Das politische System der Schweiz von Dr. iur. Hansheiri Inderkum, a. Ständeratspräsident Die Schweiz ist eine Willensnation. Die Triebfeder für den Zusammenschluss der Stände zunächst 1815 zu einem Staatenbund und dann, 1848, zu einem Bundesstaat, ist nicht eine Gleichheit bezüglich Sprache, Kultur, Religion oder Volksgruppe, sondern der Wille, sich zusammen zu schliessen, um die gleichen und ähnlichen Interessen zu bündeln. Dementsprechend wurde auch unser politisches System ausgestaltet. Es ist dies eine aus einer Kollegialregierung und zwei Parlamentskammern bestehende repräsentative Demokratie, erweitert um wesentliche Rechte des Volkes. Im folgenden soll dieses System, insbesondere das Zusammenspiel zwischen Bundesrat, Parlament und Volk, dargestellt und sodann der Frage nachgegangen werden, ob - und gegebenenfalls wo - Reformbedarf besteht. Bundesrat Gemäss Bundesverfassung (BV) ist der Bundesrat die „oberste leitende und vollziehende Behörde des Bundes“. Er ist somit die Regierung der Schweiz und handelt als solche nach dem Kollegialprinzip. Dieses besagt, dass der Bundesrat aus (7) gleichberechtigten Personen zusammengesetzt ist und die ihm übertragenen Funktionen als Kollegium ausübt. Die staatspolitische Idee besteht darin, dass sich die Bundesrätinnen und Bundesräte zu einer Einheit zusammenfinden. Das setzt nicht nur Konsensfähigkeit und Kompromissbereitschaft voraus, sondern erfordert auch, dass die Mitglieder des Bundesrats zu ihren Parteien auf gebührende Distanz gehen. Wie der Bundesrat zusammengesetzt ist, sagt die BV nicht; sie schreibt lediglich vor, dass bei der Wahl der Bundesräte auf eine angemessene Vertretung der „Landesgegenden und Sprachregionen“ Rücksicht zu nehmen ist. Bezüglich der parteipolitischen Zusammensetzung gilt das (in der BV nicht erwähnte) Konkordanzprinzip, welches besagt, dass die stärksten politischen Kräfte im Bundesrat vertreten sein sollen. -2- 2-Kammersystem Das schweizerische Zweikammersystem nach US amerikanischem Vorbild besteht aus dem Nationalrat als der Vertretung des Volkes und dem Ständerat als der Vertretung der Kantone. Staatsrechtlich sind beide Räte gleichberechtigt; alle Geschäfte, welche in den Zuständigkeitsbereich der Bundesversammlung fallen, erfordern übereinstimmende Beschlüsse von National- und Ständerat. Staatspolitisch gesehen bestehen jedoch zwischen den beiden Räten gewichtige Unterschiede. Im Nationalrat, in welchem die politischen Kräfte durch das Proporz-Wahlsystem abgebildet sind, sollen bei der Entscheid- und Willensbildung vor allem die parteiund gesellschaftspolitischen Aspekte eingebracht werden. Demgegenüber darf die Stellung des Ständerats nicht einfach auf die Vertretung der Kantone reduziert werden, denn auch der Ständerat ist ein Organ des Bundes und hat als solches Bundespolitik zu betreiben, allerdings aus einer ganz spezifischen Optik. Zum einen gelten auch für ihn die Staatsziele, wie sie insbesondere in Art. 2 der BV verankert sind. Sodann ist dem Ständerat vor allem aufgetragen, für den Zusammenhalt in unserem Land besorgt zu sein. Wesentlich für den staatlichen Zusammenhalt ist insbesondere auch der föderalistische Staatsaufbau unseres Landes und damit die Stellung der Kantone. Zusammenspiel zwischen Bundesrat und Parlament Bundesrat und Parlament teilen sich in die Staatsführung. Etwas vereinfachend lässt sich sagen, dass der Bundesrat das primäre, kreative Staatsführungsorgan ist. Als solches besteht seine Aufgabe darin, die wichtigen Politikbereiche auszumachen, die entsprechenden Strategien festzulegen, sie miteinander zu vernetzen, sie laufend den veränderten Verhältnissen anzupassen und sie schliesslich auch umzusetzen. Der Bundesrat hat aber auch alle Vorkehrungen zu treffen, damit politisch relevante Entwicklungen, insbesondere auch solche von aussen, rechtzeitig erkannt und die geeigneten Massnahmen getroffen werden. Demgegenüber ist die Funktion des Parlaments eine steuernde und korrigierende, indem dieses zu Vorlagen und Berichten des Bundesrats Beschlüsse fasst und Stellung nimmt. Ausdrücklich in der BV (Art. 166) erwähnt ist die Beteiligung der Bundesversammlung an der Gestaltung -3der Aussenpolitik. Prägend für das Zusammenspiel zwischen Bundesrat und Parlament ist aber auch das Konkordanzprinzip. Dieses gilt nämlich nicht nur als Vorgabe für die Zusammensetzung des Bundesrats, sondern muss in der Arbeit des Parlaments seine Fortsetzung finden. Dies besagt allerdings nicht, dass das Parlament mit dem Bundesrat immer einig sein muss. Konkordanz auf der Ebene des Parlaments bedeutet hingegen sehr wohl, dass dort, wo es um für unser Land grundlegende Interessen geht, sich die im Bundesrat vertretenen Parteien schliesslich auch im Parlament zu mehrheitsfähigen Lösungen durchringen sollten. Und vor allem erfordert Konkordanz auf Stufe des Parlaments, dass dieses Personen von Parteien in den Bundesrat wählt, welche in die Konkordanz eingebunden sind. Das Volk Das Volk wählt nicht nur alle vier Jahre das Parlament, sondern hat durch das Initiativ- und Referendumsrecht auch Einfluss auf die Staatstätigkeit. Gegenstand des obligatorischen Referendums bilden insbesondere Änderungen der BV sowie der Beitritt der Schweiz zu Organisationen für kollektive Sicherheit (z.B. UNO) oder zu supranationalen Gemeinschaften (z.B. EU), wogegen das fakultative Referendum für Bundesgesetze und bestimmte Staatsverträge gilt. Das Initiativrecht beschlägt die Ergänzung oder Änderung der BV und besteht sowohl in der Form eines formulierten Entwurfs, als auch in derjenigen der allgemeinen Anregung, wobei von dieser Form nur selten Gebrauch gemacht wurde bzw. wird. Einzige Schranken des Initiativrechts bilden die Einheit der Form und der Materie sowie die zwingenden Bestimmungen des Völkerrechts. Besteht Reformbedarf? Reformen hängen davon ab, ob Defizite bestehen und ob diese nicht nur personell, sondern – nur oder auch – institutionell bedingt sind. Obwohl der Bundesrat nach aussen den Eindruck eines gut harmonisierenden Gremiums vermittelt, nimmt er seine Rolle als vorausschauendes, kreatives strategisches Führungsorgan nur ungenügend wahr. Dieses Defizit ist weitgehend personell bedingt. Ein (Haupt-) Grund besteht darin, dass die Bundesrätinnen und -4Bundesräte viel zu nahe bei „ihren“ Parteien stehen. Zudem wenden sie mitunter Zeit für Dinge auf, die für eine gute Amtsführung überhaupt nicht notwendig sind. Gefragt sind nicht „Arena- und Donnschtigjass-tauglichkeit“, sondern (strategische) Führungsqualität und staatsmännisches bzw. staatsfrauliches Format. Allerdings: Damit der Bundesrat seine Aufgaben im strategischen Bereich optimal erfüllen kann, muss er, nebst Führungswille und -qualität, auch über genügend Zeit verfügen, und insoweit mag das ausgemachte Defizit wohl auch institutionell bedingt sein. Eine personelle Erweiterung des Bundesrats ist allerdings nicht zielführend. Zu prüfen wäre hingegen die Einführung von Staatssekretären, welche die Bundesräte bei der Führung der Departemente, aber auch bei der Arbeit in den Kommissionen und teilweise auch im Parlament entlasten könnten. Dies würde allerdings voraussetzen, dass die Staatssekretäre über eine entsprechende staatspolitische Legitimation verfügen. Konkret: Die Staatssekretäre könnten vom Bundesrat vorgeschlagen, müssten jedoch von der Bundesversammlung bestätigt werden. Was sodann das Parlament anbetrifft, so gebietet die staatsrechtliche Gleichheit von National- und Ständerat unter anderem auch, dass sich die beiden Räte letztlich einigen, ansonsten das betreffende Geschäft nicht zustande gekommen ist. In letzter Zeit häufen sich Einigungskonferenzen und/oder es scheitern zunehmend Geschäfte in der Schlussabstimmung. Dies ist ein untrügliches Zeichen dafür, dass dieser Einigungsprozess schwieriger geworden ist. Ein Grund besteht wohl darin, dass es im Nationalrat immer wieder und zumal in wichtigen Geschäften zu „Unheiligen Allianzen“ kommt: Es wird stur auf der „Reinen Lehre“ beharrt, anstatt einmal etwas als in die richtige Richtung gehend akzeptiert. Solche Konstellationen sind letztlich nichts anderes als Ausdruck eines mangelnden Verständnisses der Konkordanz. Mit Bezug auf den Ständerat sodann ist in den letzten Jahren eine kontinuierliche Zunahme der Parteipolitik festzustellen, was zur Folge hat, dass der Ständerat seiner Rolle als für den Zusammenhalt des Landes besorgter Rat je länger je weniger gerecht wird und so Gefahr läuft, sich selber abzuschaffen. Schliesslich steht das Parlament in der Pflicht, bei der anstehenden Gesamterneuerungswahl des Bundesrats wieder zur Konkordanz zurück zu finden. Es ist offensichtlich, dass diese Defizite nicht nach institutionellen Reformen rufen. -5Bleibt schliesslich das Volk. Idealtypisch sollten von den in die Konkordanz eingebundenen Parteien nur ausnahmsweise Initiativ- und/oder Referendumsbegehren ausgehen. Dass die Realität anders aussieht, kann natürlich nicht dem Volk angelastet werden, lässt sich aber auch nicht mit institutionellen Mängeln begründen. Anders verhält es sich hingegen mit Blick auf Volksinitiativen, die zwar nicht gegen zwingendes, wohl aber gegen (anderes) „wichtiges“ Völkerrecht und/oder gegen grundlegende Normen der BV verstossen. Diesen Konflikt in einer generell-abstrakten Norm auf Stufe BV zu regeln wäre wohl die beste Lösung, erweist sich aber rechtspolitisch (und wohl auch rechtstechnisch) als ausserordentlich schwierig. Das zeigt sich gerade auch am Beispiel der von der SVP lancierten Initiative „Schweizer Recht statt fremde Richter“. Diese ist zwar nicht, wie von vielen suggeriert, des Teufels, blendet jedoch aus, dass es neben den völkerrechtlichen Verträgen auch noch andere Rechtsquellen des Völkerrechts, insbesondere das (völkerrechtliche) Gewohnheitsrecht und die allgemeinen Rechtsgrundsätze, gibt. Von der Sache her denkbar wäre auch ein neues Konzept für die Volksinitiative: Zunächst eine Abstimmung über das Grundanliegen mit Volksmehr, sodann die Umsetzung durch das Parlament auf Stufe Verfassung oder Gesetz, und schliesslich nochmals eine Abstimmung über die konkrete Vorlage, je nachdem mit Volksmehr (falls ein Referendum erfolgt) oder mit Volks- und Ständemehr. Politisch dürfte dies aber kaum machbar sein, denn das Misstrauen gegenüber dem Parlament, dieses würde das Initiativbegehren nicht getreu umsetzen, ist gross. Eine mögliche Lösung könnte allenfalls in der Schaffung eines Verfassungsrats bestehen. Dieser wäre vom Parlament zu wählen und könnte von diesem, aber auch vom Bundesrat, konsultiert werden, wenn es um Verfassungsfragen, insbesondere die Vereinbarkeit von zu erlassenden oder zu ändernden Gesetzen mit der Verfassung und/oder mit dem Völkerrecht geht. Der Verfassungsrat wäre aber kein Verfassungsgericht; seine Meinungsäusserungen wären nicht verbindlich, es käme ihm ausschliesslich beratende Funktion zu. Schlussfolgerung Das politische System der Schweiz ist ein klug austariertes und kann als eigentliches Kunstwerk bezeichnet werden. Es ist, obwohl in die Jahre gekommen, noch immer funktionstüchtig, sofern sich alle Akteure ihrer Rolle bewusst sind. Institutioneller -6Reformbedarf besteht am ehesten im Bereiche von Volksinitiativen, welche im Widerspruch zum Völkerrecht und zu elementaren Verfassungsbestimmungen stehen. Altdorf, im Oktober 2015