VO Allgemeine Psychologie I aus http://www.lehrbegleitung.com WS 2002/03 1. Vorlesung – Zusammenfassung Thema: Was ist die Psychologie? Einstieg: Umformulierung der Ausgangsfrage: Statt: Was ist die Psychologie? Wie ist die Psychologie historisch entstanden? Ebbinghaus: "Die Psychologie hat eine lange Vergangenheit, aber nur eine sehr kurze Geschichte." Überblick über die „lange Vergangenheit“ über die Wortgeschichte: psychē – Hauch, Atem, Seele lat. psychologia – erst spät im Gebrauch (Goclenius) „Psychologie“ – Christian Wolff „psychology“ – (Rauch); früher: mental philosophy) Was in dieser Vorlesung aber interessiert, ist nicht die lange Vergangenheit, sondern die Anfänge der kurzen Geschichte der Psychologie. Wichtiges Datum: Gründung des ersten experimentalpsychologischen Laboratoriums der Welt in Leipzig durch Wilhelm Wundt 1879 a) Wie ist Wundt dazu gekommen, dieses Laboratorium zu gründen? Biografische Daten zu Wundt; Wichtig: wird als ausgebildeter Physiologe 1874 nach Zürich und kurze Zeit später nach Leipzig auf einen Lehrstuhl der Philosophie berufen. Wie ist das möglich? b) Indentitätskrise der Philosophie. Mit dem Aufstieg der Forschungswissenschaften büßt die Philosophie ihre beherrschende Stellung im Gesamt der Wissenschaften ein; spekulative Konstruktionen über Geschichte und Natur werden zunehmend abgelehnt, als nicht-wissenschaftlich betrachtet. Gutteil der Geschichte der deutschsprachigen Philosophie in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts im Zeichen der wissenschaftlichen Rehabilitierung der Philosophie gestanden (= Neubestimmung des Verhältnisses von Philosophie und Einzelwissenschaften); wollte die Philosophie dem Vorwurf, ein bloß spekulatives Unternehmen zu sein, entgehen, so musste sie selbst etwas von den neuen Methoden der Forschungswissenschaften in sich aufnehmen. Welche Ansatzpunkte? Philosophie mit Mittel der Geschichtswissenschaften zu untersuchen (Philosophiegeschichte) - Teilgebiete der Philosophie selbst in der Art der Forschungswissenschaften zu behandeln; für das Entstehen der Psychologie bedeutsam: Versuch, Fragen der Logik und der Erkenntnistheorie in empirisch erforschbare, denk- und wahrnehmungspsychologische Problemstellungen umzudeuten. Schluss: Die moderne Psychologie entstand im Kontext der philosophischen Erkenntnistheorie, indem Denk- und Forschungsweisen, wie sie in den Naturwissenschaften entwickelt worden waren, in den Zusammenhang der Philosophie transferiert wurden. von [email protected] Seite 1 von 11 VO Allgemeine Psychologie I aus http://www.lehrbegleitung.com WS 2002/03 c) An welcher naturwissenschaftlichen Disziplin hat sich die Psychologie orientiert? Physiologie (vgl. auch die Biografie Wundt: er war von seiner Ausbildung her Physiologe!) Exkurs: Geschichte der Entstehung der modernen Physiologie Johannes Müller als Übergangsfigur Schüler Müllers (Du Bois-Reymond, Brücke, Helmholtz) – gegen den von Müller vertretenen Vitalismus angetreten (Vitalismus: Annahme einer besonderen Lebenskraft) Antivitalistische Physiologie: erklärt sich nicht mehr für die Untersuchung von psychologischen Problemen zuständig (Müller hat zeit seines Lebens vertreten: Nemo psychologus, nisi physiologus) Erklärung dieses Sachverhalts am Beispiel von Helmholtz, Arbeiten zur physiologischen Optik: physikalische Optik: Weg des Lichts im Auge; physiologische Optik: Funktion des „Sehnervenappartes“. Können Physik und Physiologie zusammen das Entstehen unserer Objektwahrnehmungen erklären? Helmholtz: nein – das ist die Aufgabe einer eigenen Wissenschaft, nämlich der Psychologie d) Erstes Lehrbuch der neuen Wissenschaft: Wundts „Grundzüge der physiologischen Psychologie“ (1874) – „physiologisch“ synonym zu „experimentell“; Präzisierung des Satzes über die Entstehung der Psychologie: Psychologie ist entstanden durch die Übernahme von aus der Physiologie entlehnten Forschungsmethoden zur Untersuchung von philosophischen Fragen der Erkenntnistheorie. e) Entstehung der Psychologie allgemein: „Abstoßung“ durch die Physiologie; eine solche „Abstoßung“ schließlich auch durch die Philosophie: Philosophie kann ihre Identitätskrise aus sich heraus lösen (wichtig: Wiederentdeckung Kants für die Erkenntnistheorie der Naturwissenschaften) – Konkurrenz zwischen Psychologen und reinen Philosophen auf dem Gebiet der Erkenntnistheorie – Kampfbegriff des Psychologismus – schließlich allmähliche Loslösung der Psychologie aus dem Kontext der Philosophie. Literatur: Benetka (2002), v. a. S. 27-31 u. S. 50-57 2. Vorlesung – Zusammenfassung Thema: Wie ist Psychologie als Wissenschaft möglich? Ausgangspunkt: Bestimmung des Gegenstands der Psychologie im Lehrbuch von Zimbardo und Gerrig: „Gegenstand der Psychologie sind Verhalten, Erleben und Bewusstsein des Menschen“. Was ist Erleben? Erleben ist immer nur dem Erlebenden selbst zugänglich. Wie kann über etwas, das private Erfahrung ist, wissenschaftlich etwas ausgesagt werden? Wissenschaftliches Wissens ist öffentliches Wissen (was erforscht wird und das Wie des Forschens muss intersubjektiv nachvollziehbar sein). Präzisierung der Frage: Wie ist öffentliches Wissen über private Erfahrung möglich? Problem: Erleben kann wissenschaftlich nur durch den Erlebenden selbst untersucht werden – das beobachtende Subjekt fällt mit dem zu beobachtenden Objekt zusammen. Einführung des Begriffs der Selbstbeobachtung. Frage: Ist die Selbstbeobachtung (Introspektion) eine wissenschaftliche Methode? von [email protected] Seite 2 von 11 VO Allgemeine Psychologie I aus http://www.lehrbegleitung.com WS 2002/03 Kants Einwand, dass im Falle der Selbstbeobachtung „die Beobachtung an sich schon den Zustand des beobachteten Zustands alteriert und verstellt“. Dieser Einwand wird allgemein akzeptiert – wie soll aber ohne Introspektion die wissenschaftliche Erforschung privaten Erlebens möglich sein? – Grunddilemma der Psychologie – Kernthese der Vorlesung: aus den verschiedenen Lösungsansätzen dieses Dilemmas lassen sich die großen Grundrichtungen der Psychologie („Paradigmen“) herleiten. Lösungsansätze A) – deutschsprachige experimentelle Psychologie („Erlebenspsychologie“): Wilhelm Wundt: „Externalisierung“ innerer Vorgänge im Experiment (z. B. innere Vorgänge äußern sich in ihrem zeitlichen Verlauf) positivistische Psychologie der Generation nach Wundt (Thematisierung psychischen Erlebens in seiner Beziehung zu den sie begleitenden physiologischen Vorgängen) Brentano: Beschreibung innerer Vorgänge aus der Erinnerung („Retrospektion“) Berliner Gestalttheoretische Schule (Köhler, Koffka, Wertheimer) – Beispiel für die Integration der unter a) bis c) genannten methodischen Ansätze. Ad 3. Ausbau dieses Ansatzes durch die Würzburger Schule Methode der rückschauenden Selbstbeobachtung von unter experimentellen Beziehungen erzeugten psychischen Vorgängen Versuchsanordnung in den denkpsychologischen Arbeiten Hauptresultate der Denkpsychologie der Würzburger Schule (Karl Bühler) Gedanken als eigentlichen Träger des geordneten Denkverlaufs; Abfolge der Gedanken ist nicht primär durch die Gesetze der Assoziation, sondern durch die Anforderungen der gedachten Aufgaben (bzw. Gegenstände) bestimmt – „determinierende Tendenz“ Kritik des Ansatzes der Würzburger Schule: Verschiebung des Problems der wissenschaftlichen Beobachtbarkeit psychischen Erlebens auf das Problem, wie eigenes Erleben adäquat kommuniziert werden kann (Schwierigkeit: normiertes Sprechen über eigenes Erleben ist etwas anderes als das Erleben selbst) B) – amerikanischer Behaviorismus (Programmatik von John B. Watson): Aufgabe der Bestimmung: Psychologie als Wissenschaft vom Erleben; wird ersetzt durch die Bestimmung: Psychologie als Wissenschaft vom (objektiv beobachtbaren) Verhalten von Organismen. C) – geisteswissenschaftliche Psychologie (Dilthey, Spranger, Jaspers, Erismann) naturwissenschaftliche Erklärungen menschlicher Lebensverhältnisse sind obsolet, da menschliches Erleben und Handeln sinnstrukturiert ist. Wissenschaftliche Klärung dieser Sinnstrukturen erfordert interpretative Verfahren. Da jedes individuelle Handeln seinen Sinn, seine Bedeutung durch den kulturellen Kontext erhält, in dem es sich vollzieht, ist ein Verstehen nur durch das Verstehen dieses kulturellen Kontextes (genauer der menschlichen Kulturäußerungen) möglich. Methodik: inneres Erleben ist nicht direkt zugänglich – zugänglich ist nur der Ausdruck dieses Erlebens; über den Erlebnisausdruck ist das Verstehen des (Fremd-)Erlebens möglich. (Erleben – Ausdruck – Verstehen) Verstehen von Fremderleben setzt ähnliches Eigenerleben voraus. von [email protected] Seite 3 von 11 VO Allgemeine Psychologie I aus http://www.lehrbegleitung.com WS 2002/03 Begriff der Hermeneutik: Methode des Deutens, Auslegens und Verstehens symbolisch artikulierter Bedeutungen. Hermeneutischer Zirkel Konsequenz aus dem Gesagten: Karl Bühlers Begründung eines Pluralismus der Methoden in der Psychologie 3. Vorlesung – Zusammenfassung Thema: Der Traum vom objektiven Blick ins (Fremd-)Erleben Positivistische Psychologie: Thematisierung von psychischem Erleben in seiner Beziehung zu begleitenden physiologischen Vorgängen Einstieg: Leib-Seele-Problem Relevanz für die Psychologie: PsychologInnen nehmen bei der Behandlung von Forschungsfragen auf philosophische Lösungsansätze Bezug (oft ohne es zu bemerken) dualistische – monistische Positionen Geschichtlicher Abriss: Dualismus: Ansatz in der Philosophie Platons: Trennung zwischen Ideen- und Körperwelt – dazu parallel: Trennung zwischen Leib und Seele (der Körper ist das Grabmal der Seele) Platons Seelenlehre – begehrender und „mutartiger“ Seelenteil mit dem Körper verwachsen, nur die denkende Seele ist frei. In der christlichen Philosophie des Mittelalters verliert der Körper alle Weihen des Seelischen – besteht aber als etwas, das ein gleichsam dämonisches Eigenleben führt, fort. Descartes: den platonischen Dualismus radikal auf den Begriff gebracht: Köper als Teil der res extensa (eine nach mechanistischen Prinzipien funktionierende Maschine); demgegenüber (völlig getrennt von der res extensa) eine geistige Existenz (res cogitans) Ort der Wechselwirkung beim Menschen: Zirbeldrüse „seelische“ Wirkung: Richtungsänderung der körperlichen Vorgänge (keine Vermehrung bzw. Verminderung der Kraft im Körper!) von Descartes führt kein Weg zu einer physiologischen Erklärung psychischer Vorgänge; in der heutigen Psychologie monistische Positionen (materialistische Positionen) Übergang (eine Art Zwischenstellung zwischen Dualismus und Monismus): Psychophysischer Parallelismus) von [email protected] Seite 4 von 11 VO Allgemeine Psychologie I aus http://www.lehrbegleitung.com WS 2002/03 Fechner: metaphysische Setzung: ein und dasselbe Wesen erscheint sich selbst als Geist und anderen zugleich als Leib Mach: „neutraler Monismus“: Unterschied zwischen Physischem und Psychischem ergibt sich daraus, in welcher Art von Verbindung ein je gegebener Bewusstseinsinhalt (Element) mit anderen Bewusstseinselementen aufgefasst wird; zentrale Idee: psychische Vorgänge in ihrer Abhängigkeit von physischen (physiologischen) Vorgängen zu thematisieren; Georg Elias Müller: 5 psychophysische Axiome Übergang zu Hubert Rohracher und der EEG-Forschung Pionier: Hans Berger Technik Alpha-Wellen (Ruhe) – Beta-Wellen (Aktivität) – Indikator für psychische Wachheit Schlafregistrierungen (Theta-Wellen, Delta-Wellen) Sensorische evozierte Potentiale (ERP) – bioelektrische Reizantworten – wichtiger Schritt hin zur Realisierung des Traums vom objektiven Blick ins Erleben DC-Potentiale – aktuelle Erregungsmuster an der Gehirnoberfläche Literatur: Mach und die positivistische Psychologie – Benetka (2002); EEG-Forschung vgl. Darstellung im Skriptum 6. Vorlesung – Zusammenfassung Thema: Einführung in die Psychologie des Sehens Einstieg: „Phänomenale Kausalität“ (Michotte): Es wird ein kausaler Zusammenhang zwischen zwei Ereignissen erlebt, obwohl in den diesen Ereignissen zugrunde liegenden Reizgegebenheiten kein kausaler Zusammenhang besteht. Was soll damit gezeigt werden? Antwort: Sehen ist kein passiver Vorgang, der eine äußere „Realität“ mehr oder weniger adäquat widerspiegelt, sondern ein aktiver, gestaltender Vorgang. Das ist die Kernthese, die in der Vorlesung weiter expliziert werden soll. Explikation der These: Erster Schritt: Demonstration der Kulturabhängigkeit von Sehen (Kino; Eisenbahnfahrt; Müller-Lyersche Pfeiltäuschung) Zweiter Schritt: Demonstration doppeldeutiger Figuren (ein und dieselbe Reizgegebenheiten können zu verschiedenen Wahrnehmungen führen) Satz von der prinzipiellen Mehrdeutigkeit der Netzhautbilder (das Problem wird dann in der 8. Vorlesung über das Tiefensehen wieder aufgenommen) Dritter Schritt: Sehen ist ein fortgesetztes Bilden von Hypothesen darüber, was um uns herum an Objekten sein könnte. Begriffliche Differenzierung: Bottom-Up-Signale aus den Augen und Top-Down-Wissen (bzw. Annahmen) über die Beschaffenheit der Außenwelt. von [email protected] Seite 5 von 11 VO Allgemeine Psychologie I aus http://www.lehrbegleitung.com WS 2002/03 Vierter Schritt: experimentelle Demonstrationen, dass Top-Down-Wissen die Bottom-UpSignale beeinflussen kann: Hohlgesichter Thompson-Effekt Umkehr-Brillen-Versuche Spielkartenexperiment von Bruner & Postman Erkenntnis (bzw. wissenschafts-)theoretische Konsequenzen Historischer Exkurs: Die in der Vorlesung vorgestellte Theorie des Sehens geht auf die sinnesphysiologische Wahrnehmungstheorie von Helmholtz zurück: Grundgedanke: Sinnesempfindungen sind keine Abbilder der, sondern Zeichen für die Beschaffenheit der Außenwelt. Physikalische Vorgänge wirken auf unsere Sinnesorgane ein; aus den dadurch bedingten „Erregungszuständen“ in den Nerven erschließen wir uns die Ursachen (= Außenweltobjekte); Theorie der unbewussten Schlüsse. Literatur: Gregory, Auge und Gehirn; die Helmholtz-Theorie der unbewussten Schlüsse ist ausführlich dargestellt in Benetka (2002). 7. Vorlesung – Zusammenfassung Thema: Physiologische Grundlagen des Sehens 1. Einstieg: zur Geschichte der Vorstellungen über das Sehen: Antike Philosophie; Alhazen (Auge als Empfänger des Lichts); camera obscura (Veranschaulichung der Funktionsweise des Auges); Keplers Hypothese des umgekehrten Netzhautbildes; Christoph Scheiner am Ochsenauge demonstriert; Descartes publiziert das „Sinusgesetz der Brechung“ (entdeckt von Willebrord Snell van Rojen) Kontroversen über die Natur des Lichts (Korpuskulartheorie [Newton] vs. Wellentheorie [Christian Huygens]); Newton demonstriert die Aufspaltung des Sonnenlichts in die Spektralfarben. 2. Weg des Lichts im Auge: Cornea, Kammerwasser, Pupille, Iris, Linse, Glaskörper, Netzhaut 3. Aufbau der Netzhaut: Fotorezeptoren – bipolare Zellen, Horizontalzellen und Amakrinzellen – Ganglienzellen (Erregungskonvergenz: ca. 1 Million Ganglienzellen kombinieren die Impulse aus etwa 130 Millionen Fotorezeptoren); Begriff „rezeptive Felder“ Demonstration des „blinden Flecks“ Fotorezeptoren: Stäbchen (skotopisches Sehen) und Zapfen (fotopisches Sehen) – „Duplizitätstheorie“ (Johannes v. Kries) 4. Impulsleitung: Nervus Opticus – Chiasma opticum (Sehnervenkreuzung) – Tractus opticus (Faserbündel enthalten nun Nervenfasern aus beiden Augen) – Corpus geniculatum laterale (Teil der Bahnen zweigt vorher ab zum Colliculus superior) – primäre Sehrinde 5. Zur Physiologie des Sehens: Stephen Kuffler: Identifizierung des zu einer bestimmten Ganglienzelle in der Netzhaut gehörigen rezeptiven Feldes; Differenzierung: „On-Off-Zelle“ (kreisförmige On-Region im von [email protected] Seite 6 von 11 VO Allgemeine Psychologie I aus http://www.lehrbegleitung.com WS 2002/03 Zentrum, umfasst von einem Rin (Off-Region); Off-On-Zellen (umgekehrt: kreisförmige OffRegion; Ring herum On-Region) Zellen im Corpus geniculatum laterale – zugehörige rezeptiven Felder – sehen so aus wie die rezeptiven Felder der Ganglienzellen in der Netzhaut; Zellen in der primären Sehrinde (Hubel und Wiesel): zugehörigen rezeptiven Felder nicht mehr kreisrund, sondern längliche Form mit einem langgestreckten On-Zentrum und einer oder z. T. auch zwei langgestreckten hemmenden Randzone(n) – „Kantendetektoren“ vs. „Balkendetektoren“. Hubel & Wiesel haben schließlich entdeckt, dass verschiedene Detektoren auf Hell-Dunkelkanten bzw. Lichtbalken in verschiedener Ausdehnung und – vor allem – auch in verschiedener Orientierung maximal reagieren (d. h. nur Kanten bzw. Lichtbalken, die eine bestimmte Richtung haben, lösen maximale Impulsraten aus) Hauptteil der Balkendetektoren reagieren aber noch spezifischer: sie reagieren erst dann, wenn ein Lichtbalken mit passender Richtung über das rezeptive Feld hin und her bewegt wird. 8. Vorlesung – Zusammenfassung Thema: Tiefensehen, optische Täuschungen Grundproblem: jedes beliebige Netzhautbild kann prinzipiell mit einer unendlich großen Anzahl von Möglichkeiten hinsichtlich der Form, Größe und Entfernung von Objekten korrespondieren bzw. sie darstellen; diese prinzipielle Mehrdeutigkeit des Netzhautbildes ist eben dem Umstand geschuldet, dass in der Abbildung Räumlichkeit verloren geht. Konsequenz: Netzhautbild kann für die Erschließung des Raumes nicht ausschlaggebend sein. Welche anderen Grundlagen kommen dafür in Betracht? 1. binokulare Tiefencues a) Konvergenz (Schielstellung der Augen bei der Fixierung eines Objektes) Konvergenzwinkel „signalisiert“ Entfernung b) Querdisparation Prinzip: beide Augen erhalten etwas unterschiedliche (horizontal verschobene) Bilder von den Objekten der Welt. Erklärung des Prinzips: Fixationspunkt bildet sich in beiden Augen in der fovea centralis ab; Punkte, die auf dem Horopter liegen, werden auf korrespondierenden Netzhautstellen, Punkte die vor bzw. hinter dem Horopter liegen, auf nicht-korrespondierenden Netzhaustellen abgebildet (als korrespondierende Netzhautstellen bezeichnet man Netzhaustellen, die genau aufeinander liegen würden, wenn man sich die Netzhäute beider Augen als ortsgerecht aufeinander liegend vorstellt); das Ausmaß der Abweichung nichtkorrespondierender Netzhautstellen = Querdisparation (bzw. Breitenabweichung). Die Querdisparation ist für einen vor dem Horopter liegenden Punkt größer und anders gepolt als die Querdisparation für einem hinter dem Horopter liegenden Punkt; diese Information wird sozusagen in die Erschließung von räumlicher Tiefe umgesetzt; Breitenabweichung darf aber kritischen Wert nicht überschreiten – divergierende Bilder können nicht mehr zu einem einheitlichen, räumlichen Bild verschmolzen werden. erste experimentelle Demonstration des Prinzips: Wheatstone – Stereoskop dasselbe Prinzip: Rot-Grün-Brillen von [email protected] Seite 7 von 11 VO Allgemeine Psychologie I aus http://www.lehrbegleitung.com WS 2002/03 2. monokulare Tiefencues a) Bewegungsparallaxe b) „Abbildungsfaktoren“ Verdeckung Verteilung von Licht und Schatten Größen-Distanz-Relation lineare Perspektive Textur-Gradient c) Luftperspektive Phänomen der Größenskalisierung (Vorgang!) bzw. Größenkonstanz (Resultat!). Zumindest zwei Faktoren dafür von Belang: Tiefencues; Wissen um die Beschaffenheit von Objekten; beides kann miteinander in Konflikt geraten – Demonstration: Ames-Raum geometrisch-optische Täuschungen („perspektivische Täuschungen“) 9. Vorlesung – Zusammenfassung Thema: Einführung in die Gestaltpsychologie a) Ausgangspunkt: klassische Psychophysik Fragestellung: Bestimmung physikalischer Reizgegebenheiten; Bestimmung der psychische Gegebenheiten, die den physikalischen Reizgegebenheiten entsprechen Ansatz der Gestaltpsychologie: Umkehrung der psychophysischen Relation: Ausgang von den Wahrnehmungsgegebenheiten: Wie weit lassen sich diese auf Reizgegebenheiten zurückführen? Ziel: Aufweis von Eigenschaften der Wahrnehmungsgegebenheiten, die nicht aus den Eigenschaften der Reizgegebenheiten ableitbar sind b) experimentelles Paradigma der Berliner Schule der Gestalttheorie: Wertheimers Demonstration des Phi-Phänomens (Bewegung ohne bewegendes Objekt) c) historische Entwicklung des Gestaltbegriffs „Grazer Schule“: 1. Christian von Ehrenfels – Begriff der Gestaltqualität (entwickelt am Beispiel der Melodie) phänomenologische Beschreibung; Festlegung von Kriterien, anhand derer über das Vorliegen einer Gestaltqualität einwandfrei entschieden werden kann: „Übersummenhaftigkeit“ und „Transponierbarkeit“ 2. Kritik von Alexius Meinong begriffliche Revision: „fundierende Inhalte“ (Inferiora) und „fundierte Inhalte“ (Superioa) zentrale Idee: Inferiora (z. B. Töne) und Superiora (z. B. Melodie) gehören nicht derselben ontologischen Ordnung an; Inferiora haben „zeitlich räumliche Existenz“; Superiora „ideelen Bestand“; nur das, was räumlich-zeitlich existiert, kann wahrgenommen werden; daraus folgt: das Mehr, das Etwas-Anderes, das die Superiora (z. B. Melodie) von den sie fundierenden Inferiora (Folge von Einzeltönen) unterscheidet, kann nicht durch den Akt der sinnlichen Wahrnehmung erklärt werden. Konsequenz: Annahme einer psychischen Tätigkeit des wahrnehmenden Subjekts, die die Superiora produziert („Vorstellungsproduktion“) von [email protected] Seite 8 von 11 VO Allgemeine Psychologie I aus http://www.lehrbegleitung.com WS 2002/03 3. Umsetzung des Meinongschen Ansatzes in experimentelle Forschung: Stephan Witasek und Vittorio Benussi; Grundprinzip: Demonstration, dass einzig allein durch die Variation subjektiver Faktoren (z. B. Einstellung der Versuchsperson auf das Objekt: Auffassung der Gesamtheit eines Reizmusters vs. Auffassung von einzelnen Details) ein und dieselben Reizgrundlagen zu verschiedenen Gestaltwahrnehmungen führen können. „Berliner Schule“ (Köhler, Koffka, Wertheimer): Kritik des „psychistischen“ Ansatzes der Grazer Schule; Festhalten an den naturwissenschaftlichen Grundüberzeugungen der älteren positivistischen Psychologie (im Anschluss an Ernst Mach und dann vor allem Georg Elias Müller [vgl. Vorlesung 3] Untersuchung psychischer Phänomene in ihrem Zusammenhang mit den sie begleitenden physiologischen Vorgängen); „positivistischer Holismus“; schon Wertheimer hat in seinen bahnbrechenden Untersuchungen über „Das Sehen von Bewegung“ (vgl. Punkt a)) das PhiPhänomen rein physiologisch zu erklären versucht: kurzschlussartiges Übergreifen der nervösen Erregung von einem Punkt der Sehrinde auf benachbarte Hirnstellen; Grundprinzip: Prozess der Gestaltentstehung wird sozusagen ins Physiologische verlegt. Problem: „Gestalt“ ursprünglich ein rein psychologischer Begriff; kann er auf physiologische Vorgänge übertragen werden? Haben also auch physiologische Vorgänge „Gestaltcharakter“? Isomorphie-Postulat von Köhler: Strukturgleichheit von anschaulichen Erlebnissen und kortikalen Vorgängen (vgl. moderne Systemtheorie) d) Was ist von der Berliner Schule der Gestalttheorie geblieben? Grundprinzip: Wie die Außenobjekte für uns Aussehen, hängt nicht nur von der Beschaffenheit der ihnen entsprechenden Reizmuster, sondern von der Gesamtstruktur der jeweils vorhandenen Reizverhältnisse ab. Die wahrgenommene Form, Farbe, Größe etc. – allgemein: die wahrgenommenen Eigenschaften einer bestimmten Stelle im Wahrnehmungsfeld hängt nicht nur von den lokalen Reizverhältnissen, sondern von den Reizverhältnissen im gesamten Wahrnehmungsfeld ab. Das Ganze bestimmt sozusagen die Auffassung der Teile, aus denen es zusammengesetzt ist. Wie es das tut, ist das zentrale Problem der gestalttheoretischen Wahrnehmungspsychologie. Forschungsprogramm: Nachweis, dass den Wahrnehmungsinhalten Eigenschaften zukommen, die nicht auf Eigenschaften der vorhandenen (lokalen) Reizgegebenheiten zurückgeführt werden können; Annahme, dass diese Eigenschaften Resultat eines Organisationsprozesses sind, der aus dem gegebenen Rohmaterial der Reizstruktur die je gegebene Wahrnehmungsstruktur herstellt. Wie muss dieser Organisationsprozess beschaffen sein, um den Zusammenhang von Wahrnehmungsinhalten und Reizverhältnissen befriedigend erklären zu können? Konsequenz: Formulierung so genannter „Gestaltgesetze“ (= verallgemeinerte Organisationsprinzipien). Allen Gestaltgesetzen zugrunde liegt die „Tendenz zur guten Gestalt“ oder „Prägnanztendenz“ (es handelt sich um eine Art übergeordnetes „Obergesetz“): Unsere Wahrnehmung tendiert immer dahin, möglichst einfache Formen zu realisieren. e) Gegenüberstellung: Gestalttheorie und kognitive Wahrnehmungsforschung: Reizeigenschaften bestimmen die Auffassung einer Größe, Form, Farbe, Oberflächenstruktur, Raumlage etc. einer Wahrnehmungsgegebenheit; wie sie das tun, haben die Gestalttheoretiker zu beschreiben versucht (Gestaltgesetze); nicht explizit thematisiert wird das Problem, dass die Dinge, die wir um uns herum wahrnehmen, für uns eine bestimmte Bedeutung haben. Die Bedeutung von Objekten wird – wie die kognitive Wahrnehmungspsychologie zu zeigen versucht – aber nicht einfach aus Reizstrukturen abgeleitet, sondern unmittelbar aus den so genannten „Struktureigenschaften“ (Bezeichnung, Funktion, Funktionstüchtigkeit etc.) der Objekte aufgefasst. Diese Auffassung von Struktureigenschaften hat aber weniger mit Gestaltgesetzten als vielmehr mit Lernprozessen zu tun. Wissen um die Objekte bestimmt die Wahrnehmung dieser Objekte. von [email protected] Seite 9 von 11 VO Allgemeine Psychologie I aus http://www.lehrbegleitung.com WS 2002/03 Dieser Gedanke ist bereits in der ersten Vorlesung über die Psychologie des Sehens (Vorlesung 6) ausführlich dargestellt worden. Literatur: Grazer Schule: Benetka (2002) eine gute Darstellung der Grundpositionen der Berliner Gestalttheoretischen Schule findet sich in dem von Spada herausgegebenen Lehrbuch. 10. Vorlesung – Zusammenfassung 1 Nachtrag: Kognitive Wahrnehmungsforschung Problem der Objekterkennung Welche Prozesse sind dafür verantwortlich, dass wir z. B. ein Linienmuster „A“ als den Buchstaben A identifizieren? Theorieansätze: a) Schablonentheorien Annahme, dass wir ein fixes Abbild – eine Schablone – z. B. des Linienmusters „A“ im Gedächtnis gespeichert haben – Vergleich eines vorliegenden Reizmusters mit en im Gedächtnis abgespeicherten Schablonen; bei Übereinstimmung: Objekterkennung. Kritik: Wir erkennen auch entsprechende Reizmuster, die wir noch nie zuvor gesehen haben, problemlos z. B. als den Buchstaben A; Erweiterung der Schablonentheorien zu b) Theorien der Merkmalsanalyse Grundannahme: wir haben keine fixen Abbilder von Objekten, sondern nur die für die einzelnen Objekte charakteristische Eigenschaften im Gedächtnis gespeichert. Vorgang: Analyse eines vorgegebenen Reizmusters nach charakteristischen Eigenschaften; Vergleich mit den im Gedächtnis abgespeicherten Listen von Objekteiegenschaften; bei Übereinstimmung Objekterkennung 2 Zur Psychologie des Farbensehens geschichtlicher Einstieg: Newtons Zerlegung von Sonnelicht in die Spektralfarben (Farben des Regenbogens am Himmel); Schließung des Farbenspektrums zum Farbenkreis; Kernthema der Vorlesung: ein gut konstruierter Farbenkreis kann als Grundlage zur theoretische Erklärung des Farbensehens dienen. Konstruktion eines entsprechenden Farbenkreises: 1. Begriff der Komplementärfarben Wie kann die Komplementarität gezeigt werden? a) negatives Nachbild b) Kontrastphänomene Phänomen der „farbigen Schatten“ Welche Eigenschaften haben Komplementärfarben? Einstieg in das Problem der Farbenmischung; Unterscheidung: additive Farbmischung (Mischung von Licht) und subtraktive Farbmischung (Mischung von Malfarben) von [email protected] Seite 10 von 11 VO Allgemeine Psychologie I aus http://www.lehrbegleitung.com WS 2002/03 Schluss: additive Mischung von Komplementärfarben von annähernd gleicher Intensität ergibt weiß (bzw. ein helles Grau) 2. Unterscheidung „Farbton“ und „Sättigung“ Konstruktionsprinzip des Farbenkreises: a) Komplementärfarben liegen einander gegenüber b) gesättigter Farbton am Rande, zur Mitte Sättigungsgrades; Kreismitte: weiß hin kontinuierliche Was kann ein guter Farbenkreis leisten: a) Vorhersage von Mischfarben (additive Farbmischung) b) Demonstration, dass mit drei beliebigen Ausgangsfarben Spektralfarben hergestellt werden können (fast) Abnahme alle des anderen Übergang zur Theorie Farbenwahrnehmung a) Thomas Young: schloss aus Experimenten zur additiven Farbmischung, dass die Vielfalt der von erlebten Farben aus einer begrenzten Anzahl von Netzhautrezeptoren (3)erzeugt wird; Weiterentwicklung dieses Ansatzes durch Helmholtz – Dreikomponententheorie b) Gegenfarbentheorie von Hering als konkurrierender Ansatz: Annahme dreier Sehsubstanzen, die unter Einwirkung von Licht zersetzt und wieder ersetzt werden c) heute vertreten: Kombinationsmodell aus a) und b): a) bildet die Vorgänge auf der Ebene der Netzhautrezeptoren ab; die Ganglienzellen, die den Output der Photorezeptoren kombinieren, arbeiten etwa in der Art, wie die Heringsche Modellbildung (b) es vorhersagt Literatur: Eine gute Darstellung der in der Vorlesung behandelten Probleme der Psychologie des Farbensehens findet sich in dem Lehrbuch zur Allgemeinen Psychologie von Herkner. von [email protected] Seite 11 von 11