse - auch als Nichtmitglied der EU Wesentliches zur
Zusammenarbeit in Europa beizutragen.
Fazit: Die Problemlösungskompetenz des Parlaments wird
vermehrt daran gemessen werden, wie ausländische oder
völkerrechtlich
normierte
Regelungen
in
die
Entscheidungsprozesse
einbezogen
und
auf
ihre
Tauglichkeit hin überprüft werden können. Und das
wiederum
verlangt
zusätzliche
parlamentarische
Ressourcen. Deshalb meine zweite These:
These: Aussenpolitik wird immer mehr auch zur
Innenpolitik. Das bedeutet nicht, dass das Parlament
neuerdings die grundlegenden Zielsetzungen der
Aussenpolitik zu bestimmen und dem Bundesrat einen
verbindlichen Rahmen für die operative Aussenpolitik zu
setzen hätte. Anderseits kann es durchaus Sinn machen, die
Ziele und Mittel der schweizerischen Aussenpolitik im
Rahmen der laufenden Verfassungsrevision transparenter zu
machen und damit zusätzlich demokratisch zu legitimieren.
Das Parlament ist aber allemal gehalten, seine
Auslandkontakte im Rahmen seiner Zuständigkeiten zu
709
3. März 1998
intensivieren
und
sich
dadurch
Problemlösungskompetenz anzueignen.
Art. 480
zusätzliche
3. Reform der Oberaufsicht: Neben der Funktion als
gesetzgebende Behörde und als Wahlorgan steht für das
Parlament die Oberaufsicht über die Verwaltung im
Verwendung der von ihm bewilligten Ressourcen und die
Wirkung der eingesetzten Mittel (Zusatzbericht der
Staatspolitischen Kommission (Anm. 1) Ziff. 151.3).
Darüber hinaus zwingt die gegenwärtig auf allen Ebenen
geführte Diskussion über die Rolle des Parlaments im
Rahmen des New Public Management (NPM;
wirkungsorientierte Verwaltungsführung) zur kritischen und
zukunftsweisenden Auseinandersetzung mit der Frage, was
wirksame verfassungsmässige Oberaufsicht bedeute. Dabei
muss von Anfang an klar sein, dass die parlamentarische
Oberaufsicht als politische Kontrolle sinngemäss auf das
Wesentliche ausgerichtet sein muss.
Entscheidend ist dabei die Verknüpfung zwischen den
staatlichen Aufgaben und den finanziellen Konsequenzen:
Das Parlament muss in der Lage sein, den politischen Preis
einer "Bestellung" zu erkennen und gleichzeitig ihre
Finanzierung zu beschliessen. Das Parlament muss sich
zudem inskünftig intensiver der Kontrolltätigkeit im Sinne
eines Controlling widmen, soll aber deswegen nicht minder
auch aus eigenem Antrieb politisch aktiv werden im Sinne
der berühmten Inputfunktion. Die Überprüfung der
Einhaltung von Produktegruppenbudgets und von
Leistungsaufträgen kann ein Mass an Auseinandersetzung
mit der Sache erfordern, welches über die traditionelle
parlamentarische Aufsichtstätigkeit hinausgeht. Ferner ist zu
beachten, dass mit der parlamentarischen ControllingTätigkeit zwangsläufig eine mitschreitende Kontrolle
verbunden ist, auch das ist teilweise neu. Hinzu kommt, dass
je nach Grad der Dezentralisierung, Auslagerung oder
Privatisierung von Staatsaufgaben (Stichwort "4-KreiseModell" im Bund) die Intensität der Aufsicht unterschiedlich
ausfällt. Das allein schon genügt und macht deutlich, dass
die parlamentarische Oberaufsicht neu zu definieren ist. In
diesem Zusammenhang stellen sich allerdings heikle Fragen
zum staatsrechtlichen Rollenverständnis und zur Tragweite
des Gewaltenteilungsprinzips (vgl. zum Ganzen Ulrich
Zimmerli
"Privatisierung"
und
parlamentarische
Oberaufsicht, Beitrag anlässlich der Berner Tage für die
juristische Praxis 1997, erscheint demnächst im
entsprechenden Sammelband).
Meine dritte These: Das Parlament steht den
Herausforderungen des "New Public Management" zur Zeit
recht hilflos gegenüber. Sowohl beim Bund wie auch bei
den Kantonen erlauben es ihm weder die geltenden
Verfassungsnormen noch die organisationsrechtlichen
Bestimmungen auf Gesetzesebene, jene Verantwortung
glaubwürdig mitzutragen, die ihm im demokratischen
Rechtsstaat zugewiesen ist. Die Rechtsgrundlagen zur
parlamentarischen Oberaufsicht sind insbesondere im Lichte
des NPM rasch in ein staatspolitisch verträgliches Mass
umzuarbeiten. Für die Anpassung der Rechtsgrundlagen
können
Pilotprojekte
willkommene
Entscheidungsgrundlagen liefern.
4. Bundesversammlung und Kantone - Zweikammersystem:
Nationalrat und Ständerat sind im Sinne eines
vollkommenen Zweikammersystems gleichberechtigt. Der
710
Vordergrund der verfassungsmässigen Aufgaben. Heute ist
anerkannt, dass beim Parlament neben dem bereits
erwähnten Steuerungsdefizit bei der Gesetzgebung ein
empfindliches Manko bei der Kontrolle und Evaluation
besteht: Das Parlament hat zu wenig Kenntnisse über die
Umsetzung
der
Gesetze,
die
eine Rat ist Ausdruck des nationalen Gedankens, der andere
steht für Gleichheit der Gliedstaaten im Bundesstaat. Nach
Artikel 160 der neuen Verfassung (Fassung gemäss
Beschluss des Nationalrates vom 22. Januar 1998) "sorgt die
Bundesversammlung für die Pflege der Beziehungen
zwischen Bund und Kantonen". Soweit die Theorie.
Seit Jahren wird seitens der Kantone geltend gemacht, die
Zusammenarbeit zwischen Bund und Kantonen lasse zu
wünschen übrig und namentlich der Ständerat sei nicht in
der Lage, die Interessen der Kantone im bundesstaatlichen
Entscheidungsprozess gebührend zu vertreten. Am 8.
Oktober 1993 wurde die Konferenz der Kantonsregierungen
(KdK) gegründet, insbesondere mit dem Zweck, in
"kantonsrelevanten Angelegenheiten des Bundes die
erforderliche Koordination und Information der Kantone
sicherzustellen".
Nicht
zuletzt
angesichts
der
fortschreitenden internationalen Verflechtungen staatlicher
Interessen ist es verständlich, dass die Kantone vermehrt in
die Willensbildung auf nationaler Ebene einbezogen werden
möchten. Es ist das Verdienst der KdK, dass die
Bestimmungen über das Zusammenwirken von Bund und
Kantonen in der neuen Verfassung gegenüber dem Entwurf
des Bundesrates klarer gefasst werden konnten. Unbestritten
ist auch, dass der Föderalismus - quasi als dialektisches
Prinzip unseres Bundesstaates - stets aufs Neue an die sich
wandelnden Bedürfnisse angepasst werden muss.
Institutioneller Garant dafür ist und bleibt aber m. E. in
erster Linie das Parlament und vor allem der Ständerat.
Ich bestreite, dass die Anliegen der Kantone im Ständerat
ungenügend vertreten würden. Wohl ist es den Mitgliedern
der Bundesversammlung von Verfassungs wegen verboten,
nach Instruktionen zu stimmen (Art. 91 BV) Das bedeutet
aber keineswegs, dass der Ständerat "abgehoben" von den
Anliegen und Interessen der Kantone politisieren, die sie
vertreten. Intensive Kontakte mit den Kantonsregierungen
sind üblich und aus der Sicht des Ständerates erwünscht.
Sodann darf darauf hingewiesen werden, dass gegenwärtig
drei aktive und neun ehemalige Regierungsräte im Ständerat
wirken - das sind mehr als ein Viertel der Mitglieder.
Damit soll nicht gesagt sein, dass über die
Zusammensetzung und die Wahl des Ständerates nicht
diskutiert werden kann. Den Kantonen, die für das
Wahlverfahren zuständig sind, steht es frei, nach Reformen
zu suchen. Im Sinne eines Denkmodells könnte ich mir
beispielsweise vorstellen, dass eine effiziente und politisch
breit abgestützte Deputation im Ständerat gleichzeitig mit
den Wahlen in die Kantonsregierung vom Volk bestimmt
werden könnte, dass die Standesvertretung mit beratender
Stimme in der Kantonsregierung Einsitz nimmt (sozusagen
als "Botschafter" oder "Aussenminister") sowie status- und
besoldungsmässig den Regierungsmitgliedern gleichgestellt
wird. Damit würde der Ständerat zwar zumindest für die
grossen Kantone professionalisiert. Wenn man von seinen
Mitgliedern aber professionelle Leistung verlangt - und das
ist ja unbestritten -, steht m. E. nichts entgegen, auch den
ehrlichen organisationsrechtlichen Schritt zu tun. Diese
Art. 480
Vision ist aber so brisant, dass ich auf weitere Ausführungen
dazu wohl besser verzichte ...
Warnen möchte ich indessen davor, im Rahmen einer
institutionellen Reform unseres Föderalismus den Ständerat
zu einer Länderkammer nach dem Muster des deutschen
Bundesrates umzufunktionieren (vgl. dazu etwa Matthias
Heger, Deutscher Bundesrat und Schweizer Ständerat,
Beiträge zum Parlamentsrecht, Berlin 1990). Die
Trotzdem: Ich könnte mir vorstellen, dass sich die
Mitglieder des Ständerates und die Vertreterinnen und
Vertreter der Konferenz der Kantonsregierungen mindestens
einmal
jährlich
zu
einem
institutionalisierten
Gedankenaustausch treffen. Warum nicht während der
Septembersession im Rathaus des Äusseren Standes zu
Bern, das war immerhin der erste Versammlungsort des
Ständerates)? Sodann könnte die Bundesversammlung
während einer Legislatur jeweils eine Session in der
französisch-sprachigen
Schweiz
oder
im
Tessin
durchführen, um auf diese Weise zu dokumentieren, dass die
Verhandlungssprache im Parlament nicht unbedingt das
Englische zu sein braucht ...
Meine vierte These: Das Parlament ist heute mehr denn je
gehalten, auf die Anliegen und Interessen der Kantone
Rücksicht zu nehmen. Es darf dabei aber das
bundesstaatliche Gesamtwohl unseres Landes nicht aus den
Augen verlieren und muss den Mut haben, institutionellen
Begehrlichkeiten
von
föderalistischen
Schattenorganisationen
energisch
entgegenzutreten.
Andererseits steht nichts entgegen, über die Rolle des
Ständerates im Zusammenhang mit einer echten
Staatsleitungsreform eine Grundsatzdiskussion zu führen
und das Zweikammersystem nötigenfalls zu optimieren.
5. Milizsystem: Wir Parlamentarier haben uns daran
gewöhnt, überlastet zu sein. Wir wollen es offenbar so.
Warum?
Zum "Sonderfall Schweiz" gehört auch das Bekenntnis zum
politisch-kulturellen Milizsystem. Der schweizerische
Milizgedanke hat eine alte Tradition und geht weit über den
Bereich der Landesverteidigung hinaus. Die Schwierigkeiten
beginnen aber bereits bei der Definition des Begriffs Miliz.
Miliz in diesem Sinne bedeutet, "sich brauchen lassen" für
den demokratischen Staat, damit dieser seine vielfältigen
Aufgaben möglichst bürgernah und unter Ausnutzung
besonderer Fähigkeiten, Talente und Beziehungen der
Direktbetroffenen erfüllen kann. Die Schweiz lebt in der Tat
von Leuten, die mehr tun als ihre Pflicht, die also am Staat
auf allen Ebenen aktiv mitbauen, ohne dafür eine besondere
öffentliche Anerkennung oder ein Entgelt zu fordern, das
der tatsächlich geleisteten Arbeit entspricht. Von den in
unserem politischen Milizsystem tätigen Personen wird also
erwartet, dass sie genügend Zeit für ihr Amt aufzubringen
vermögen, dass sie den Sachproblemen gewachsen sind,
dass sie etwas von Management verstehen und die
Führungsinstrumente zur Planung, Entscheidung und
Kontrolle einzusetzen vermögen, dass sie das
Instrumentarium
demokratischer
Willensbildung
beherrschen, dass sie kreativ und innovativ sind und
aufgrund aller dieser Tugenden als Vorbilder anerkannt
werden. Kurz: Wir verlangen Unmögliches. Deshalb wird es
immer schwieriger, Persönlichkeiten für den freiwilligen
Dienst am Gemeinwesen zu finden; die Komplexität des
3. März 1998
Erfahrungen in unserem nördlichen Nachbarland zeigen,
dass damit eine Blockierung der Entscheidungsvorgänge
verbunden sein kann, die für den Kleinstaat Schweiz mit
seiner halbdirekten Demokratie unerträglich werden könnte.
Sodann sollte die Konferenz der Kantonsregierungen gerade
im Interesse eines wohlverstandenen Föderalismus davon
absehen,
sich
im
bundesstaatlichen
Meinungsbildungsprozess
als
Konkurrenzorgan
zu
verstehen.
Wirkens zugunsten der Öffentlichkeit schreckt immer mehr
Leute ab, Verantwortung zu übernehmen. Das hängt auch
damit zusammen, dass in unserer Leistungsgesellschaft die
erforderliche Frei-Zeit eben rarer geworden ist und man auf
allen Ebenen mehr Professionalität fordert. Soziologie,
Politikwissenschaften und Jurisprudenz beschäftigen sich
deshalb mit Grund seit einigen Jahren mit der Frage, wie
unser Milizsystem im politisch-kulturellen Bereich optimiert
und an die Erfordernisse eines leistungsfähigen,
föderalistisch strukturierten, demokratischen Staates
angepasst werden könnte, ohne seinen Kerngehalt zu
verlieren.
Natürlich will ich Sie nicht weiter mit theoretischen
Ausführungen zum politischen Milizsystem der Schweiz
belasten. Eines muss ich allerdings doch noch beifügen: Es
sprechen gewichtige Gründe gegen einen umfassenden
Systemwechsel und damit gegen die generelle Einführung
eines Berufsparlaments (vgl. dazu namentlich Urs Marti,
Zwei Kammern – ein Parlament, Ursprung und Funktion des
schweizerischen Zweikammersystems, Frauenfeld 1990, S.
105 ff.). Zwar würde die Politik dadurch professioneller.
Das Parlamentsmitglied müsste aber sein Mandat
hauptberuflich ausüben, und damit würden erwünschte
Synergieeffekte dahinfallen. Sodann würde die Gefahr
entstehen, dass sich das Parlament zu sehr vom Volk
entfernt. Mit dem Systemwechsel wären grundlegende
staatspolitische Veränderungen verbunden. Ein Ausbau der
parlamentarischen Hilfsdienste zu einer eigentlichen
parlamentarischen Gegenverwaltung wäre unumgänglich.
Der Trend zum Zentralismus und zum Zentralstaat würde
begünstigt. Für Mandatsinhaberinnen und Mandatsinhaber
aus entfernteren Regionen würde sich die Frage eines
Zweitwohnsitzes in der Bundeshauptstadt stellen. Die bisher
intensiven Beziehungen und Wechselwirkungen zwischen
der Wählerschaft und dem Mittelpunkt des politischen
Wirkens - heute ja wieder besonders aktuell - wären nicht
mehr in einem genügenden Ausmass gegeben. Deshalb
meine 5. These:
These: Jedes Volk hat das Parlament, das es verdient. Die
Bundesversammlung ist de facto schon lange kein
Milizparlament mehr. Wenn sie den Anforderungen des
modernen Bundesstaates, nicht zuletzt im Sinne der
vorgängig formulierten These, gewachsen sein soll, muss im
Rahmen einer Parlamentsreform, die als dringlich erscheint,
rasch eine Formel gefunden werden, die dem richtig
verstandenen
parlamentarischen
"Sonderfall-Schweiz"
Rechnung trägt, sonst verliert das Parlament umgehend auch
noch den Rest seiner ohnehin schon beschränkten
Handlungsfähigkeit.
6. Schlussbemerkung: Allein schon eine fahrlässig
summarische Skizze der Funktionen des Parlaments im
modernen Bundesstaat macht deutlich, wie interessant die
Zeit ist, in der wir Politikerinnen und Politiker heute leben Sie sehen: ich formuliere bewusst optimistisch. Nur haben
711
3. März 1998
es noch lange nicht alle gemerkt. Möge das Jubiläumsjahr
1998 dazu beitragen, dass uns rechtzeitig ein Licht aufgeht!
(Beifall)
JAZZ-Improvisations-Ensemble der Alten Kantonsschule
Aarau
Leitung: Fritz Renold
Art. 480
Sehr geehrter Herr Präsident, verehrte Grossrätinnen und
Grossräte, Herren Kollegen, meine Damen und Herren,
1. Von Gottes oder der Menschen Gnaden: Gewaltenteilung
als staatspolitisches Grundprinzip ist ein junges Kind der
politisch-philosophischen
Menschheitsgeschichte.
Geschichte im Sinne von schriftlicher und damit
nachvollziehbarer Überlieferung umfasst einen Zeitraum
von etwa 7000 Jahren. Während rund 6800 Jahren war diese
Geschichte,
Gewaltenteilung im politischen Alltag
Referat von Landammann Dr. Stéphanie Mörikofer-Zwez
von einigen lokalen und zeitlichen Ausnahmen abgesehen,
geprägt durch absolute Herrscher - selten auch durch
Herrscherinnen - oder allenfalls durch Oligarchien. Macht,
Reichtum und Herrschergewalt wurden von Einzelnen
beansprucht, welche ihre Legitimation direkt auf ein
göttliches Mandat zurückführten - sei es, dass sie sich direkt
als Abkömmlinge der Götter bezeichneten, sei es dass sie als
von Gottes Gnaden Bevollmächtigte auftraten. Gestützt
wurde diese Legitimation und damit der Machtanspruch der
Herrschenden in der Regel durch die jeweilige
Staatsreligion. Weltliche und geistliche Macht bildeten im
gegenseitigen Interesse eine Symbiose, die zusätzlich durch
militärische Mittel abgestützt wurde.
Diese Form der Herrschaft mit ihren Königen, Kaisern, dem
Adel und der Geistlichkeit war nicht einfach schlecht - auch
wenn wir uns heute kaum mehr vorstellen können, in einem
solchen System zu leben. Die Macht des Herrschers
bedeutete neben Willkür und fehlenden Individualrechten
auch Schutz der Menschen vor Faustrecht, bedeutete
Überlebensmöglichkeit und oft auch Rechtsstaat für den
zivilrechtlichen Bereich.
Erst die mit der Aufklärung sich durchsetzenden Ideen der
menschlichen Individualrechte, die Idee von Freiheit und
Gleichheit aller Menschen, entzogen den Staatsformen der
Monarchie und der Aristokratie die rechtfertigende Basis.
Die Legitimation der Herrschenden kam neu nicht mehr von
Gott, sondern von den Menschen, vom Volk. In der "Virgina
Declaration of Rights" (Bill of Rights) vom 12. Juni 1776
heisst es im 2. Artikel:
"Alle Macht steht dem Volke zu und leitet sich folglich von
ihm her. Alle Amtsträger sind ihm als Bevollmächtigte und
Diener jederzeit verantwortlich."
Die entsprechende Passage in der "Déclaration des Droits de
l'Homme et du Citoyen" vom August 1789 lautet:
"Der Ursprung aller Souveränität ruht seinem Wesen nach
im Volke. Keine Körperschaft, niemand kann Autorität
ausüben, die nicht ausdrücklich daraus hervorgeht."
Interessanterweise fehlt im französischen Text der Hinweis
auf die Verantwortung der Amtsträger gegenüber dem
Souverän. Ebenso interessant ist, dass der französische Text
die Gewaltenteilung mit keinem Wort erwähnt. Zentrales
Anliegen der "Déclaration des Droits de l'Homme" sind die
individuellen Freiheitsrechte, deren Einschränkung nur auf
der Basis eines Gesetzes erfolgen darf: Willkürverbot also
und Legalitätsprinzip. Wie die Volkssouveränität im
politischen Alltag durchgesetzt werden soll, dazu äussern
sich
die
Autoren
der
französischen
Menschenrechtsdeklaration nicht, ganz im Gegensatz zur
712
"Virginia Declaration of Rights", welche in Artikel 5 unter
anderem festhält:
"Die legislative und die exekutive Gewalt des Staates soll
von der richterlichen getrennt und unterschieden sein."
Wer die weitere Geschichte der letzten 200 Jahre verfolgt,
kann unschwer feststellen, dass die Festlegung der
Volkssouveränität als Legitimationsprinzip noch keine
Garantie für eine demokratische Herrschaftsform darstellt.
Die Diktatur des Proletariats mag zwar eine Volksherrschaft
sein, eine Demokratie ist sie nicht. Zur Demokratie im
echten Sinne des Wortes gehört unteilbar beides: Die
Legitimation der Ausübung staatlicher Macht durch das
Volk und die Teilung der Gewalten. Nur so können letztlich
die menschlichen Freiheitsrechte garantiert und kann
staatlicher Willkür ein Riegel geschoben werden.
2. Selbständigkeit der richterlichen Gewalt: Wie bereits aus
der Formulierung der Bill of Rights von 1776 hervorgeht, ist
die Gewaltenteilung offensichtlich kein gleichseitiges
Dreieck: Die gesetzgebende und die ausführende Gewalt des
Staates sollen klar von der richterlichen Gewalt getrennt
sein. Wie die gesetzgebende und die ausführende Gewalt zu
trennen wären, war schon damals weit weniger klar und ist
es teilweise auch geblieben.
Dies spiegelt sich auch in der aargauischen
Kantonsverfassung vom 25. Juni 1980. Grundsätzlich wird
in § 68 Abs. 2 festgehalten, dass für die Organisation der
Behörden der Grundsatz der Gewaltenteilung gilt. In
personeller Hinsicht wird dies in § 69 Abs. 3 konkretisiert,
indem festgehalten wird, dass "niemand gleichzeitig
Mitglied des Grossen Rates und des Regierungsrates oder
Mitglied einer dieser Behörden und des Obergerichtes sein"
kann.
In materieller Hinsicht wird die Unabhängigkeit der
Gerichte in § 95 Abs. 1 klipp und klar festgelegt: "Die
Gerichte sind unabhängig und nur Gesetz und Recht
unterworfen". Allerdings fallen die Richter und
Richterinnen, welche diese Gerichte bilden, nicht vom
Himmel, sondern werden gewählt - durch das Volk in die
Bezirksgerichte, durch den Grossen Rat in die kantonalen
Gerichte. Zudem unterstehen die kantonalen Gerichte wie
alle kantonalen Behörden und Organe der Oberaufsicht des
Grossen Rates - allerdings nur für seine organisatorischen
Belange und nicht für ihre Rechtsprechung.
Die Grauzone einer möglichen Einflussnahme auf die
Rechtsprechung über Wahlmanöver und Aufsichtsrecht
verlangt vom Grossen Rat und vor allem von seinen
einschlägigen Kommissionen im politischen Alltag ein
erhebliches Mass an demokratischem Fingerspitzengefühl,
Art. 480
was die Einhaltung der Gewaltenteilung betrifft.
Ausrutscher bei Wahlen im Sinne von Denkzetteln für
missliebige Obergerichtsurteile und Oberrichter kommen
vor, bilden jedoch glücklicherweise seltene Ausnahmen.
Ernsthafte Versuche des Grossen Rates, die richterliche
Unabhängigkeit der kantonalen Gerichte in Frage zu stellen,
hat es in den 13 Jahren, die ich persönlich überblicke, keine
gegeben.
In jüngerer und jüngster Zeit zeichnen sich allerdings zwei
Konfliktlinien ab, die für die Zukunft einige Fragen
aufwerfen:
- Im Bau- und Planungsrecht hat der Grosse Rat
verschiedentlich Entscheide gefällt, welche mit Beschwerde
- Eine zweite Konfliktlinie ergibt sich, wenn im Rahmen der
Budgethoheit der Grosse Rat über die Mittel bestimmt personell und finanziell - welche dem Obergericht zur
Verfügung stehen. Während langer Zeit wurden
entsprechende Anträge des Obergerichtes jeweils
stillschweigend oder murrend bewilligt. Im Zuge der
Sparanstrengungen wurden vom Obergericht im Rahmen
des Budgets 1998 verlangte Mittel nicht zugestanden. Es ist
einerseits verständlich, dass der Grosse Rat für die
kantonalen Gerichte die gleichen finanziellen Masstäbe
anlegen möchte wie für die Verwaltung - andererseits dürfen
finanzielle Restriktionen die Funktionsfähigkeit der Gerichte
nicht beeinträchtigen. Die zuständige Justizkommission wird
im Rahmen ihrer Oberaufsichtsfunktion mögliche
Fehlentwicklungen genau verfolgen müssen.
3. Parlament und Exekutive: Theorie und Praxis: Während
die Aufgabe der richterlichen Behörden von der Exekutive
und der Legislative, wie bereits dargelegt, klar und
unmissverständlich abgegrenzt werden kann, ist die
Aufgabenausscheidung zwischen Legislative und Exekutive
deutlich schwieriger.
Gemäss Kantonsverfassung ist der Grosse Rat die oberste
aufsichtsführende und, unter Vorbehalt der Volksentscheide,
die
gesetzgebende
Behörde
(§
761).
Weitere
Kernkompetenzen sind die Festlegung des Budgets und die
Abnahme der Staatsrechnung (§811) sowie die Aufgabe,
über "die grundlegenden Pläne der staatlichen Tätigkeit" zu
befinden, wobei der Rat Änderungen verlangen kann (§79 1).
Der Regierungsrat auf der anderen Seite ist die leitende und
oberste vollziehende Behörde des Kantons (§871). Er steht
der kantonalen Verwaltung vor und beaufsichtigt die
anderen Träger von öffentlichen Aufgaben (§901). Er sorgt
für die rechtmässige und wirksame Tätigkeit der
Verwaltung, bestimmt im Rahmen von Verfassung und
Gesetz die zweckmässige Organisation (§902) und
bezeichnet unter Vorbehalt der Befugnisse der
Stimmberechtigten und des Grossen Rates die
hauptsächlichen Ziele und Mittel staatlichen Handelns. Er
plant und koordiniert die staatlichen Tätigkeiten (§891).
Vom Grundsatz her ist die Idee bestechend einfach: Der
Grosse Rat setzt die Leitplanken staatlicher Tätigkeit in
Form von Gesetzen, Dekreten sowie sogenannten
grundlegenden Plänen der staatlichen Tätigkeit und bewilligt
die dafür nötigen Mittel im Budget. Anschliessend
kontrolliert er, ob die Mittel richtig eingesetzt wurden und
ob sich die Verwaltung bei ihrer Tätigkeit an Recht und
Gesetz gehalten hat. Der Regierungsrat sorgt für eine
rationelle und gesetzeskonforme Verwaltungstätigkeit und
3. März 1998
an das Verwaltungsgericht angefochten wurden - zum Teil
mit Erfolg. Hier stellt sich die grundsätzliche Frage, wer im
Konfliktfall letztlich entscheidet - die Legislative oder die
richterliche Behörde in Anwendung der vom Souverän
beschlossenen Gesetze? Diese Frage, welche sich letztlich
um die Einbindung der Legislative in die Verfassung und in
die vom Volk verabschiedeten Gesetze dreht, taucht auch
bei der Diskussion um die Verfassungsgerichtsbarkeit auf
Bundesebene wieder auf. Nach der herrschenden Lehre ist
vor allem bei Fragen, welche die Grundrechte tangieren, das
Gericht die letzte entscheidende Instanz. Das mag richtig
sein. Allerdings muss man sich bewusst sein, dass damit
zusätzlich zur Teilung auch eine faktische Hierarchisierung
der Gewalten anerkannt wird.
stellt dort, wo der Grosse Rat zuständig ist, die nötigen
Anträge in Form von Botschaften.
In der Praxis des politischen Alltags treten jedoch
Wechselwirkungen auf, welche den Grundsatz der
Gewaltenteilung wesentlich stärker beeinflussen als die
schlanke Einfachheit des Verfassungstextes erahnen lässt.
Nehmen wir als Beispiel den Budgetprozess. Die Regierung,
gemäss Verfassung verantwortlich für die rechtmässige und
wirksame Verwaltungstätigkeit, legt ein Budget vor, das
nach ihrer Auffassung die für die Staatstätigkeit
notwendigen Mittel - und nur diese - enthält. Der Grosse Rat
seinerseits könnte der Auffassung sein, dass erstens das
Defizit zu gross und zweitens die Steuern zu hoch sind und
beschliesst wesentliche Reduktionen der zur Verfügung
stehenden Mittel. Falls sich die Regierung nicht verrechnet
hat, wäre damit die ordentliche Staatstätigkeit grundsätzlich
gefährdet. Die Regierung könnte die ihr im Rahmen der
Gewaltenteilung zustehende Aufgabe und Verantwortung in
der Folge gar nicht korrekt wahrnehmen. Falls sie dann doch
in eigener Kompetenz und auf der Basis des geltenden Recht
anders entscheiden muss, würde dies letztlich zu einer
Aushöhlung der Budgetkompetenz des Grossen Rates
führen.
Noch pointierter wird der Gegensatz zwischen Budgetrecht
und Gesetzesrecht, wenn einzelne Budgetposten gestrichen
werden, die zur gesetzeskonformen Aufgabenerfüllung
zwingend notwendig sind. Ich möchte hier nicht an
"Rasenmäherentscheide" erinnern, denen staatspolitisch
doch eher eine untergeordnete Bedeutung zukommt.
Unhaltbar wird es aber zum Beispiel, wenn die Legislative
die nötigen Mittel zur Erfüllung eines interkantonalen
Vertrages verweigert, ohne bei diesem Entscheid die
Kündigungsmodalitäten zu beachten. Der Grosse Rat zwingt
damit die Regierung grundsätzlich zu einem rechtswidrigen
Verhalten, das der gleiche Grosse Rat anschliessend im
Rahmen seiner Aufsichtsfunktion wiederum rügen könnte.
Schwierig zu handhaben - wir haben es im vergangenen Jahr
wieder im Massstab 1:1 erlebt - sind auch die Kompetenzen
des Grossen Rates bei der Festlegung der grundlegenden
Pläne der staatlichen Tätigkeit. Wo die Richtlinien der
staatlichen Tätigkeit, über welche die Legislative befindet,
aufhören und die Verwaltungstätigkeit, für welche die
Regierung verantwortlich ist, beginnt, lässt sich kaum klar
festlegen - entsprechend gross ist das Konfliktpotential und
entsprechend schwierig ist die Ausscheidung der
Verantwortlichkeiten.
Im Gegensatz zum Budget- und zum Richtlinienbereich war
bei der Gesetzgebung die Trennung zwischen Exekutive und
713
3. März 1998
Art. 480
Legislative bisher wenig problematisch. Die Tendenz, die
Vorarbeiten für die Gesetzgebung der Verwaltung zu
entziehen und Gesetzestexte direkt in parlamentarischen
Kommissionen zu erarbeiten, könnte allerdings zu
Konflikten mit der Kantonsverfassung führen, die in §901
vorsieht, dass der Regierungsrat dem Grossen Rat Entwürfe
für Verfassungsänderungen, Gesetze und Dekrete vorlegt.
4. Schlussfolgerungen und Ausblick: Der Grundsatz der
Gewaltenteilung zwischen Legislative und Exekutive ist,
wie die wenigen angeführten Beispiele zeigen, nicht ganz
einfach zu handhaben. Vielfache Verflechtungen, speziell
im Rahmen des Budgetrechtes, lassen eine saubere Trennung oft nicht zu. Die Situation könnte allerdings wesentlich
entschärft werden, wenn der Grosse Rat sich darüber klar
Erschwerend hat sich bis heute bei der Diskussion zwischen
Exekutive und Legislative ausgewirkt, dass die Steuerung
der Aufgaben vom Parlament praktisch nur über
Ausgabenbeschlüsse wahrgenommen werden konnte.
Während
bei
einzelnen
Ausgabenvorlagen
der
Zusammenhang zwischen der zu lösenden Aufgabe und den
entstehenden Kosten relativ transparent ist, ist dieser
Zusammenhang beim Budget für den Grossen Rat kaum
mehr durchschaubar. Die aus einmal beschlossenen
Gesetzen und aus den Aufgaben der Verwaltung
entstehenden Kosten sind kaum nachvollziehbar und die
Folgen von Veränderungen bei den Budgetposten damit
auch nicht. Ich bin überzeugt, dass die neuen Formen der
wirkungsorientierten
Verwaltung,
welche
beim
Budgetierungsprozess Aufgaben und Ausgaben transparent
verknüpfen, wesentlich bessere Entscheidgrundlagen liefern
werden. Damit wird es allerdings auch schwieriger, mit
Budgetkürzungen zu operieren ohne gleichzeitig über die
Aufgabenerfüllung zu entscheiden. Im Sinne der politischen
Redlichkeit ist jedoch den neuen Mechanismen eine Chance
zu geben.
Die Diskussion um Trennung und Verflechtung der
Gewalten zwischen Exekutive und Legislative wird
allerdings auch in einem ausgeklügelten System der
Aufgabendefinition
und
damit
verbunden
der
Mittelallokation nie ganz verschwinden, weil es letztlich ja
wird, dass staatliche Aufgaben und Verpflichtungen nicht im
Rahmen der Mittelzuteilung geändert werden können. Auch
der Grosse Rat ist bei seinen Budgetentscheidungen nicht
völlig frei, sondern muss sich an geltende Gesetze und
Verträge halten. Änderungen, welche zu Einsparungen
führen, können in gesetzlich oder vertraglich geregelten
Bereichen nicht durch Streichung von Budgetkrediten,
sondern nur Änderung von Gesetzen und Verträgen erreicht
werden. Um dies noch an einem plakativen Beispiel zu
illustrieren: Grössere Schulklassen können nicht dadurch
eingeführt werden, dass der Grosse Rat die Mittel für die
Lehrerbesoldungen drastisch reduziert, sondern nur durch
eine - vom Volk gutzuheissende - Änderung des
Schulgesetzes.
um politischen Einfluss und damit auch um ein Stück Macht
geht. Das System von Checks and balances, von Kontrolle
und Gleichgewichten, auf dem die demokratische
Gewaltenteilung basiert, ist grundsätzlich ein System, das
den Konflikt braucht. Dieser Konflikt muss jedoch im
Rahmen gewisser Spielregeln ablaufen, damit Resultate
entstehen und nicht Scherbenhaufen. Zudem braucht es ein
Mindestmass an gemeinsamem Willen, die Aufgaben des
Staates sinnvoll zu definieren und sie zugunsten der
Bevölkerung zu erfüllen - nicht zur Erhaltung oder Stärkung
der eigenen Macht.
Unser demokratisches System ist in seinen Ursprüngen nun
200 Jahre alt und seit 150 Jahren in der Bundesverfassung
verankert. In dieser Zeit ist längst nicht alles nach dem
Theoriebuch gelaufen. Letztlich hat aber der gemeinsame
Wille, diesem Land zu dienen, dafür gesorgt, dass wir über
die Runden gekommen sind. Zusammen mit meinen vier
Kollegen freue ich mich darauf, die Zusammenarbeit, aber
auch den konstruktiven Konflikt mit Ihnen, die hier im Saal
das Volk vertreten, weiterzuführen und damit, wie wir das
alle gelobt haben, die Wohlfahrt dieses Kantons und seiner
Einwohnerinnen und Einwohner auch in Zukunft zu fördern.
(Beifall)
Aarauer Turmbläser
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