Reformationspredigt2014

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Ev.-Ref. Kirchgemeinde Zürich-Fluntern
Predigt zum Reformationssonntag, 2. November 2014
Reformation oder Reform?
„Lasst euch selbst aufbauen als lebendige Steine zu einem geistlichen
Haus, zu einer heiligen Priesterschaft, um geistliche Opfer darzubringen, die Gott angenehm sind durch Jesus Christus.“
Dieser Bibeltext stammt aus dem 1. Petrusbrief, Kapitel 2, Vers 5. Was
will er uns im Kontext mit dem anstehenden Umbau unserer reformierten Kirche in Zürich sagen? Folgendes: Im Fokus der Reform dürfen
nicht nur die steinernen Bauten, die Institutionen, die Organisation
stehen, sondern genau so die Menschen, die gemeinsam diese Kirche
sind und sie bauen. Das sind Sie, das sind wir. Lebendige Steine also,
die sich zu etwas Neuem und Grösseren zusammenfügen werden.
Diese Metapher verbindet inneres Leben mit äusserer Beweglichkeit,
Stabilität mit Flexibilität und Dynamik. Sie soll das Leitmotiv sein für
die Respekt erheischende Arbeit, die uns auf dem Weg zu einer
Stadtkirche Zürich bevorsteht. Für dieses Ziel hat sich am 28. September eine grosse Mehrheit der stadtzürcher Reformierten und 32
von 34 Kirchgemeinden entschieden. In vier Jahren werden und müssen wir uns in einer neuen Kirchenlandschaft bewegen. Das bedingt
einen radikalen Umbau unserer Kirche. Steht uns sogar eine zweite
Reformation bevor? Die Begriffsdefinition macht es klar: Nein.
„Ecclesia semper reformanda“ – Die Kirche muss ständig reformiert
werden. Diese Formel wurde mutmasslich im 17. Jahrhundert geprägt.
Sie gibt inhaltlich ein Anliegen der Reformation wieder und sie bezieht
sich einzig auf die theologische Sichtweise. Ausgangspunkt und Gegenstand der Veränderung ist also die Kirche im Sinne der christlichen
Botschaft. Dabei geht es nicht um eine permanente Reform oder eine
Reform der Reformation. Gemeint ist primär geistliche Erneuerung und
nicht Strukturveränderung. So wichtig es für die Kirche ist, sich Gedanken zu machen, wie sie das Evangelium in der Welt verkündigen
und leben kann, so wenig darf Reform als blosse Modernisierung oder
gar Anpassung des Evangeliums gesehen werden, nur weil dieses
vom jeweils gerade modernen Menschen nicht mehr verstanden wird.
Wer sich mit dem Zeitgeist verheiratet, ist bald verwitwet!
Nun – wir feiern heute den Gedenktag der von Martin Luther im Jahre
1517 eingeleiteten Reformation der Kirche. Seine an die Tür der
Schlosskirche zu Wittenberg angehefteten 95 Thesen lösten eine
theologische Disputation aus und führten zur Spaltung des westlichen
Christentums in verschiedene Konfessionen – katholisch, lutherisch,
reformiert. In Deutschland und Oesterreich wird der Reformationstag
immer am 31. Oktober begangen. Demgegenüber hat die Schweiz –
was ja nicht aussergewöhnlich ist – eine eigene Regel: Bei uns findet
das Fest stets am ersten Sonntag im Monat November statt. Das hat
insofern eine praktische Seite, als wir eine im nördlichen Nachbarland
bereits jetzt debattierte Frage vermeiden können. Diese lautet, ob im
Jubiläumsjahr 2017, 500 Jahre nach der Reformation, der 31. Oktober
in allen Bundesländern als schulfreier und allgemeiner Feiertag zu deklarieren sei. Es wird nämlich ein Dienstag sein. Soviel zum Reformationstag in seiner historischen und aktuellen Bedeutung.
Hier in Zürich bildet der heutige Tag den höchst sinnigen Anlass, sich
Gedanken über die Zukunft unserer reformierten Kirche zu machen:
Einerseits über die nicht aufzuhaltenden strukturellen Veränderungen
im Zeichen des Wandels in unserer Gesellschaft und andererseits
über das bedingungslos zu bewahrende christliche Einstehen für den
Mitmenschen. Oder anders formuliert: In der Reform müssen Formen
und Inhalte gleichermassen berücksichtigt und aufeinander abgestimmt werden. Um diesem Anliegen Nachachtung zu verschaffen,
orientieren sich heute Morgen in den meisten reformierten Kirchgemeinden in der Stadt die Predigten am eingangs erwähnten Bibelzitat:
„Lasst euch selbst aufbauen als lebendige Steine zu einem geistlichen
Haus.“ Dieses konzertierte Vorgehen unterstreicht den überaus berechtigten Anspruch der Pfarrerinnen und Pfarrer, dass der massive
Umbau unseres Hauses nicht allein das Primat der Behörden sein
darf. Theo Haupt, Dekan der stadtzürcher Pfarrschaft, hat im Juli des
vergangenen Jahres der Zentralkirchenpflege in einem eindringlichen
Aufruf zu bedenken gegeben – ich zitiere: „Es ist das Wissen um den
Inhalt, der uns allen verhilft, Entscheidungen zu treffen, wie Kirche gestaltet und ausgestaltet werden soll. Seien wir vorsichtig, dass wir den
Architekten nicht einen Neubau in Auftrag geben, ohne dass wir klar
sagen, wofür wir ihn brauchen.“
Seit der Reformation werden bald 500 Jahre durch die Lande gezogen
sein. Heute leben wir in einer zunehmend säkularisierten Welt. Vorab
in modernen Milieus haben Religionen nicht mehr die gemeinschafts2
stiftende Rolle wie früher. Sie beeinflussen das menschliche Verhalten, Handeln, Denken und Fühlen nur noch marginal und ihr Einfluss
auf Wertvorstellungen nimmt ab. Theologinnen und Theologen müssen sich nebst ihren anspruchsvollen Aufgaben in zunehmender Weise mit profanen Rahmenbedingungen auseinandersetzen: Mit ökonomischen Sachzwängen und demographischen Entwicklungen oder auf
den Punkt gebracht: Mit sinkenden Mitgliederzahlen und Steuereinnahmen in den Kirchgemeinden und mit leeren Kirchenbänken in den
Gotteshäusern.
Solche Szenarien und Spannungsfelder rufen nach grundlegenden,
das heisst integralen Veränderungen und Anpassungen, getragen von
allen Akteuren und Betroffenen – den Pfarrpersonen, Behörden, kirchlichen Mitarbeitenden und insbesondere von den Gemeindegliedern.
Dietrich Bonhoeffer hat es in seiner Schrift «Gemeinsames Leben»
schön ausgedrückt: „Der Christ braucht den Christen, der ihm Gottes
Wort sagt, er braucht ihn immer wieder, wenn er ungewiss und verzagt
wird. Denn der Christus im eigenen Herzen ist schwächer als der
Christus im Worte des Bruders.“ Diese Erkenntnis beruht auf der im
Alltag gelebten Nächstenliebe, abgeleitet aus dem Selbstverständnis
des Christentums, das auf der bedingungslosen Liebe Gottes gegenüber den Menschen und der gesamten Schöpfung gründet. In diesem
Kontext ist eines nicht verhandelbar: Die elementaren Handlungsfelder
unserer reformierten Kirche – die Verkündung und der Gottesdienst,
die Diakonie und die Seelsorge, die Bildung und die Spiritualität. Dieses umfassende pfarramtliche Portfolio belegt übrigens – was oft zu
wenig wahrgenommen wird –, dass Kirche nicht nur am Sonntag, sondern auch von Montag bis Samstag stattfindet!
Die vergangenen fünf Jahre, in denen ich das Reformprojekt mitgestalten und die Volksabstimmung von Ende September mit vorbereiten
durfte, waren oft geprägt von schwankenden Stimmungen – einerseits
von vorwärtstreibendem Aufbruchwillen, andererseits von bremsender
Verunsicherung. Die Schaffung einer Kirchgemeinde mit über 90'000
Mitgliedern und die damit verbundene Auflösung des 1909 gebildeten
reformierten Stadtverbandes ist ja wahrlich eine gewaltige Aufgabe. Es
ist insbesondere deutlich geworden, dass wir letztlich nicht um Strukturen, nicht um Finanzen und nicht um Stellen ringen, sondern viel tiefgründiger um die Gemeinschaft von uns als Christen – für diese Welt
und unsere Stadt, getragen von Hoffnung, Glaube und Liebe, gemeinsam und füreinander.
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Ermunternd und positiv wirken da die Worte des grossen Theologen
Karl Barth in seiner umfassenden «Kirchlichen Dogmatik»: „Der Glaube der Gemeinde mag schwanken, ihre Liebe erkalten, ihre Hoffnung
erschreckend dünn werden: Das Fundament ihres Glaubens, ihrer
Liebe und ihrer Hoffnung aber … bleibt und ist davon unberührt.“ Genau auf diesem festen Kern in uns allen können wir aufbauen. Er ist
der Motor, um mit anderen Zweifelnden nicht nur das Negative, sondern eben auch die Chancen von gesellschaftlichen Entwicklungen zu
sehen und um diese gemeinsam aufzunehmen und mitzugestalten.
Nicht die Angst und die Verunsicherung dürfen uns regieren, - so
nochmals Dekan Haupt -, auch nicht das Sparen-Müssen, auch nicht
das Verzichten-Müssen, auch nicht Eigeninteressen, sondern unsere
Zuversicht und unser Mut, dass wir eine erlebbare, nachfragegerechte
Kirche schaffen werden, die von den Menschen in Anspruch genommen wird, ob sie nun hier wohnen, arbeiten oder zu Besuch sind. Wie
heisst es so treffend in der ersten Strophe im Lied 811 im Kirchengesangbuch: „Wir wollen nach Arbeit fragen, wo welche ist, nicht an dem
Amt verzagen, uns fröhlich plagen und unsre Steine tragen aufs Baugerüst!“
Der deutliche Entscheid, den der Souverän vor fünf Wochen gefällt
hat, ist motivierend, er gibt neuen Schwung, das Ziel ist nun vorgegeben. Vor vier Tagen hat der Präsident des reformierten Stadtverbandes die Zentralkirchenpflege – die Delegiertenversammlung der 34 in
diesem Verband zusammengeschlossenen Kirchgemeinden – über
den komplexen Umsetzungsplan, das heisst über die Aufbauorganisation, die Projektgestaltung, die übergeordneten Rahmenbedingungen
und die Terminvorgaben informiert. „Gut Ding will lange Weile haben“!
Am 1. Januar 2019 soll die neue «Kirchgemeinde Stadt Zürich» aus
der Taufe gehoben werden. Also gerade zum Auftakt des in Zürich
beginnenden 500-Jahr-Jubiläums der Reformation. Denn wir feiern
dieses epochale Ereignis zwei Jahre später als in Deutschland; bei
uns war es bekanntlich Huldrych Zwingli, der die Thesen seines Kollegen Martin Luther übernommen hatte und 1519 den Boden für die reformatorische Umwälzung vorbereitete.
Eine zentrale Frage wird uns alle schon bald beschäftigen: Wie muss
Kirche Gemeinde sein, damit sich auch die nächste Generation daran
beteiligen will? Anders formuliert: Wie formiert sich die urbane christliche Gemeinde sozial und kulturell unter den gegenwärtigen Bedingungen? Und was braucht es, damit die Kirche wieder Heimat und
Identität bieten kann, die latente Entfremdung von ihr überwunden
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wird? Denn es ist eine empirische Erkenntnis: Wenn wir von der Gemeinschaft, der Gemeinde reden, so klingt das positiver und euphorischer, als es effektiv ist. Der Begriff der Gemeinde klingt nach Freiwilligkeit, nach freiem Entschluss zur Zusammenkunft mit Gleichgesinnten.
Diese Fragen werden den Aufbau der neuen Kirche und die entsprechenden Prozessschritte massgebend leiten. Die Stadtkirche wird ja
getragen werden von einer noch unbestimmten Zahl von quartier- und
milieubezogenen Teil- oder Profilgemeinden: Orte, wo sich die evangelische Gemeinschaft kristallisieren kann. Beispiele für solche niederschwelligen «Lieux d’église» gibt es bereits jetzt – zu erwähnen
sind die überaus rege genutzten spezifischen Angebote der Citykirche
offener St. Jakob am Stauffacher, der Jugendkirche Streetchurch im
Kreis 4, der Migrationskirche in Wipkingen, der Sihlcity-Kirche im Einkaufszentrum oder der Bahnhofkirche im Hauptbahnhof. Diese Orte
der Einkehr sind als «Kirche am Weg» konzipiert, welche den Menschen in ihrem Alltag entgegenkommt und nicht wartet, bis diese
kommen. So verhält es sich auch bei der unmittelbar auf Sorgen und
Nöte eingehenden Betreuung durch die Internet-Seelsorge, die SpitalSeelsorge, die Notfall-Seelsorge oder die Polizei- und SanitätsSeelsorge. Das alles sind zumeist ökumenisch verankerte Dienstleistungen am Mitmenschen, bei denen die Kirche direkt, vor Ort und ohne Zeitverzug präsent und wahrnehmbar ist.
Auf der strukturellen Ebene wird eine grosse Herausforderung darin
bestehen, die Beziehungen zwischen der Zentralkirche und den Teilkirchen zu ordnen. Die Schnittstellen sind zu lokalisieren und die Zuständigkeiten, Verantwortlichkeiten, Rechte und Pflichten müssen geregelt werden. Das neue Gebäude soll möglichst frei sein von systemimmanenten Spannungen; demgegenüber sollen Synergien gebündelt
und Doppelspurigkeiten vermieden werden. Gemeinsam sind wir stark!
Das alles wird nicht einfach sein. Gross ist auch der Erwartungsdruck.
Die Zentralkirchenpflege wird deshalb sehr rasch Leitplanken und
Spielregeln verabschieden müssen, die für den Projektverlauf bindend
und zwingend sind.
Bezüglich der Prozessziele sind die Prämissen klar:
- Es muss bei sämtlichen Akteuren und Betroffenen Vertrauen aufgebaut und gepflegt werden.
- Angst vor Veränderungen soll mit Lust und Neugier auf das Neue
kompensiert werden.
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- Kirchliche Angebote sind auf ihre Wirkung und Wahrnehmung bei
den verschiedenen Lebenswelten und Anspruchsgruppen zu hinterfragen.
- Die Gesundschrumpfung soll gleichzeitig die reformierte Kirche
stärken.
- Über die künftige weitere Nutzung oder Umnutzung der 48 städtischen reformierten Kirchen muss Konsens bestehen.
- Die in den früheren Projektphasen bereits erarbeiteten Expertisen
und Berichte sind beizuziehen, soweit sie noch aktuell sind. Das ist
bei der Milieustudie und beim Nutzungskonzept der städtischen
Sakralkommission, das die Kirchenbauten betrifft, der Fall.
Auch die methodischen Ziele sind festzulegen:
- Lösungen sind über Inhalte zu suchen.
- Die Strukturdiskussion folgt erst anschliessend.
- Die Prozesse sind offen, transparent und partizipativ zu führen.
- Der Dialog ist der ständige Prozessbegleiter.
Soviel zur Reform. Ich möchte mich jetzt wieder auf meine Mission besinnen, denn ich stehe ja nicht als Vortragsredner, sondern als Laienprediger vor Ihnen. Der Reformationssonntag ist der Anlass, um Martin
Luther zum Wort kommen zu lassen. Er hat einmal gesagt, dass die
Musik die Schwester des Wortes und des Gebets sei. Gemeint ist die
Verbindung von gemeinschaftlicher Tradition mit kultureller Bildung. In
der ersten Strophe im Lied 32 im Kirchengesangbuch gibt er all denen
Mut, die vor grossen Aufgaben stehen: „Ein feste Burg ist unser Gott,
ein gute Wehr und Waffen. Er hilft uns frei aus aller Not, die uns jetzt
hat betroffen.“ Nun – gewiss entbehrt das Reformprojekt hier in Zürich
der Dramatik, die Luthers Text zu Grunde liegt. Doch wir alle wissen,
dass wir uns 34 eigenständige Kirchgemeinden nicht mehr leisten
können. Das wird auch Fluntern betreffen. Mit Gottes Hilfe sind die
Verantwortlichen aber bereit, die Herausforderung anzunehmen – mit
der Mitwirkung von Ihnen und uns allen: „Lasst euch selbst aufbauen
als lebendige Steine zu einem geistlichen Haus!“
Amen.
Ralph Kühne, Präsident der ev.-ref. Kirchgemeinde Zürich-Fluntern
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