Notfallsituation akutes Angioödem ( aus „Der Notarzt“ 2010, Heft 6, S.251ff; M.Bas et al.) Definition des Angioödems (AE) : Ödematöse Schwellung tieferer Gewebsschichten, die die Haut und die Schleimhaut betreffen kann. Ein Notfall liegt immer dann vor, wenn die obere Atem-ScluckStrasse betroffen ist. Es werden allergische und nichtallergische Angioödeme unterschieden. Die nichtallergisch bedingten gibt es in 5 Unterformen. Betroffene Körperregionen : - obere Luftwege Gastrointestinaltrakt Genitalien Haut des Rumpfes und der Extremitäten Ursachen : - Die allergischen AE sind zumeist histaminbedingt. - Die nichtallergischen AE sind zumeist bradykininvermittelt Formen der nichtallergisch bedingten AE : - RAE, das durch Blocker des Renin-Angiotensin-Aldosteron-System induziert wird HAE, das hereditäre Angioödem AAE, das erworbene (acquired) AE IAE, das idiopathische AE PEA, das pseudoallergische AE (klinisch kaum relevant) Alle nichtallergischen AE sind hauptsächlich durch Bradykinin verursacht. Wirkweise des Bradykinin : - Bradykinin kommt ubiqutär im Gewebe und Plasma vor B. steigert über die Bradykinin-B2-Rezeptoren neben der Dilatation die Permeabilität der Gefäße. Folge : Ödembildung in den tiefen Haut- und Schleimhautschichten 1 Die einzelnen nichtallergischen Unterformen : Das am häufigsten bradykinininduzierte Angioödem ist das RAE : - Inzidenz von 0,4 – 0,7 % - Hervorgerufen insbesondere durch ACE-Hemmer (selten auch durch AT-1Blocker) - Ca. 7 Mio. ACE-Anwender in Deutschland - Bei rund 20 000 – 35 000 ist ein RAE zu erwarten - Inzidenz 1 : 4 000 - In 20% dieser Fälle (ca. 7 000) entwickelt sich ein schweres AE mit konsekutivem Klinikaufenthalt. - In wiederum 20% dieser Fälle ist die Situation lebensbedrohlich, weil die Atem-Schluck-Strasse betroffen ist Intensivmedizinische Betreuung, ggf. IT bzw. Tracheotomie nötig Wirkweise der ACE-Hemmer : - ACE-Hemmung bewirkt einen reduzierten Bradykininabbau Daher kommt es zu einer Erhöhung des Spiegels in Gewebe und Plasma Manifestation : - RAE tritt fast ausschließlich im Kopf-Hals-Bereich auf Schwellung häufig innerhalb Minuten bis wenigen Stunden Steht nicht immer in zeitlichem Zusammenhang mit Medi-Einnahme Große interindividuelle Variabilität bis zur Erstmanifestation ( Mittel 2-3 Jahre ) Auftreten der Schwellung meist ohne Vorzeichen und ohne Vorliegen von speziellen Risikofaktoren Häufiges Verlagern vom Gesicht auf die Schleimhäute der Atemwege Husten (ACE-Hemmer bedingt) ist kein Vorzeichen oder Warnhinweis Spontane Rückbildung nach 24-72 Stunden HAE Typ I und II : - genetisch bedingt durch Mangel an funktionstüchtigem C1-Inhibitor Prävalenz : 1 : 10 000 – 50 000 Typ I : C1-Inhibitormangel ( quantitativ ) Typ II : ggf. normale Konzentration aber verminderte Aktivität ( qualitativ ) in beiden Fällen konsekutiv erhöhter Bradykininspiegel HAE Typ III : - C1-Inhibitor-Aktivität und Konzentration normal Genetischer Defekt des Faktor 12 ( Hagemann-Faktor ) hemmender Effekt auf Bradykininbildung vermindert 2 AAE : - gesteigerter Verbrauch von C1-INH z.B. durch Autoantikörper beim B-Lymphzell-Lymphom, ebenso beim Leberzell-Ca und bei der Leberzhirrose möglich - Sonderform des medikamentös induzierten AE kann z.B. unter Einnahme von ASS entstehen - sowohl Auslöser als auch Mediator unbekannt PAE : IAE : Differtialdiagnosen : - rheumatische Erkrankungen wie Kollagenosen ( z.B. Sjögren-Syndrom ) oder Vaskulitiden Tumore im Kopf-Hals-Bereich Speicheldrüsenprozesse Entzündungen der Zähne oder des Unterkiefers Gesichtsphlegmone Vena-Cava-Superior-Syndrom zusätzlich Urtikaria ? dann i.d.R. nichtallergisches AE ausgeschlossen Diagnostik : - ausführliche klinische Untersuchung incl. Familien- und Medi- Anamnese wenn möglich Laryngoskopie Labordiagnostik : ► Akutdiagnostik Neben Standarddiagnostik incl. CRP, TSH sollte eine Untersuchung von ACE-Serumaktivität und C1-Inhibitor-Aktivität erfolgen. ► Nach Abklingen des AE Labor nochmals wie oben, aber zusätzlich C1-Inhibitor-Antigen Faktor-12-Aktivität Differentialblutbild Rheumadiagnostik C1q, C4 (Komplementfaktoren) 3 ggf. genetische Analyse ( HAE Typ III ) Therapie des AE : - Ziel : Schwellung zum Abklingen bringen Kreislauf- und atmungsstabilisierende Medikamente, wenn nötig Im Akutstadium probatorisch bereits antiallergische Therapie, ggf. auch mit Epinephrin inhalativ behandeln Bei nichtwirksamer antiallergischer Therapie, bzw. beim dringenden klinischen Verdacht auf das Vorliegen eines nichtallergischen AE : Icatibant 30 mg ( Firazyr® )oder C1-Inhibitor ● - Icatibant : Synthetischer Bradykinin-B2-Rezeptor-Antagonist Subcutane Verabreichung von 30mg (3ml) Symptomverbesserung nach ca. 45 Minuten Anwendung beim HAE ( zugelassen zur sympt. Behandlung ) Anwendung beim RAE bisher vielversprechend, aber nur Fallberichte ● - C1-Inhibitor-Konzentrat Zulassung zur Akutbehandlung beim HAE Anwendung beim AAE ( positive Fallberichte ) Cave : Infektionsrisiko ( Blutprodukt ) 20 IE/kg/KG i.v. Konsequenz für Klinik und Praxis : - Differentialdiagnostisch immer ein nichtallergisches AE in Betracht ziehen Bei bradykinininduziertem AE ist eine antiallergische Therapie nicht sinnvoll, da nicht wirksam ( wird im Zweifel in der Präklinik trotzdem stattfinden ). Die häufigsten nichtallergisch bedingten AE sind bradykinininduziert und müssen spezifisch mit C1-INH-Konzentrat oder Icatibant behandelt werden. Niederberger 01/11 4