Religion als Menschheitsphänomen 1. Worterklärung Das von dem lateinischen "religio" stammende Wort Religion kann von zwei Verben hergeleitet werden. Der römische Schriftsteller Cicero (100 bis 43 v. Chr.) schildert in einem Rückgriff auf M. Terentius Varro diese Etymologien: 1. relégere (wieder-lesen, grübeln, sich überlegen) 2. religáre (zurückbinden, festmachen) Um das Jahr 300 wird diese Unterscheidung vom christlichen Schriftsteller Laktanz für das Christentum adaptiert. Laktanz misst vor allem der zweiten Interpretation ("Sich zurückbinden an einen Ur-sprung") große Bedeutung zu und fügt noch eine etymologische Interpretation hinzu: Das Verb ist zusammengesetzt aus "re-" ("zurück, wieder") und "legere" (lesen, aufklauben, aussuchen), daher: "Der Mensch wählt sich - wieder- die Verbindung zu Gott, die von Seiten Gottes durch die Schöpfung schon da war". In späteren Jahrhunderten greifen vor allem Augustinus und Thomas von Aquin auf diese Definitionen zurück. Das Wort "Religion" wurde vom Christentum übernommen und ist über die westliche Kultur in viele Sprachen eingedrungen. 2. Das Heilige "Immer geht es in der Religion um eine erlebnishafte 'Begegnung mit dem Heiligen'(...): möge diese 'heilige' Wirklichkeit nun als Macht, als Mächte (Geister, Dämonen, Engel), als (personaler) Gott, (apersonales) Göttliches oder irgendeine letzte wahre Wirklichkeit(...) verstanden werden." (Hans Küng) "Das Heilige", so ein berühmter Buchtitel von Rudolf Otto, ist als Ursprung jedes religiösen Erlebens zu sehen. "Heilig" wird von diesem Theologen definiert als "mysterium sacrum, tremendum et fascinosum". mysterium (Geheimnis): sacrum (heilig): tremendum (Schauder erregend) Es bleibt immer ein unauflösbarer Rest von Nichterklärbarem meint ursprünglich "ausgegrenzt, abgegerenzt" vom alltäglichen Bereich Die Umwelt ist nicht mehr selbstverständlich, sondern wird plötzlich unheimlich. fascinosum (verzaubernd) Die Frage, wann dieses Heilige in das menschliche Bewußtsein tritt, führt uns zu den Anfängen der Menschheit. In der Begegnung mit der Natur und ihren Mächten erlebt der Mensch der Vorzeit dieses "Heilige". Der Primitive erfährt sich ständig von der Natur bedroht und sucht Schutz vor ihren Gefahren. Anläßlich von Erfahrungen, die die Lebensgewohnheiten durchbrechen, die ihm Furcht einjagen und eine Art "Urschauder (W. Schubart) auslösen, kommt er dazu, gewisse Orte und Dinge als "heilig", d.h. abgesondert vom Alltäglichen und Vertrauten, zu erfahren: Zunächst sind es Tiere, Bäume, Haine, Flüsse, Berge, Steine, später auch heilige Tage und Zeiten, Gewänder, Gefäße, Lieder usw. Der Mensch wird sich seiner Schwäche und Unterlegenheit bewusst und fühlt, dass er von einer überlegenen Macht beherrscht wird. Der Schauder vor dem Göttlichen ist ein Motiv, das bis in die Hochreligionen hineinwirkt. Die "Heiligung" seiner Umwelt ermöglicht dem Menschen zugleich eine Entlastung und Orientierung: Indem sich rund um heilige Orten, Tiere usw. Mythen herauszubilden beginnen, schafft sich der Mensch ein Kulturmodell, in dem er das undurchschaubare Chaos, dem er täglich begegnet, zu einem Kosmos ("Ordnung", "Schmuck"ordnet. Diese Ordnung macht das Leben erträglicher und wird immer mehr zu einer existentiellen Bedingung. Ein besonderes Kennzeichen des so erfahrenen "Heiligen" ist die Ambivalenz, es ist "sacrum" und zugleich "tremendum", gut und böse, beschützend und bedrohend, Nahrung spendend und vernichtend, ermutigend und furchteinflößend, reinigend und befleckend (Die Vorstellung, sich durch Kontakt mit dem Heiligen zu verunreinigen, lebt noch heute in gewissen Religionen weiter). Nichts ist von sich aus böse oder gut, sondern trägt beide Möglichkeiten in sich. Daher mischt sich in den Urschauder auch eine Art von Anziehung und Faszination ("Verzauberung"). Der Mensch fühlt sich gleichermaßen abgestoßen und angezogen, hat Furcht und Ehrfurcht. 3. Animismus, Magie und Totemismus Von Anfang an wird die Natur als beseelt gedeutet. Diese Vorstellung, dass alles in der Natur eine Seele habe, nennt man Animismus. Auch der Animismus lebt heute noch in verschiedenen Religionen weiter (z.B. Hinduismus). Eng verknüpft mit dem Animismus ist die Magie, die den Glauben an eine unpersönliche (also nicht an einen Menschen oder Gott gebundene) höhere Kraft voraussetzt. Magie beinhaltet den Glauben, diese höhere Kraft (bei Südseevölkern "mana" und "orenda" genannt) könne durch bestimmte Formeln, Riten usw. "angezapft" und für verschiedene, gute und böse Zwecke verwendet werden (Die Unterscheidung in "weiße" und "schwarze" Magie ist jüngeren Datums, sie geht aufs christliche Mittelalter zurück). In der Jäger- und Sammlerkultur der Altsteinzeit sieht sich der Mensch nicht der Natur gegenübergestellt, sondern empfindet sich als Teil von ihr. Er erlebt sie nicht als Herrscher, sondern als Gleichberechtigter, vor allem gegenüber den Tieren, die mit denselben Widrigkeiten des Lebens unter dem freien Himmel zu kämpfen haben. Wenn sich der Glücksfall ereignet und ein Tier sicherlegen läßt, wird dies nicht der Geschicklichkeit des Jägers, sondern dem guten Willen des Tieres zugeschrieben und diesem Dank und Verehrung entgegengebracht. Hier ist auch die Entstehung der Maske anzusetzen, die älter ist als der Pflug oder Pfeil und Bogen. Die Maske war zuerst Jagdmaske: Der paläolithische Jäger, der ein Tier erlegen will, trachtet danach, dem Tier möglichst ähnlich zu werden. Wenn er sich z.B. bei der Hirschjagd wie ein Hirsch bewegt, eine Hirschmaske trägt, dann glaubt er zu wissen, was ein Hirsch dachte und empfand, dann glaubt er, selbst ein Hirsch zu sein. Aus diesem Nahverhältnis zur Natur entspringt der Totemismus, eine weitere primitive Form der Religion, der heute noch vereinzelt zu finden ist. Das Totem ist in der Regel ein Tier, manchmal eine Pflanze, von der der Stamm oder die Sippe ihre Herkunft ableitet; Der Stammvater , aber auch der Beschützer und Helfer. "Die Totemgenossen stehen dafür unter der heiligen, sich selbstwirkend strafenden Verpflichtung, ihren Totem nicht zu töten (vernichten) und sich seines Fleisches (oder des Genusses, den er sonst bietet) zu enthalten." (Sigmund Freud). Am Fest des Totems werden Tänze aufgeführt, die dieses nachahmen und nicht selten kommt es abei zur exzeptionellen Schlachtung des Totemtieres, die zu einem anderen Zeitpunkt schwer bestraft würde. Zwischen den Mitglieder eines Totems besteht in der Regel Heiratsverbot und es gelten verschiedene Tabus. 4. Elemente neolithischer Religionen NATURVERHÄLTNIS Mit der Seßhaftwerdung des Menschen und dem Übergang zu Ackerbau und Viehzucht in der Jungsteinzeit ändert sich das Leben und Denken der Menschen grundlegend. Die Jagd verliert an Bedeutung und damit beginnt eine Entfremdung gegenüber der Natur. Die ersten Siedlungen und Städte entstehen und grenzen den Lebensraum des Menschen immer stärker ein. Die Natur wird zu "dem da draußen", der Wald - die ersten Siedlungen sind Oasen in Wüsten bzw. umgeben von Wäldern - bietet nicht mehr Schutz, sondern wird zunehmend bedrohlich und als Wohnstätte der Toten aufgefasst. OPFER Schon im Totemismus kommen nicht nur animistische und magische Elemente zum Tragen, sondern es entwickelt sich in dieser religiösen Vorstufe Opfer, Riten und Gebete. Durch diese Praktiken versucht der Mensch, die jenseitige, ihm nicht ergründbare Welt zu beeinflussen und für sich günstig zu stimmen. ANGST VOR DEN TOTEN Das Verhältnis zu den Toten ist ebenfalls ein ambivalentes: Der Tote wird als "heilig" im umfassenden Sinn erlebt, d.h. erregt Furcht, ist unrein usw., aber zugleich "unberührbar" und Teil der jenseitigen, nur erahnbaren Wirklichkeit. Der Tote gilt so sowohl als Bringer von Fruchtbarkeit und Wohlstand als auch von Schaden. Besonders groß war die Angst, der Tote könnte Rache nehmen für Vergehen, die man ihm bei Lebzeiten zugefügt hatte. In vielen alten Kulturen drückt sich diese Angst durch eine besondere Behandlung des Toten aus: So wird das Grab mit einem Steinhaufen bedeckt oder gleich mit Felsblöcken beschwert, der Tote wird verbrannt oder eingemauert: Man versucht, die Furcht auf ein Minimum zu beschränken und zu kanalisieren. Auch die Begräbnisstätten befinden sich fernab der Siedlungen. Trotzdem: Diese Vorkehrungen sind zu gewissen "heiligen" Zeiten nutzlos und die Toten treiben ihr Unwesen. Dann müssen sie durch besondere Maßnahmen beruhigt und besänftigt werden, sei es durch Opfer, Geschenke, Totenspeisungen usw., oder aber verscheucht: Durch Lärm, nächtliche Feuer, Lebens- und Fruchtbarkeitssymbole. Als solche unsicheren Zeiten galten die Übergangszeiten von Winter zu Sommer (die Vorstellung von vier Jahreszeiten kommt erst später, und nur in gewissen Gegenden Europas), von Vegetationsperiode zu Ruheperiode, also zu den beiden Sonnenwenden. Hier, am Übergang, in der Krisis, konnte der gefährliche Kontakt mit dem "Heiligen" stattfinden. In Mythos, in Sagen und Märchen lebt diese Vorstellung z.B. in der "wilden Jagd", in Erzählungen von Irrlichtern, Totenbesuchen u.ä. weiter. Das religiöse Bemühen lief in dieser Zeit darauf hinaus, die heilbringenden, fruchtbaren und lebensspendenen Aspekte zu betonen, was oft zu ekstatischen Veranstaltungen führte. So gehen die altrömischen Saturnalien (eine Art Karneval zur Wintersonnenwende, bei dem die Nacht zum Tag gemacht wurde) und auch -mit Umwegen - unser Faschingstreiben auf solche Abwehrhandlungen zurück. TOD Der Tod galt in keiner Religion als Ereignis, das natürlich war und den Schlusspunkt der Existenz markierte. Der Tote wurde "heilig" und Bestandteil einer anderen, jenseitigen Welt. Ein Teil der Persönlichkeit, so glaubte man, besteht fort, und zumindest diese Vorstellung ist allen Religionen gemein, auch wenn über diesen Fortbestand dann verschiedenste Lehren aufgestellt werden. Bei vielen Völkern findet sich die Vorstellung eines eigenen Bereiches für die Toten, eines Totenreiches, das später noch genauer differenziert wird: So gibt es oft die Vorstellung von einem Totengericht und der Vergeltung der Taten in für Gute und Böse in eigenen Abteilungen (bei den Griechen z.B. Elysium und Tartaros). GÖTTER Das Herausbilden von Göttergestalten hat mehrere Ursachen: Eine Quelle für den Götterglauben ist die Verehrung der toten Ahnen, die sich aus der oben beschriebenen Angst vor den Toten entwickelt hat. Spätestens mit den ersten Hochkulturen kommt das sogenannte Person-Bereich-Denken auf: Heilige Stätten, Bäume, Flüsse, der Himmel etc. werden zugleich als Ding und als Person gedacht, aber nicht getrennt, sondern in einem: So ist noch im griechischen Denken z.B. Helios nicht der Gott der Sonne, sondern der Gott "Sonne". In weiterer Folge werden diese Götter in Beziehung zueinander gebracht und hierarchisiert; so kommt es zum Glauben an einen höchsten Gott, einen Götterkönig. In der Blüte der Hochkulturen werden Götter- und Totenwelt in vielen Einzelheiten menschlichen Einrichtungen nachgebildet: So gibt es in der Unterwelt oft ein Totengericht oder eine Seelenwaage, bei den Göttern einen Herrscher und Arbeitsteilungen. SCHAMANISMUS Bei allen Stämmen waren besondere Mitglieder dazu bestimmt, den Kontakt mit dem "Heiligen" herzustellen bzw. aufrechtzuerhalten. Der Schamane (das Wort stammt aus dem Tungusischen) begibt sich dazu in tranceartige oder ekstatische Zustände, in denen er diese "Traumreisen" zu den Göttern unternimmt. Diese Zustände können durch Tanz, Drogeneinnahme oder bewußtes Hineinversenken erreicht werden. Der so entrückte Schamane "verläßt" seinen Körper und vermag mit den Göttern zu reden, Krankheiten zu diagnostizieren und zu heilen, die Seelen der Verstorbenen zu begleiten u.ä. Schamanismus war bis ins 20. Jh. noch auf der ganzen Welt zu finden, vor allem im nordasiatisch-arktischen und im ozeanischen Kulturkreis. FRUCHTBARKEIT In manchen Kulturen erlebt der naturverbundene Mensch persönliche Sexualität und kosmische Kräfte als verbunden und abhängig: Die menschliche Zeugung ist Abbild der Fruchtbarkeit in der Natur und umgekehrt. Das Göttliche ist dem Menschen in der Sexualität nahe, andererseits wird der Mensch als mitverantwortlich für die befruchtenden Kräfte in der Welt gedacht. In solchen Kulturen nehmen weibliche Fruchtbarkeitsgottheiten eine Vorrangstellung ein. Sie stehen für Fruchtbarkeit von Erde und Mensch, Vegetation, Sexualität, Gebären und Hervorbringen. An großen Strömen wie in Ägypten oder in Babylon, aber auch in Regengebieten erlebte der Mensch die befruchtende Wirkung des Wassers für die Erde als besonders mit seiner Existenz verbunden. So entstanden Befruchtungsmythen, die die Vereinigung von Wasser- bzw. Himmelsgöttern mit der weiblich gedachten Erdgöttin-Urmutter zu Thema hatten ("kosmische Erotik"). Die sich in diesem Zusammenhang entwickelnden Kulte sind meistens geprägt von orgiastischen Ausschweifungen, kultischer Prostitution und Verehrung sexueller Symbole. Auch spielen Dinge eine Rolle, die Fruchtbarkeit und Vitalität, strotzende Kraft und Leben versinnbildlichen in diesem Zusammenhang eine große Rolle: Frische grüne Zweige und Ruten, Blüten und Knospen, Blut; aber auch Tiere (v.a. Ziegenböcke) und gewissen Pflanzen.