Quellen: Definitionen und Quellenkritik Themenübersicht siehe auch die Seite T18: Hilfswissenschaften P1 Urkunden - Definition P2 Schaubild 1 zur Quelleninterpretation P3 Innere Quellenkritik (zum Schaubild 1) P4 Beispiel der Quelleninterpretation: Das Potsdamer Abkommen P5 Hintergrundinformationen zum Potsdamer Abkommen P6 Schaubild 2 zur Quelleninterpretation P7 Quellenkritik (Zusammenfassung) P8 Frageraster zur hermeneutischen Methode --------------------------------------------------------------------------------------------------------------------P1 Urkunden - Definition Beweisurkunden (Notitia) 1. Notiz: kein Beweiswert, nur Gedächtnisstütze für Akt der Rechtsschöpfung, enthält Namen der Zeugen etc. (schon biblisch, Jeremias 32,10ff. - so im Frühen Mittelalter (9.-11. Jh.) 2. eigentliche Beweisurkunde: "ein Schriftstück, das einen (zusätzlichen) rechtskräftigen Beweis für die bereits vorher mündlich-rechtssymbolisch vollzogene Rechtshandlung darstellt." (Brandt, S. 84) - Beweis liegt in der Handschrift des Verfertigers oder des Notars. Auch wenn die Zeugen schon tot sind, kann nun der Beweis stets wiederholt werden (Echtheit der Beglaubigung). Mit der dispositiven Urkunde (Carta) - im Süden im 13., im Norden teilweise erst im 14. Jh. - wurde erreicht, dass man "die rechtsförmliche Handlung als solche überhaupt fallen ließ und den Rechtsakt in die Ausfertigung des beglaubigten Schriftstückes selbst verlegte: die Urkunde beweist nicht mehr ein (schon vorher vorhandenes) Recht, sondern sie schafft das Recht." (Brandt, S. 84) 1. zunächst als Siegelurkunde (Siegel statt Unterschrift, bis ins 13. Jh. überwiegend) 2. dann die Unterschrift (im Ende des Mittelalters) des Notars oder der Aussteller. Quellenwert: Die Beweisurkunde hält schon erfolgtes und umgesetztes Recht fest, die dispositive Urkunde will nur Recht, d.h. sie gibt keine Auskunft über den Erfolg des Rechtsaktes. Generell: Nur Momentaufnahmen - wie einzelne Akten auch. Urkunden: Formen = Diplom und Mandat: v.a. staatliche Urkunden mit strenger Form sind Diplome, formlose, v.a. Privaturkunden meist Mandate. Identifikation der Teile: zuerst allgemein: Protokoll, Text (Dispositio), Schluß Protokoll: Invocatio Intitulatio (Aussteller) Inscriptio (Empfänger) zusammen: Vertragsschließende Parteien Arenga (allgemeine begründende Floskel) Text: Promulgatio (Verkündigungsformel) Narratio: Echte Begründung Dispositio: Inhalt der Willenserklärungen und der Rechtshandlung Sanctio, Pönformel: Androhung einer Strafe bei Zuwiderhandlung Corroboratio (Angabe des oder der Beglaubigungsmittel) Eschatokoll (Schlußprotokoll) Subscriptiones (Unterschriften) Datierung: Actum oder Datum (Brandt, S. 90 f.) Reskript = Mandat, meist einfache Briefform (Brandt, S. 92) Überlieferungsart: Kopiar, Konzept, Register (= Kurzfassung) Akten = Niederschlag schriftlicher Geschäftsführung - Urkunde = Einzeller, Akten = Mehrzeller · pflastern den Weg zu und von Urkunden · Eingang, Innenlauf, Ausgang · nur mit Akten gerät die Urkunde in einen interpretierbaren Zusammenhang Quellenwert: hoher bei Urkunden, da sie Recht setzen und daher wahrheitsgemäß argumentieren. Sie bieten aber keine Erklärung, sondern setzen nur Recht. Akten: Vor- und Nachgeschichte - auch Überreste beide zusammen sind die Basis der historischen Arbeit, d i e Quellen, mit denen wir es v.a. zu tun haben. Oft in Archiven in Originalform und nicht ediert - Detektivarbeit Verarbeiten in Tradition: Wissenschaftliche Arbeiten --------------------------------------------------------------------------------------------------------------------P2 Schaubild 1 zur Quelleninterpretation Die Quelle als Text - der Kommunikationszusammenhang historischen Sprechens wo wann schreibt wie wer wozu wem Art der Beziehung unter welchen Umständen vor welchem Hintergrund --------------------------------------------------------------------------------------------------------------------P3 Innere Quellenkritik (zum Schaubild 1) Innere Quellenkritik zum Schaubild, aus dem das Minimalinstrumentarium entwickelt worden ist zum Beispiel: Anwendung des Minimalinstruments der Quellenkritik am Potsdamer Abkommen Äußere Quellenkritik war eine Kritik der - äußere Echtheit - die Feststellung des Ursprungs (Zeit, Ort, Urheber) und der durch ihn unabsichtlich gegebenen Verfälschungsmöglichkeit - relativ zum Erkenntnisinteresse - die Feststellung der Form und deren Bedeutung (Urkunden und Rechtsetzung vs. Memoiren) Minimalinstrumentarium (Fragenliste) der Quelleninterpretation: Innere Quellenkritik folgt grob dem Frageraster (siehe das Schaubild): wer an wen etc. rein formal und konzentriert sich auf die Teilfragen Wer? = Urheber wo? = Ort wann? = Zeit wie? = Form der Quelle Was? = inhaltliche Grobbeschreibung Sie richtet sich unabhängig von der Frage nach der Verfälschungsabsicht auf die formale Wahrheitsmöglichkeit oder -vollständigkeit (Urkunden beschreiben keine Geschichte, sondern setzen Recht). Zentral ist dabei die Feststellung des Ursprungs (Zeit, Ort, Urheber) und der durch ihn unabsichtlich gegebenen Verfälschungsmöglichkeit - relativ zum Erkenntnisinteresse. Innere Kritik richtet sich auf - "innere Echtheit", d.h. der Einflüsse, die auf die Aussagen der Quelle ein "schiefes Licht" werfen, ihre Wahrheit in Zweifel ziehen: - Wer? Bildungsstand (Wissen, Weltbild) Entfernung vom berichteten Ereignis (1., 2. Hand) - an wen? Verhältnis der Über- oder Unterordnung etc. - unter welchen Umständen? unter welchen verfälschenden Umständen (vor Gericht z.B.) d.h. wann, vor welchem Hintergrund, wo? - mit welcher Absicht? Aussage-Ziele, die aus der bisherigen Kritik ermittelt werden können, die den Wert der Quelle beeinträchtigen. Die Innere Quellenkritik richtet sich auf die Frage nach der subjektiv durch die Verfasser gegebenen "Gestaltung" der Wirklichkeit in der Tradition oder auch dem Überrest [auch zeitgenössische und nur für die Zeit gemachte Aussagen können in der Zeit (siehe Selbstdarstellungen in Bauten, Schriften, politische Standortgebundenheit) die Geschichte in einem bestimmten verzerrenden Blickwinkel zeigen]. Erkenntnisorientierte Kritik richtet sich auf den Wert einer äußerlich und innerlich kritisierten und damit "optimierten" Quelle für eine bestimmte Fragestellung. Ist sie geeignet, die Frage, die ich verfolge (Erkenntnisinteresse), z.B. sind Urkunden für Ereignisse kaum gute Quellen, Gerichtsprotokolle kein sichere Zeugnis für Alltagsverhalten (wenn für die kriminelle Abweichung), Bevölkerungszählungen zu statisch für Haushaltszyklen, Predigten kaum brauchbar für die Frage nach ihrem Verständnis ohne Quellen über die Rezeption, Visitationsquellen für die "guten Seiten" der Volkskultur, Strafakten für die Mentalität der nicht Straffälligen. = Frage nach der Repräsentativität = Selbstkritik des Forschers, der sich - kritisch - fragen muß, welche Quellen sein Forschungsziel erreichbar machen. --------------------------------------------------------------------------------------------------------------------P4 Beispiel der Quelleninterpretation: Das Potsdamer Abkommen Quelleninterpretation nach dem Minimalinstrumentarium zum Potsdamer Abkommen Frage wie? Betreff Textsorte wer an wen? Verfasser wo? wann? Ort der Abfassung Datum der Abfassung wie? Überlieferungsart - Original - Kopie/Abschrift - Entwurf - Kürzungen Auslassungen nach Wichtigkeit oder Reihenfolge gegliederte Inhaltsangabe was? Beispiel Es handelt sich bei dem vorliegenden Text um einen Bericht, der rechtsverbindliche Übereinkünfte der drei großen Siegermächte, der USA, der SU und GBs, vertreten durch ihre Staatschefs Truman, Stalin, Churchilll/Attlee in Begleitung ihrer Außenminister in Potsdam vom 17. Juli 1945 zusammenfaßt. Weder das besiegte Deutschland noch die späte Siegermacht Frankreich sind daran beteiligt Der Text liegt unserer Darstellung nicht im Original, sondern in einer gekürzten Abschrift zugrunde. Darin wird folgendes festgehalten: 0. (im gekürzten Text nicht enthalten: Deutschland wird in vier Besatzungszonen aufgeteilt, ebenso die ehemalige Hauptstadt Berlin (vier Sektoren). 1. Ein alliierter Kontrollausschuß mit den Außenministern der genannten Staaten sowie Chinas und Frankreichs soll einen Friedensvertrag für alle Kriegsteilnehmer vorbereiten. 2. In Deutschland sollen Militarismus und Nazismus beseitigt werden, um den Frieden zu sichern. 3. Unterhalb der durch die Siegermächte bzw. ihre Militärkommandanten repräsentierten Staatsmacht in den vier Besatzungszonen (amerikanische, englische, französische, russische), in die Deutschland eingeteilt ist, sollen lokal und auf Länderebene Parlamente demokratisch gebildet werden, um eine zukünftige deutsche Zentralregierung vorzubereiten 4. Fragen, die Deutschland als ganzes betreffen, regelt ein Kontrollrat der Alliierten. 5. Deutschland wird demilitarisiert, denazifiziert, dezentralisiert und demokratisiert. Die Wirtschaft wird dekartelliert und demilitarisiert. 6. Demokratische Parteien werden wieder zugelassen. 7. Die Meinungsfreiheit und die anderen wozu? Zweck Grundfreiheiten werden wiederhergestellt. 8. Deutschland soll als eine wirtschaftliche Einheit betrachtet werden, weswegen für die wichtigsten Bereiche allgemeingültige Richtlinien erstellt werden. 9. Reparationen sollen das Volk nicht ausbluten, sondern seine wirtschaftliche Erholung ermöglichen. Die Siegermächte bestimmen selbst, was sie aus ihren Zonen in diesem Rahmen an Reparationen entnehmen. Die SU, die auch die Reparationsansprüche Polens befriedigt, erhält zudem 15% der maschinellen Anlagen aus den westlichen Zonen - im Austausch gegen Nahrungsmittel etc. 10. Territorial wird folgendes bestimmt: - Königsberg und Nord-Ostpreußen gehen dauernd an die SU über. - Die von Rußland eroberten polnischen Gebiete bleiben bis zu einem Friedensvertrag russisch. - Die endgültige Festsetzung der polnischen Westgrenze bleibt zwar einem Friedensvertrag vorbehalten. - Bis dahin stimmen die drei Regierungschefs darin überein, die östlich von Oder und Neiße liegenden Teile der russischen Besatzungszone und Danzigs in polnische Verwaltung zu überführen. 11. Die Ausweisung der Deutschen aus Polen, der Tschechoslowakei und Ungarn muß vorgenommen werden, allerdings auf menschliche Weise. Das Ziel des Abkommens ist generell eine gleiche Behandlung Deutschlands durch alle Siegermächte. Deutschland soll für seine Verbrechen büßen, aber als ganzes erhalten bleiben, demokratisch und wirtschaftlich erstarken, an der Wiederholung kriegerischer Aktionen aber dauernd gehindert werden. Dennoch sind unterschiedliche Ziele innerhalb dieses Rahmens sichtbar: - das russische Interesse an Reparationen und an Bewahrung seiner nach dem Überfall auf Polen erworbenen polnischen Gebiete. - das polnische Interesse an Kompensation seiner Gebietsverluste im Osten durch Erwerb ehemals deutscher Gebiete im Westen wie? d.h. mit welcher Gedankenführung und inneren Folgerichtigkeit? unter welchen Umständen? Zeitkontext vor welchem Hintergrund? allgemeiner, z.B. ideologischer, Hintergrund (Westverschiebung). interne Widersprüche im Text1. Die Tatsache einer sofortigen Aussiedlung der Deutschen aus den nun polnisch zu verwaltenden Gebieten widerspricht dem Ziel, erst durch einen Friedensvertrag die Grenzen endgültig zu regeln. Die polnische Westgrenze wird faktisch als unveränderlich festgelegt, denn niemand (so Molotov) denkt daran, Millionen auszusiedeln, um sie wenig später wieder in ihre alte Heimat zu lassen. 2. Das Ziel eine deutschen Gesamtstaates wird durch die unterschiedliche Regelung der wirtschaftlichen Fragen (Reparationen), besonders aber durch die Aufteilung in Zonen erschwert. 3. Die Lösung aller Deutschland als ganzes betreffenden Fragen durch einen alliierten Kontrollrat ist nur bei dauernder Übereinstimmung der Siegermächte realisierbar, da es bei Konflikten keine übergeordnete Schiedsinstanz gibt Das Abkommen wird zu einer Zeit geschlossen, zu der sich die Siegermächte bereits einander entfremdet haben (Beginn des Kalten Krieges), nachdem der gemeinsame Gegner, Hitlerdeutschland, nicht mehr vorhanden war. Die unterschiedlichen gesellschaftspolitischen Vorstellungen der Siegermächte (Demokratie/Marktwirtschaft vs. Einparteienstaat / Zentralverwaltungswirtschaft) lassen eine dauernde gemeinsame Regelung der deutschen Angelegenheiten durch die Sieger und das Postulat eines deutschen Gesamtstaates unrealistisch erscheinen. Wahrscheinlich ist ein schon 1945 an der ideologischen Grenze zerrissenes Deutschland. --------------------------------------------------------------------------------------------------------------------P5 Hintergrundinformationen zum Potsdamer Abkommen Inhalt des Potsdamer Abkommens aus: Mann, G., Deutsche Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts, Frankfurt 1997 <erstmals: 1958>, S. 966-981 1. Die Interessenallianz der Sieger ist schon 1945 brüchig, da der gemeinsame Gegner, Hitler, tot ist. Eine gemeinsame Verwaltung war also von vornherein nicht zu erwarten. 2. Die Gebiete östlich der Oder und der Neiße werden russischer Verwaltung unterstellt. S. 966 f.: "Zwar sollte die endgültige Ziehung von Deutschlands Ostgrenze einem Friedensvertrag vorbehalten bleiben. Da man jedoch die Vertreibung der deutschen Bevölkerung aus den polnisch zu verwaltenden Gebieten als eine vollzogene hinnahm - die sie im Moment des Beschlusses noch nicht einmal war - und den hastig improvisierten westdeutschen Behörden den Befehl gab, die einströmenden Millionen von Flüchtlingen zu ernähren und zu behausen, so nahm das Provisorium sich vom ersten Moment so endgültig aus, wie es sich in den folgenden Jahren erwies; das vom russischen Minister Molotow gebrauchte Argument, man hätte diese Millionen doch wohl kaum vertrieben und neu angesiedelt, um sie nach kurzer Zeit in die alte Heimat zurückzubringen, war schwer zu widerlegen. Praktisch, obgleich noch nicht völkerrechtlich, liefen die Beschlüsse auf die Annexion mehrerer alter deutscher Provinzen - Ostpreußen, Schlesien, Teile von Pommern und Brandenburg - durch Polen hinaus." 3. Damit das so bleibt, muß man sichern, daß der Besiegte ohnmächtig bleibt. 4. S. 969: "Was immer die Sieger in Deutschland dekretierten, es hatte Bestrafung, endgültige Entmachtung, vorläufige Entmündigung zum Zweck; nicht das, was Hitlers Ziel in Polen und Rußland gewesen war, die Vernichtung der Nation, ihre Reduzierung auf den Zustand analphabetischen Sklaventums. Das war das Ziel auch der Russen keinesweges. Es hätte weder ihrer elementaren Menschlichkeit noch im Sinn ihrer Philosophie gelegen." 5. Die Kompensationsidee: Das von Rußland Polen weggenommene Gebiet ist v.a. von Litauern, Ukrainern, Weißrussen bevölkert gewesen, nicht von Polen. Es sind nur 2 Millionen Polen von dort in den neuen Westgebieten angesiedelt worden. "Es war, von der polnischen Seite, ein Akt der Rache". Ihnen hätte, da das Land nicht polnisch war, kein Ersatz gebührt. 6. Eingesetzte Stadt- und Länderregierungen. Aus Nichtkompromittierten. Wahlen schon 1946. 7. Denazifierierung unmöglich auf der unteren Ebene. Experten werden gebraucht. Zu viele sind kompromittiert. 8. Auch die Russen wollen die Einheit, sie hätten sonst nicht Berlin zum Sitz der gemeinsamen Regierung gemacht. Sie hätten auch nur in der Einheit Einfluß auf das Ruhrgebiet nehmen können. Ihre Zone hatten sie ja schon. Die USA hätten sonst auch nicht Thüringen und Sachsen wieder geräumt. 9. Mit der Reparationsregelung, nach der nicht mehr ganz Deutschland, sondern nur die SBZ für Rußland Reparationen zahlen soll, wird die Teilung faktisch vorausgeschrieben. Jeder regiert nur seine Zone. 10. US-Außenminister Byrnes sagt im September 1946: Deutschland wird weder vom Kontrollrat, noch durch sich selbst regiert. Das zielt schon auf eine Änderung des Zustandes hin in Richtung auf eine BRD. --------------------------------------------------------------------------------------------------------------------P6 Schaubild 2 zur Quelleninterpretation Übersicht zum kritischen Umgang mit schriftlichen Quellen 1. Analyse Wer Was, wann, wie Warum Autor Quelle Adressat -soziokultureller Hintergrund -Amt -Person Interesse -Standort -Textart -Zeit und Ort -Aufbau -Leitgedanken -Schlüsselbegriffe -Privatperson -Öffentlichkeit -Machthaber -Nachwelt -Institution -Beurteilung des Blickwinkels -Beurteilung der politischen und gesellschaftlichen Position -Beurteilung der Parteilichkeit -Beurteilung der normativen Gebundenheit -Einordnung der Quelle in den geschichtlichen Zusammenhang -Vergleich mit anderen Quellen und Darstellungen -Problematisierung der historischen Aussage Absicht -Beurteilung der Aussageabsicht: -Information -Manipulation -Meinungsbildung -Überlieferung -Überredung 2. Werten und Urteilen aus: Geschichtsbuch Oberstsufe, Bd. 2: Das 20. Jahrhundert, hg. v. H. Günther-Arndt u.a., Berlin 1996, S. 430 --------------------------------------------------------------------------------------------------------------------P7 Quellenkritik (M. Kuchenbrod) von Matthias Kuchenbrod: http://people.freenet.de/matkuch1/tutinha.htm DIE GRUNDPRINZIPIEN DER QUELLENKRITIK von Matthias Kuchenbrod "Es war auch immer so, die Geschichte gibt uns nur die Gebäude, die schmutzigen Gerüste dazu hat sie weggeworfen." GEORG CHRISTOPH LICHTENBERG "Quellenmäßig haben wir... nie mit objektiven Tatsachen, sondern immer nur mit Auffassungen von solchen zu tun..." JOHANN GUSTAV DROYSEN, >Historik< Unter Quellenkritik versteht man ein loses Bündel von Methoden, mit deren Hilfe der jeweilige Erkenntniswert historischer Zeugnisse aufgedeckt werden soll. Traditionell unterscheidet sich die wissenschaftliche Geschichtsschreibung von ihren ("vorkritischen") Vorläufern anhand der Prinzipen der Quellenkritik, die - sieht man von den griechischen Vorläufern (Thukydides) ab zuerst von den Historikern Ranke und Niebuhr bewußt praktiziert wurden. Später haben andere Autoren (J.G. Droysen, E. Bernheim u.a.) diese Prinzipien expliziert und systematisiert. Auf den allgemeinsten Nenner gebracht, zielt die Quellenkritik auf eine Rekonstruktion der Genese des historischen Quellenmaterials. Ihren Grundsatz könnte man folgendermaßen auf den Punkt bringen: "Texte versteht man, indem man sie in ihre Kontexte zurückversetzt." In diesem Sinne kann man drei Grundprinzipien der Quellenkritik unterscheiden. Die Quellenkritik untersucht: inwiefern die Überlieferungsverhältnisse der Quelle ihre Aussagen und deren Wahrheitsgehalt tangieren (Bsp: Übermittlung antiker Quellen durch mittelalterliche Kopisten): inwiefern nichtexplizierte, als "selbstverständlich" erachtete allgemeine Denkformen der Zeit - die "herrschenden Vorstellungskreise" (J.G. Droysen) - die Aussagen der jeweiligen Quellen beeinflußen. Hier könnte man im Anschluß an den Philosophen E. Husserl von "lebensweltlichen" Faktoren sprechen, die erst expliziert werden müssen, um den Wahrheitskern der Quelle zu sichern: inwiefern bewußte, politische oder ideologische Zwecksetzungen und Nutzenkalküle des Urhebers der Quelle - seine "Parteiansicht" (J.G. Droysen) - in seine Darstellung eingehen ("Cui bono ?"). Nur die Aussagen von Quellen, die durch diese drei Schritte geprüft wurden, können in der Geschichtsschreibung übernommen werden. Bewährt hat sich darüber hinaus als pragmatische Handlungsmaxime des Historikers die gegenseitige, vergleichende Kontrolle der Quellen untereinander. Berichten mehrere Quellen unabhängig voneinander die selben Tatsachen, so können diese als gesichert angenommen werden. Kurze Typologie der Quellenformen Unter Quellen versteht man in der Geschichtswissenschaft allgemein "alle Texte, Gegenstände oder Tatsachen, aus denen Kenntnis der Vergangenheit gewonnen werden kann" ( P. Kirn). Die traditionelle Geschichtswissenschaft und Archivkunde hat komplexe typologische Systeme der Quellenformen entwickelt. Diese sollen hier lediglich in ihren allgemeinsten Zügen dargelegt werden. Über den individuellen Erkenntniswert der Quellen innerhalb bestimmter Fragestellungen entscheidet zunächst ihre zeitliche und räumliche Nähe zu den jeweils interessierenden Geschehnissen. In diesem Sinne unterscheidet man zwischen: Primärquellen Sekundärquellen Im allgemeinen ist den Primärquellen der Vorzug vor den Sekundärquellen zu geben. Sekundärquellen, die sich in ihren Aussagen auf die Zeugnisse anderer stützen, müssen, sofern man auf sie angewiesen ist, auf ihre eigenen Quellen hin untersucht werden, was i.a. mit Hilfe philologischer Techniken geschieht. Weiterhin sind für den Erkenntniswert der Quellen die jeweiligen Zwecke, die zu ihrer Entstehung führten, wichtig. Man unterscheidet unter diesem Gesichtspunkt zwischen: Tradition Überrest Quellen, die sich der Gattung der Tradition zuordnen lassen, entstanden mit der Absicht, kommenden Generationen ein bestimmtes Bild konkreter historischer Geschehnisse zu vermitteln bzw. zu überliefern. Hier sind in erster Linie die antiken oder mittelalterlichen Geschichtsschreiber, aber auch frühneuzeitliche Stadtchronisten zu nennen. Einen Grenzfall stellt die journalistische oder politische Publizistik dar, sofern sie über reine Gegenwartszwecke hinausgreift. Diese Quellengruppe bietet den Vorteil einer relativ umfassenden und geordneten Darstellung der historischen Gegebenheiten. Auf der anderen Seite ist sie stets - bewußt oder unbewußt - tendenziös und selektiv. Die Hauptaufgabe der Quellenkritik besteht hier - abgesehen von der Rekonstruktion der Überlieferungsverhältnisse - in der Aufdeckung und Evaluierung der jeweiligen Absichten und Standpunkte der Autoren der Quellen. Die ältere historische Wissenschaft war stark einseitig auf die Quellengruppe der Tradition ausgerichtet. Ihr Aussagewert gerade für die Wirtschafts- und Sozialgeschichte ist jedoch beschränkt, da soziale und wirtschaftliche Tatbestände bis in die Zeit der Aufklärung hinein nur selten in den Mittelpunkt literarischer Erzeugnisse gestellt wurden. Gerade für diesen Teilbereich der Geschichtswissenschaft ist daher eine andere Quellengruppe, die Gruppe der Überreste, von besonderer Bedeutung. Hierunter versteht man Zeugnisse der Vergangenheit, deren Entstehungsgründe in praktischen Gegenwartszwecken aufgingen. In erster Linie ist hier an alle Arten von (Rechts-)Urkunden und Geschäfts- bzw. Verwaltungsakten (einschließlich Statistiken) zu denken. Daneben sind aber auch Sachzeugnisse (archäologische Tatbestände, architektonische Überreste etc.) von Bedeutung. Ihren Wert bezieht diese Quellengruppe in erster Linie aus ihrer gegenüber der Tradition - größeren Objektivität. Die überlieferten Tatsachen wurden nicht mit der Zwecksetzung wiedergegeben, ein späteres Publikum zu beeinflussen und sind daher in der Regel nicht in einem bewußten Sinne tendenziös. Dem steht allerdings der Umstand gegenüber, daß die Überreste häufig nur ein zufälliges Bild der Vergangenheit liefern, da ihre Erzeuger nicht mit der Absicht handelten, uneingeweihte Nachgeborene aufzuklären. Die Überreste geben nur ein punktuelles Zeugnis, welches nur mit größter Vorsicht verallgemeinert werden kann. Die Aufgabe der Quellenkritik dieser Quellengruppe gegenüber besteht dementsprechend in einer Rekonstruktion des jeweiligen Kontextes der Überreste, aus dem sich Aussagen über die Verallgemeinerbarkeit der Quelle ergeben können. Da außerdem "Nebenumstände" der Überreste für den Historiker oft wichtiger sind als die eigentlichen, vom Autoren der Quelle angestrebten Zwecke, muß die Quellenkritik diese Zwecke ebenfalls aufdecken, da nur so die Frage beantwortet werden kann, inwieweit die Quelle als Zeugnis für diese Nebenumstände taugt. Transkription Bei der Transkription handschriftlicher Quellen helfen die Lehrbücher von Grun und Süß (s.u.). Literatur BRANDT, A.v.: Werkzeug des Historikers. Eine Einführung in die Hilfswissenschaften. 11. Aufl. Stuttgart u.a. 1986 DROYSEN, J.G.: Historik (1858). Hrsg. v. R. Hübner. München 1977 GRUN, P.A.: Leseschlüssel zu unserer alten Schrift. Görlitz 1935 (ND: 1984) SÜSS, H.: Deutsche Schreibschrift. Lesen und Schreiben. Lehrbuch. Augsburg 1995 Historischen --------------------------------------------------------------------------------------------------------------------P8 Frageraster zur hermeneutischen Methode Quellenkritik 1. Quellenbeschreibung: Art der Quelle, Quellentyp 2. Überlieferung: Fund- und Aufbewahrungsort der Quelle; Vollständigkeit 3. Äussere (formale) Kritik: Kritik der Herkunft (Provenienz). Frage: Wer hat wann, wo und wie den Text verfasst, die Quelle hergestellt? Kritik der Echtheit (discrimen veri ac falsi): Autorschaft. Frage: Ist der genannte Autor wirklich der Verfasser? Ist der Text das, wofür er sich ausgibt? Überlieferung (Authentizität). Frage: Ist der Text so erhalten, wie der Autor ihn geschrieben hat? Kritik der Originalität. Frage: Beruhen die Informationen auf eigenen Beobachtungen des Autors oder sind es Wiedergaben aus zweiter Hand? Falls ja, auf wen stützt er sich? Kritik der Richtigkeit. Frage: Ist das Berichtete nach dem Mass menschlicher Erfahrung an sich (oder unter den angegebenen Bedingungen) möglich? 4. Innere (inhaltliche) Kritik: Sprachliche Erfassung (Klärung und Übersetzung unbekannter Begriffe) Sachliche Erfassung (die erwähnten Sachverhalte und Begebenheiten sowie Anspielungen sind aufzuschlüsseln und zu klären) Quelleninterpretation 1. Inhaltsangabe: Erstellung eines Regests, es enthält Sachverhalte und Behauptungen 2. Beurteilung der Aussagekraft: Überprüfung der Aussagen auf ihre Widerspruchsfreiheit, logische Stringenz und Glaubwürdigkeit 3. Einordnung der Quelle in den historischen Kontext (zeitliche und gesellschaftliche Umstände der Entstehung und der Wirkung der Quelle, Überprüfung der Sachverhalte und Aussagen mit Hilfe der Fachliteratur und anderer Quellen) 4. Überprüfung der Standortgebundenheit des Verfassers, Sichtbarmachung der Tendenz (gesellschaftlichen und politischen Zusammenhang, in dem der Autor steht, aufdecken; Ideologiekritik). Einschränkungen der Glaubwürdigkeit können das mangelnde Wissen des Autors oder die (erklärte) Absicht des Autors sein. Mangelndes Wissen. Horizont des Autors: Was hat er wissen und berichten können? Wie nahe steht der Autor den Ereignissen zeitlich? Ist er Zeitgenosse? Wie nahe steht der Autor den Ereignissen räumlich? Augenzeuge? Gewährsleute? Welchen Einblick in die Ereignisse hat der Autor von seiner Stellung her? Welche Möglichkeiten der zutreffenden Vermittlung hat er von seiner Bildung her? (Erklärte) Absicht des Autors. Tendenz oder Standpunkt des Autors: Was hat er berichten wollen? bewusste Verzerrung oder Verfälschung der Tatsachen? bestimmte Akzentuierung der Sachverhalte? explizite oder implizite Wertung (Idealisierung, Diffamierung)? tendenziöse Selektion der Informationen (Verschweigen, Überbetonen)? absichtliche Belehrung und Einflussnahme (normativer Charakter)? 1. Auswertung: Welchen Erkenntniswert und welche Aussagekraft besitzt die Quelle in Bezug auf die eingangs formulierte Fragestellung? Muss die Fragestellung korrigiert, müssen weitere Quellen beigezogen werden? Literatur: Proseminarunterlagen von C.M. Merki, WS 1995/96 und A. Würgler, SS 1996