Predigt über Psalm 133: "Wie lieblich, wenn Geschwister einträchtig beieinander sind!" Linsebühl, 6. Juli 2008; von Pfr. Stefan Lippuner (Psalmen XIV) Siehe, wie fein und lieblich ist es, wenn Brüder einträchtig beieinander wohnen! Wie das köstliche Öl auf dem Haupt, das niederfliesst auf den Bart, den Bart Aarons, niederfliesst auf den Saum seiner Gewänder! Wie Hermontau, der herabfällt auf die Berge Zions! Denn dahin hat der Herr den Segen entboten, Leben bis in Ewigkeit. Liebe Gemeinde. Es ist etwas sehr Schönes, wenn Menschen in Eintracht, in Einheit, in Frieden zusammen sind: "Siehe, wie fein und lieblich ist es, wenn Brüder einträchtig beieinander wohnen." – "Brüder" steht da, man muss natürlich ergänzen: "und Schwestern"; damit sind im Besonderen Menschen gemeint, die zusammengehören, in einer Familien, in einem Volk, in einer engen Gemeinschaft. Wenn diese Menschen einträchtig, in Einheit zusammen sind, dann ist das wirklich ein Segen: "Denn dahin hat der Herr den Segen entboten, Leben bis in Ewigkeit." Wir Menschen sind von unserem Wesen her auf Beziehung und Gemeinschaft angelegt. Das zeigt sich schon darin, dass in der Schöpfungsgeschichte der Bibel Gott zwei Menschen machte, die aufeinander bezogen waren. Es gab und gibt zwar immer wieder auch Einsiedler, sogar solche, die dabei glücklich sind, aber sie sind letztlich Ausnahmen. Grundlegend ist der Mensch auf Beziehungen hin geschaffen. Jemand sagte einmal: "Erst der Mitmensch macht den Menschen wirklich zum Menschen." – Sicher sind die einen Menschen geselliger als andere, die einen leben Beziehungen intensiver als andere. Aber grundlegend brauchen wir alle Mitmenschen, brauchen wir Beziehungen zu anderen Personen, brauchen wir Gemeinschaft in einer Gruppe von Menschen. Und wenn in solchen Beziehungen, in einer solchen Gemeinschaft Einheit herrscht, Friede und Liebe, dann ist das etwas wirklich Schönes, wonach wir uns sicher alle sehnen. Auch das steckt grundlegend in uns Menschen drin: Nicht nur, dass wir Beziehungen brauchen, sondern auch der Wunsch, die Sehnsucht, dass diese Beziehungen gut, erfüllend und bereichernd sind. – Wie sieht es in dieser Hinsicht bei Ihnen aus? Erfahren Sie gute Beziehungen und Gemeinschaft in Ihrem Leben? In der Familie, der Partnerschaft, im Freundeskreis, unter Nachbarn, bei der Arbeit usw. Ich hoffe es, denn es macht das Leben erst wirklich reich. Ich stelle mir allerdings vor, dass Sie das andere auch schon erlebt haben: Zwietracht statt Eintracht, Unfriede, Streit, vielleicht nicht offen ausgetragen, aber unterschwellig vorhanden, was die Sache überhaupt nicht besser macht. Wir kennen das doch alle aus unserem Leben. – Offensichtlich ist es nicht selbstverständlich, dass eine Beziehung oder Gemeinschaft gut ist. Denn es steckt halt auch das andere in unserem menschlichen Wesen drin: Nicht nur das Bedürfnis nach Beziehungen, sondern auch der Egoismus, also die Tendenz, sich auf sich selber zu konzentrieren, zuerst für sich selber zu schauen. Und leider ist dieser Egoismus oft stärker und mächtiger in unserem Wesen als der Wunsch nach Einheit und Frieden. Darum gibt es so häufig Streit, Ablehnung, Zwietracht unter Menschen. – Gute Beziehungen, ein einträchtiges Zusammensein ergeben sich nicht einfach automatisch, sondern wir müssen sie immer wieder wollen, suchen, anstreben, erarbeiten. 2 Wahre Gemeinschaft und Einheit sind darum letztlich immer ein Ausdruck des Segens Gottes, eines Segens, der in unserem Psalm 133 noch bildhaft umschrieben wird: "Wie das köstliche Öl auf dem Haupt, das niederfliesst auf den Bart; wie Hermontau, der herabfällt, auf die Berge Zions." – Es sind für unser Verständnis eher eigenartige Bilder und Vergleiche. Aber damals, als die Bibel geschrieben wurde, im alten Volk Israel, da waren das Beschreibungen von grossem Segen: Kostbares, parfümiertes Salböl, das so reichlich über dem Kopf ausgegossen wird, dass es über das ganze Gesicht herabläuft und den ganzen Menschen heiligt; und der frische Morgentau, der vom Hermon-Gebirge herabkommt und das ausgetrocknete Land bewässert und belebt. Bilder des Segens! "Siehe, wie fein und lieblich ist es, wenn Brüder und Schwestern einträchtig beieinander wohnen. Denn dahin hat der Herr, den Segen entboten, Leben bis in Ewigkeit." Dieser Segen gilt im Speziellen für eine bestimmte Gemeinschaft, mit der wir uns jetzt noch etwas eingehender beschäftigen wollen: nämlich für die Gemeinschaft der Christen, für die christliche Gemeinde. Es kommt nicht von ungefähr, dass sich die Christen in der Anfangszeit (und vielerorts bis heute) mit diesem Begriff aus Psalm 133 bezeichneten, nämlich als Brüder und Schwestern, auch wenn keine Blutsverwandtschaft bestand. Aber sie haben sich eben trotzdem als eine Familie verstanden und gefühlt. Und auch viele Jahrhunderte später sollte es unter Christen nicht anders sein. Zusammengehörigkeit, Gemeinschaft sind grundlegende Wesensmerkmale der Christen, der christlichen Gemeinde. Gerade in den ersten Jahrhunderten war es besonders diese Zusammengehörigkeit, die andere Menschen anzog und einlud, auch Christen zu werden. Und auch heute ist das im Grunde genommen immer noch genau so: Eine Gemeinschaft von Christen, in der wirklich Eintracht und Einheit herrschen, in der gute und tragfähige Beziehungen gelebt werden, ist etwas, das anzieht, ist attraktiv, gerade in einer Gesellschaft wie der unsrigen, die so stark von Egoismus und nur oberflächlichen Beziehungen geprägt ist. – Jesus sagte einmal: "Daran wird jedermann erkennen, dass ihr meine Jünger seid, wenn ihr Liebe untereinander habt." [Johannes 13,35] Gemeinschaft ist ein Wesensmerkmal der christlichen Gemeinde. Und wie jede Gemeinschaft hat auch sie eine Grundlage, auf der sie aufgebaut ist und Bestand hat. Doch hier ist es nun nicht die Blutsverwandtschaft oder der gleiche Wohn- oder Arbeitsort, es sind nicht gemeinsame Interessen, das gleiche Hobby, ein gemeinsames Schicksal oder Erlebnis, das Menschen zusammenbringt. Sondern die Grundlage für die Gemeinschaft der christlichen Kirche ist Jesus Christus und die Zugehörigkeit zu Jesus Christus. Ein Christ hat grundlegend und zuerst eine Beziehung zu Jesus Christus. Das macht einen Menschen überhaupt erst zu einem Christen im wahren Sinn des Wortes: wenn er eine Glaubensbeziehung, eine Vertrauensbeziehung zu Jesus Christus hat und mit ihm zum himmlischen Vater, zu Gott, dem Schöpfer und Herrn der ganzen Welt. Das ist der Anfang: eine Lebensgemeinschaft mit Jesus Christus, mit Gott. Und daraus entsteht dann die Gemeinschaft der christlichen Gemeinde, nämlich als Gemeinschaft all derer, die eine solche Glaubensbeziehung zu Jesus Christus und zu Gott haben. Alles andere, alle Verschiedenheiten zwischen Menschen, die zum Teil wirklich sehr gross sind, werden dadurch zweitrangig. – Im Galaterbrief schreibt der Apostel Paulus: "Ihr alle seid Kinder Gottes durch den Glauben an Jesus Christus. Da ist nicht Jude noch Grieche, da ist nicht Sklave noch Freier, da ist nicht Mann und Frau, denn ihr alle seid eins in Jesus Christus." [Galater 3,26.28] Es kommt in der christlichen Gemeinschaft also nicht mehr auf die Herkunft oder die Bildung an, nicht auf Interessen und Meinungen, nicht auf die politische Partei, die Hautfarbe etc., ja nicht einmal auf die konkrete Ausprägung des Glaubenslebens und auf unterschiedliche Lehrmeinungen. Sondern letztlich zählt allein die gemeinsame Beziehung zu Jesus Christus. – So wird ein Christ also durch Jesus Christus mit ganz verschiedenartigen Menschen zu einer Gemeinschaft verbunden, auch mit solchen, die er sich von sich aus kaum ausgesucht hätte. 3 Doch auch in dieser Gemeinschaft, die auf dem gemeinsamen Glauben an Jesus Christus gründet, ist Eintracht und Einheit nicht einfach automatisch und selbstverständlich vorhanden. Denn auch als Christen bleiben wir Menschen, mit allen unseren Mängeln und unserem Egoismus; der verschwindet nicht einfach so. So ist leider auch Streit, Unfriede, Neid und sogar Zerbruch der Gemeinschaft ein Merkmal der christlichen Kirche, das sich auch durch die ganze Geschichte hindurch zieht. Zwischen verschiedenen Konfessionen und Kirchen, aber auch innerhalb einer einzelnen Kirche oder Gemeinde müssen wir da und dort Zwietracht und Streit erleben, manchmal offen ausgetragen, manchmal versteckt und unterschwellig, was aber die Beziehung umso mehr vergiftet. So braucht es auch unter Christen und in der christlichen Gemeinde Beziehungsarbeit, immer wieder neu. Das bedeutet: Ich muss die Gemeinschaft mit meinen Glaubensbrüdern und -schwestern bewusst suchen, gerade auch mit denen, die so anders sind als ich. Ich muss meinen Egoismus hintanstellen. Ich muss (das ist etwas ganz Entscheidendes) um Vergebung bitten für meine Fehler, mein falsches Handeln, meine schlechten Worte; und gleichzeitig muss ich bereit sein, dem anderen das von Herzen und ganz zu vergeben, was er an mir schuldig geworden ist. Ich muss offen, ehrlich und transparent sein. Ich muss den anderen annehmen, akzeptieren und tragen, ertragen, so wie er ist (das ist die wahre Bedeutung des Wortes 'Toleranz'). Ganz klar: Das ist überhaupt nicht einfach. Es braucht immer wieder eine bewusste Entscheidung dazu. Und es braucht letztlich das Wirken Gottes selber, das Wirken seines Heiligen Geistes. Er muss mein Herz umwandeln und so meine Beziehung zum Bruder, zur Schwester prägen und gestalten. Es braucht den Segen Gottes. Ich wünsche uns, dass wir alle Fortschritte machen können in unseren Beziehungen zu anderen Menschen und besonders zu anderen Christen, zu Glaubensgeschwistern. Und ich wünsche uns, dass die Einheit, die wahre Gemeinschaft auch in unserer Kirche (im Linsebühl oder wo immer wir dazugehören) zunehmen kann, weiter wachsen kann, dass wir es immer mehr auch bei uns konkret erfahren dürfen: "Siehe, wie fein und lieblich ist es, wenn Brüder und Schwestern einträchtig beieinander wohnen. Denn dahin hat der Herr, den Segen entboten, Leben bis in Ewigkeit." AMEN