1 Univ.Lektor Dr.Friedrich Wolfram Vorlesung im SS 2006: Einführung in die Religionsphilosophie Cicero, De natura deorum. Vorbemerkung: Ich spreche zunächst nicht über Cicero, sondern über Religionsphilosophie im allgemeinen. Unter der Überschrift "Religionsphilosophie - was ist das?" will ich zunächst verschiedene Zugänge benennen: die je eigene Erlebniswelt; das Bedürfnis des Hausverstands, sich die Dinge einteilend zurechtzulegen; die sprachliche Norm als soziale Institution, wie sie sich in Lexika niederschlägt; die geschichtliche Rückschau; das Spannungsfeld Religion/Philosophie; schließlich Einführungsliteratur. Danach soll gefragt werden, was denn unter "Religion" zu verstehen sei, und das Grundproblem der Religionsphilosophie umrissen werden. Auch soll ein Blick auf die Nachbarwissenschaften geworfen werden. In einem zweiten Kapitel wird von Cicero als Mensch, Politiker, Schriftsteller und Philosoph die Rede sein, bevor im dritten, dem Hauptteil, Texte aus De natura deorum interpretiert werden. Viertens, abschließend, wird über Ciceros Einfluß auf die Nachwelt zu reden sein. 1. Religionsphilosophie - was ist das? 1.1 Vielfalt der Zugänge. Wir alle haben unsere Vor-Erlebnisse, Vor-Gefühle und VorUrteile, mit denen wir diese Frage stellen. Und ich gehe wohl nicht fehl, wenn ich annehme, daß niemand von uns glaubt, mit dem Nachdenken darüber - über diese Erlebnisse, Gefühle, Gedanken - fertig zu sein. Der erste Schritt des Nachdenkens im Rahmen dieser Vorlesung soll sein, uns bewußt zu machen (jede und jeder für sich persönlich), von woher wir uns der Frage nähern; das können nämlich ganz verschiedene, ja konträre Richtungen sein. Vielleicht hilft dabei die in einem ausgezeichneten Sinn persönliche Stellungnahme eines Dichters: Der portugiesische Dichter Fernando Pessoa in seinem Buch der Unruhe: "Ich gehöre zu einer Generation, die den Unglauben an den christlichen Glauben geerbt und in sich den Unglauben gegenüber allen anderen Glaubensüberzeugungen hergestellt hat. 2 Unsere Eltern besaßen noch den Impuls des Glaubens und übertrugen ihn vom Christentum auf andere Formen der Illusion. Einige waren Enthusiasten der sozialen Gleichheit, andere nur in die Schönheit verliebt, andere glaubten an die Wissenschaft und ihre Vorzüge, und wieder andere gab es, die dem Christentum stärker verbunden blieben und in Orient und Okzident nach religiösen Formen suchten, mit denen sie das ohne diese Formen hohle Bewußtsein, nur noch am Leben zu sein, beschäftigen könnten. All das haben wir verloren, all diesen Tröstungen gegenüber sind wir als Waisenkinder geboren worden." 1 Der österreichische Dichter Thomas Bernhard in einem Interview mit der ORF-Journalistin Fleischmann: "Fleischmann Sie verwenden den Begriff 'Herrgott'. Sie glauben ja nicht an ihn, oder? Bernhard Glauben braucht man nicht an was, das man ständig sieht. Der Herrgott ist doch überall, brauch' ich ja nicht daran glauben. Sagt ja schon die Kirche: 'Gott ist überall'. Also erspare ich mir den Glauben. Ist ja auch ein Widerspruch, ist ja unsinnig. Wie soll man an eine Kirche glauben, die behauptet, daß sie überall ist? Oder eine Religion halt. Ist nicht ganz durchdacht. Aber wer viel denkt, kommt zu nichts." 2 Oder Peter Handke in "Über die Dörfer": "Vielleicht gibt es keinen vernünftigen Glauben, aber es gibt den vernünftigen Glauben an den göttlichen Schauder. Es gibt den göttlichen Eingriff, und ihr alle kennt ihn. Es ist der Augenblick, mit dem das Drohschwarz zur Liebesfarbe wird, und mit dem ihr sagen könnt und weitersagen wollt: Ich bin es." 3 Man kann, glaube ich, nicht sagen, daß solche Dichterworte uns aufklären; sie wollen eher Scheinklarheiten verunklären, Verwirrung stiften; aber diese Verwirrung kann nützlich sein, indem sie zu eigener persönlicher Stellungnahme herausfordert. Eine nur scheinbare Klarheit bieten ja geistesgeschichtliche Einteilungen, die sich an die drei möglichen Optionen halten: Für Religion, gegen Religion, und drittens Indifferenz Fernando Pessoa, Das Buch der Unruhe des Hilfsbuchhalters Bernardo Soares. Aus dem Portugiesischen übersetzt und mit einem Nachwort versehen von Georg Rudolf Lind. Fischer TB, Frankfurt am Main 1987. S.14. 2 Thomas Bernhard - Eine Begegnung. Gespräche mit Krista Fleischmann. Edition S, Verlag der Österreichischen Staatsdruckerei, Wien 1991. S.227f. 3 Peter Handke, Über die Dörfer. Frankfurt am Main, Suhrkamp Verlag, 1981. S.103. 1 3 gegenüber Religion. Denn wenn wir statt auf die Dichter auf die Denker hören, so finden wir, daß kaum einem dieses Prokrustes-Bett paßt. Da wimmelt es von zweifelnden Apologeten ebenso wie von gläubigen Kritikern und leidenschaftlich suchenden Skeptikern. (Um nicht einem Schubladen-Denken Vorschub zu leisten, werde ich nicht damit beginnen, die wichtigen religionswissenschaftlichen Begriffe, wie Theismus, Monotheismus, Atheismus, Agnostizismus etc., zu definieren; wir werden sukzessive auf sie kommen.) Trotzdem hat auch das Einteilen seinen relativen Wert; es hilft und regt an, Alternativen zu bedenken und vielleicht doch Entscheidungen zu treffen. Da gibt es also in unserer Zeit und in unseren europäischen Breiten einmal das mögliche Interesse, um der Vollendung der neuzeitlichen Emanzipation willen die jüdisch-christliche Tradition und die Religion überhaupt als falsches Bewußtsein und Ideologie kritisieren und negieren zu müssen. Andere gehen davon aus, daß man auch in der sich emanzipierenden Welt diese Tradition und die Religion überhaupt apologetisch vertreten kann und muß. Das wäre das zweite mögliche Interesse. Das dritte ist das Interesse derjenigen, die der Meinung sind, daß in der Gegenwart der Emanzipationsprozeß von der jüdischchristlichen Tradition vollendet ist und daß damit weder ein Bedürfnis der Kritik noch der Apologie vorhanden ist. Sie beschränken sich darauf, religiöse Vorstellungen und Institutionen empirisch und "wertfrei" zu untersuchen. Von all dem gilt, was Giuseppe Ungaretti in einem Vers sagt: „Tutto e incipiato ed niente e perfetto“ - "Alles ist begonnen und nichts ist vollendet." Eine mögliche Annäherung an die Thematik ist die, im Lexikon nachzuschauen. Weil unsere Sprache als soziale Institution angesehen werden kann 4 , können wir Begriffe als "sprachliche Norm", wie sie im Lexikon festgehalten ist, nachlesen. Die heutige, zeitgenössische Norm unterscheidet sich dabei von der früherer Zeiten, wie man an einem Vergleich von Lexiken verschiedener Jahrzehnte leicht ersehen kann. Es ist sogar sehr aufschlußreich, vom gleichen Lexikon verschiedene Auflagen zu vergleichen. In einem gängigen Konversationslexikon - z.B. in Meyers Großem Universallexikon in 15 Bänden von 1984 wird Religionsphilosophie als "philosophische Disziplin, deren Gegenstand die Begriffs- und Wesensbestimmung der Religion vgl. Hans Ulrich Gumbrecht, Begriffsgeschichte Sozialgeschichte, Archiv für Begriffsgeschichte 1978. 4 als Methode der 4 ist, im weiteren Sinn" bestimmt. "Im engeren Sinne gilt R. als philosophische, ausschließlich mit rationalen bzw. wissenschaftlichen Methoden und Argumentationsverfahren operierende Reflexion der Bedingungen, Möglichkeiten und Grenzen von Aussagen der (positiven) Religion(en) und über die Religion(en) einschließlich der kritischen Auseinandersetzung (Religionskritik)". Der Verfasser des Lexikonartikels fügt hinzu, daß, wie die Definition von Philosophie, die Bestimmung der Religionsphilosophie und ihres Gegenstandsbereichs abhängig ist von den jeweiligen religionsphilosophischen, wissenschafts- und erkenntnistheoretischen Positionen, und sich deshalb nicht einheitlich und generalisierend durchführen läßt. Er sieht es als allgemein bekannt an, daß im Mittelpunkt des religionsphilosophischen Interesses Aussagen über die Relationen: Venunft (Ratio) und Offenbarung, Glaube (Fides) und Wissen, Gott und Welt, Gott und Mensch,5 Das Gute - das Böse, das religiöse Selbstbewußtsein (Gefühl), das Heilige, Religion, Gesellschaft und Staat stehen. Ebenso, daß Religionsphilosophie kein zeitloses Phänomen ist, sondern eine Geschichte hat, wie auch die Sache, um die es ihr geht. Ansätze und Aussagen der Religionsphilosophie finden sich in der philosophischen Tradition seit der griechischen Antike, in der christlichen Tradition seit Origenes (ca.185-254) Zur Ausbildung einer autonomen, methodisch-wissenschaftlich verfahrenden Religionsphilosophie kommt es erst in der Neuzeit im Rationalismus durch Baruch/Benedictus de Spinoza (1632-1677). In der Antike hat es also den Begriff der Religionsphilosophie noch gar nicht gegeben, wohl aber Ansätze und Aussagen derselben. Der Begriff Religionsphilosophie wird in Deutschland erst seit dem Ende des 18.Jh. gebraucht. Erst seit der Aufklärung gibt es die Religionsphilosophie als eine besondere Disziplin innerhalb der Philosophie bzw. der Theologie. Man kann also die Frage stellen, ob es überhaupt sinnvoll ist, von Religionsphilosophie zu sprechen, auch wenn man sich auf Äußerungen bezieht, die einer früheren historischen Situation entstammen, etwa der Antike. Vgl. Romano Guardini, Das Ende der Neuzeit, S.62: „Wirkt Gott wirklich, wenn der Mensch die Initiative und Schaffenskraft hat, welche die Neuzeit behauptet? Und kann der Mensch handeln und schaffen, wenn Gott am Werk ist?“ 5 5 Willi Oelmüller (1930-1999) hat sich dagegen ausgesprochen, den Begriff Religionsphilosophie zur Kennzeichnung früherer Vorstellungen und Lehren rückzuübertragen. 6 Oelmüller meint: "Auch wenn die griechische Philosophie den Mythos kritisierte, wenn Plato und Aristoteles ihre Philosophie als Betrachtung des Göttlichen verstanden oder wenn die griechisch-römische Antike zwischen der mythischen, natürlichen und politischen Theologie unterschied, gingen sie dabei von Voraussetzungen aus, die nach Christus und erst recht seit der europäischen Aufklärung nicht mehr allgemein anerkannt sind." 7 Die Auslegung biblischer Texte und ihre Applikation für die Gegenwart mit Hilfe philosophischer Vorstellungen, v.a. der von Plato und Aristoteles, die von Anfang an zur jüdischchristlichen Tradition gehört, war im Sinne Oelmüllers keine Religionsphilosophie, sondern Theologie. Religionsphilosophie sei erst möglich und notwendig gewesen, als die Subjektivität und die kritische Vernunft im Prozeß der Emanzipation und der Aufklärung das "Bedürfnis der Erkenntnis" der Religion hatten. Man kann aber einwenden: Das „Bedürfnis der Erkenntnis“ ist nicht plötzlich vom Himmel gefallen, sondern hat sich entwickelt. Hat denn ein Augustinus von Hippo das Bedürfnis der Erkenntnis und die Subjektivität noch nicht gekannt? Wir können auch nicht umhin, von unserem nachaufklärerischen Standpunkt aus uns mit älteren Positionen auseinanderzusetzen, sie in unsere Überlegungen mit einzubeziehen. Mir scheint wichtig festzuhalten, daß Religionsphilosophie eine Disziplin ist, mit der man sich sowohl innerhalb der Theologie als auch innerhalb der Philosophie beschäftigen kann. 8 Um das nachvollziehen zu können, brauchen wir ein Kriterium zur Unterscheidung von Philosophie und Theologie. Nehmen wir folgendes Kriterium an: Bei einer philosophischen Betrachtung kann man sich nicht auf Offenbarung berufen, hingegen ist es in der Theologie erlaubt. Man kann sich z.B. auf die Bibel, den Koran, die Upanischaden usw., auf eine in der jeweiligen Religion gültige Autorität oder auf eine anerkannte Tradition berufen. Alle diese Argumente können in der Philosophie nicht anerkannt werden. Soll eine Argumentation philosophisch sein, dann müssen die Argumente vernünftig sein. Das heißt aber nicht, daß theologische Argumente von der Philosophie eo ipso 6 7 8 W.Oelmüller, Religionsphilosophie, in: Herders Theologisches Taschenlexikon in 8 Bdn, hrsg.v.Karl Rahner, Bd.6, Freiburg 1973, 253. op.cit. 254 Vgl. Hubertus G. Hubbeling, Einführung in die Religions-philosophie, Göttingen 1981, = Uni-Taschenb. 1152, 11. 6 für falsch erklärt werden. Man kann mit ihnen so wie mit unbewiesenen Hypothesen umgehen. Mit Richard Schaeffler bin ich einverstanden, der sagt: "Seit die Philosophie entstand, ist die Religion ihr Thema gewesen. Denn die meisten Fragen, auf die Philosophen zu antworten versuchten, (z.B. die Frage nach dem Ursprung der Welt, nach der Stellung des Menschen im Kosmos, nach den sittlichen Normen des Handelns, nach den Möglichkeiten und Grenzen des Erkennens) sind zuvor Themen mythologischer Erzählungen, kultischer Begehungen, religiöser Weisheitssprüche gewesen." 9 Die Philosophie gewann in ihren Anfängen und immer wieder im Verlauf ihrer Geschichte ihr unterscheidendes Selbstverständnis dadurch, daß sie sich von der Religion oder von dem, was sie dafür hielt -kritisch abgrenzte. Es läßt sich nicht leugnen, daß es auch vor der Aufklärung ein Spannungsverhältnis zwischen Religion und Philosophie gegeben hat. Die Religion ist älter als die Philosophie, sie ist aber auch Zeitgenossin der Philosophie geblieben. Die Religion hat sich, jedenfalls bis heute, nicht in Philosophie oder Wissenschaft aufheben lassen. Sie hat sich auch nicht auf jene praktischen Aufgaben und theoretischen Fragen abdrängen lassen, für die die Philosophie und die Wissenschaft sich als unzuständig erklärten. Die Religion ist das der Philosophie gegenüber andere geblieben, und zwar auch dann, wenn ein und derselbe Mensch sich mit den gleichen Fragen bald als Philosoph, bald als religiöses Individuum und Mitglied einer Religionsgemeinschaft auseinanderzusetzen versucht. Ich finde es nicht störend, wenn der Terminus Religionsphilosophie auch rückblickend auf das Spannungsverhältnis Religion/Philosophie - etwa in der Antike - verwendet wird. Es ist ein in einer bestimmten historischen Situation geprägter, aber auch auf andere historische Situationen anwendbarer Begriff. Variabel ist dabei zweierlei: Die verschiedenen Religionsphilosophen unterscheiden sich einmal durch die Antwort, die sie auf die Frage: "Was ist Religion?" geben wollen. Zum anderen unterscheiden sie sich schon durch die Art der Fragestellung selbst. Was an der Religion (an dem Phänomenkomplex, der unter dem Titel "Religion" zusammengefaßt wird) als auslegungs-und erklärungsbedürftig gilt, welche 9 R.Schaeffler, Religionsphilosophie. Handbuch der Philosophie, hrsg.v.Elisab.Ströker u.Wolfg.Wieland, Freiburg, München 1983. 7 Auslegungen und Erklärungen als "zureichend" bewertet werden, das ist von mal zu mal verschieden. In diesem Sinn scheint es zweckmäßig, verschiedene historische Ausprägungen als Typen innerhalb der Religionsphilosophie zu unterscheiden. Platon wird dann einem Typus angehören, Augustinus einem anderen, Hegel wieder einem anderen. Als Beispiel einer solchen Typologie nenne ich die von R.Schaeffler mit ihrer Dreiteilung: (1) Religionsphilosophie als Kritik eines "vorrationalen Bewußtseins" (2) Religionsphilosophie als Verwandlung von Religion in Philosophie (3) Religionsphilosophie auf der Basis philosophischer Theologie. Schaeffler ergänzt diese drei (bereits in der Antike vorfindlichen) Typen noch durch einen vierten und fünften aus jüngerer Zeit: den phänomenologischen Typ und den Typ der Analytik religiöser Sprache. Andere Beispiele bieten Wilhelm Dupré, Ulrich Mann u.a. Der Genitiv "Religions-" im Wort "Religionsphilosophie" kann ein objektiver oder ein subjektiver Genitiv sein. Im ersteren Fall bezieht sich die Religionsphilosophie auf die vernünftige Betrachtung der Religion; im anderen Fall fragt man sich, welche philosophischen Implikationen eine bestimmte Religion hat. Selbstverständlich führt dies jeweils zu ganz anderen Fragen. In den verschiedenen Handbüchern der Religionsphilosophie werden denn auch unterschiedliche Probleme behandelt. Sie werden dadurch zu einer bunten Sammlung: (1) Was ist Religion? (2) Welche logischen Regeln gelten für religiöse Aussagen bzw. was ist ihr logischer Status? (3) Im Zentrum steht aber m.E. die Frage nach der Wahrheit der religiösen Aussagen. Wir können sogar behaupten, daß die Religionsphilosophie sich gerade darin von der Religionswissenschaft unterscheidet. Die Religionswissenschaft fragt nicht nach einer etwaigen Wahrheit oder Falschheit der von ihr studierten Religionen. In der Religionsphilosophie wird diese Frage jedoch gestellt. Wir können folgende Formel aufstellen: Religionsphilosophie = Religionswissenschaft + das Aufwerfen der Wahrheitsfrage. (4) Man kann versuchen, die Wahrheitsfrage von einem 8 bestimmten dogmatischen Gesichtspunkt aus zu beantworten. Dann ist Religionsphilosophie ein Teil der Dogmatik, und zwar derjenige Teil, in dem die Diskussion mit den verschiedenen philosophischen Theorien und mit den anderen Religionen geführt wird. (5) Was ist der Wert der verschiedenen religiösen Aussagen und Handlungen? Fördern sie die soziale und psychische Integration des Menschen? Die Aufgabe, diese Fragen zu beantworten, teilt die Religionsphilosophie mit der Soziologie und Psychologie der Religion. (6) Was ist der logische Status der theologischen Aussagen? Das ist etwas anderes als die unter (2) genannte Frage nach dem logischen Status der religiösen Aussagen. Religionsphilosophie hat ein Grundproblem. Paul Tillich, ein evangelischer Theologe des vergangenen Jahrhunderts, hat es unübertrefflich formuliert: "In der Religion tritt der Philosophie ein Objekt entgegen, das sich dagegen sträubt, Objekt der Philosophie zu werden. Die Religion macht, je stärker, ursprünglicher, reiner sie ist, desto nachdrücklicher den Anspruch, der verallgemeinernden Begriffsbildung enthoben zu sein. ... Religion fühlt einen Angriff auf ihr innerstes Wesen, wenn sie Religion genannt wird. ... Die Religionsphilosophie ist also der Religion gegenüber in der eigentümlichen Lage, daß sie das Objekt, das sie erfassen will, entweder auflösen oder sich vor ihm auflösen muß. Beachtet sie den Offenbarungsanspruch der Religion nicht, so verfehlt sie ihr Objekt und spricht nicht von der wirklichen Religion. Erkennt sie den Offenbarungsanspruch an, so wird sie zur Theologie. Beide Wege sind für die Religionsphilosophie ungangbar. Der erste führt sie an ihrem Ziel vorbei, der zweite führt nicht nur zur Auflösung der Religionsphilosophie, sondern der Philosophie überhaupt. Gibt es einen Gegenstand, der der Philosophie grundsätzlich verschlossen bleibt, so ist ihr Recht auf jeden Gegenstand fragwürdig geworden. Denn sie würde ja außerstande sein, von sich aus die Grenze zwischen diesem verschlossenen Gegenstand, also der Religion, und den übrigen Gebieten zu ziehen. Ja, es wäre möglich, daß die Offenbarung Anspruch auf alle Gebiete machte; und die Philosophie hätte keine Waffe, sich diesem Anspruch zu widersetzen. Gibt sie sich an einem Punkte auf, so gibt sie sich überhaupt auf." 10 Tillich hat mit diesem Gegensatz von Religionsphilosophie und Offenbarungslehre das Problem in seiner ganzen Schärfe gestellt. Und Sie wissen, daß es nicht nur ein dialektisches 10 Paul Tillich, Religionsphilosophie. Stuttgart 1962, 7ff. 9 Problem ist; es hat seine Realität darin erwiesen, daß es zu den schärfsten Kulturkonflikten und zu gewaltigen Kulturschöpfungen geführt hat. Die Geistesgeschichte von Religion und Philosophie zeigt in ihrem ganzen Umfang Erscheinungen, in denen entweder die eine der beiden Formen nahezu rein verwirklicht ist - etwa das frühe Mittelalter einerseits, die Aufklärung anderseits, oder in denen Vermittlungen und Synthesen erstrebt werden - das hohe Mittelalter von seiten der Offenbarungslehre, Idealismus und Romantik von seiten der Philosophie - oder in denen ein Nebeneinander behauptet wird - etwa das späte Mittelalter, der englische Empirismus und der theologische Kantianismus. Der Gegensatz ist letztlich unerträglich; er zerbricht die Einheit des Bewußtseins. Tillich: "Solange ein naiver Glaube die eine der beiden Seiten für selbstverständlich maßgebend hält, sei es die Offenbarungslehre, sei es die Philosophie - und die andere ihr opfert, ist der Konflikt verhüllt. Ist die Naivität aber einmal erschüttert - die philosophische genau wie die religiöse -, so bleibt nur die synthetische Lösung." "Nur der Weg der Synthese ist vernünftig; er ist gefordert, auch wenn er wieder und wieder mißlingt. Aber er muß nicht mißlingen. Denn es gibt in der Offenbarungslehre wie in der Philosophie einen Punkt, in dem beide eins sind. Diesen Punkt zu finden und von da aus die synthetische Lösung zu schaffen, ist die entscheidende Aufgabe der Religionsphilosophie." 11 Es gibt natürlich eine Alternative. Gabriel Garcia Marquez hat sie beschrieben: In seinem Roman "La hojarasca", zu deutsch "Laubsturm" (das Original ist 1955 erschienen) hat er die zentrale Figur sagen lassen: "Glauben Sie mir, ich bin kein Atheist, Oberst. Mich beunruhigt der Gedanke, daß Gott existiert, ebenso, wie der Gedanke, daß er nicht existiert. Daher ziehe ich vor, nicht darüber nachzudenken." Religionsphilosophie ist, doch darüber nachzudenken, ob die geistige Beunruhigung nun von der Frage herrührt, ob es Gott gibt, oder von der Tatsache, daß es Menschen gibt, die an Gott glauben oder nicht glauben. Religionsphilosophie stellt radikale Fragen. Das ist ihre Methode. Sie kann natürlich auch spezielle Methoden in Anspruch nehmen, wie sie etwa J.M. Bocheński bescheibt 12: --Die phänomenologische Methode --Die semiotischen Methoden AaO. I.M. Bochenski, Die zeitgenössischen Denkmethoden. UTB München 1971 /5.Aufl. 11 12 10 --Die axiomatische Methode --Die reduktiven Methoden Mit all diesen Methoden kann Berührung kommen. die Religionsphilosophie in Die erste Methode und die Methode schlechthin aber ist die, von der Aristoteles in seiner Metaphysik redet. Die mit dem Sichwundern, dem thaumázein beginnt, und zu der notwendig die aporía gehört, die Weglosigkeit, Ausweglosigkeit, mit einem Bedeutungsspektrum bis hin zur Verzweiflung. Aber Aporie als Durchgangsstadium, als der Zweifel, der die Voraussetzung zur euporía bildet, zum gelingenden Weg. Ein katholischer Religionsphilosoph. Romano Guardini (18851968) hat in einem Vortrag über „Wahrheit und Ironie“ anläßlich seines 80.Geburtstags seine eigene Fähigkeit zum Staunen so formuliert: „ein Wissen um die Wahrheit und zugleich ein Wissen um die Inkommensurabilität der eigenen Kraft ihr gegenüber; eine Erkenntnis der eigenen Ungemäßheit, aus der aber nicht Skepsis, sondern höchste Zuversicht hervorgeht.“ 13 Hier empfiehlt sich ein kurzer Exkurs in die Frühzeit der Philosophie: Die Aporie steht am Anfang der Metaphysik und damit auch ihrer „Theologie“: Met. E 1, 1026a23: „Man könnte nämlich fragen, ob die erste Philosophie allgemein (kathólou) ist oder auf eine einzelne Gattung und eine einzelne Weseheit geht.“ (aporéseien gàr án tis póteron poth’ he próte philosophía kathólou estìn è perí ti génos.) Es geht um die Frage nach dem Verhältnis der „Ersten Philosophie“ zur Ontologie – eine seit Jahrhunderten umstrittene Problematik der aristotelischen Metaphysik. Denn für die Eigenart der Wissenschaft von den Gründen und Prinzipien des Seins gibt Aristoteles zwei verschiedene, sich scheinbar ausschließende Bestimmungen. (1) Die „Erste Philosophie“ ist die Wissenschaft von der übersinnlichen, prozeßfreien Seinssphäre. Ihr Objekt ist das „Getrennte“ (choristá), d.h. das dem Sein nach Selbständige, und das „Unveränderliche“ (akíneta). Indem ihr Gegenstand als erste Philosophie allen anderen Wissenschaften vorgeeordnet ist, ist sie zugleich Theologie (Met. E 1, 1025b1-1026a23). (2) Die Wissenschaft von den Gründen und Prinzipien des Seins beschäftigt sich nicht mit einem besonderen Seinsgebiet, sondern mit dem “Seienden als solchen” (ón hê ón) im Sinn einer universalen Ontologie, die die allgemeinsten Strukturmerkmale und Prinzipien von allem, was ist, untersucht (Met. Gamma 1). Zwischen diesen beiden Bestimmungen, die der Distinktion einer 13 R.Guardini, Stationen und Rückblicke, Würzburg 1965, 49f. 11 „metaphysica specialis“ und einer „metaphysica generalis“ entsprechen, hat man seit langem einen Widerspruch gesehen, den man im 19. Jh. durch Athetese von Met. E 1 und K 7 als Interpolationen mit theologisierender Tendenz zu beseitigen gesucht hat (Natorp u.a.). Dagegen hat W.Jaeger zwei Entwicklungsstadien im Denken des Aristoteles angenommen (1923), wonach die erste Bestimmung den „theologischplatonischen“ Entwurf mit einer starken Trennung der Reiche des Sinnlichen und des Übersinnlichen, die zweite dagegen die „aristotelischere“ Entwicklungsstufe mit der Seinskonzeption in einem großen, einheitlichen Stufenbau darstelle. Spätere Forscher haben hier z.T. auch ohne Rekurs auf den Entwicklungsgedanken Schwierigkeiten gesehen. Die beiden Gedankengänge in der Metaphysik sind nach P.Aubenque (1961) in ihrer Unausgeglichenheit Ausdruck der aporetischen Struktur des aristotelischen Denkens und des „zetetischen Charakters der Metaphysik“ (griech. „zétesis“ = Forschung). Aristoteles suchte die Antwort auf die Frage nach einer „Ersten Philosophie“ (Problem des Anfangs) und gelangte zur Seinswissenschaft (Problem der Einheit). „Die Unmöglichkeit der Theologie ist die Wirklichkeit der Ontologie“14 Indem die gesuchte Wissenschaft zur Philosophie des Suchens wird, wird in „schaffendem Scheitern“ die dialektische Struktur des Seins und die Unbeantwortbarkeit der Seinsaporien freigelegt. Wir dürfen aber nicht übersehen, daß Aristoteles die von den Interpreten empfundene Schwierigkeit selbst gesehen hat. Wenn er sagt: „die erste Philosophie ist allgemein in der Weise, daß sie die erste ist, und ihre Aufgabe ist es, das Seiende als solches zu betrachten...“, so ergibt sich: „Für Aristoteles besteht gar nicht der anstößige Widerspruch zwischen einer „ersten Philosophie“, die allgemeine Seinswissenschaft ist, und einer „ersten Philosophie“, die als Theologie nur die Substanz Gottes erforschte. Die erste Philosophie ... ist eine Theologie von so besonderer Art, daß sie als solche zugleich allgemeine Ontologie sein kann“15 Erklärbar wird eine derartige Verbindung durch die arist. Auffassung von der eigentümlichen Beziehung des ausgezeichneten Teils zum Ganzen. Das „Erste Seiende“ ist ein Seiendes unter anderen und zugleich Prinzip und Grund des Seins für alles Seiende anderer Kategorien, dessen Sein „in bezug auf ein Identisches ausgesagt wird“ (pròs hèn légesthai: Met. Gamma 2). Diese Argumentationsform der pròs-hén-Relation oder „focal meaning“ (Owen 1960) ermöglicht – nach Angabe der platonischen Idee – die Einheit der Ontologie durch den Nachweis einer nicht bloß homonymen Beziehung des Seienden P.Aubenque, A. und das Problem der Metaphysik, in: Zeitschrift f. philos. Forschung 15 (1961) 321-333. 333. 15 G.Patzig, Theologie und Ontologie in der Metaphysik des Aristoteles, in: Kant-Studien 52 (1960/61) 185-205. 191. 14 12 (Met. Gamma 2, 1003b12-19). Da Gott als unbewegter Beweger die erste Substanz und zugleich Seinsfundament aller anderen Substanzen ist, muß Theologie zugleich allgemeine Ontologie sein. Einige Hinweise auf Literatur, Religionsphilosophie dient. die der Einführung in die (1) Im Handbuch Philosophie, hrsg. v. Elisabeth Ströker und Wolfgang Wieland: Richard Schaeffler (Bochum), Religionsphilosophie. Freiburg - München (Verlag Karl Alber) 1983. Dieses Buch ist weder eine Religionsphilosophie noch beschreibt es die vielen Religionsphilosophien, die im Laufe der Geschichte vorgelegt worden sind. Es versucht, Fragestellungen, Lösungsansätze und Methoden zu beschreiben und so einen Überblick über die Vielfalt der Möglichkeiten zu vermitteln, wie Religionsphilosophie verstanden und betrieben werden konnte und heute noch kann. (2) Gut lesbar ist auch in der Reihe der Uni-Taschenbücher: Hubertus G. Hubbeling (Groningen), Einführung in die Religionsphilosophie. Göttingen (Vandenhoek & Rupprecht) 1981. Es ist eine Einführung in die wichtigsten Themen, Probleme und Ergebnisse der modernen Religionsphilosophie. Nach einer kurzen historischen Übersicht über repräsentative klassische Religionsphilosophen werden die Hauptaspekte religiöser Erfahrung, der Logik der Religion und der religiösen Sprache thematisiert, wobei zugleich Vertreter der gegenwärtigen Religionsphilosophie vorgestellt werden. Es beginnt mit Anselm von Canterbury. (3) Ebenfalls ein Uni-Taschenbuch: Kurt Wuchterl (Stuttgart), Philosophie und Religion. Zur Aktualität der Religionsphilosophie. Bern - Stuttgart (Verlag Paul Haupt). Wuchterl geht von der Tatsache aus, daß das Verhältnis zwischen Philosophie und Religion lange Zeit distanziert und kritisch war. Er glaubt aber eine Wende in der analytischen Philosophie zu erkennen, die eine Rehabilitierung der Religionsphilosophie bewirke. Er will in einer Neukonzeption zu einer toleranteren und zugleich intellektuell verantwortbaren Beurteilung religiöser Phänomene führen. (4) Texte zum Einlesen samt kurzer Einführung bietet der Band: Religionsphilosophie. Eine Einführung mit ausgewählten Texten. Hrsg. von Horst Georg Pöhlmann und Werner Brändle. Gütersloher Verlagshaus Gerd Mohn, Gütersloh 1982. Diese Textsammlung beginnt mit Immanuel Kant (1724-1804). 13 (5) Eine weitere Textsammlung mit 36 Texten enthält das Taschenbuch: Glaube und Vernunft. Texte zur Religionsphilosophie. Hrsg. v. Norbert Hoerster. München (dtv) 1979. Es beginnt mit Albertus Magnus (ca.1193-1280). (6) W. Oelmüller, R. Dölle-Oelmüller, J. Ebach, H. Przybylski, Diskurs: Religion. Paderborn etc. 1982 . (Uni-TB). Enthält Materialien sowohl über Begründungsund Rechtfertigungsmöglichkeiten, als auch über Transformationen und Bestreitungen von Religion; mit einer großen Bandbreite von Texten, von der altorientalischen Zeit bis zu gegenwärtigen sozialwissenschaftlichen Bemühungen um eine Funktionsbestimmung religiöser Symbolsysteme in der modernen Gesellschaft. Als historisch-systematische Orientierungshilfe etwas vereinfachend. Das Buch hilft wenig, mit den präsentierten Texten etwas anzufangen. (7) Von katholischer Seite gibt es zu einem wichtigen Teilbereich der Religionsphilosophie eine Einführung: Otto Muck, Philosophische Gotteslehre. Ein Grundriß, der einen problemgeschichtlichen Überblick gibt, insbesondere Kants Kritik an der Rede von Gott würdigt. Er arbeitet Struktur, geschichtliche Bedingtheit und Fortwirken der klassischen "Gottesbeweise" heraus und reflektiert die Möglichkeit und Eigenart der denkerischen Auseinandersetzung mit der Gottesfrage. Ältere katholische Arbeiten, z.B. von Przywara, K.Rahner, B.Welte, sind hier mitberücksichtigt, bleiben aber für sich wichtig. (8) Vom evangelischen Theologen Paul Tillich existiert eine ältere Darstellung der Religionsphilosophie. Es ist eines der wichtigsten Werke Tillichs. Erstmals 1925, Berlin (Ullstein). Als Urban-TB Stuttgart (Kohlhammer) 1962. Es behandelt: Gegenstand und Methode der Religionsphilosophie, das Wesen der Religion, Wesenselemente der Religion und ihrer Relationen, die Kategorien der Religion. (9) Wilhelm Dupré, Einführung in die Religionsphilosophie, Stuttgart etc. (Kohlhammer) 1985. Ist als Einführung nicht ganz leicht zu lesen und will eigenständig "Grundzüge einer Theorie des Religiösen und der Religion" vorlegen. (10) Ulrich Mann, Einführung in die Religionsphilosophie. Darmstadt (Wissenschaftliche Buchgesellschaft) 1988. Entwirft ebenfalls ein eigenes religionsphilosophisches Modell, in dem alle Einzelfragen in einem spezifischen systematischen Zusammenhang geordnet sind. (11) Aus jüngster Zeit Religionsphilosophie, Stuttgart stammt: Friedo 2003. Ricken geht Ricken, von der 14 These aus, Religionsphilosophie könne nicht von einem abstrakten Standpunkt aus, sondern nur als Reflexion auf eine gelebte Religion betrieben werden. Das Buch entfaltet daher Sachfragen der Religionsphilosophie anhand von Autoren, die in verschiedenen Traditionen des Christentums stehen. Gemeinsam ist die Abwehr eines rationalistischen Verständnisses von Religion. Von der Gegenwart her soll ein Verständnis der Tradition erschlossen werden: Der Weg führt von Wittgenstein zurück zu Augustinus. (12) Lesenswerte Einführungen finden sich zum Stichwort "Religionsphilosophie" auch in Nachschlagewerken wie: Religion in Geschichte und Gegenwart / RGG (=evangelisch), Lexikon für Theologie und Kirche / LThK (=katholisch). So viel zur Annäherung an unser Thema über Einführungsliteratur. Wir versuchen hier systematisch, Klarheit darüber zu schaffen, worüber wir eigentlich reden. Darum müssen wir vorrangig die Frage stellen: Was ist "Religion"? 1.2 Begriff der Religion Wie – mit welcher Methode – kommen wir zu einem Begriff der Religion? Eine Methode ist ein planmäßiges Vorgehen. Dabei lacht uns Bert Brecht aus, bei dem es in einem Song etwa heißt: "Ja, mach nur einen Plan... und dann noch einen Plan; gehn tun sie beide nicht". Ich kann Ihnen nur Methoden nennen, die nicht "gehen". Die Schwierigkeit bei der Findung des Begriffs von Religion besteht in folgendem: Will man einen Begriff, der alle konkreten Religionen einschließt, gewinnen, so muß sein Inhalt, d.h. die Anzahl seiner Wesensmerkmale, um so kleiner sein. Suchen wir nach dem Wesensbegriff der Religion, so müssen wir von allen nichtwesentlichen Merkmalen absehen; wenn wir dagegen auf die konkreten Religionen hinsehen, erkennen wir, daß es keinen gemeinsamen Nenner gibt. Sogar eine so allgemeine Formel wie die: "Religion ist Glaube an transzendente Mächte", ev. mit der Ergänzung, daß es sich darum handelt, sich von ihnen abhängig zu fühlen, sie für sich zu gewinnen oder sich zu ihnen zu erheben, bringt uns in Schwierigkeiten bei der Anwendung dieser Formel auf die Buddhisten und Taoisten, weil diese entweder überhaupt keinen Gott oder nur eine Vorstellung höherer Mächte, die mit dem Weltprozeß nichts zu tun haben, besitzen. Und das ganz abgesehen davon, daß uns die Einzelzüge der prähistorischen Religionen und der stammesmäßig weit zersplitterten PrimitivReligionen unbekannt sind. Die Vorstellung eines Urmonotheismus ist methodologisch in keiner Weise gesichert, weil es nicht angeht, die theologischen Begriffe voll 15 ausgereifter Hoch-Religionen auf die untheologischen Mythen der Naturvölker zu übertragen. Es gibt die verschiedensten Methoden (in formaler Hinsicht), wie man bisher einen Begriff der Religion zu gewinnen versuchte. 16 1. Die Abstraktionsmethode: man versucht, unter Absehen von allen Besonderheiten in den einzelnen Religionen das Wesen der Religion zu erheben. Das Ergebnis sind derart abstrakte Allgemeinheiten, daß diese praktisch für das Verstehen konkreter religiöser Haltungen ohne Wert sind. 2. Die Additionsmethode: Man zählt die positiven Merkmale in allen Religionen zusammen, weil man das Wesen der Religion als ein umfassendes und konkretes erfassen will und in der Annahme einer Vervollkommnung in der historischen Entwicklung. Dabei ist übersehen, daß der Begriff nicht die Summe aller - auch der zufälligen Merkmale sein kann. Gerade bei der Bestimmung des Wesens des Christentums wurde diese Methode angewendet. Sozusagen: Christentum ist die Summe aller Dogmen. Das wäre aber nur bei einem statischen Religionsbegriff möglich. 3. Die Subtraktionsmethode: Der Rationalismus scheidet die historisch feststellbaren Religionen aus seiner Betrachtung aus, um das echte "Wesen" in den Religionen zu ergründen. Mit dieser Methode kann man aber nicht einsichtig machen, wie Religion geschichtlich und also den Menschen angehend ist. 4. Die Identitätsmethode: Sie wird von der traditionalistischen Orthodoxie und von bestimmten Sekten angewandt. Hier wird behauptet, das Wesen der Religion sei ein für allemal gegeben und lasse deshalb keine Variabilität seiner geographischen oder zeitbedingten Ausdrucksmöglichkeiten zu. Das "Ecclesia semper reformanda", die Perfektibilität wird geleugnet. Diese Identitätsmethode war wohl für Erzbischof Lefebvre maßgeblich, wie sich z.B. aus folgender Äußerung in einem Interview von 1983 schließen läßt: "Ich mache nichts anderes, als das fortzusetzen, was man mich gelehrt hat, das, was das Credo von immer, was der Katechismus von immer lehren... Sind denn die Katechismen von immer, der Katechismus des Konzils von Trient, der Katechismus des hl. Pius X., der Katechismus des Kardinals Gasparri, alle diese Katechismen nichts mehr wert...?" 17 zusammengestellt Taschenlexik. 16 17 von Norbert Schiffers in: Herders theolog. Pressekonferenz von Erzbischof Marcel Lefebvre zum "Offenen Brief an den 16 5. Die Isolationsmethode: Man isoliert einen bestimmten Zug an der Religion, etwa das Gefühl oder das Heilige oder das religiöse Erleben, erklärt diesen Zug zum Motiv der Religion und identifiziert das Motiv mit dem Wesen der Religion. Hierher gehört Schleiermachers Gefühl der schlechthinigen Abhängigkeit; ähnlich bei Wobbermin - Religion als glaubendes Ahnen einer Überwelt,von der der Mensch sich abhängig weiß; auch Rudolf Otto, Das Heilige. (Vgl. dazu Emanuel Lévinas, Autrement qu’etre ou au-delà de l’essence, Den Haag 1974 / dt.Übers. : Jenseits des Seins oder anders als Sein geschieht, Freiburg/München 1992; Peter L. Berger, The Sacred Canopy.) 6. Die Evolutionsoder genetische Methode, die mit unterschiedlicher Zielsetzung von C.G. Jung, L. Feuerbach und S. Freud auf das Phänomen Religion angewandt wurde. Sie nimmt an, in einem Knotenpunkt der individuellen oder soziologischen Entwicklung würden nichtreligiöse Phänomene plötzlich zur Religion, wenn der Mensch seine Abhängigkeit, Furcht oder Armut nicht mehr ertragen könne und sein Elend überbaue mit der Projektion einer göttlichen Macht, der er für die Zeit nach dem elenden Leben des Menschen die Macht verleihe, für das Ertragen von Elend in der Zeit dieser Welt zu belohnen. Feuerbach sagt in diesem Sinn, "Der arme Mann hat einen reichen Gott." Schon in der Antike (bei Cicero werden wir darauf stoßen) war gesagt worden: Timor fecit deos. Dogmatische Behauptungen sind aber kein Beweis dafür, wie Hoffnung und Furcht zur Religion werden können. Man kann den Begriff des Wesens auch nicht von einer primitiven Stufe her gewinnen, weil zum Begriff des Wesens die Gültigkeit für alle Stufen gehört.(Vgl. auch die ethnologische und kulturanthropologische Opfertheorie („Sündenbocktheorie“) von René Girard.) 7. Die Interpretationsmethode: Sie behauptet, Religion komme erst in der philosophischen Erkenntnis zu ihrem wahren Wesen. Schon S. Kierkegaard (1813-1855) hat gegen diese Hermeneutik polemisiert, weil mit ihr die Religion "zum Asyl für blöde Köpfe" werde. Sie will nachweisen, daß die Religion in ihrem eigentlichen Wesen etwas anderes ist, als sie erscheint. Das klassische Beispiel ist G.W.F. Hegel (1770-1831), aber wieder bereits in der Antike - auch die Gnosis, die behaupten, Religion käme erst in der philosophischen Erkenntnis zu ihrem wahren Wesen, das in der Religion nur eine Art In-Bausch-undBogen-Wissen des Glaubens sei. Religion ist, so wird man Papst" vom 21. November 1983. In: M.Lefebvre, Papst und Ordo Missae. Hrsg. von der Priesterbruderschaft St.Pius X. Wien 1984, S.16f. 17 dagegen einwenden müssen, eine Sphäre für sich, die nicht uminterpretiert werden kann in etwas anderes. 8. Die Funktionsmethode: Sie sieht in den konkreten Darstellungen von Religion funktionale Faktoren am Werk, die sich von Epoche zu Epoche ändern. Sie faßt also den Begriff der Religion dynamisch. Das Problem dabei ist, daß sie auch unbekannte Faktoren einschließt. Wir kommen damit nicht zu einer vollkommenen Wesensbestimmung. Der Religionssoziologe Niklas Luhmann stand diesbezüglich mit seiner funktionalen Systemtheorie in reger Diskussion mit Theologen. 18 Die Übersicht läßt uns vermuten, daß es nicht genügt, nur formallogische und objektive Kriterien des Begriffs Religion zu erstellen. Das heißt aber nicht, daß wir sie alle über Bord werfen sollten und mit Gabriel Marcel meinen könnten, daß wir zu sinnvollen Aussagen nur kommen, wenn wir religionsphilosophisch von der "Religion des eigenen Engagements" ausgehen. Nach einer solchen Meinung kann man nur wissen, was Religion ist, wenn man sich selbst für eine Religion entschieden hat und sich über die daraus folgenden Daseinsentscheidungen klar wird und dadurch existentielle Wesensbestimmungen gewinnt. Auch K. Jaspers (1883-1969) sagt, daß der Wesensbegriff der Religion unbedingte Wahrheit ist, die nur durch existentielle Entscheidung und Wagnis des Lebens bezeugt, aber nicht wie die allgemeingültigen Wahrheiten der Mathematik und Naturwissenschaften bewiesen werden kann, denn dadurch wäre sie bedingt. Wir können, so wird uns nach dieser Meinung gesagt, die geschichtlichen Tatbestände, nämlich die Ausdrucksformen religiösen Lebens in der Geschichte, nicht anders als nach Maßgabe unserer eigenen religiösen Erfahrung, also unseres eigenen religiösen Bewußtseins verstehen. Aber was macht nun einer, mit dessen eigenem religiösem Engagement es nicht sehr weit her ist? Ist der von vornherein ausgeschlossen? Vielleicht interessiert es ihn doch soweit, daß er einen Ansatz finden will, welcher nicht das "credo ut intelligam" oder "credo quia absurdum" gar zwingend vorschreibt. Eine theologische Wesensbestimmung der Religion soll möglich sein; sie schließt aber nicht aus, eine vor- und außertheologische Bestimmung zu geben. Daß man a priori voraussetzen muß, was man sucht und a posteriori findet, das ist im Fall der Religion nicht anders Niklas Luhmann, Funktion der Religion, 1977. Siehe auch Michael Welker (Hrsg.), Theologie und funktionale Systemtheorie, Frankfurt 1985. 18 18 als bei anderen Phänomenen: Sie setzen - vorläufig, im Vorgriff - voraus, was sie -genau und artikuliert - im Begriff erkennen möchten. Es ist ein Weg vom Vorläufigen zum Differenzierten. Daß nur unter der Voraussetzung von Antizipationen Verständnis zuwege kommt, hat man immer schon gesehen. Es war Martin Heidegger (1889-1976), der in seiner Analyse des Daseins das Verstehen als Entwerfen von Seinsmöglichkeiten auffaßte, das zu seiner Aktualisierung der "Vorhabe", der "Vorsicht" und des "Vorgriffs" bedarf. Das sind nach ihm die notwendigen Momente einer Fundamentallehre des Verstehens, oder, was dasselbe bedeutet, einer Analytik des Daseins. Vor ihm war die Einsicht in die Vorstruktur des Verstehens auf die historischphilologischen Einzelwissenschaften beschränkt; und zudem war sie verbunden mit dem Bewußtsein, im Vergleich zu "exakten" Disziplinen mit einem Makel behaftet zu sein, dem der unüberspringbaren Standpunktgebundenheit. Die Antizipationsverwiesenheit allen geisteswissenschaftlichen Auslegens führte Heidegger nun zurück auf das dem Dasein eigene Um-seiner-selbst-Willen, auf die Dasein ermöglichende Vorwegnahme von Sinn. Die "ontologische Zirkelstruktur", die dem Dasein zugehört, ist der Grund für den der Auslegung anhaftenden Zirkel. Das "Nachverstehen" ist nur als Funktion des Selbstverstehens zu begreifen. Besonderer Beliebtheit erfreut sich die Annäherung an das Verständnis von Religion im Wege der Etymologie. Das lateinische Wort r e l i g i o wird schon von den antiken Autoren verschieden gedeutet, abgeleitet. Von Cicero (De natura deorum 2,28,72) von r e l e g e r e , "(Wieder)zusammennehmen (was sich auf die Verehrung der Götter bezieht)" / "darauf besonders achten"; und von einem beim Gammatiker Gellius (4,9,1) zitierten Etymologen von der Nebenform r e (e) l i g e r e , "rücksichtlich beachten" / "wiedererwählen"; dagegen von Servius (ad Verg.Aen.8,349), Lactantius (Inst.4,28) und Augustinus (Retract.1,13) von r e l i g a r i "sich binden, an etwas befestigen". Moderne Etymologen neigen der letzteren Ableitung zu (Wurzel lig-"binden"); religio bedeutet dann ursprünglich dasselbe wie obligatio, nämlich Verbindlichmachung, Verpflichtung. Daneben wird aber auch die Ableitung von leg- "sich kümmern um" vertreten; dann wäre religio etwas Ähnliches wie diligentia, "Achtsamkeit". Thomas von Aquin (1225-1274) hat den etymologischen Befund vor Augen und hat einen konvergierenden Sinn gefunden: religio importat ordinem ad deum (Summa theol. II,II,81,1). Eine Konvergenz der verschiedenen Erklärungen brauchen wir gar nicht zu leugnen; das Problem ist eher darin gelegen, daß sie 19 nur in der lateinischen Sprache von deren Wort religio her möglich ist, während im Griechischen und etwa im Hebräischen das Phänomen Religion eine ganz andere sprachliche Gestalt angenommen hat.(Paradoxerweise führt die "Encyclopedia of the Jewish Religion" trotz ihres Titels nicht einmal das Stichwort Religion.) Wir geraten hier wieder an die Schwierigkeit der religionsvergleichenden Methode. Wenn sie nicht in Relativismus verfallen will, bedarf sie einer allgemeingültigen Definition von Religion, die sich bei allen Vergleichen von Religionen durchhalten läßt. Würde man diese Begrifflichkeit auch noch so einfach halten, und etwa definieren, Religion sei der Glaube an transzendente Mächte, so wäre noch dieser Allgemeinplatz religionsvergleichend zum Scheitern verurteilt.(Der Titel des Werks von William James: „The Varieties of Religious Experience“ nimmt auf diesen Sachverhalt Rücksicht.) Es ist eben das Grundproblem der Religionsphilosophie: Als Philosophie versucht sie, Phänomene zu begreifen, sei es im affirmativen Sinn des hermeneutischen Einordnens in die Gesamtkonzeption des bisher Erfahrenen, sei es im negativkritischen Sinn. Als Disziplin, die sich mit Religion befaßt, enthält sie aber zugleich das Eingeständnis, einem Phänomenkomplex gegenüberzustehen, der in seinem Kontingenzbezug nicht voll begriffen werden kann. Nach Wolfgang Trillhaas hat die Religionsphilosophie "nur eine Verstehenslehre der Religion zu leisten, d.h. die Religion als eine geistige Ausdrucksform für eine Erlebnisweise sui generis zu begreifen. Aber das Eigentliche der Religion steht immer außerhalb der Religionsphilosophie; das Eigentliche, die Religion selbst, beginnt erst dort, wo die 19 Religionsphilosophie endet." Dem würde ich nur mit dem Zusatz zustimmen, daß die Grenze nicht starr gedacht werden darf.20 Religion ist engstens mit dem Wesen des Menschen verknüpft; man könnte vielleicht ebenso gut sagen: Der Mensch ist ein animal religiosum, wie: er ist ein animal politicum. Und wer weiß, was aus uns Menschen noch wird? 1.3 Zur Geschichte der Religionsphilosophie 1.3.1 Religionsphilosophie der griechischen und jüdischen Vgl. Kurt Wuchterl, Philosophie und Religion. Zur Aktualität der Religionsphilosophie. Stuttgart 1982, 113 20 Vgl.Rudolf Kassner, Grabspruch: "Vielleicht war es früher so, daß ein Mensch bis zur Grenze ging, und dort starb er dann und das ewige Leben begann. Seit Jesu Christo aber wandert die Grenze mit, und so weiß niemand im Grunde, wann und wo das ewige Leben beginnt." 19 20 Aufklärung am Beginn der europäischen Geschichte Zur Religionsphilosophie gehört von Anfang an das Projekt Aufklärung, der Versuch von Menschen, die Projektionen eigener Wünsche, Hoffnungen, Ängste zu durchschauen, sich von selbstgemachten Göttern und übermenschlichen Mächten und Geistern zu befreien und neues religiöses oder nichtreligiöses Orientierungswissen für das eigene Leben sowie für das soziale und politische Zusammenleben zu entwickeln. Wissenschafter, Philosophen und auch einige Theologen sprechen heute zu Recht in positivem Sinn von griechischer und jüdischer Aufklärung am Beginn der europäischen Geschichte nach der sogenannten Achsenzeit um 500 v.Chr. Es zeigt sich von Anfang an, daß Religionsphilosophie und Religionskritik zusammengehören. Dementsprechend kann man Linien ziehen von Xenophanes zu Feuerbach, von Kritias zu Holbach, Voltaire, etc. Die griechische Aufklärung beginnt mit der kritischen Auseinandersetzung mit dem Mythos. Xenophanes aus Kolophon (ca. 570-475/70 v.Chr.) vergleicht die Vielheit und die Unterschiede menschlicher Göttervorstellungen und versucht sie so zu erklären: * Die „Sterblichen“ können grundsätzlich nur ihrer Art gemäße Mutmaßungen („sie wähnen“) über die Welt der übermenschlichen Götter und Mächte besitzen: „Doch wähnen die Sterblichen, die Götter würden geboren und hätten Gewand und Stimme und Gestalt wie sie.“ „Doch wenn die Ochsen und Rosse und Löwen Hände hätten oder malen könnten mit ihren Händen und Werke bilden wie die Menschen, so würden die Rosse roßähnliche, die Ochsen ochsenähnliche Göttergestalten malen und solche Körper bilden, wie jede Art gerade selbst ihre Form hätte.“ (Fragment 14 und 15) * Wenn Menschen kritisch und selbstkritisch unglaubwürdige Göttervorstellungen „enthüllen“ und durchschauen, finden sie allmählich „suchend das Bessere“: „Wahrlich nicht von Anfang an haben die Götter den Sterblichen alles enthüllt, sondern allmählich finden sie suchend das Bessere.“ (Fragment 18) Aufklärung und Ent-Täuschung, Freiwerden von falschen und unwürdigen Vorstellungen der Mythen und Götter führten für Xenophanes nicht zum Atheismus, zur Verneinung Gottes und zum Abschied von Gott, sondern zum Fragen und Suchen in Richtung Monotheismus. Die Welt ist für ihn noch nicht wie für viele moderne Menschen total entmythologisiert, entzaubert, zu ihr gehören noch Götter. Das Nachdenken über letzte religiöse Fragen führt ihn zu Mutmaßungen über den „einzigen Gott“: „Ein einziger Gott, unter Göttern und Menschen am größten, weder an Gestalt den Sterblichen ähnlich noch an Gedanken.“ (Fragment 23) 21 Ein anderer früher Weisheitslehrer (Sophist), Protagoras von Abdera ((ca. 481-411 v.Chr.) stellt fest: „Über die Götter allerdings habe ich keine Möglichkeit zu wissen (festzustellen?), weder daß sie sind noch daß sie nicht sind, noch, wie sie etwa an Gestalt sind; denn vieles gibt es, was das Wissen hindert: die Nichtwahrnehmbarkeit und daß das Leben des Menschen kurz ist.“ (Fragment 4) Auch eine an und für sich bestehende letzte Wirklichkeit, der Logos (Vernunft) sowie das Sein, die orientieren könnten, ist für Protagoras nicht erkennbar. Die Konsequenz formuliert der berühmte Satz des Protagoras: „Aller Dinge Maß ist der Mensch, der seienden, daß sie sind, der nicht seienden, daß sie nicht sind. – Sein ist gleich jemandem Erscheinen.“ (Fragment 1) Man kann diesen Satz sehr verschieden lesen, und man hat ihn verschieden gelesen: * Man kann ihn lesen als Einsicht in das begrenzte Wesen des Menschen und als Anerkennung dieser Grenzen: Sinnliche Wahrnehmungen von Menschen unterscheiden sich von denen der Tiere. Wenn Menschen die Welt und die Dinge, den Mitmenschen und Gott erkennen, über sie sprechen und sie darstellen, besitzen sie nur menschliche Erkenntnisse, Aussagen und Darstellungen, keine Erkenntnisse, die uns zeigen, wie das Erkannte selbst wirklich, an sich und für sich ist. Selbst wenn Götter oder Gott uns Menschen etwas offenbaren wollen, müssen sie das Maß, die Erkenntnisgrenzen endlicher Menschen respektieren. * Man kann den Satz des Protagoras aber auch so lesen: Ein gemeinsames den Menschen und menschlichen Gemeinschaften vorgegebenes Maß des Denkens und Handelns gibt es nicht, ist jedenfalls nicht zu erkennen. Menschen besitzen nur verschiedene und entgegengesetzte subjektive Meinungen und Ansichten. Daher kann sich im Leben und Zusammenleben nur der Stärkere und rhetorisch Geschicktere bewähren und durchsetzen. Es ist konsequent, daß all die Theologen und Philosophen, die davon ausgehen, daß Gott das Maß aller Dinge ist und nicht der Mensch oder daß die menschliche Vernunft die den Menschen vorgegebene gemeinsame wahre Instanz und Norm des Guten erkennen kann, den Satz des Protagoras in dieser Lesart als Plädoyer für einen Relativismus der Meinungen und Ansichten sowie für Beliebigkeit und Subjektivismus kritisieren. Von Sokrates (469-399 v.Chr.)wissen wir durch Platon einiges über das Ziel seines Philosophierens mit seinen Mitbürgern, und warum er zum Tod verurteilt worden ist. Sein Ziel war, das Scheinwissen seiner Mitbürger durch Fragen und „sokratische Ironie“ zu entlarven und die Zeitgenossen mit ungelösten letzten sittlichen, rechtlichen, politischen und religiösen Fragen zu konfrontieren, auf die ihnen weder die 22 von den Dichtern geschaffenen Götter und Mythen noch die von Sophisten gelehrten Nutzen und Vorteil kalkulierenden Lebenspraktiken eine überzeugende Antwort geben konnten. „Ich scheine doch wenigstens um ein Kleines weiser zu sein [...], weil ich, was ich nicht weiß, auch nicht zu wissen glaube.“ „Wirklich weise [...] mag der Gott sein und er mag in seinem Orakel dies meinen: die menschliche Weisheit ist wenig wert oder nichts.“ (Platon, Apologie 21D, 23A.) Diese Erkenntnis bedeutet für Sokrates kein Denk- und Sprechverbot über letzte Fragen, z.B. über das, was Menschen nach ihrem Tod erwartet, und hierüber diskutierte er mit seinen Mitmenschen. Es war für Sokrates ein „schönes Wagnis“ (Platon, Phaidon 114D), glaubwürdige Aussagen zu suchen. An Sokrates wird auch deutlich, daß kritische Fragen an die anerkannten Göttervorstellungen und Religionen nicht nur etwas Privates sind, das sich nur in der Innerlichkeit des Herzens und innerhalb der eigenen vier Wände ereignet. Wer bis heute die herrschenden Götter bzw. die Herrschenden, die sich gern als Götter verehren lassen, kritisiert, riskiert oft sein Leben. Sokrates wurde 399 in Athen von einem Gericht durch das Urteil der 501 ausgelosten Richter zum Tod verurteilt. Die Anklage lautete: „Sokrates tut Unrecht; denn er verdirbt die Jugend und glaubt nicht an die Götter, welche die Stadt verehrt, sondern an neue, dämonische Wesen.“ (Platon, Apologie 24B). Rückblickend war es ein Fehlurteil, aber bis heute ist es ein Grundproblem, wie Konflikte zwischen Staat und Religion gewaltlos gelöst werden können. Zwei verschiedene Reaktionen auf das Ende des Mythos und die Krise der Demokratie sehen wir an Kritias (ca. 460-403) und Platon (427-347). Den beiden ist nicht nur der Lehrer Sokrates gemeinsam, sondern auch die Erfahrungen ihrer Zeit: Die traditionellen olympischen Götter können nicht mehr das Denken über Menschliches und Übermenschliches orientieren sowie sittliche und rechtliche Normen und soziale Lebensformen und Institutionen legitimieren. Aber auch die Demokratie war jetzt aus vielen Gründen in die Krise geraten. Der Peloponnesische Krieg und die Oligarchie der „Dreißig Tyrannen“ machten das deutlich. Für Platon wurde vor allem auch durch das Todesurteil gegen Sokrates die Schwäche der Demokratie deutlich. Kritias und Platon suchten eine Alternative zu Mythos und Demokratie. Kritias vertrat folgende These: Am Anfang „war der Menschen Leben ungeordnet und tierhaft und der Stärke untertan“. Um das ungeordnete und gefährliche Leben sicher zu machen, haben die Menschen Gesetze erfunden und durchgesetzt, damit „das Recht Herrscherin sei“. Da Gesetze jedoch nur wirksam waren, indem 23 sie die Menschen „hinderten, offene Gewalttaten zu begehen“, „hat (zuerst) ein schlauer und gedankenkluger Mann die [Götter]furcht den Sterblichen erfunden, auf daß ein Schreckmittel da sei für die Schlechten, auch wenn sie im Verborgenen etwas täten oder sprächen oder dächten.“ (Fragment 25). Götter und Götterfurcht sind also Erfindungen von Menschen. Beides ist in der Politik ein Mittel zur Disziplinierung der „Schlechten“. Religion ist nicht eine Form der Anerkennung und Verehrung übermenschlicher Götter bzw. eines einzigen Gottes, sondern ein erfolgreicher Betrug an den dummen Menschen zur Sicherung und Erhaltung von Rechts- und Machtverhältnissen. Das Argument des Priesterbetrugs in der radikalen Religionskritik der modernen Aufklärung unterstellt der Religion die gleiche Funktion. Wenn man Platons Werke und Argumente als Antwort auf seine Gegenwartsprobleme liest und nicht bzw. nicht nur als Entwicklungsstufen einer sogenannten philosophischen Position, so kann man seine religionsphilosophischen Thesen so zusammenfassen: * Platon kritisiert die Götter der Mythen (frühe Dialoge, z.B. Ion) * Platon entwickelt die Utopie eines von Philosophenkönigen beherrschten und durch die richtige Götterlehre stabilisierten Idealstaates als Alternative zur Demokratie.(Politeia) * Platon sucht nach der Erkenntnis der letzten Wirklichkeit, die den Denkrahmen der Politik übersteigt. Er sucht: (1) das Reich der Ideen, des Seins, des Wesens, (2) das, was jenseits des Seins und des Wesens ist. Ad (1): Die Suche nach dem Reich der Ideen, des Seins, des Wesens. Vor und nach dem Leben des Menschen und unabhängig von Menschen gab und gibt es die übermenschliche letzte Wirklichkeit des Unwandelbaren und Immerseienden. Platon benennt diese letzte Wirklichkeit mit verschiedenen Begriffen (und Übersetzungen verwenden für die einzelnen Begriffe noch einmal verschiedene Worte): das Reich der Ideen, z.B. der Ideen des Wahren, Guten Schönen, Einen, das Reich des Seins oder des Wesens. Ideen sind für Platon keine subjektiven und wandelbaren Ideen oder gar „Ideen“, d.h. Einfälle im Kopf eines einzelnen Menschen, sondern objektive, allen Menschen vorgegebene und ihnen gemeinsame Ordnungen des Seins, an denen sich Menschen in ihrem Denken und Handeln orientieren können und sollen. Die Vernunft, die nicht als eine subjektivprivate, sondern als eine allen Menschen gemeinsame Vernunft gedacht ist, kann nach Platon diese immerseienden Ideen und ihr Wesen erkennen, weil die Seele diese vor ihrer Verbindung 24 mit dem sterblichen Leib des einzelnen Menschen, d.h. vor der Menschwerdung, im Reich der Ideen geschaut hat. Erkenntnis ist, platonisch gedacht, Anamnesis, Wiedererinnerung an früher Geschautes. Die europäische Metaphysik unterstellt – später ohne die Wiedererinnerungslehre -, daß die menschliche Vernunft ein Wissen davon besitzt, was – modern gesprochen – jenseits des empirisch Beobachtbaren und jenseits des wissenschaftlich Erklärbaren liegt, d.h. in der „Über-„ oder „Hinter-Welt“. Ad (2): Die Suche nach dem, was jenseits des Seins und des Wesens ist. Auch Platon weiß wie seine Vorgänger Xenophanes, Protagoras und Sokrates beim Nachdenken über die letzte Wirklichkeit, die auch er nicht selten wie andere Gott nennt, um die Grenzen der menschlichen Erkenntnis und des menschlichen Spechens. Auch für ihn sind Verneinungen daher ein Weg zur Erkenntnis der letzten Wirklichkeit. Platon spricht von „jenseits des Seins“, „jenseits des Einen“. In der Politeia schreibt er z.B.: „So gib auch zu, daß das Erkannte vom Guten nicht nur das Erkanntwerden bekommt, sondern daß es ihm auch sein Dasein und sein Wesen verdankt. Und doch ist das Gute nicht Wesen, sondern es steht noch jenseits des Wesens und übertrifft es an Würde und Macht.“ (Plato, Politeia 509A-B). Im Dialog Parmenides heißt es: “Auf keine Weise also ist das Eins. – Offenbar nicht. – Nicht einmal dergestalt ist es also, daß es Eins ist; sonst wäre es nämlich schon seiend und würde am Sein teilhaben; aber, wie es scheint, ist das Eins weder Eins noch ist es, wenn man unserer Beweisführung Glauben schenken soll. – Ja, es wird wohl so sein. – Was aber nicht ist, könnte da diesem Nichtseienden irgend etwas zugehören oder etwas von ihm stammen? – Wie wäre das möglich? – So gehört ihm also weder ein Name noch eine Aussage, und es gibt von ihm auch kein Wissen und keine Wahrnehmung und keine Meinung. – Offenbar nicht. – Somit läßt es sich weder benennen noch läßt sich von ihm eine Aussage machen noch läßt sich eine Meinung darüber bilden oder eine Erkenntnis davon gewinnen noch irgend etwas wahrnehmen, was zu ihm gehört. – Es scheint nicht.“ (Plato, Parmenides 141E-142A). Neuplatoniker und die patristische Theologie haben in den ersten Jahrhunderten n.Chr. Platons Denk- und Sprechversuche über Gott weiter entwickelt, die durch Verneinungen menschlich-allzu menschlicher Gedanken einen Weg zu Gott suchen. Dionysios Areopagita hat im 5./6.Jh. den Begriff „negative Theologie“ gebildet, der bis heute zu sagen versucht, wie man nicht bzw. wie man über den einen Gott sprechen kann. Über Gott und das Eine, den letzten Grund aller Dinge, schreibt er durch Verneinungen: „Und so ist undenkbar für 25 alles Denken das über dem Denken stehende Eine, und ist unaussprechlich für jederlei Wort das über alle Worte erhabene Gute, [...], der unaussprechbare Geist, das unaussprechbare Wort, das Unsagbare, Undenkbare, Unnennbare, das nicht so ist wie irgendein Wesen, und doch allen Wesen Grund ihrer Wesenheit ist, selbst nichts seiend, weil es jenseits alles Seienden ist, wie es selbst sich wohl am zutreffendsten und am verständlichsten bezeichnen würde.“21 Eine Konsequenz aus diesen Überlegungen zu Sprechversuchen über Gott lautet für Dionysios Areopagita: „So kommt der über allem Seienden Ursache von allem sowohl die Namenlosigkeit zu als auch alle Namen.“ (ebd. 7) Zur späteren Geschichte der negativen Theologie gehören z.B. auch folgende Aussagen von Thomas von Aquin (1225-1274): „Die göttliche Wesenheit übersteigt kraft ihrer Unermeßlichkeit jegliche Form, an die unser erkennender Geist heranreicht. Und so vermögen wir sie nicht zu erfassen, erkennend, was sie sei; wir haben vielmehr nur eine gewisse Kunde von ihr, erkennend, was sie sei.“ „Einzig dann erkennen wir Gott in Wahrheit, wenn wir glauben, daß er über alles hinausliegt, was Menschen über Gott zu denken vermögen.“ (Thomas v. Aquino, Summe gegen die Heiden I, 14; I,5.) „Denn mehr wird für uns offenbar von ihm, was er nicht ist, denn was er ist.“ (Thomas v. A., Summa theologica, I, 1 9 ad 3.) Weniger geläufig als die Existenz einer frühen griechischen Aufklärung dürfte die jüdische Aufklärung sein. Auch sie sucht wie die griechische nach ihrer Kritik unglaubwürdig gewordeneer mythischer Vorstellungen von übermenschlichen guten und bösen Mächten und Geistern in ihrer Welt und Umwelt im Vorderen Orient nach Möglichkeiten, wie Menschen über den einen nicht von Menschen gemachten Gott sprechen bzw. nicht sprechen können und dürfen. Beispiele dafür sind: * In dem Schöpfungsbericht der Priesterschrift (1 Mose 1,12,4) über die Erschaffung der Welt und des Menschen durch den weltunabhängigen Gott sind Sonne und Mond nicht mehr wie für die Umwelt Israels mächtige Gestirnsgötter, sondern bloße „Lichtträger“ zur Erleuchtung von Tag und Nacht, und die mächtigen Seeungeheuer sind keine dämonischen Chaosmächte, Feinde Gottes, sondern seine Geschöpfe. * das Jesajabuch (44,9-20) entlarvt den Selbstbetrug der Menschen ohne „Einsicht und Verstand“, die vor selbstgemachten Göttern niederfallen und ihren Selbstbetrug nicht durchschauen. Sie handeln wie der Holzschnitzer, der den einen Teil seines Holzes für seinen Unterhalt zum Backen von Brot Dionysios Areopagita, Von den Namen Gottes 1, in: Von den Namen zum Unnennbaren, Auswahl und Einleitung von Endre von Ivanka, Einsiedeln 1957. 21 26 und Braten von Fleisch gebraucht und der aus dem anderen Teil sich „einen Gott [macht] und fällt vor ihm nieder, macht einen Götzen und beugt sich vor ihm.“ „Keiner denkt darüber nach,/ keiner hat so viel Einsicht und Verstand, daß er sagt: / ‚Die Hälfte habe ich im Feuer verbrannt / und habe auf den Kohlen Brot gebacken, / habe Fleisch gebraten und gegessen, / und den Rest habe ich zum Greuelbild gemacht, / vor einem Holzklotz beuge ich mich!’ / Wer Asche weidet, / den hat sein betrogenes Herz verleitet. / Er wird sich nicht retten / und sich nicht sagen können: ‚Es ist doch Trug in meiner Hand!’“ (Ein Feuerbach (1804-1872) oder Freud (1856-1939) haben wie der Jesajatext Menschen über die religiösen Projektionen und Illusionen kritisch und selbstkritisch aufklären wollen, freilich haben sie zugleich – bedenkt man die Erfahrungen der Ungeheuerlichkeit des Menschen, wie sie seither offenbar geworden ist- auch neue Illusionen gehegt und genährt über die „Gattung Mensch“ und den „Gott Logos“. Hier kommt es mir nur darauf an, zu zeigen, daß Kritik der Religion sowohl von außen als auch von innen kommen kann; und daß die Kritik von innen für sie lebenswichtig zu sein scheint. Vielleicht auch die Kritik von außen? „Religionskritik in der Neuzeit“ heißt übrigens eine von Michael Weinrich hrsgg. Textsammlung, Gütersloh 1985.) * Das Bilderverbot, das zuerst von Juden formuliert und später auch von Christen und Muslimen anerkannt wurde, das von allen jedoch in ihrer Geschichte oft vergessen oder verharmlost wird, ist bis heute lebendig, auch in der Kunst, Literatur und Philosophie. Das Bilderverbot des Alten Testaments lautet: „Du sollst dir kein Gottesbild machen, keinerlei Abbild, weder dessen, was oben im Himmel, noch dessen, was unten auf Erden, noch dessen, was in den Wassern unter der Erde ist; du sollst sie nicht anbeten und ihnen nicht dienen; denn ich, der Herr, dein Gott, bin ein eifersüchtiger Gott“ (2 Mose 20, 4-5). Und: „Ihr sollt euch keine Götzen machen, und Gottesbilder und Malsteine sollt ihr euch nicht aufrichten, auch keine Steine mit Bildern hinstellen in eurem Lande, um euch davor niederzuwerfen; denn ich bin der Herr, euer Gott“ (3 Mose 26,1). Das Bilderverbot verbietet Juden, Christen und Muslimen , sich von dem unbegreiflichen Gott ein Bild zu machen, Gott und seinen Namen zu mißbrauchen, z.B. zum Zaubern und zur Rechtfertigung von Gewalt und heiligen Kriegen, sowie andere Götter zu verehren und sie um Hilfe und Rettung zu bitten. Bilderverbot heißt nicht Bildersturm und Bilderzerstörung, Denkund Sprechverbot, sondern: Wenn Menschen den nicht darstellbaren und nicht erkennbaren Gott darstellen und über ihn sprechen, weil sie über ihn nicht immer nur schweigen und verstummen können, dann müssen sie dabei zugleich um die Nichtdarstellbarkeit und Namenlosigkeit dieses Gottes wissen, 27 um seine Abwesenheit in seiner Anwesenheit. Das Bilderverbot sprengt durch Verneinungen menschliche, geschichtliche Darstellungs- und Sprechversuche. Das zeigen auch jüngere theologische und philosophische Diskussionen in der Kunst und Literatur nach Auschwitz. Adornos bekanntes Wort: „Nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben ist barbarisch, und das frißt auch die Erkenntnis an, die ausspricht, warum es unmöglich ward, heute Gedichte zu schreiben.“22 (Die Dichtungen von Paul Celan, Rose Ausländer führen über diese Position hinaus.) * Die erschreckende Erfahrung von Übel, Leiden, Tod und Untergang ist auch in der Bibel Anlaß zu religionskritischen Rückfragen an den weltunabhängigen, mächtigen und guten Schöpfergott. Es ist die Situation Hiobs. Seine theologisierenden Freunde denken sich das Verhältnis von Mensch und Gott entsprechend üblichen religiösen Vorstellungen als ein Tauschgeschäft. Wenn sich der Mensch wohl verhält, wird es ihm gut gehen, wenn er leidet, muß er vorher gesündigt haben. Hiob kann in seinem schuldlosen Leiden so nicht aufrichtig sprechen, wenn er sich und die anderen nicht täuschen will („Trug für Gott“ – Hiob 13,7). Gott gibt Hiob auf seine drängenden Fragen keine Erklärung für seine Leiden. Er lobt Hiob jedoch, weil er auch in seinen Fragen und Klagen über die Abwesenheit Gottes auf Gott setzt, und er tadelt wie Hiob dessen Freunde. Eine Überlegung, die sich aus der Kenntnis der griechischen und jüdischen Aufklärung nahelegt, wäre die: Es gab nicht den einlinigen, unumkehrbaren und gemeinsamen Weg vom Mythos zum Logos.23 Schon beim Verständnis des Logos, der Vernunft, trennen sich die Wege. * Meint Vernunft die subjektive, verschiedene, beliebige Vernunft des einzelnen Menschen, oder meint sie die gemeinsame Vernunft aller Menschen? * Ist Vernunft der Name für die göttliche Macht, die die immerseiende Welt schön gestaltet und leitet (Kosmos) oder der Name für einen weltunabhängigen göttlichen Schöpfer, der das vorgegebene Chaos und Unheil in seiner Schöpfung überwinden will? * Denkt Aufklärung in Richtung Atheismus oder in Richtung Monotheismus? 22 Th.W.Adorno, Prismen. Kulturkritik und Gesellschaft, München 1963, 26.(Theodor W. Adorno, 1903-1969, Vertreter der Kritischen Theorie der Frankfurter Schule.) Vgl. Wilhelm Nestle, Vom Mythos zum Logos. Die Selbstentfaltung des griechischen Denkens, Stuttgart 1940). 23 28 1.3.2 Statt eines vollständigen Abrisses der Geschichte der Religionsphilosophie: eine Leseliste der Primärliteratur Aurelius Augustinus, De vera religione (389-391) Dionysius Areopagita, Über die göttlichen Namen (6.Jh.n.Chr.) Anselm von Canterbury, Proslogion (1077/1078) Thomas von Aquino, Summe der Theologie (1266-1273) Meister Eckhart, Deutsche Predigten und Traktate (Anf. 14.Jh.) Nikolaus von Kues, Über die belehrte Unwissenheit (1440) Blaise Pascal, Gedanken über die Religion und einige andere Gegenstände (1669) Baruch de Spinoza, Theologisch-politischer Traktat (1670) John Locke, Die Vernünftigkeit des biblischen Christentums (1695) Gottfried Wilhelm Leibniz, Die Theodizee von der Güte Gottes, der Freiheit des Menschen und dem Ursprung des Übels (1710) David Hume, Dialoge über natürliche Religion (1751-1761) Johann Gottlieb Fichte, Versuch einer Kritik der Offenbarung (1792) Immanuel Kant, Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft (1793) Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher, Über die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern (1799) Johann Gottlieb Fichte, Die Anweisung zum seligen Leben (1806) Friedrich Wilhelm Joseph Schelling, Untersuchungen über das Wesen der menschlichen Freiheit und die damit zusammenhängenden Gegenstände (1809) Georg Friedrich Wilhelm Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Religion (1827) Ludwig Feuerbach, das Wesen des Christentums (1841) Friedrich Wilhelm Joseph Schelling, Philosophie der Offenbarung (1841/1842) Sören Kierkegaard, Philosophische Bissen (1844) Sören Kierkegaard, Einübung im Christentum (1850) Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra (1883ff.) William James, Die Vielfalt religiöser Erfahrung (1902) Max Weber, Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus (1904/1905) Émile Durkheim, Die elementaren Formen des religiösen Lebens (1912) Rudolf Otto, das Heilige. Über das Irrationale in der Idee des Göttlichen und sein Verhältnis zum Rationalen (1917) Max Scheler, Vom Ewigen im Menschen Sigmund Freud, Die Zukunft einer Illusion (1927) Henri Bergson, Die beiden Quellen der Moral und der Religion (1932) Alfred Jules Ayer, Language truth and logic (1936) Leo Schestow, Athen und Jerusalem. Versuch einer religiösen 29 Philosophie (1937) Ludwig Wittgenstein, Vorlesungen über den religiösen Glauben (1938) Simone Weil, Das Unglück und die Gottesliebe (1942) Martin Heidegger, Die ontotheologische Verfassung der Metaphysik (in: Identität und Differenz. GA, I.Abt,Bd.11) Gerschom Scholem, Die jüdische Mystik in ihren Hauptströmungen (1957) Paul Ricoeur, Die Fehlbarkeit des Menschen (Endlichkeit und Schuld I) (1960) Karl Jaspers, Der philosophische Glaube angesichts der Offenbarung (1962) Georges Bataille, Theorie der Religion (1974) Niklas Luhmann, Funktion der Religion (1977) Hans Blumenberg, Arbeit am Mythos (1979) Emmanuel Lévinas, Wenn Gott ins Denken einfällt. Diskurse über die Betroffenheit von Transzendenz (1982) Hans Jonas, der Gottesbegriff nach Auschwitz. Eine jüdische Stimme (1987) Gianni Vattimo, Glauben – Philosophieren (1996) 1.3.3 Einige Beispiele Wenn ich eine Handvoll Religionsphilosophen als Beispiele herausgreifen soll, müßte ich unbedingt für das erste jahrtausend unserer Zeitrechnung Augustinus wählen; ich hebe ihn mir aber für später auf. Auch Dionysius und Boethius lasse ich weg. Vielmehr beginne ich mit der mittelalterlichen Persönlichkeit: Anselm von Canterbury24 (1033/34-1109, aus Aosta, Schüler Lanfrancs und 1063 als dessen Nachfolger Prior des Klosters Bec in der Normandie, 1078 Abt daselbst, 1093 Erzbischof von canterbury, im Kampf um die Rechte der Kirche zweimal verbannt.) Bei Anselm hat die Philosophie apologetische Funktion. Philosophieren und Glauben sind für ihn zwar nicht dasselbe, aber alles, was der Gläubige mittels der Offenbarung kennenlernt, kann hinterher auch mit Hilfe der Vernunft bewiesen werden. Ein Kernsatz der Lehre Anselms war ja: „Credo, ut intelligam“, ich glaube, damit ich auch (philosophisch) verstehen kann. Anselm folgte in vielerlei Hinsichten Augustin und stand damit in der platonischchristlichen Tradition. Das schloß u.a. ein, daß er noch nicht wie die von Aristoteles beeinflußten Denker eine Aktivität der Vernunft akzeptierte, die sich autonom, ohne Hilfe der Gnade, entfalten konnte. Die Vernunft bedarf bei Anselm der Erleuchtung des Heiligen Geistes, um wirklich funktionieren zu Nach Hubertus G.Hubbeling, Einführung in die Religionsphilosophie, Göttingen 1981, 17ff. 24 30 können. Und das trifft nicht nur für die Erkenntnis der übernatürlichen Tatbestände zu, dem würden auch die christlichen Aristoteliker zustimmen, sondern gleichfalls für die Erkenntnis der natürlichen Tatsachen. Daher das Motto: ich muß zuerst glauben, um philosophisch verstehen zu können. Viele Interpreten, zu denen in erster Linie der schweizerische Theologe Karl Barth zu zählen ist, sehen deshalb auch keinen Unterschied zwischen Anselms Philosophie und Theologie. Alles sei bei Anselm nur Theologie. Bei genauerer Betrachtung seiner Argumentation zeigt sich aber, daß Anselm sehr sorgfältig das Kriterium für die Unterscheidung von Theologie und Philosophie beachtet. Zwar erkennen wir vieles zuerst mittels der Offenbarung: die Existenz Gottes, die Trinität, die Erlösung durch das Leiden und Sterben Jesu Christi usw. Aber alle diese Sachverhalte sind dann hinterher auch mittels der Vernunft, remoto Christo (abgesehen von Christus), zu beweisen. Und bei dieser Beweisführung beruft Anselm sich nicht auf die Schrift oder auf eine durch eine kirchliche Autorität gewährleistete Tradition. Im Gegensatz zu dem, was später Thomas von Aquin verteidigt, ist Anselm der Meinung, daß alle in der Schrift und in der Tradition geoffenbarten Wahrheiten von der Vernunft nachträglich auch bewiesen werden können. Bei Thomas trifft dies nur für einen Teil der geoffenbarten Wahrheiten zu. Anselm ist wegen seines ontologischen Gottesbeweises bekannt geworden. In diesem Beweis wird die Existenz Gottes aus dem Begriff von Gott als einem Wesen, im Vergleich zu dem Größeres nicht gedacht werden kann, abgeleitet. Zuvor hatte Anselm schon die mehr traditionellen kosmologischen Gottesbeweise entfaltet. Hierbei wird aber die Existenz Gottes in dieser oder jener Weise aus der Existenz der Welt oder etwas Welthaftem abgeleitet. Anselm fand diesen Gedanken unerträglich, weil nach seiner Auffassung Gott damit irgendwie als von der Welt abhängig gedacht wird. Er ruhte nicht, bevor er nach einigen schlaflosen Nächten einen Beweis gefunden hatte, bei dem nicht aus der Welt oder etwas Welthaftem, sondern ausschließlich aus Gott selbst, nämlich aus dem Begriff Gott, seine Existenz gefolgert werden konnte. Wie sehr jedoch hierbei der Denker und der Gläubige eine Person bleiben, mag die Tatsache zeigen, daß Anselm seinen Beweis in die Form eines Gebetes einkleidet. Als literarische Form für einen Gottesbeweis ist dies völlig einmalig! Nikolaus von Kues 25 (de Cusa, Cusanus, am Ende des Mittelalters, und schon der Renaissance zuzurechnen: 1400/01-1464, Sohn eines Moselschiffers, in Heidelberg, Padua und Köln vielseitig ausgebildet, influßreicher Teilnehmer am Basler Konzil, an den Unionsverhandlungen mit Ostrom und an mehreren Nach Jens Halfwassen, Nikolaus von Kues über das Begreifen des Unbegreiflichen. (Manuskript, Publikation in Vorber.) 25 31 Reichstagen und Synoden, von den Päpsten oft mit der Durchführung von Missionen und Reformen beauftragt, 1448 Kardinal, 1450 Bischof von Brixen. Seine kirchenpolitischen Schriften (De concordia catholica, De pace fidei, De auctoritate praesidendi in concilio generali u.a.) sind von dem Strben nach Einheit und Versöhnung getragen. Als unermüdlich forschender Geist befaßte er sich auch mit mathematisch-naturwissenschaftlichen Fragen, wobei er die Grundlage der Integralrechnung schuf und zur Erkenntnis der Achsendrehung der Erde kam.) Nikolaus von Kues, der bedeutendste und kraftvollste Denker der Renaissance, bestimmt Philosophie als das Begreifen des Unbegreiflichen. Denn Philosophie ist seit ihren griechischen Anfängen die denkende Suche nach dem Absoluten, das Grund und Ursprung alles Wirklichen ist. Weil das Absolute für Nikolaus aber über alles Begreifen hinaus ist, darum kann die denkende Suche nach ihm nur im Begreifen des Unbegreiflichen gelingen. Cusanus steht damit in der Tradition des Neuplatonismus, der die Theorie des Absoluten in der Form der negativen Theologie ausgebildet hat. Grundlegend für die neuplatonische Form der negativen Theologie ist die Einsicht in die reine Transzendenz des Absoluten, das nicht nur alles Sein, sondern in einem damit auch alles Erkennen übersteigt. Darum nähert sich das Denken dem transzendenten Absoluten auch nicht begreifend, sondern gerade umgekehrt durch die Aufhebung alles Begreifens, nämlich dadurch, daß es das Absolute durch Verneinungen aus all jenen Bestimmungen herausnimmt, in denen das Denken das Seiende begreift. Damit wird das begreifende Denken aber nicht vernichtet, sondern es begreift gerade durch die Verneinung seiner eigenen Positivität die Transzendenz über alles Begreifen. Pseudo-Dionysius Areopagita, der für Cusanus neben Proklos der wichtigste Anreger überhaupt war, nannte dies ein "Wissen durch Nichtwissen" (gnôsis di’ agnosías, De divinis nominibus VII § 4), das alles positive Wissen übersteigt. Johannes Eriugena, ebenfalls einer der wichtigsten Anreger des Cusanus, hatte vom "Begreifen des Unbegreiflichen" gesprochen (De divisione naturae III 4). Nikolaus nimmt diese neuplatonischen Formeln schon im Titel seiner ersten philosophischen Schrift auf, deren Thema das "wissende Nichtwissen", die docta ignorantia ist. Deren Aufgabe ist es, wie gleich zu Anfang betont wird, das Absolute in seinem Hinaussein über alle Gegensätze "auf nichtbegreifende Weise einzusehen" (incomprehensibiliter intelligere).26 Cusanus verbindet damit schon in der Docta ignorantia das Programm einer Philosophie des Christentums, die sich nicht auf den subjektiven Glaubensvollzug, sondern auf die spekulative Vernunft stützt. Ihr Ziel ist es, die zentralen Inhalte der christlichen Offenbarung -- die Begründung der Welt durch das göttliche Eine, die dreifaltige Einheit Gottes und seine Menschwerdung in Christus -- aus dem spekulativen Tiefblick der Vernunft denkend einzusehen. Nikolaus folgt mit diesem Programm Meister Eckhart, der 1328 in Avignon als Ketzer verurteilt wurde; Cusanus wurde 120 Jahre später, 1448, Kardinal und wäre beinahe Papst geworden. Benedictus (Baruch) de Spinoza 26 27 27 De docta ignorantia I cap. 4 Titel; cap. 5, 13, Z. 3. Nach H.G.Hubbeling, Einführung in die Religionsphilosophie. Göttingen 32 (1632-1677. Als Sohn portugiesisch-jüdischer Eltern in Amsterdam geboren, wohin diese wegen der großen Religionsfreiheit in den Niederlanden ausgewandert waren. Talmudschule; seine lateinischen und sonstigen Kenntnisse verdankte er einem Ex-Jesuiten. Eintritt in das Geschäft des Vaters, gleichzeitig intensive Weiterbildung in gelehrten Kreisen. Verbannung aus der Synagoge 1656, wohl wegen der kompromißlosen philosophischen Haltung. Die Unversöhnlichkeit gründete wohl darin, daß Spinoza Religion in ritueller Gesetzeserfüllung nicht anerkannte, wie sich auch noch seinem Theologisch-politischen Traktat entnehmen läßt. Er mußte das Geschäft aufgeben und verdiente seinen Lebensunterhalt (falls das überhaupt nötig war) durch Linsenschleifen, was damals freilich noch als hochgeschätzte Kunstfertigkeit im Dienst wissenschaftlicher Geräteherstellung galt. Er lebt teils zurückgezogen, teils in Verbindung mit christlichen Gruppierungen wie den sog. Kollegianten, deren Auffassungen von Toleranz, Gesinnungsfreiheit er nahestand. Der Untertitel des Theologisch-politischen Traktats zeigt es: ....) Ein Denker, der Philosophie und Religion trennt, wobei Religion deutlich sekundäre Bedeutung hat. Die biblische Offenbarung hat nur den Zweck, die Menschen Tugend und Gehorsam zu lehren, insoweit sie nämlich noch nicht imstande sind, sich durch die Leitung der Vernunft führen zu lassen. Der vernünftige, philosophische Mensch ist aber sich selbst genug und braucht die Hilfe der Offenbarung nicht. Das bedeutet freilich nicht, daß Gott im Denken Spinozas keine Rolle spielt. Im Gegenteil! Gott ist bei ihm das Zentrum der Philosophie wie später bei Hegel. Der Gottesbegriff Spinozas ist aber rein philosophisch, der theologische Gottesbegriff hat nur Bedeutung für die große Menge, die nicht philosophisch geschult ist. Nicht alle Menschen sind ja imstande, den hohen philosophischen Gedanken zu folgen und deshalb haben sie einen moralischen Halt am biblischen Gottesbegriff. Aber auch mit Hilfe dieses Begriffs kann der Mensch lernen, ein glückliches und harmonisches Leben zu führen. Von einer Bekämpfung der Religion ist bei ihm also nicht die Rede. Auch dürfen wir philosophisches Denken bei Spinoza nicht zu intellektuell auffassen. Spinoza kannte drei Erkenntniswege. Der erste Weg ist derjenige der Erfahrung. Dieser führt nur zu oberflächlicher Erkenntnis. Der zweite Weg ist der Weg des Verstandes. Er besteht aus guter Sachkenntnis mit Hilfe von klaren Definitionen und Axiomen und einer deutlichen Beweisführung. Der dritte Weg dagegen ist der beste Weg, obwohl er schwierig und selten ist. Er ist der Weg der Intuition, der Weg der unmittelbaren Gotteserkenntnis. Aber im Prinzip steht dieser Weg jedem offen. Alles ist nach Spinoza in Gott und geht auch notwendig aus ihm 1981, 34ff. 33 hervor. Von der unendlichen Zahl der Attribute Gottes (=seiner Eigenschaften), kennen wir nur zwei, und zwar das Denken und die Ausdehnung. Die Dinge dieser Welt sind Modi, d.h. sie sind Seinsweisen der göttlichen Attribute. So ist der Mensch aufgebaut aus Leib und Seele. Ersterer ist ein Modus des Attributs Ausdehnung, letztere ist ein Modus des Attributs Denken. Es gibt keine direkte Beeinflussung von der Seele auf den Leib oder umgekehrt. Es gibt aber einen Parallelismus zwischen beiden, der in einem Parallelismus der beiden göttlichen Attribute begründet ist. Man kann mit einem bekannten Bild diesen Tatbestand erläutern, indem wir beide sehen als zwei Zifferblätter einer Uhr. Spinoza versteht es, sein System klar und deutlich zu entfalten mit Hilfe seiner geometrischen Methode, die wir heutzutage eher als axiomatische Methode bezeichnen würden. Er war jedoch kein kalter Rationalist, der für die Lebensprobleme der Menschen keinen Blick hatte. Es ging ihm um das konkrete, menschliche Lebensglück, das erreicht wird, wenn der Mensch sein Leben und die Welt „sub specie aeternitatis“ betrachtet, d.h. unter dem Gesichtspunkt der Ewigkeit, so daß er einsehen lernt, daß alles mit Notwendigkeit aus Gott kommt. Interessant ist bei Spinoza das Verhältnis zwischen Gott und den ewigen logischen Gesetzen (Wahrheiten). Im 17. Jh. war dies ein wichtiges Problem und eigentlich ist es das noch. Descartes meinte, daß Gott die ewigen Wahrheiten und also auch die logischen Gesetze geschaffen habe. Sie hätten also auch anders sein können. Für Leibniz dagegen sind die logischen Gesetze universell gültig und gelten auch für die göttliche Welt. Gott ist dann auch diesen Gesetzen unterworfen. Spinoza ist der tiefsinnigste unter ihnen. Bei ihm sind diese logischen Gesetze Gedanken von Gott selbst und drücken sein Wesen aus. Keineswegs aber ist Gott diesen Gesetzen unterworfen. Einen ähnlichen Standpunkt nimmt er ein in bezug auf die alte Frage nach dem Verhältnis von Gott und dem Guten. Nach den Skotisten war etwas gut, weil Gott es so gewollt hat, ein Standpunkt, der eine Ähnlichkeit mit Descartes aufweist. Einen mehr leibnizianischen Standpunkt nehmen die Thomisten ein: Gott will etwas, weil es gut ist. Auch hier behauptet Spinoza: Gott ist das Gute, oder besser in seiner eigenen Sprache: Gott ist die Perfektion. Gotthold Ephraim Lessing 28 (1729-1781) G.E.Lessing ist Symbolgestalt der Neuzeit. Das gilt für die Literaturgeschichte wie für Theologie und Philosophie. Er hat über das hinausgewirkt, was literarisch und denkerisch in Nach Klaus Kienzler, Der garstige Graben zwischen Vernunft und Offenbarung. In: A.Halder / K.Kienzler / J.Möller (Hrsg.), Auf der Suche nach dem verborgenen Gott. Zur theologischen Relevanz neuzeitlichen Denkens. Düsseldorf 1987, 35-54. 28 34 seinem Werk objektiv vorliegt. Wirkungsgeschichtlich kann für die Theologie wie für die Philosophie zur Bedeutung Lessingsgesagt werden: „Fragt man, wo der Umschlag zwischen Leibniz und Hegel erfolgt sei, läßt sich darauf exakt antworten: im Fragmentenstreit (1778-1780 zwischen Lessing und seinen Kontrahenten aus allen theologischen und philosophischen Lagern geführt). Er ist das grundstürzende Ereignis in der Theologiegeschichte des 18. Jahrhunderts. Seit 1780 ist Gott tot. Von da an herrscht in Deutschland Göttertrauer, der Schmerz der nordischen Welt, das protestantische Leid der entbehrten Einheit von Glauben und Wissen, wie man es aus Hölderlin, Schlegel, Novalis oder Hegel kennt. Die aporetische Situation, in der jene sich vorfinden, ist erst ein Jahrzehnt zuvor entstanden. Älter ist das Zeitbedürfnis nicht, auf das hin die soteriologische Selbstdefinition der romantisch-idealistischen Religionsphilosophie: Heilung, Versöhnung eines zeitgeschichtlichen Widerspruchs zu sein, erfogt. Lessing und Reinhold sind die ersten gewesen, die ihre theoretische Aktivität in dieser Weise als Evangelium des Geistes begriffen haben. Sie wissen sich antithetisch motiviert durch die Todesmacht eines Gesetzes, eines Buchstabens: den philosophischwissenschaftlichen Atheismus der unmittelbaren Gegenwart.“ 29 Windelband bestimmte das Wesen der Aufklärung als den Prozeß der Vernunft gegen die Geschichte. Und das Problem der Geschichte wurde den Aufklärern zunächst im Umkreis der religiösen Phänomene sichtbar. Die christliche Religion gründete sich ja auf eine historisch reklamierte Offenbarung. Geschichte und historische Begründung fielen aber ganz und gar aus den rationalen Organisationsgesetzen der idealen Vernunft heraus. Deshalb der erbitterte Kampf der frühen Aufklärung gegen die christliche Religion in Form radikaler Kritik; deshalb aber wurde auch die Geschichte zu dem Grundproblem der Aufklärung. Lessings geistiger Standort muß in dieser Zeitsituation angesiedelt werden. Lessings größtes Verdienst ist wohl die Diagnose der neuen Zeit und die Erkenntnis ihrer Anforderungen. Sein wohl berühmtestes Diktum trifft genau in das Herz dieser Zeit: „Wenn keine historische Wahrheit demonstriert werden kann, so kann auch nichts durch historische Wahrheiten demonstriert werden. Das ist: zufällige Geschichtswahrheiten können der Beweis von notwendigen Vernunftswahrheiten nie werden.“ 30 Geschichte wird also als das Grundproblem der Zeit erkannt. Aber es handelt sich nicht um das friedliche Gespräch über die H.Timm, Gott und Freiheit. Studien zur Religionsphilosophie der Goethezeit. Bd.1: Die Spinozarenaissance. Frankfurt a.M. 1974, 22f. 30 G.E.Lessing, Über den Beweis des Geistes und der Kraft, 3, 309 (Werke in 3 Bänden, hrsg.v. K.Wölfel, Frankfurt 1967). 29 35 Wahrheit von Geschichte, sondern mit den Geschichtswahrheiten steht nichts Geringeres als das ganze Gebäude der christlichen Offenbarungen auf dem Spiel. Der Dolch wird gegen das Herz der historischen Offenbarungsreligion geführt: Da in der Zeit ein Einverständnis darüber besteht, daß historische Wahrheiten schlechthin nicht bewiesen werden können und sie somit zufällig sind, so ergibt sich notwendigerweise der folgenreiche Schluß, daß historische Wahrheiten auch nie und nimmer zur Begründung der christlichen Wahrheit genügen können. Im Gegenüber zu den erkannten Notwendigkeiten der Zeit fällt die christliche Wahrheit auf die Stufe von Zufälligkeiten ab. Es liegt Lessing aber fern, allein auf dem kritischen Standpunkt zu verharren. Der nächste Schritt wäre Religionsbegründung; es wäre der Mut, nach der Grenzziehung Neues zu wagen. Ohne Zweifel war Lessing auf ein neues Verständnis von Religion und Offenbarung aus. Wie dieses neue Religionsverständnis jedoch zu konzipieren wäre, ist bei ihm weniger deutlich ausgesprochen; es ist nur zu vermuten; er hält jedenfalls weder die historische Methode noch die rationalistische Methode für geeignet für das neue Verständnis. Die optimistische Aufklärungsphilosophie hat sich vorwiegend mit dem Standpunkt der Religionskritik begnügt. G.E.Lessing geht in dieser Tendenz nicht auf. Aber das Moment der Religionskritik hat er durchaus von der Aufklärung übernommen. Er hat es für seine eigene Diagnose der Religion eingesetzt. Religionskritik ist für ihn die notwendige Selbstreinigung der Religion. Durch die Religionskritik wird die Religion einem Selbstreinigungsprozeß unterzogen, der ihre Grenzen hervortreten läßt, aber ihr auch eine neue Sicht gewährt, wo ihre eigentlichen Möglichkeiten ruhen. Für Lessing gehört das kritische Moment wesentlich in den Bereich der Aufgaben einer nötigen Religionsphilosophie. Die Grundunterscheidung von „Religion“ und „Geschichte“ bleibt für Lessing die wichtigste. Wie es weitergeht, wird in den „Axiomata“ mehr genannt als ausgeführt. Mit seinen eigenen Worten: „Bei mir bleibt die christliche Religion die nämliche, nur daß ich die Religion von der Geschichte der Religion will getrennt wissen. Nur daß ich mich weigere, die historische Kenntnis von ihrer Entstehung und Fortpflanzung und eine Überzeugung von dieser Kenntnis, die schlechterdings bei keiner historischen Wahrheit sein kann, für unentbehrlich zu halten. Nur daß ich die Einwürfe, die gegen das Historische der Religion gemacht werden, für unerheblich erkläre, sie mögen beantwortet werden können oder nicht. Nur daß ich die Schwächen der Bibel nicht für Schwächen der Religion halten will. Nur daß ich die Prahlerei des Theologen nicht leiden kann, welche dem gemeinen 36 schon längst Hermeneutiker Manne weismacht, jene Einwürfe wären alle beantwortet. Nur daß ich den kurzsichtigen verschmähe...“ 31 Es sind also neben der Unterscheidung von Religion und Geschichte der Religion die Unterscheidungen von Religion und Bibel, von Geist und Buchstabe, von innerer Wahrheit und hermeneutischer Wahrheit wichtig. An Lessings „Nathan“ kann man am schönsten sehen, was das Neuartige seiner Bemühungen ist: Es beginnt eine Besinnung auf das, was Religion in sich ist, was das Phänomen und das Wesen der Religion bedeutet, die vor ihm ihresgleichen sucht. Religion ist nicht mehr allein von der geschichtlichen Entwicklung einer konkreten Religion her zu verstehen, sondern es bedarf zu ihrer Vergewisserung ganz anderer und neuer Anstrengungen. Es geht ihm um die Sammlung aller Anstrengungen, für die moderne Zeit den „Beweis des Geistes und der Kraft“ zu führen. In den Jahrzehnten nach Lessing rückte die spekulativphilosophische Weise der Religionsbegründung immer mehr in den Vordergrund, um bei G.W.F.Hegel ihren Höhepunkt zu erreichen. Hegel hält dem „historischen“ Glauben den „Geist“ der Religion entgegen: „Die absolute Entstehungsweise aus der Tiefe des Geistes und so die Notwendigkeit, die Wahrheit dieser Lehren, die sie auch für unseren Geist haben, ist bei der historischen Behandlung auf die Seite geschoben ... Die Geschichte beschäftigt sich mit Wahrheiten, die Wahrheiten waren, nämlich für andere, nicht mit solchen, welche Eigentum wären derer, die sich damit beschäftigen. Mit dem wahrhaften Inhalt, mit der Erkenntnis Gottes haben es jene Theologen gar nicht zu tun.“ 32 „Die Vernunft ist der Boden, auf dem die Religion allein zu Hause sein kann ... Der Boden der Religion ist insofern dies Vernünftige und näher das Spekulative.“ 33 Mit dem Scheitern dieser spekulativen Philosophie ist die religionsphilosophische Aufgabe, die Lessing gestellt hat, noch keineswegs zu Ende. Sören Kierkegaard griff ebenfalls auf Lessing zurück. Mit Recht gilt Lessing als Vater der neueren Religionsphilosophie. Ludwig Wittgenstein 34 (1889-1951) In diesem originellen Denker vollzog sich die Wendung zur Sprache. Die Philosophen vor Wittgenstein analysierten in erster Linie das menschliche Bewußtsein. Im Gefolge G.E.Lessing, Axiomata, 3, 442. G.W.F.Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Religion, Werke in 20 Bden, hrsg. v. E.Moldenhauer u. K.M. Michel, Frankfurt a.M. 1970, 16, 48. 33 Ebd. 16, 196. 34 Nach G.Hubbeling, Einfürung in die Religionsphilosophie, Göttingen 1981, 40f. 31 32 37 Wittgensteins nehmen nun aber viele Philosophen die Sprache zum Ausgangspunkt. In seiner ersten Periode, der Periode des „Tractatus logico-philosophicus“, lehrte Wittgenstein, daß wir in der Sprache die Wirklichkeit abbilden. Sollen aber unsere Aussagen kognitiv sinnvoll sein, dann müssen sie, wenigstens im Prinzip, empirisch verifizierbar sein. Aussagen, bei denen dies nicht möglich ist, sind nach ihm daher sinnlos. Hierzu gehören die ästhetischen, mathematischen und logischen, einschließlich der Aussagen in „Tractatus“. Hieraus geht klar hervor, daß der Begriff „Sinn“ bei Wittgenstein eine besondere Bedeutung hat, eben die Bedeutung von „empirisch verifizierbar“. Der Wiener Kreis, der sich die Gedanken Wittgensteins dankbar aneignete, betrachtete die mathematischen, logischen und einige philosophische Aussagen doch als sinnvoll. Das Sinnlose war aber für Wittgenstein nicht unbedeutend. So schrieb er an Russell, daß seine Arbeit aus zwei Teilen bestehe, aus dem, was darin gesagt werde und also sinnvoll sei, und aus dem, was nicht gesagt, sondern nur gezeigt werde. Das letztere sei das Mystische. Es war immer die Frage in der Wittgenstein-interpretation, ob man dieses Mystische religiös interpretieren dürfe oder nicht. Neues Material aus der Zeit der Entstehung weist deutlich auf eine religiöse Interpretation hin, vorausgesetzt, daß man dabei nicht an eine christliche Interpretation denkt. Wir können über Gott nicht reden; er zeigt sich aber in der Welt und in der Sprache. In einer „Lecture on Ethics“ spricht Wittgenstein davon, daß er in seinem Leben angerührt worden sei von einigen Mysterien, über die er nicht sprechen, doch die er andeuten könne. Zu diesen Mysterien gehörte die Existenz der Welt: Warum gibt es überhaupt etwas, warum ist da nicht vielmehr nichts? Er erlebte auch nach seiner Aussage ein zweites Mysterium, nämlich die tiefe Gewißheit, daß nichts ihm mehr etwas anhaben konnte, daß er geborgen sei, was auch geschehen möge. Aber diese Dinge ließen sich eben nicht in Worten ausdrücken. In seinen späteren Arbeiten hat Wittgenstein eine erweiterte Auffassung von der Sprache. Er kennt nun verschiedene Sprachspiele, unter denen auch ein religiöses Sprachspiel möglich ist. Diese Sprachspiele und Lebensformen, sie sind Gestalten der Kultur. Wittgenstein weist weiter darauf hin, daß eine religiöse Aussage in bejahendem Sinne wie „Ich glaube an ein ewiges Urteil“ auf einer ganz anderen Ebene liegt als ihre Negation „Ich glaube nicht an ein ewiges Urteil“. Erstere Aussage bringt eine ganze Lebenshaltung und einen gewissen Lebensstil hervor, die zweite Aussage dagegen nicht. Dies erinnert an Karl Barth, für den auch Glaube und Unglaube nicht auf derselben Ebene liegen. Wittgenstein war kein ausgesprochen religiöser Denker, aber er hatte einen tiefen Respekt vor der Religion (wie er selbst sagte) und er hatte (wie sein Freund und Biograph Malcolm sagte) „eine Möglichkeit für Religion“. 38 1.4 Zur gegenwärtigen Situation der Religionsphilosophie Vor 10 Jahren habe ich an dieser Stelle gesagt: Die gegenwärtige Situation der Religionsphilosophie ist am zutreffendsten mit dem Ausdruck "Krise" umschrieben. Heute möchte ich feststellen, daß es deutliche Zeichen einer gegenläufigen Tendenz gibt, so daß das Wort von der Krise zwar immer noch stimmt, aber doch in anderem Licht erscheint. Warum Krise? Zu den allgemeinen Emanzipationsund Säkularisierungsprozessen, die man nicht nur auf Humanismus und Reformation, sondern noch weiter auf die sog. „Revolution aus Rom“ (F.Heer), sprich die Aufspaltung des Christentums in ein Klerus- und ein Laienchristentum schon im Mittelalter zurückführen kann, kam am Ende des 19.Jh. die radikale These Nietzsches vom Tod Gottes als Chiffre für die Unglaubwürdigkeit der religiösen Transzendenz. Es kam im 20. Jahrhundert die Position des radikalen Sinnlosigkeitsverdachts gegenüber metaphysischen und theologischen Aussagen in der Wissenschaftstheorie des Wiener Kreises, repräsentiert durch Carnap und Neurath, der ersten Phase der analytischen Philosophie. Die Krise ist aber eine allgemeine und betrifft nicht nur die Religionsphilosophie. Wissenschaft und traditionelle Metaphysik haben weitgehend ihre Überzeugungskraft als Instrumente der Kontingenzbewältigung eingebüßt. 35 Die Gespräche in Castelgandolfo, die Papst Johannes Paul II. alljährlich mit hochrangigen Wissenschaftern führte, hatten 1986 als Thema: "Über die Krise". 36 Gemeint war ein allgemeines Krisenbewußtsein. In der Zeit allgemeiner Orientierungslosigkeit wird die religiöse Praxis wiederentdeckt. Dabei ist man nicht immer wählerisch. Siehe die Schaufenster der Buchhandlungen mit esoterischer Literatur. Im Grunde ist der Aberglaube immer schon der Schatten der Religion. Zu diesem Thema hat Spinoza Wesentliches gesagt. (Zitat aus dem Traktat) Und die Versuchung zum Rückfall in unkritische Sinnsuche ist schon Begleiterin der Philosophie von I. Kant. (Swedenborg) Kant ist ein Leuchtturm abendländischer Rationalität; er hat sich gegen zwei Versuchungen gewandt: den „dogmatischen Trotz“ und die „skeptische Verzweiflung“. Kurt Wuchterl stellt für heute fest: „Auf der einen Seite entdecken wir eine geradezu inflationäre Verwendung des Kontingenz (von contingere) – Bedingtheit alles Seienden, das nicht wie allein Gott – aus eigener „Wesensnotwendigkeit“ existiert. 36 Über die Krise. Castelgandolfo-Gespräche 1985, hrsg. v. Krzysztof Michalski, Stuttgart, Klett-Cotta, 1986. 35 39 Sinnbegriffs, in der sich eine kritiklose, ‚neue Religiosität’ manifestiert, die allen Säkularisierungsund Aufklärungsbewegungen der beiden letzten Jahrhunderte hohnspricht; auf der anderen Seite beobachtet man eine bis ins Zynische verfremdete Skepsis, die sich über die unvereinbaren Formen der bisher ‚erzählten Geschichten’ hinweg zu einem verklärt-neutralen postmodernen Bewußtsein erhebt.“37 Eine interessante Position ist die von Heinz Robert Schlette. Schlette will auf den Titel "Religionsphilosophie" aus traditionellen, sprachlichen und pädagogischen Gründen nicht verzichten, grenzt sich aber durch das Epitheton "skeptisch" von allen systematischen und optimistischen Bestrebungen ab. Religionsphilosophie ist ihm keine philosophische Disziplin, die in einer bestimmten Kapitelfolge perfektionistisch abgehandelt werden kann, sondern eine Form des Fragens, dem der Gegenstand abhanden gekommen scheint, obgleich die alten Wörter noch im Umlauf sind. 38 Skepsis ist für Schlette die notwendige Einstellung dessen, der auf Grund der geschichtlich vermittelten Ebene gegenwärtigen Philosophierens sich Klarheit zu verschaffen sucht. Eine Hauptthese Schlettes ist, daß skeptische Religionsphilosophie, wie sie (im Zusammenhang mit Aporetik und Hermeneutik) heute immer noch verantwortbar zu sein scheint, immer auch Kritik der Pietät bedeutet. 39 Schlette: "Über die metaphysischen "Inhalte" Gott, Freiheit, Unsterblichkeit läßt sich philosophisch mit dem Anspruch auf Wahrheit und Sicherheit nichts sagen, aber die Notwendigkeit, die alten Fragen der alten Metaphysik weiterhin zu stellen, ist auf keine Weise aufhebbar." 40 Zur Einschätzung der heutigen Situation gehört unbedingt auch ein Blick auf die Theologie: Es ist nicht nur so, daß Philosophie heute in einer Weise von Mythos und Religion, speziell christlicher Theologie emanzipiert ist wie nie zuvor in ihrer Geschichte, sondern auf der anderen Seite ist heute theologie-intern alles möglich: "Während der eine Theologe religionslos an Gott glauben will (Dietrich Bonhoeffer), bekennt sich der andere zu einem Glauben ohne Gott (Dorothee Sölle). Wenn für diesen der 37 38 39 40 K.Wuchterl, Analyse und Kritik der religiösen Vernunft. Grundzüge einer paradigmenbezogenen Religionsphilosophie. Stuttgart 1989, 273. Heinz Robert Schlette, Skeptische Religionsphilosophie. Zur Kritik der Pietät. Freiburg, Verlag Rombach, 1972. S.15. Aporetik ist das Resultat des Philosophierens auf dem Felde der Metaphysik. Hermeneutik ist für Schlette die Entschlüsselung oder Dechiffrierung tradierter Worte und Texte - geleitet von der Frage, ob etwas von ihnen, was und aus welchen Gründen vielleicht hinüberzuretten ist in eine postnaive Spiritualität. Schlette, op.cit. 25. 40 personhafte, theistische Gott erst verschwinden muß, damit der größere, wirkliche, nicht-theistische 'Gott über Gott' (Paul Tillich) erscheinen kann, hält jener das Wort Gott für unverzichtbar 'gebunden an die singularische und personale Bedeutung' der theistischen Redeweise der Bibel (Helmut Gollwitzer). Und während für den einen aus dem unendlichen Abstand zwischen Mensch und Gott sich die Unmöglichkeit ergibt, von Gott zu reden, es sei denn durch ein Wunder (Karl Barth), statuiert die dogmatische Konstitution des Ersten Vaticanums, 'daß Gott, der Ursprung und das Ziel aller Dinge mit Sicherheit erkannt werden kann' (Vat.Sess.3,c.2)." 41 Aber: Trotz Schlettes Naivitätsvorwurf und trotz der Unsicherheit in der Theologie kann man täglich die Ausstrahlungskraft religiöser Sinnstrukturen erleben. Mit Wuchterl bin ich der Meinung, daß sich die Philosophie mit den zahlreichen religiösen Phänomenen, die ihren Einfluß auf das geistige Leben der Gegenwart haben, reflexiv befassen muß, wenn sie sich nicht noch mehr dem Vorwurf aussetzen will, an den Problemen der Zeit vorbeizuphilosophieren. Das tut sie auch. Zur gegenläufigen Tendenz – gegenläufig zur Religionskritik – kann man der begründeten Meinung sein: Religion braucht ihre Kritik, sie lebt davon. Was wäre das Alte Testament ohne seine Propheten? Was wäre das Neue Testament ohne sein kritisches Element, ohne die Unterscheidung von wahrer und geheuchelter Gottesliebe? Das 20.Jh., in dem es der Religion scheinbar schon an den Kragen ging, ist zugleich das Jahrhundert ihrer Rekreation. Das gilt sogar auch für den Bereich der christlichen Kirchen. Irgend jemand hat das 20.Jh. als das „Jahrhundert der Kirche“ bezeichnet. Und Romano Guardini hat schon am Anfang des Jh. gesagt: „Ein Vorgang von ungeheurer Tragweite hat eingesetzt: Kirche erwacht in den Seelen“. Ludwig Nagl hat im Vorwort eines von ihm herausgegebenen Sammelbandes42 geschrieben: „Einige für gesichert erachtete Grundelemente der Selbstartikulation der Moderne sind in den letzten Dekaden – in unterschiedlichen Denkschulen: in der spätund postanalytischen Philosophie ebenso wie in der kritischen Theorie und in der nach-phänomenologischen Dekonstruktion – zum Gegenstand einlässiger Neubesichtigung geworden. Zu diesen rethematisierten Theoriebausteinen zählt auch die – oft für endgültig eingeschätzte – nachkantisch radikalisierte Religionskritik vom feuerbachschen, marxschen und Aus der Diskussion in: S.Moser und E.Pilick (Hrsg.), Gottesbilder heute, Königstein 1979, 129; zitiert von Kurt Wuchterl in : Philosophie und Religion, Stuttgart 1982, 10. 42 L.Nagl (Hrsg.), Religion nach der Religionskritik, Wien 2003, S.7. 41 41 des szientistisch gegenüber aller nietzscheschen Typ, bzw. vom Typus motivierten ‚Sinnlosigkeitsverdachts’ religiösen Rede.“ Die Tendenz, sich mit dem Thema Religion in geänderter Optik nochmals auseinander zu setzen, manifestiert sich (wie das genannte Buch dokumentiert) in nahezu allen öffentlichkeitsbestimmenden philosophischen Diskursen der Gegenwart.“ 43 Im Jahr 1999 haben einige Kollegen des hiesigen Instituts für Philosophie (Nagl-Docekal, Nagl, Dethloff) zusammen mit Philosophie-Professoren der beiden Wiener theologischen Fakultäten (Salaquarda, Heine, Wucherer-Huldenfeld, Langthaler) eine interfakultäre Arbeitsgemeinschaft Religionsphilosophie gegründet, die außer interner Diskussion auch eine Vortragsreihe organisiert. (Ein Folder informiert über die nächsten Termine derselben.) Die Vortragstexte werden laufend publiziert in der Reihe „Schriften der österreichischen Gesellschaft für Religionsphilosophie“.44 Ziel dieser Unternehmung war und ist es, das Gespräch zwischen den prononcierteren Positionen der Gegenwartsphilosophie und der Theologie, das trotz wachsenden Interesses an Religion immer noch sehr schwach entwickelt ist, zu fördern. Was dabei bisher erörtert wurde, ist nicht wenig: (1) Im Umfeld der philosophischen Gesellschaftstheorie des zwanzigsten Jahrhunderts ist auf jüngere Erwägungen von Jürgen Habermas zu verweisen, die „die semantischen Potentiale der Religion“ (potentiell positiv) neu bewerten, sowie auf Erwägungen Theodor W.Adornos – in seinen „Meditationen zur Metaphysik“ – in denen Adorno (ohne an irgendeinem Punkt selbst direkt ins ‚religiöse Sprachspiel’ einzutreten) das umkreist, was in der metaphysischen Rede vom Absoluten vormals verhandelt wurde. (2) gibt es zeitgenössische Denkansätze, in denen die „Wiederkehr des Religiösen“ im Umfeld von Postmoderne-Theorie und Dekonstruktion analysiert wird. Paradigmatisch dafür sind die Materialien des Sammelbands „Religion“, hrsg. von Jacques Derrida und Gianni Vattimo (Oxford 1998), sowie Gianni Vattimos Schrift Glauben-Philosophieren, Stuttgart 1996. Wie breit gefächert dieses neue Interesse ist, zeigt auch der Sammelband: Philosophy of Religion in the 21st Century, ed. By D.Z.Phillips and Timothy Tessin, New York: Palgrave, 2001. 43 Bisher: K.Dethloff, L.Nagl, F.Wolfram (Hrsg.), Religion, Moderne, Postmoderne. Berlin: Parerga Verlag, 2002; K.Dethloff, R.Langthaler, H.Nagl-Docekal, F.Wolfram (Hrsg.), Orte der Religion im philosophischen Diskurs der Gegenwart, Berlin 2004. Ein weiterer Band ist in Vorbereitung: K.Dethloff, L.Nagl, F.Wolfram (Hrsg.), „Die Grenze des Menschen ist göttlich“. Beiträge zur Religionsphilosophie. Berlin 2006. 44 42 (3) wird das Thema Philosophie-Religion neu verhandelt im Umfeld der spät- und postanalytischen Philosophie sowie im Neopragmatismus. Die Erwägungen des Logikers aus Harvard, Hilary Putnam zur Religionsphilosophie von William James und Ludwig Wittgenstein sind hier ebenso anzuführen wie Richard Rortys Analysen des Zusammenhangs von Pragmatismus und „Hoffnung“. (4) Überdies gibt es eine Reihe interessant einsetzender Reargumentationsversuche „klassischer“ (z.B. scholastischer) religionsphilosophischer Positionen, in denen der Versuch unternommen wird, diese Argumentationsfiguren in die zeitgenössischen philosophischen Debatten einzubringen. Herta Nagl-Docekal hält in der Einleitung des Sammelbands „Orte der Religion im philosophischen Diskurs der Gegenwart“ (Berlin 2004) fest: Die allzu lange gängige Sichtweise, daß Religion als ein Thema der philosophischen Forschung obsolet geworden sei, wird häufig auf den für die beginnende Moderne charakteristischen Bruch mit tradierten metaphysischen Positionen zurückgeführt. (Das gilt für Vertreter dieser Sichtweise wie für deren Kritiker.) Diese Einschätzung läßt aber außer Acht, daß in den grundlegenden philosophischen Konzeptionen der Moderne Akzente gesetzt wurden, die in eine ganz andere Richtung weisen. Immanuel Kant will sein gesamtes Unterfangen, die Grenzen der Erkenntnismöglichkeiten unserer Vernunft aufzuzeigen - laut Vorrede zur zweiten Auflage der „Kritik der reinen Vernunft“, die als „Grundlegung der modernen Philosophie“45 betrachtet werden kann - so verstanden wissen: „Ich mußte also das Wissen aufheben, um zum Glauben Platz zu bekommen.“ 46 Von daher scheint es durchaus plausibel, wenn in der KantForschung die Auffassung vertreten wird, daß „das Gesamtwerk Kants religionsphilosophisch orientiert ist“47 Es liegt auf der Hand, daß sich ein analoger Befund auch im Blick auf Hegel und andere Autoren, deren Denken durchaus der Moderne verpflichtet ist, formulieren läßt. Die genannte Vortragsreihe verfolgt auch den Zweck, die religionsphilosophischen Diskussionen möglichst nah am allgemeinen gesellschaftlichen Diskurs zu verorten. Dazu gehört etwa, daß man bemüht ist, Referenten aus ganz Europa, und zwar zunehmend auch aus dem ehemals kommunistisch regierten Teil Europas, zu gewinnen. Ebenso, daß nicht nur am Otfried Höffe, Kants Kritik der reinen Vernunft. Die Grundlegung der modernen Philosophie, München 2003. 46 I.Kant, KrV 2.Aufl. 1787, B XXX. 47 Aloysius Winter, Der andere Kant. Zur philosophischen Theologie Immanuel Kants, Hildesheim-Zürich-New York 2000, S.429. 45 43 Christentum Interessierte, sondern auch den beiden anderen biblischen Religionen - Judentum und Islam - Nahestehende eingeladen werden. (Hinweis auf die „Kontaktstelle für die Weltreligionen“ in Wien, Leitung: Petrus Bsteh, p.Adr. Afroasiatisches Institut.) 1.5 Wozu treibt man heute Religionsphilosophie? Willi Oehlmüller 48 nennt drei Probleme, die bisher ungelöst sind und die Religionsphilosophie interessant machen. (1) Der "garstige breite Graben" (so Lessing) zwischen der religiösen Überlieferung und den Erfahrungen der kritischen Subjektivität in der sich ausbildenden geistigwissenschaftlichen und gesellschaftlich-politischen Welt wird seit der Aufklärung immer breiter. Wo dieser Zwiespalt erwacht ist, da erweisen sich alle Formen der Vermittlung, die nicht an diesen Erfahrungen der kritischen Subjektivität anknüpfen, als unglaubwürdig und unwirksam. Für die Subjektivität kann die religiöse Überlieferung nur noch dadurch lebendig bleiben, daß sie den einmal begonnenen Aufklärungsprozeß fortsetzt. Nicht durch Beschwörung dessen, was man einmal auf Treu und Glauben hin angenommen hatte, sondern allein durch kritische Erinnerung kann das bewahrt werden, was die unaufgeklärte Aufklärung allzu kurzschlüssig preisgegeben hat. (2) Das Verhältnis des Christentums und der Kirchen zu den nichtchristlichen Religionen bildet ein zweites immer dringlicheres Problem der Religionsphilosophie. In der gegenwärtigen Gesellschaft ist das Christentum nicht mehr wie in der mittelalterlichen res publica christiana die Religion, die die Gesamtgesellschaft integriert, so daß die Heiden im Grunde "draußen" stehen. In dieser Gesellschaft kann man ferner nicht mehr wie im Mittelalter der Meinung sein, daß man mit Hilfe metaphysischer Überlegungen und geschichtsphilosophischer Modelle und Zeitalterschemata das Verhältnis des Christentums als der einen wahren Religion zu den anderen Religionen für alle zureichend erklärt hat. Peter Strassers „Der Gott aller Menschen“ spricht einige Probleme an, die im Hinblick auf den interreligiösen Dialog bearbeitet werden müssen: Die Idee des religiösen Universalismus vor allem. Was bedeutet religiöser Universalismus? Kurz gesagt, daß eine Religion keinen begründbaren Anspruch auf universelle Geltung erheben kann, solange es nicht gute Gründe für alle Menschen gibt, an den Lehren dieser Religion teilzuhaben. Das Christentum hat sich doppelt auf den Universalismus 48 in seinem Artikel "Religionsphilosophie" in Sacramentum Mundi IV, 250ff. 44 eingelassen: erstens durch die Heidenmission des Apostels Paulus, durch die der Gott des Judentums zum Gott aller Menschen wird. Zweitens durch die Verbindung mit der Gedankenwelt der griechisch-römischen Antike, insbesondere mit Plato und Aristoteles. Beide haben eine Gottesidee favorisiert, die streng universal ist (das Gute, der Erste Beweger). Wenn ich aber (unter dem Einfluß des lumen naturale) nach dem universalisierbaren Sinn von Dogma und Glaubenserzählung frage, dann trete ich heraus aus dem lokalen Mythos (und ein in die Sphäre der Menschheitssymbole). Strasser: „Daß sich auf diesem Wege das Christentum auch innerlich verändert, ist eine Tatsache. Nur so allerdings wird es lebendig bleiben, immer voausgesetzt, die Welt hört nicht auf, die Idee der Menschheit als einer Solidargemeinschaft Schritt für Schritt zu entfalten.“ (AaO 33). (3) Die Stellung und Funktion der Religion und der Kirchen innerhalb der neuen politischen und gesellschaftlichen Welt bildet ein drittes bis heute ungelöstes Problem der Religionsphilosophie. Nach der Aufklärung, die die Freiheit aller zum Prinzip der Ethik und Politik erklärt und die Verwirklichung solcher sittlicher, gesellschaftlicher und politischer Institutionen fordert, die die Freiheit und das Recht aller Menschen schützen und sichern, ist eine Deutung des Verhältnisses der Religion und der Kirchen zur Politik und Gesellschaft im Sinne der Politischen Theologie der Antike und der mittelalterlichen Vorstellungen unmöglich geworden. (Exkurs zur „Politische Theologie“-Debatte im 20.Jh.: Carl Schmitt, Politische Theologie, 1922 / Erik Peterson, Der Monotheismus als politisches Problem, 1935.) Gegenwärtig spielt in der Öffentlichkeit die Frage der Bewertung der sog. Säkularisierung immer noch eine Rolle. (Säkularisierung ist – ganz allgemein gesprochen – Übergang von kirchlichem zu weltlichem Besitzstand. Dieser kann als unrechtmäßig oder aber auch im Interesse der Kirche verstanden werden.) Eine Diskussion zwischen Jürgen Habermas und Josef Ratzinger vom 19.Jänner 2004 in München49 ging von der bekannten Frage Ernst Wolfgang Böckenfördes aus, ob der freiheitliche, säkularisierte Staat nicht von normativen Voraussetzungen zehre, die er selbst nicht garantieren könne.50 J.Habermas, J.Ratzinger, Dialektik der Säkularisierung. Über Vernunft und Religion. Mit einem Vorwort hrsg. v. Florian Schuller. Freiburg/Br. 2005. 50 E.W.Böckenförde, Die Entstehung des Staates als Vorgang d.Säkularisierung (1967), in: ders., Recht, Staat, Freiheit, Frankfurt/M. 1991, S.92ff., 112. 49 45 Es ist vielleicht eine Überlebensfrage – im politischen Sinn – , ob wir die Religionen nur als spezifisch kulturelle Schöpfungen sehen, deren Lehren nicht auf der Basis interoder transkultureller Kriterien entscheidbar sind (im Gegensatz zu den Lehren der Wissenschaft, der Technik und, vielleicht, der Philosophie), oder ob wir den Dialog für möglich halten und dementsprechend in Gang setzen. Meiner Meinung nach ist damit eine immense bildungspolitische Aufgabe verbunden. Denn den interreligiösen Dialog müssen wir erst lernen. Jürgen Habermas, der sich für die Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels 2001 mit einem Vortrag über „Glauben und Wissen“ bedankt hat, formulierte es so: „Wer einen Krieg der Kulturen vermeiden will, muss sich die unabgeschlossene Dialektik des eigenen, abendländischen Säkularisierungsprozesses in Erinnerung rufen. Der „Krieg gegen den Terrorismus“ ist kein Krieg, und im Terrorismus äußert sich auch der verhängnisvoll-sprachlose Zusammenstoß von Welten, die jenseits der stummen Gewalt der Terroristen wie d.Raketen eine gemeinsame Sprache entwickeln müssen.“ 51 Ich bin so optimistisch, zu glauben, dass wir auf diesem Bildungsweg auch unsere eigene Tradition besser kennenlernen werden; daß das „semantische Potenzial“ der biblischen Tradition, das ebenfalls von Habermas neu ins Gespräch gebracht wurde, besser als bisher ausgeschöpft werden kann. Habermas bezieht sich auf „...Versuche...., das semantische Potential des heilsgeschichtlichen Denkens in das Universum der begründenden Rede einzuholen.“ 52 Insofern ist von der Religionsphilosophie noch viel zu erwarten. Ein literarischer Beleg dafür, daß es sich bei all dem nicht um etwas Abseitiges, Verschrobenes handelt, sondern um etwas völlig Aktuelles, im Zentrum des Geschehens in unserer Gesellschaft: Václav Havel schreibt in seinen Briefen an Olga (d.i. seine Frau) von Verantwortung 53: "nur in der Verantwortung der menschlichen Existenz ist das, was sie gewesen ist, was sie ist und sein wird, beruht ihre Existenz. Mit anderen Worten: Wenn die menschliche Identität der unverwechselbare Platz des "Ich" im Kontext des "NichtIch" ist, dann ist die menschliche Verantwortung das, was diesen Platz bestimmt: die Beziehung des ersteren zum zweiten. Patocka hat gesagt, daß das eigenartigste an der Verantwortung ist, daß wir sie "überall" haben. ich glaube, das ist so, weil überall die Welt von ihrem absoluten Horizont "umgeben" oder "durchdrungen" ist, und daß wir diesen Horizont nie überschreiten oder hinter uns lassen noch vergessen können, und sei er noch so verborgen (er ist übrigens immer verborgen: er ist in allem und niemals an sich). Vielleicht ist er nur J.Habermas, Glauben und Wissen, Suhrkamp, Frankfurt a. M. 2001, S.11.) J.Habermas, Israel und Athen oder: Wem gehört die anamnetische Vernunft? Zur Einheit in der multikulturellen Vielfalt. In: Diagnosen zur Zeit, mit Beiträgen von Metz, Ginzel, Glotz, Habermas, Sölle. Patmos, Düsseldorf 1994, S. 51-64. S.54f. 53 V.Havel, Briefe an Olga; Betrachtungen aus dem Gefängnis (Reinbek bei Hamburg 1984, neu 1990), S.207. 51 52 46 unsere Idee - dann aber ist die ganze Welt unsere Idee. Liegt aber etwas daran, ob wir das Wort "Sein" oder "Idee" verwenden? Unserer Verantwortung entgehen wir damit nicht um einen Millimeter... Aber das wollen wir gar nicht, nicht wahr?" In einem späteren Brief kommt Havel darauf zurück: "Was den Brief 109 angeht: ja, auch ich hatte, gleich nachdem er geschrieben war, das Gefühl, darin den "absoluten Horizont" sehr flach geschildert zu haben. - Vielleicht war das eine unwillkürliche Reaktion auf das zusätzliche Gefühl, daß ich genau so einseitig (wenn auch in umgekehrtem Sinne) darüber in einem meiner Briefe über den Sinn des Lebens geschrieben habe, in dem ich seine "letzte" Quelle wieder zu sehr außerhalb der Gesamtheit plaziert habe. Vielleicht gelingt es mir irgendwann, eine Formulierung zu finden, die die verschiedenen Dimensionen dieser verzwickten Sache besser erfaßt - dieses "in" und "außerhalb", dieses "intim-dringlich" und "metaphysisch-abstrakt". Es ist eigenartig: als innere Erfahrung scheint mir das weit klarer, als wenn ich es dann sei es auf diese oder jene Weise - ausspreche. Immer ist es mehr oder weniger blöd gesagt. Aber ich weiß - gerade deshalb macht es mir wohl Spaß, immer und immer wieder darüber zu schreiben!" 54 1.6 Nachbardisziplinen Der Begriff "Religionsphilosophie" ist, wie auch der der Philosophie, so vieldeutig, daß es kaum möglich ist, ihn einigermaßen allgemeingültig und präzise zu definieren. Klar ist jedoch, daß sich die Religionsphilosophie abgrenzt auf der einen Seite von rein empirischen Untersuchungen der Religionen und des religiösen Lebens, wie sie die Religionsgeschichte, Religionsphänomenologie, oder Religionspsychologie bieten; auf der anderen Seite von der systematischen Darstellung des Gedankeninhalts einer bestimmten Religion, wie sie die Dogmatik liefert, oder von der Erbauungsliteratur. Jede geisteswissenschaftliche Darstellung enthält ja diese drei Elemente: die Philosophie, die Geistesgeschichte und die Systematik. In der Philosophie wird das Sinngebiet und seine Kategorien entwickelt, in der Geistesgeschichte wird das Material, das die Seinswissenschaften darbieten, systematisch verstanden und gruppiert, in der Systematik wird auf Grund des 54 V.Havel, op.cit. 219. 47 philosophischen Wesensbegriffs und des geistesgeschichtlich verstandenen Materials das konkret-normative System dargestellt. So ergibt sich die Dreiheit von Philosophie der Kunst, Geistesgeschichte der Kunst und normativer Ästhetik; von Philosophie des Erkennens, Geistesgeschichte der Wissenschaft und normativer Wissenschaftslehre; von Rechtsphilosophie, Geistesgeschichte des Rechts und normativer Rechtslehre usf. So auch die Dreiheit von Religionsphilosophie, Geistesgeschichte der Religion und systematischer Religionslehre oder Theologie - bzw., in säkularisierter Form, Religionswissenschaft (in dieser Wortbedeutung; es gibt nämlich noch eine andere Wortbedeutung von Religionswissenschaft - als gemeinsames Dach aller mit der Religion befaßten Wissenschaften). Jede Theologie ist abhängig von dem vorausgesetzten Wesensbegriff der Religion, und jede Religionsphilosophie von dem Normbegriff der Religion, und beide von der Erfassung des geistesgeschichtlichen Materials. Ohne die Heranziehung der Geistesgeschichte und Theologie würde die Religionsphilosophie abstrakt und undeutlich bleiben. Die Sache ist aber noch etwas komplexer, als diese genannte nützliche Einteilung erkennen läßt. Denn die Kategorien eines Sinngebiets, aus denen eine Theorie entwickelt werden soll, verweisen auf viele andere Einzelwissenschaften, die u.U. zu einer ganzen Familie zusammengefaßt werden können. In unserem Fall haben wir die Familie der Religionswissenschaft zur Kenntnis zu nehmen. Als Einführung nenne ich das Büchlein von Günter 55 Lanczkowski. Darin sind folgende religionswissenschaftliche Disziplinen unterschieden: - Religionsgeschichte - Religionsphänomenologie - Religionstypologie - Religionsgeographie - Religionsethnologie - Religionssoziologie - Religionspsychologie. Dabei sind aus gutem Grund Theologie und Philosophie ausgeklammert, sie stehen auf einer anderen Ebene. Ich möchte in diesem Zusammenhang nur einiges wenige zur Religionsgeschichte, Religionssoziologie, Religionspsychologie und Religionsphänomenologie sagen. Günter Lanczkowski, Einführung in die Wissenschaftliche Buchgesellschaft Darmstadt 1980. 55 Religionswissenschaft. 48 1) Religionsgeschichte Von Geschichte im weiteren Sinn - Geschichte als res gestae, von denen es bei Vergil heißt: sunt lacrimae rerum unterscheiden wir Geschichte im engeren Sinn - Geschichte als Wissenschaft. Eine "Einführung in die Religionsgeschichte" bietet ebenfalls Günter Lanczkowski56, mit der wichtigsten Literatur dazu und überblicksmäßigen Darstellungen der Religionen (jenen in der Umwelt des Alten Testaments, des Neuen Testaments und der Alten Kirche, der vorchristlichen Religionen des transalpinen Europa und der außereuropäischen Religionen, die den religiösen Pluralismus der Gegenwart mitprägen); aber auch mit einem Kapitel "Religion und Geschichte" (über Geschichtlichkeit der Religionen, das Geschichtsbild der Religionen, Periodisierungen der Geschichte, Religionen als Geschichtsmächte). Die Religionsgeschichte ist die unabdingbare Grundlage jeder weiteren religionswissenschaftlichen Forschung, und ihr Studium verweist zwangsläufig auf die literarischen Quellen, die in den kanonisierten Texten heiliger Schriften vorliegen, in Worten und Biographien großer Religiöser, in Mythen, Inschriften, Hymnen und Gebeten. Wie für die Geschichte schlechthin, so gilt auch für die Religionsgeschichte der Satz von Karl Jaspers: "Es ist, als ob wir Boden gewinnen, wo ein Wort zu uns dringt".57 Daraus folgt, daß Religionswissenschaft zu einem guten Teil Philologie ist. "Ein Religionsforscher muß auch Sprachforscher sein"58 Ein wirkliches Ernstnehmen der historischen Sicht ist fraglos der beste Weg, einem Relativismus und Subjektivismus zu entgehen, der sich mit Sicherheit einstellt, wenn, bewußt oder unbewußt, der Standort des Betrachters zum Vergleichs- und Wertmaßstab erhoben wird. Damit spreche ich einen für das Verstehen z.B. das Verstehen fremder Religionen wesentlichen Begriff an: die epoché, d.h. die Enthaltung von vorschnellen oder vorgefaßten Urteilen, und die Beschränkung auf das, was wissenschaftlich feststellbar ist. Standardwerke: Jens Peter Asmussen - Jorgen Laessoe in Verb.m. Carsten Colpe, Handbuch der Religionsgeschichte, 3 Bde, Göttingen 1971-1975. Günter Lanczkowski, Einführung in die Religionsgeschichte. Wissenschaftliche Buchgesellschaft Darmstadt 1983. 57 Karl Jaspers, Vom Ursprung und Ziel der Geschichte. Zit.n.d.TB-Ausg. Frankfurt - Hamburg 1955, 38. 58 Friedrich Heiler, Erscheinungsformen und Wesen der Religion. Stuttgart 1961, 15. 56 49 Bde, Mircea Eliade, Geschichte der religiösen Ideen. 3 Freiburg im Br. 1978f. Carl Clemen (Hrsg), Die Religionen der Erde, 2.Aufl. 4 Bde München 1966. Friedrich Heiler, Die Religionen der Menschheit in Vergangenheit und Gegenwart. 2.Aufl. Stuttgart 1962. Hans-Joachim Schoeps, Religionen. Wesen und Geschichte. Gütersloh 1961. 2) Religionssoziologie Eine Einführung bietet Joachim Matthes59. Sie enthält sowohl systematische Überlegungen zum Thema Religion und Gesellschaft, die Problemgeschichte der Religionssoziologie, als auch Religionssoziologie heute und ausgewählte Texte zur Religionssoziologie. Natürlich auch Literatur. Wir stoßen auf die Religionssoziologie nicht nur dort und da, weil sie jener Teilbereich der Soziologie ist, der die gesellschaftlichen Bedingungen religiöser Phänomene sowie umgekehrt die Wirkungen der Religion auf gesellschaftliche Strukturen, kurz die Wechselbeziehungen zwischen Religion und Gesellschaft erforscht. Sondern wir stoßen auf sie, weil diese Disziplin aus religionskritischen Impulsen der Aufklärung entstanden ist. Heute dürfte eine anfängliche Überbewertung des Sozialen als überwunden gelten. das Soziale an sich schafft keine Religion. Es ist nicht so, daß sich eine Gruppe von Menschen zusammentut, einen Orden gründet, ein Kloster baut, sich dem monastischen Leben widmet - und dann nachträglich darüber nachsinnt, wie dem allen ein ideologischer Überbau zu verschaffen sei. Es ist aber auch nicht umgekehrt so, daß eine abstrakte religiöse Idee vorgegeben wäre, eine Gruppe von Menschen begeistert, und diese glaubt, nur im mönchischen Leben die Ideale dieser Religion voll verwirklichen zu können. Die Wechselbeziehung ist nicht einseitig auflösbar. Begrenzt auf das, was sie leisten kann, und unter Verzicht auf Theorien, die nicht zu verifizieren sind, hat die Religionssoziologie sehr wohl einen sinnvollen Platz innerhalb der Religionsforschung und kann, was für einen Religionswissenschaftler nun einmal das Wesentliche ist, beitragen zur weiteren Erhellung von Bedeutung und Funktion der Religionen. Joachim Matthes, Religion und Gesellschaft. Einführung in die Religionssoziologie I. rowohlts deutsche enzyklopädie, Reinbek bei Hamburg 1967. 59 50 In diesem Verständnis ist die Religionssoziologie von Ernst Troeltsch und Max Weber eröffnet worden.60 3) Religionspsychologie Eine "Einführung in die Religionspsychologie" bietet Ulrich Mann.61 Mann kommt von der Tiefenpsychologie her, besonders von der Schule C.G.Jungs. Die Religionspsychologie ist ein Zweig der 62 Religionswissenschaft, dessen Aufgabe es ist , "das Seelische in und an der Religion zu verstehen." Die Religion ist die übergeordnete, objektiv gegebene Größe, und zu ihren mannigfaltigen Erscheinungsformen gehört auch die Erlebniswelt des Religiösen, die sich in gewöhnlicher religiöser Empfänglichkeit äußert wie auch in den außerordentlichen religiösen Erlebnisformen der Berufung, der Vision und Audition, des Wunders, der Ekstase und der Bekehrung. Vorgegeben ist stets das numinose Objekt, das Heilige, die Gottheit, und Aufgabe der Religionspsychologie ist es, den Reflex auf die Erfahrung dieses Absoluten im Kreaturgefühl des Menschen, in seiner Psyche zu studieren. Das war das Anliegen des Hauptwerks von Rudolf Otto, über "Das Heilige".63 Als Vorstufen einer wissenschaftlichen Religionspsychologie können religiöse Selbst- und Seelenbeobachtungen angesehen werden, wie sie, um nur einige der bedeutendsten zu nennen, vorliegen in Tertullians De anima, Augustins Confessiones, bei mittelalterlichen Mystikern, in den Pensées Pascals und in den Tagebüchern Sören Kierkegaards. Demgegenüber ist die Religionspsychologie als wissenschaftliche Disziplin noch sehr jung. Sie tritt erst gegen Ende des 19.Jh. und Anfang des 20.Jh. in Erscheinung. Die Anregungen kamen in erster Linie von der damaligen nordamerikanischen Psychologie, vornehmlich von William James, der Selbstzeugnisse religiöser Persönlichkeiten untersuchte, dabei streng empirisch vorging und bestrebt war, Tatsachen herauszustellen, und sich von Wertungen freizuhalten.64 Ernst Troeltsch, Die Soziallehren der christlichen Kirchen und Gruppen. Tübingen 1912. Max Weber, Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie. 3 Bde, Tübingen 1920-1921. 4.Aufl.1947. 61 Ulrich Mann, Einführung in die Religionspsychologie. Wissenschaftliche Buchgesellschaft Darmstadt 1973. 62 nach van der Leeuw, Phänomenologie der Religion, 3.Aufl.1970,785 63 Rudolf Otto, Das Heilige. Über das Irrationale in der Idee des Göttlichen und sein Verhältnis zum Rationalen. Breslau 1917. 30.Aufl. München 1958. 64 William James, The Varieties of religious Experience. Edinburgh 19011902; deutsche Ausgaben: Die religiöse Erfahrung in ihrer Mannigfaltigkeit, übers. u. hrsg. v. Georg Wobbermin. 4.Aufl. Leipzig 60 51 Auf die ersten Anfänge ist ein reges Studium religionspsychologischer Fragen gefolgt; es hat seinen Niederschlag in einer umfangreichen Literatur gefunden.65 Für eine den eigentlichen Aufgaben des Faches gerechte, von jeder übertriebenen Psychologisierung freie Darstellung kann aus neuerer Zeit in erster Linie die Religionspsychologie von Wolfgang Trillhaas genannt werden.66 An Periodica gibt es das American Journal of Religious Psychology, 1904ff. Archiv für Religionspsychologie, 1914ff. Zeitschrift für Religionspsychologie, 1928ff. Es wäre eine Illusion, man könne Religion mit Hilfe von Reaktionen psychologischer und naturalistischer Art oder gar mit Hilfe von Begriffen wie Sublimierung, Kompensierung, Angst, Krisis und ähnlichen "erklären" (schlimmer noch: auflösen). Sigmund Freud, dessen Tiefenpsychologie ihn zu der kühnen Behauptung führte, Religion sei eine "Zwangsneurose", findet vereinzelt immer wieder Anhänger. Dagegen hat sich Carl Gustav Jung von Freud getrennt und war zunehmend vorsichtiger darin geworden, mit seinen Urbildern oder "Archetypen" den Gottesglauben erfassen zu können.67 4) Religionsphänomenologie Eine "Einführung in die Religionsphänomenologie" - gibt es von Günter Lanczkowski.68 Der Bezug zur Religionsphilosophie ist darin gelegen, daß die Religionsphänomenologie jener Zweig der Religionsforschung ist, dessen Aufgabe es ist, die Stoffülle zu vergleichen und aufzugliedern, der eben als hermeneutisches Mittel generell den Vergleich verwendet und so der Wesenserfassung und dem Verstehen dienen will. Damit steht diese Wissenschaft in einem umfassenden Rahmen, der jedes Verstehen eines Fremden betrifft, das zunächst ein In-Beziehung-Setzen zu einem bereits Bekannten darstellt. Wofür wir keinerlei Vorverständnis haben, das entzieht sich unserer Möglichkeit des Begreifens als totaliter aliter. Die Übersetzung selbst 1925. - Die Vielfalt religiöser Erfahrung, übers. u. hrsg. v. Eilert Helms. Olten u. Freiburg i.Br. 1979. 65 Nach früheren Arbeiten von Richard Müller-Freienfels, Karl Girgensohn, Paul Hoffmann wäre zu nennen: Willy Helpach, Grundriß der Religionspsychologie. Stuttgart 1951. Hjalmar Sundén, Die Religion und die Rollen. Eine psychologische Untersuchung der Frömmigkeit. Berlin 1966. 66 Wolfgang Trillhaas, Die innere Welt. Religionspsychologie. 2.Aufl. München 1953. 67 C.G.Jung, Psychologie und Religion. Zürich 1946. 68 Günter Lanczkowski, Einführung in die Religionsphänomenologie. Wissenschaftliche Buchgesellschaft Darmstadt 1978. 52 einer einzigen Vokabel aus einer fremden Sprache wäre ohne Vergleichsmöglichkeit nicht denkbar. Wegen ihrer vergleichenden Methode wurde die Religionsphänomenologie häufig "vergleichende Religionswissenschaft" genannt, englisch "Comparative Religion" (auf das gesamte Gebiet der Religionswissenschaft ausgedehnt); ein lesenswertes Buch von Joachim Wach heißt "Vergleichende Religionsforschung".69 Die Anfänge phänomenologischer Betrachtung gehen auf das Mittelalter zurück. In erster Linie ist hier Thomas von Aquino (1225-1274) zu nennen. Seine im Jahr 1264 abgeschlossene "Summa contra gentiles" war durch den Konflikt der spanischen Christen mit den islamisch-maurischen Herren ihres Landes ebenso angeregt worden wie durch die islamische Form des Aristotelismus, die vornehmlich Avicenna und Averroes geprägt hatten und die damals an den europäischen Universitäten einen bedeutenden Einfluß ausübte. Roger Bacon (1214-ca.1292), ein Zeitgenosse des Thomas und in vielem ein Außenseiter der damaligen Theologie, drang um der religionsgeschichtlichen Erkennntis willen auf ein Studium der Religionssprachen, und er hielt, um den Wahrheitsgehalt des Christentums als einer speziellen und übernatürlichen im Unterschied zur natürlichen Offenbarung zu erweisen, einen Vergleich mit anderen Religionen für notwendig. Nikolaus von Kues (1401-1464) ist ebenfalls hier zu nennen mit seinem 1453 erschienenen "De pace fidei", dem fingierten Gespräch zwischen Vertretern verschiedener Nationen und Religionen. Martin Luther (1483-1546) hat die Mißbräuche der kirchlichen Praxis seiner Zeit in systematischer Weise in einen religionsgeschichtlichen Zusammenhang gestellt. In seiner Religionskritik, die er vornehmlich im Kommentar zum Römerbrief und im Großen Katechismus anläßlich der Auslegung des ersten Gebotes zum Ausdruck brachte, faßte er "Heiden", "Juden" und "Türken" als einheitliche Größe zusammen. Mit dem heidnischen Polytheismus stellte er die katholische Heiligenverehrung auf eine Stufe, da man mit ihr "die Heiligen zu Göttern" gemacht habe.70 Wie man sieht, ist das Vergleichen in engem Zusammenhang mit dem Unterscheiden zu sehen, und damit auch mit der Kritik. Es ist auch unumgänglich für den interreligiösen Dialog. Von Religionsphänomenologie als religionswissenschaftlicher Disziplin, die man auch vergleichende Religionswissenschaft nennen kann, ist zu unterscheiden die Phänomenologie als Joachim Wach, Vergleichende Religionsforschung. Stuttgart 1962. Originaltitel: The Comparative Study of Religions, Columbia University Press, New York 1958. 70 Martin Luther, Erlanger Ausgabe, 2.Aufl. Bd.11, 16. 69 53 eigenständige philosophische Bewegung und vor allem Methode, die als solche am Anfang des 20.Jh. von Edmund Husserl begründet worden ist. Husserl wollte mit seiner deskriptiven Methode „das prinzipielle Organon für eine streng wissenschaftliche Philosophie“ liefern und „in konsequenter Auswirkung eine methodische Reform aller Wissenschaften“ (IX, 277) ermöglichen. Ich gehe darauf nicht weiter ein, verweise aber auf das sehr hilfreiche Werk: Wörterbuch der phänomenologischen Begriffe. Unter Mitwirkung von Klaus Ebner und Ulrike Kadi herausgegeben von Helmuth Vetter, Hamburg 2004. Weiters mache ich aufmerksam auf einen Aufsatz von Jean-Luc Marion, in dem auf die Hauptschwierigkeit angesichts des Phänomens Religion eingegangen wird, nämlich ob es möglich ist, einen Begriff der „Offenbarung“ einzuräumen. Martin Heidegger hat das Phänomen als „das Sich-an-ihm-selbstzeigende, das Offenbare“ gedeutet.71 Wie verhält sich dieser philosophische Begriff des „Offenbaren“ (und der Wahrheit als „entdeckend-sein“) zum theologischen Begriff „Offenbarung“? In diesem Sinn frägt Marion: „Wenn es der Phänomenologie, indem sie Phänomene ohne die voraufgehende Bedingung einer causa sive ratio, aber als solche und soweit sie gegeben sind, erkennt, wenn es also der Phänomenologie gelänge, zu den Sachen selbst zurückzukehren, käme sie dann nicht par excellence darauf, den Gedanken der Offenbarung ganz allgemein frei zu legen?“72 5) Historisch-philologische Wissenschaften Im Blick auf Marcus Tullius Cicero nun können wir aus all den genannten Disziplinen wertvolle Hilfen zum Verständnis seiner Religionsphilosophie gewinnen; zu allererst und am meisten müssen wir uns aber auf die historischen Disziplinen stützen; schließlich ist er ein Autor aus dem ersten Jh. v.Chr. Ich spreche von einer Mehrzahl, weil die Fülle des Materials natürlich eine Aufteilung nach zeitlichen, geographischen, sprachlichen etc. Gesichtspunkten notwendig gemacht hat. Im Zentrum des römischen Weltreichs strömte vieles zusammen (Mit einem schon in der Antike geprägten Bild gesprochen: in den Tiber mündeten damals schon der Nil, der Euphrat, die Donau, die Rhone und der Ebro). (1) die sog. Oikuméne, die "bewohnte Welt" der Griechen, die Martin Heidegger, Sein und Zeit, 11.Aufl. 1967, S.28ff.: „Der Begriff des Phänomens“. 72 Jean-Luc Marion, Aspekte der Religionsphänomenologie: Grund, Horizont und Offenbarung. In: A.Halder, K.Kienzler, J.Möller (Hrsg.), Religionsphilosophie heute. Chancen und Bedeutung in Philosophie und Theologie, Düsseldorf 1988, 84-103, 87 71 54 zur Zeit des Cicero bereits dem Römischen Imperium einverleibt war. Daher fällt unsere Vorlesung in den Zuständigkeitsbereich der Klassischen Altertumswissenschaft mit ihren Unterabteilungen. Wir brauchen hier nicht näher darauf einzugehen, was alles heranzuziehen ist, von der historischen Grammatik über Etymologie, Stilistik, Literatur, die archäologischen Disziplinen bis zur Mythologie. Einige Standardwerke sollten aber zur Kenntnis genommen werden. - Pauly-Wissowa, Realenzyklopädie der klassischen Altertumswissenschaft - Martin P.Nilsson, Geschichte der griechischen Religion. 2 Bde. 3.Aufl. München 1967-1974. - Kurt Latte, Römische Religionsgeschichte. 2.Aufl. München 1967. - Friedrich Überweg, Grundriß der Geschichte der Philosophie. (1862-1866) - mit vielen Neuauflagen, z.B.: 1.Teil: Die Philosophie des Altertums. Hrsg.v.Karl Praechter. 12.Aufl. Berlin 1926. Inzwischen ist eine völlig neu bearbeitete Ausgabe im Schwabe & Co AG Verlag Basel/Stuttgart in Erscheinung begriffen. - Wilhelm Totok, Handbuch der Geschichte der Philosophie. I Altertum. Frankfurt a.M. 1964. II Mittelalter, 1973. (2) die sog. Golá, die Diaspora des Judentums. Städte des Mittelmeerraums wie z.B. Alexandria waren bis zu einem Drittel von Juden bewohnt. In dieser Gruppe ist die Begegnung von griechischer Philosophie und biblischer Religion grundgelegt worden. Darüber belehrt uns die Judaistik; einige Standardwerke: - Wilhelm Bousset - Hugo Gressmann, Die Religion des Judentums im späthellenistischen Zeitalter. 3.Aufl. Tübingen 1926; Neudruck 1966. - Emil Schürer, Geschichte des jüdischen Volkes im Zeitalter Jesu Christi. 4.Aufl. 3 Bde. Leipzig 1901-1909. - Kurt Schubert, Die Religion des nachbiblischen Judentums. Freiburg i.Br./Wien 1955. - ders., Die Kultur der Juden. I. Israel im Altertum. (Handbuch der Kulturgeschichte, begründet von H.Kindermann, neu hrsg.v. E.Thurnher). Akademische Verlagsges. Athenaion, Frankfurt am Main 1970. - Julius Guttmann, Die Philosophie des Judentums. 1933. Nachdruck: Fourier Verlag, Wiesbaden 1985. (3) die hellenistische Welt, also der Begegnungs- und Vermischungsraum von orientalischer und griechisch-römischer Kultur, für dessen Erhellung die Orientalistik unentbehrlich 55 ist. - Franz Cumont, Die orientalischen Religionen im römischen Heidentum. 3.Aufl. Leipzig/Berlin 1931. - Ders., Die Mysterien des Mithra. 4.Aufl. Darmstadt 1963. - R.Reitzenstein, Die hellenistischen Mysterienreligionen. Leipzig 3.Aufl. 1927. Nachdruck: Darmstadt 1956. (4) Darin stellt einen Sonderfall die sog. Gnosis dar, die teils als Grundströmung und immer wieder neu auflebende Tendenz, teils als selbständige Weltreligion - im Manichäismus - auftritt. Wichtige Arbeiten zur Gnosis-Forschung sind etwa: - Hans Jonas, Gnosis und spätantiker Geist. Teil 1: Die mythologische Gnosis, mit einer Einleitung zur Geschichte und Methodologie der Forschung. Göttingen 1934, 1954, 1964 mit Ergänzungsheft zur 1. u. 2.Aufl. Teil 2/1: Von der Mythologie zur mystischen Philosophie. Göttingen 1954, 1966. - R.Haardt, Die Gnosis. Wesen und Zeugnisse. Salzburg 1967. - Geo Widengren, Mani und der Manichäismus. Stuttgart 1961. - Kurt Rudolph, Die Gnosis. Wesen und Geschichte einer spätantiken Religion. 3.Aufl. Vandenhoeck & Ruprecht in Göttingen (UTB 1577) 1990. - Peter Sloterdijk / Thomas H.Macho (Hg.), Weltrevolution der Seele. Ein Lese- und Arbeitsbuch der Gnosis von der Spätantike bis zur Gegenwart. 2 Bde., Artemis & Winkler (Mohndruck Gütersloh) 1991. (5) Ein anderer Sonderfall sind dissidente Gruppen des Judentums, wie die Gemeinde von Qumran am Toten Meer. Verwandte Gruppen waren die Essener in Ägypten, im Blickfeld der Alexandriner. Auch der Qumran-Forschung widmete sich eine große Zahl von Gelehrten. Einer von ihnen ist der Wiener Judaist: - Kurt Schubert, Die Gemeinde vom Toten Meer. München/Basel 1958. Und einer seiner Schüler, Emeritus in Köln: - Johann Maier, Die Texte vom Toten Meer, I. Übersetzung, II. Anmerkungen, 1960. 1.7 Unser Paradigma für Religionsphilosophie: Warum gerade Cicero? Alle drei genannten Motive, sich mit Religionsphilosophie zu befassen - das Bewußtsein von der Geschichtlichkeit der Religion, ihr politisches Moment (die staatspolitische Notwendigkeit der Toleranz) und ihre Relativierung durch andere Religionen - haben einen interessanten Cicero. Zunächst reizt aber folgendes besonders: Bezug 56 auf M.T.Cicero hat nach Meinung vieler neuerer Philosophen mit Philosophie überhaupt nichts zu schaffen. In dieser Behauptung aber wird weniger ein vernünftiges und begründbares Urteil laut als vielmehr eine historisch gegründete Meinung, die freilich auch deswegen nicht an Richtigkeit zugewinnt, weil sie in vieler Munde ist. Die historische Bedingtheit für so ein krasses Fehlurteil wird uns noch befassen. Von vornherein sollte aber zu denken geben, welche besondere Stellung Cicero in der Philosophiegeschichte einnimmt. Und Geschichte der Philosophie sollte man doch als ein Moment ihres Prozesses selbst begreifen! Darum wäre es unvernünftig, jenen Augenblick von vornherein zu unterschätzen, oder gar zu übergehen, in dem die griechische Philosophie - die in einzelne Schulen zerfallen war - in ihrer Einheit, und damit auch in ihrem Begriff sich wiederfindet natürlich nicht mehr als dieselbe, sondern gebrochen, durch das Okular der römischen Sprache und Kultur. Es ist Cicero, bei dem dieser historische Moment eintritt. Die Frage ist, ob Cicero die historische Gelegenheit als solche erkannt und genutzt hat: Es ist die Frage nach der Einsicht in die Notwendigkeit der Vermittlung der auftretenden Widersprüche. Eckhard Keßler73 hat sie positiv beantwortet, indem er Cicero als denjenigen bestimmte, "der die Philosophie aus Schulstreit und Monoglottie in die potentielle Universalität befreite".74 Die Bedingung dafür ist bei Cicero dessen Bestimmung des menschlichen Geistes und der sapientia: in ihr sind sowohl die Freiheit als auch die Abhängigkeit von einer, für Cicero material bestimmten historischen Realität wesentlich.75 2. Cicero: Mensch - Politiker - Schriftsteller - Philosoph __________________________________________________________ 2.1 Der Mensch Cicero - Grundzüge seines Gedankenwelt als exemplum humanitatis.76 Wesens. Ciceros Eckhard Keßler, Autobiographie als philosophisches Argument? Ein Aspekt des Philosophierens bei Cicero und die gegenwärtige Praxis der Philosophie, in "Studia humanitatis", Festschrift für Ernesto Grassi, hrsg.v. E.Hora u. E.Keßler, München 1973, S.173-187. 74 o.c. 174. 75 Vgl. Josef Mancal, Zum Begriff der Philosophie bei M.Tullius Cicero. Wilhelm Fink Verlag München 1982 (Humanistische Bibliothek, Reihe I: Abhandlungen, Bd. 39, hrsg. v. E.Grassi u. E,Keßler). 76 Büchner, Karl: Studien zur römischen Literatur. Bd.2: Cicero. Wiesbaden 73 57 Die Biographie Ciceros im Stenogrammstil: Geboren 106 v.Chr. in Arpinum, kam Cicero durch seine Erziehung in Rom mit der geistigen Welt des Scipionenkreises in Berührung, der er zeitlebens verbunden blieb. Als Redner rasch bekannt geworden (seinen Hauptrivalen Hortensius besiegte er endgültig im Jahr 70 im Verresprozeß), gewann er einen großen Anhang, so daß er, obwohl homo novus, alle römischen Ämter erlangte und 63 Konsul wurde. (In dieses Jahr fällt die Aufdeckung der catilinarischen Verschwörung). Nach diesem dank einer einmaligen Machtkonstellation erreichten Erfolg sah er sich bald unter bitter empfundenen Demütigungen aus den Staatsgeschäften verdrängt. Im Bürgerkrieg 49/7 auf seiten des Pompeius, wurde Cicero von dem siegreichen Caesar geschont, konnte aber unter ihm nicht politisch tätig sein. Nach Caesars Ermordung (März 44) nahm er den Kampf gegen Antonius auf, der v.a. durch seine sog. Philippischen Reden dokumentiert wird. Auf des Antonius Betreiben wurde er proskribiert und im Dez. 43 ermordet. Ciceros Biographie ist so gut dokumentiert wie kaum eine andere, einmal dank einer Unzahl persönlicher Briefe - an den Freund Atticus, an den Bruder Quintus, an andere Verwandte, Freunde, u.a., zum anderen weil sein literarisches Oeuvre großteils zugleich seinen politischen Kampf darstellt. Man kann also den Originaldokumenten alle Farbe entnehmen, um sein Bild zu malen. Ich werde mich nicht darüber verbreitern, nur ein paar Details und Episoden nennen. (1) In einer Prozeßrede sagt Cicero einmal über sich selbst: "Mir stand nicht das gleiche offen wie denen, die hochwohlgeboren sind, denen die Ehren und Auszeichnungen des römischen Volkes im Schlaf zufallen; ich mußte unter einem ganz anderen Gesetz und anderen Bedingungen hier in diesem Staat leben." 77 Damit ist gemeint: Cicero gehörte dem römischen Ritterstand an, dem ordo equester, der in der politischen Rangordnung die zweite und minder angesehene Stellung einnahm nach der sog. Nobilität, einem exklusiven 1962. Kap.1: Cicero, Grundzüge seines Wesens. Büchner, Karl (Hg): Das neue Cicerobild. Wege der Forschung XXVII. Darmstadt 1972. Gelzer, M., Kroll, W., Philippson, R., Büchner, K.: M.Tullius Cicero. In: (Pauly-Wissowa-Kroll-Mittelhaus, Hg) Realencyclopädie der classischen Altertumswissenschaft VII A, 1939. Seel, Otto: Cicero. Wort, Staat, Welt. Stuttgart 1953. Giebel, Marion: Marcus Tullius Cicero in Selbstzeugnissen und Bilddokumenten dargestellt. Reinbek bei Hamburg 1977 Gelzer, Matthias: Cicero. Ein biographischer Versuch. Wiesbaden 1969. 77 In Verrem II 5, 180. 58 Kreis miteinander versippter stadtrömischer Adelsfamilien, die fast ausschließlich die Beamten für die Staatsverwaltung stellten: Konsuln, Praetoren, Prokonsuln und Zensoren, die das Imperium Romanum in der Form einer aristokratisch geführten Republik regierten. Aus diesen Magistraten rekrutierte sich dann der Senat, dem als kontinuierlichem Verfassungsorgan neben den jährlich wechselnden Beamten das stärkste politische Gewicht zukam. Der Einfluß der Politiker basierte neben der Unterstützung durch die befreundeten und verwandten Adelsfamilien vor allem auf der Institution der Klientel, einem Gefolgschaftswesen besonderer Art. Die Klienten, sozial niedriger stehende Bürger aus Stadt und Land, begaben sich in den Schutz des adeligen Patrons, der ihre Interessen wahrnahm. Dafür gaben die Klienten dem Patron ihre Stimme bei den Wahlen und bildeten sein Gefolge bei politischen Auftritten. Das Ansehen eines Politikers wurde unter anderem danach bemessen, wieviel Leute sich beim Morgenempfang in seinem Hause drängten. Verwandtschafts-, Gefolgschafts- und Gefälligkeitsbindungen spielten die entscheidende Rolle im politischen Leben. Ein junger Mann, der in Rom Karriere machen wollte, ohne aus einer der führenden Adelsfamilien zu stammen und ohne eine illustre Reihe von Verwandten in den höchsten Staatsämtern aufweisen zu können, befand sich von vornherein in der Außenseiterrolle. Er war der homo novus, der neue Mann, der Emporkömmling, der meist zeit seines Lebens nicht als völlig ebenbürtig galt. Cicero war ein solcher homo novus, ein politischer Selfmademan. Der Kampf um Anerkennung hat ihn geprägt. Er hat die Probleme seines neuen Standes besonders kritisch und distanziert zu sehen vermocht und gleichzeitig dessen Normen und Wertbegriffe am hartnäckigsten verteidigt. Er forderte am leidenschaftlichsten die politische und moralische Regeneration des Senatorenstands und wurde nicht müde, diese als Voraussetzung eines gesunden und leistungsfähigen Staatswesens ins Bewußtsein aller zu bringen. In Rom wurde er deshalb spöttisch der "Romulus aus Arpinum" genannt. Damit kommen wir zu einem zweiten Punkt: 2) Cicero entwickelt ein neuzeitlich anmutendes Heimatbewußtsein. Er bekennt sich zu seinem Heimatort Arpinum und setzt ihm in seiner Schrift De legibus (Von den Gesetzen) ein Denkmal. Er erzählt dort seinem Freund Atticus, daß er so gern in Arpinum weilt, "denn hier ist eben genau genommen die eigentliche Heimat für mich und meinen Bruder. Von hier stammen wir, aus einer alten, eingesessenen Familie, hier sind unsere Familienheiligtümer, hier steht unser Stammhaus und alles, was an die Vorfahren erinnert. Was soll ich noch viele Worte machen? Du siehst hier das Gutshaus, so wie es jetzt ist, etwas ansehnlicher umgebaut von meinem Vater, der seine Sorge 59 darauf verwandt hat. Hier hat er sein Leben mit seinen Büchern verbracht, mit seiner Gesundheit stand's nicht zum Besten. Und hier an diesem Ort bin ich geboren, als der Großvater noch lebte und das Haus noch klein und bescheiden war, wie eben damals üblich, ganz wie das Häuschen des Curius im Sabinerland. Darum steckt etwas tief in mir, weshalb mir der Aufenthalt an diesem Ort so ganz besonders wohltut. Aber schließlich hat es ja auch seinen Grund, daß, wie es heißt, jener berühmte kluge Mann die Unsterblichkeit zurückgewiesen hat, nur um sein Ithaka wiederzusehen." 78 Nach Cicero hat jeder Bürger eines municipiums, einer Landstadt eine zweifache Heimat: Rom, dessen Bürgerrecht er besitze und dem jeder seine Dienste widmen müsse, und den Ort, der ihn gezeugt habe. Das ist eine Vorform der späteren, christlichen Auffassung von der zweifachen Heimat, wie sie der Diognetbrief klassisch formuliert: Christen sind "in der Welt, nicht von der Welt" (auch bei Cicero fehlt der Hinweis auf das Religiöse nicht: er weist auf die Familienheiligtümer hin; aber auch wenn er das nicht täte, würde die Erwähnung der Vorfahren genügen.) Das letzte Wort in Ernst Blochs Werk "Prinzip Hoffnung" ist das Wort "Heimat". Blochs "Geist der Utopie" nimmt so bezug auf den alteuropäischen religiösen Gedanken der Gebundenheit an einen Ort. 3) Ein drittes Schlaglicht soll auf etwas verweisen, das schon den jungen raffinierten Anwalt und glänzenden Redner von anderen unterschied: seine Auffassung von Humanität. Die griechische Philosophie und ihr Menschenbild hat in das römische Denken Eingang gefunden und ist mit ihr eine einzigartige Verbindung eingegangen. Hören Sie das Zitat vom Schluß einer Verteidigungsrede (Pro Roscio Amerino): "Jeder von euch sieht, daß das römische Volk, das früher als besonders milde gegen seine Feinde galt, jetzt an dem Übel der Grausamkeit gegen die eigenen Bürger leidet. Verbannt sie aus dem Staat, ihr Richter, laßt sie nicht länger hier in unserem Staatswesen herrschen! Sie brachte nicht nur das Unglück mit sich, so viele Bürger auf die gräßlichste Art hingerafft zu haben, sie hat auch die Mildherzigsten durch die dauernde Gewöhnung an die Greuel dem Mitleid entfremdet. Denn der ständige Anblick der grausigen Geschehnisse raubt uns und selbst den sanftesten Naturen unter uns - durch den unablässigen Druck der Leiden jeden Sinn für Menschlichkeit (humanitas)." 79 Zur Erläuterung muß man zunächst sagen, daß Cicero Glück hatte mit seiner Ausbildung. Seine Familie hatte ganz gute Beziehungen zu Senatorenkreisen 78 79 De leg II 3. Pro Roscio Amerino 154. 60 in Rom, und die nutzte der Vater, um seinen Söhnen die bestmögliche Erziehung angedeihen zu lassen. Der junge Marcus erwies sich nicht nur als hochbegabt, sondern auch als sehr ehrgeizig. Seine Maxime war, mit den Worten Homers, "immer der erste zu sein und sich auszuzeichnen vor andern"80 Im Jahr 90 v.Chr. empfing Cicero aus den Händen des Vaters die Toga virilis, die Männertoga. Das war ein feierlicher Akt, der den Eintritt in die Erwachsenenwelt bezeichnete. Der junge Mann wurde in festlichem Zug aufs Forum geleitet, und dort erfolgte die Eintragung in die Bürgerliste. Anschließend wurde er der römischen Sitte gemäß in der Form der deductio führenden Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens beigegeben. In deren Gefolge wurde er Zeuge des Wirkens der Politiker auf dem Forum und im Senat und lernte so die politische Praxis kennen. (Ähnlich wie heute so manche politische Karriere mit der Aufgabe eines Sekretärs eines wichtigen Politikers beginnt.) Der hochverehrte Lucius Licinius Crassus, mit dem die Familie Ciceros befreundet war und nach dessen Richtlinien für die Redekunst Marcus lernte, war 91 gestorben, und Cicero kam zu einem berühmten Rechtsgelehrten, dem Augur Quintus Mucius Scaevola. Dieser war schon hochbetagt. Er hatte im Jahr 117 das Konsulat innegehabt. Cicero nahm an den Rechtsberatungen des Scaevola teil und legte damit den Grundstein zu seiner profunden Kenntnis des privaten und öffentlichen Rechts. Zugleich lernte er im Haus des Scaevola die führenden Männer seiner Zeit kennen. Das Wichtigste aber war die Verbindung des alten Scaevola mit der Ideenwelt des Scipionenkreises und die grundlegende geistige Prägung, die Cicero aus dieser lebendigen römischen Tradition heraus erhielt. Scaevolas Schwiegervater war Laelius gewesen, der hochgebildete und feinsinnige Freund des jüngeren Scipio Africanus, des Zerstörers von Karthago. Um diesen Scipio, eine der berühmtesten Persönlichkeiten Roms, hatte sich ein Kreis führender Männer gebildet, Griechen wie Römer, die in ihrer Aufgeschlossenheit für die geistigen und kulturellen Strömungen ihrer Zeit die erste und zugleich äußerst bedeutungsvolle Begegnung des Römischen mit dem Geist des Griechentums ermöglichten. Ciceros Appell an die humanitas verweist weiters auf seine eigene Erfahrung: Nach dem Tod des alten Augurs Scaevola setzte Cicero seine Ausbildung bei dessen Verwandten, dem Pontifex Maximus Quintus Mucius Scaevola fort. Dieser wurde im Jahr 82 ermordet. In den Jahren 90/89 v.Chr. war Cicero Soldat im Bundesgenossenkrieg. Die Italiker - sie besaßen nur den rechtlichen Status von Bundesgenossen - hatten, nachdem ihnen das römische Bürgerrecht verweigert worden war, 91 einen blutigen Krieg entfesselt, der ihnen nach hohen Verlusten auf 80 Ilias VI 208 – ad Quintum fratrem III, 5,4. 61 beiden Seiten 89 die Gleichstellung mit den Römern brachte. Doch dieser Krieg war nur der Auftakt zu einem Jahrhundet politischer Wandlungen und gewaltsamer Veränderungen, in dem die römische Republik, von Kriegen und innenpolitischen Wirren erschüttert, schließlich durch die Herrschaft eines einzelnen Mannes abgelöst wurde. Im Anschluß an den Bundesgenossenkrieg wurde Rom von äußeren Gefahren bedroht. Die Kimbern und Teutonen standen an den Grenzen Italiens. Um dieser Gefahr zu begegnen, wählte der Senat Gaius Marius, wie Cicero ein homo novus aus Arpinum, fünfmal hintereinander zum Konsul (104-100). Er war erfolgreich, hatte damit aber so viel Macht gewonnen, daß er sie nicht mehr abzugeben bereit war. Es kam zur Auseinandersetzung mit Sulla, eine Zeit wechselnder Schreckensherrschaften und Strafgerichte mittels der sog. Proskription. In einer solchen Zeit begann die Karriere Ciceros. Er setzte relativ spät ein, dafür bestens vorbereitet. In aufsehenerregenden politischen Prozessen vermochte er die Popularität zu erringen, die für die von ihm angestrebte übliche Ämterlaufbahn vonnöten war. Er profilierte sich politisch. In Rom war es - im Unterschied zu Griechenland nicht der Angeklagte selbst, der in einem Prozeß das Wort ergriff, sondern dessen Anwalt, der somit die volle Verantwortung für seinen Klienten trug. Er war der patronus, und das Verhältnis zwischen Klient und Anwalt war auf fides, auf Treue und Pflichtbewußtsein, gegründet. (In der römisch katholischen Kirche hat fides, Glauben, bis heute diese dominierende Konnotation). Ein Anwalt konnte sich auf diese Weise eine Klientel schaffen, was besonders für einen homo novus, der nicht von seiner Familie her bereits eine große Anhängerschaft besaß, von ausschlaggebender Bedeutung war. In der konkreten Rede Pro Roscio bestand die Kunst v.a. darin, gegen Parteigänger des Sulla zu gewinnen, ohne den Mächtigen selbst zu provozieren. Cicero bewältigte das, indem er Sulla soweit wie möglich heraushielt. Er stellte ihn dar als einen in den Staatsgeschäften aufgehenden Mann, der für die Taten eines jeden seiner Sklaven ebensowenig verantwortlich zu machen sei wie Jupiter für Sturm und Unwetter. Dem Angeklagten Roscius war nämlich der Mord am Vater in die Schuhe geschoben worden, vermutlich von den Mördern selbst, die so an das Vermögen des Ermordeten herankommen wollten. Doch vermeidet Cicero keineswegs die Auseinandersetzung mit der politischen Situation. Er bekennt sich zum Sieg der von Sulla geführten Nobilität - nachdem der von ihm gewünschte Vergleich gescheitert sei - , doch wenn dieser Sieg in Terrorakten und dem Emporkommen solcher Kreaturen wie Chrysogonus bestehe, so sei er verloren und verschenkt. 62 An die Nobilität richtet Cicero ernste Ermahnungen: Wenn sie nur von Eigennutz und Gewinnstreben geleitet sei, werde sie ihre Vomachtstellung nicht halten können. Sie werde sie vielmehr mit denen teilen müssen, die nicht der Geburt, aber ihrer Gesinnung und Handlungsweise nach als nobiles anzusprechen seien. Das ist nicht nur ein aktueller politischer Wink, daß die rein senatorisch besetzten Gerichte wieder abgeschafft werden und die Ritter wieder Zugang zum Geschworenenamt erhalten könnten, es ist Ciceros feste Überzeugung, die er während seines ganzen Lebens vertritt: Die Nobilität darf ihren Vorrang nicht der Geburt und Abstammung verdanken, den wahren Adel erwirbt man nur im Dienst der res publica, und man kann auch ein nobilis sein, ohne aus der Adelsclique zu stammen. Diese Gedanken verdichten sich später zu Ciceros politischem Programm der concordia ordinum, der Eintracht zwischen Senat und Ritterschaft und steigern sich weiter zum consensus omnium bonorum, dem Zusammenschluß aller staatserhaltenden Kräfte, zu denen Cicero in seiner großen Rede für Sestius Männer aller Stände, ja sogar Freigelassene rechnet. Der aufsehenerregende Prozeß endete mit einem Freispruch. Plutarch berichtet, daß Cicero anschließend, um der Rache des Sulla und des Anklägers zu entgehen, zu einem zweijährigen Studienaufenthalt nach Griechenland und Kleinasien reiste. Cicero selbst begründet die Reise mit seiner angegriffenen Gesundheit. Der Studienaufenthalt in Griechenland gehörte zum Ausbildungsprogramm des jungen Römers, und im Fall Ciceros war er durch die Bürgerkriegswirren verzögert worden. Von den Vorlesungen, die er dort inskribiert hat, werden wir noch zu reden haben. 4) Die nächste Episode zeigt Cicero als rasanten Aufsteiger in der Ämterlaufbahn, dem cursus honorum. Deren erste Stufe war die Quaestur. Unter Sulla gab es 20 Quaestoren; die quaestores urbani waren als Finanz- und Verwaltungsbeamte in Rom beschäftigt, die anderen gingen als Gehilfen des Statthalters mit diesem in die Provinz. Cicero erhielt Westsizilien zugewiesen mit dem Amtssitz Lilybaeum. Mit einer für die damaligen Verhältnisse geradezu einzigartigen Gewissenhaftigkeit und Unbestechlichkeit verwaltete er sein Amt. Er hatte Getreide aufzukaufen, um einer Teuerung in Rom abzuhelfen, und dies gelang ihm, ohne die Provinzialen durch zu niedrige oder seinen vorgesetzten Praetor durch zu hohe Preise zu verärgern. Cicero war der irrigen Ansicht, durch seine Verdienste werde er in Rom nun in aller Munde sein. Er schildert (Pro Plancio 64f.), wie er von seinem Wahn geheilt wurde. Es war auf der Heimreise, im Badeort Puteoli: "Und da hätte mich doch fast der Schlag getroffen, als mich einer fragte, seit wann ich von Rom weg sei und was es dort Neues gäbe. Auf meine Antwort, ich käme gerade aus der 63 Provinz, meinte der andere: 'Ach ja, natürlich, aus Afrika, glaube ich.' Mir stieg die Galle und ich sagte unwillig: 'Nein, aus Sizilien.' Darauf ein anderer im Tone des Besserwissers: 'Was, du weißt nicht, daß Cicero Quaestor in Syrakus (dem Amtssitz des anderen sizilischen Quaestors) war?' Da gab ich's auf, mich zu ärgern und tat, als sei ich einer der Badegäste. Aber diese Erfahrung wurde für mich nützlicher, als wenn mir alle gratuliert hätten. Nachdem ich eingesehen hatte, daß die Römer taube Ohren, aber gute und scharfe Augen haben, legte ich keinen Wert mehr darauf, was die Leute von mir zu hören bekamen. Ich sorgte dafür, daß sie mich von nun an tagtäglich vor Augen hatten, ich blieb ständig in ihrem Gesichtskreis und nistete mich auf dem Forum ein, und weder mein Türhüter noch mein Schlaf durften jemanden daran hindern, zu mir zu kommen." Aus dieser Erfahrung heraus lehnte er später auch die Provinz ab, deren Verwaltung ihm nach der Praetur zustand, um ständig in Rom anwesend sein zu können. Den ersten Rang als Redner errang Cicero 70 v.Chr. mit dem Prozeß (ausnahmsweise als Ankläger) gegen Gaius Verres, einen nobilis, der als Statthalter die Provinz Sizilien verwaltete und dort übler gehaust hat als in einem feindlichen Land. Die Sizilianer baten Cicero, zu dem sie großes Vertrauen hatten, um Hilfe, und dieser reichte als ihr patronus die Klage ein. Damit war der Auftakt zu einem erbitterten Intrigenspiel gegeben, denn Verres und seine zahlreichen Anhänger aus der Nobilität waren nicht gewillt, vor römischen Untertanen und einem homo novus zurückzuweichen. Cicero unterlief alle Bemühungen der Gegenseite, den Fall zu verschleppen (wenn das gelungen wäre, hätte im Jahr darauf der Verteidiger Hortensius und zwei weitere Freunde des Verres das Konsulat und den Gerichtsvorsitz gehabt), indem er in außerordentlich kurzer Zeit sein Anklagematerial zusammenbrachte und außerdem zum letzten Mittel griff: er verzichtete auf die Einhaltung der üblichen Prozeßordnung, die mehrere Tage für die Anklage vorsah, und begann nach seiner ersten kurzen Rede sogleich mit dem Zeugenverhör. Unter dem Druck des Beweismaterials und dem der empörten Volksmenge verzichtete der gegnerische Anwalt Hortensius, der führende Verteidiger in Rom, auf sein Plädoyer, und Verres trat bereits vor seiner Verurteilung freiwillig den Gang in die Verbannung an. Damit hatte Cicero Hortensius überrundet, er war jetzt unbestritten der erste Anwalt Roms. Für das Jahr hatte dann Altersgrenze Dabei half berüchtigte 63 v.Chr. bewarb sich Cicero um das Konsulat. Er das 43.Lebensjahr erreicht, die unterste für das höchste Staatsamt. Er wurde gewählt. ihm, daß einer der Gegenbewerber der schon Catilina war. Cicero arrangierte sich mit dem 64 Amtskollegen Gaius Antonius, dem Großvater des Triumvirn, indem er ihm die reiche Provinz Makedonien überließ, womit dieser seinen Schuldenberg abbauen konnte. Der stolzeste politische Erfolg in der Amtszeit Ciceros war die Aufdeckung und Niederschlagung der catilinarischen Verschwörung. An dieser Stelle soll zugegeben werden, daß die Geschichtsschreibung, auf die wir uns hier verlassen, wie auch die Epoche selbst, von der sie berichtet, eine patriarchale ist, d.h. eine, die das geschichtliche Handeln von Männern im Blick hat und das gleichzeitige und ebenso geschichtliche Handeln von Frauen ausblendet. Es berichtet etwa vom erzieherischen Einfluß des Vaters, erwähnt aber nicht den der Mutter, die vielleicht wie im Fall Goethes die wichtigere war. Im Fall der catilinarischen Verschwörung hebt sich der Vorhang einen Augenblick und es zeigt sich, daß Cicero alle seine Informationen von der Geliebten eines der Verschwörer hatte. Ich referiere weiterhin patriarchale Geschichtsschreibung, aber ich wollte nur darauf hinweisen, daß das natürlich ein verzerrtes Bild gibt. Wir haben nur derzeit noch kein anderes. Nach der Hinrichtung der Verschwörer (Catilina war nicht dabei, er fiel erst später im Kampf gegen die Truppen des Antonius) wurde Cicero als Retter des Vaterlands gefeiert, der Senatssprecher begrüßte ihn als pater patriae und beantragte ein Dankfest für die Götter, eine öffentliche Ehrung, die sonst nur siegreichen Feldherrn und jetzt zum erstenmal einem togatus, einem Beamten im Zivilrang, zuteil wurde. Er hatte die Einmütigkeit im Staat erreicht. Hier setzt aber auch die Kritik am Politiker Cicero ein: Er habe nicht erkannt, daß die Einmütigkeit nicht von Dauer sein konnte, weil sie nur unter dem Druck der Verhältnisse zustande gekommen war, als es den verschiedenen Gruppen an den Lebensnerv ging, als Hab und Gut, Kapital und Einfluß auf dem Spiel standen. Sobald die Gefahr gebannt schien, zerfiel die Front wieder und das Gruppeninteresse dominierte. Das sollte schon bald verhängnisvolle Folgen haben, als Pompeius aus dem Osten zurückkehrte. Ciceros Fehler war es, an einen echten Sinneswandel und echte politische Einsicht zu glauben, wo nur blankes materielles Interesse vorlag. Er konnte aber seiner ganzen politischen Denkungsart nach den Gedanken an eine mögliche Verwirklichung seiner concordia-Idee niemals aufgeben und bemühte sich zeitlebens, bis zum letztenmal im Kampf gegen Antonius, um die Wiederbelebung dieser politischen Konstellation. Dieses Festhalten Ciceros an der im Jahr 63 bewährten politischen Idee werten fast alle seine Kritiker als Beweis für seine beklagenswerte politische Kurzsichtigkeit, seinen Mangel an historischer Perspektive, eine innerhalb der Kategorien von 65 Gut und Böse begrenzte, im Grunde völlig unpolitische Sicht und mangelndes Verständnis für den Ernst und die Beschaffenheit der Krise des römischen Staates. (Eine rühmliche Ausnahme bildet Büchner, wenn er sagt: "Die Erhaltung des römischen Staates war keine Frage der Staatsform, sondern der Moral." 81) Das negative Urteil geht v.a. auf Theodor Mommsen zurück ("Als Staatsmann ohne Einsicht, Ansicht und Absicht..." - Römische Geschichte III 619). Heute sieht man deutlicher, daß diese Art der Beurteilung eine Fülle richtiger Einzelbeobachtungen enthält, im Ganzen aber wertlos ist ohne die klare, in allen Konsequenzen durchdachte und dargelegte Erkenntnis der damals gegebenen Alternative. Diese Alternative, von den Kritikern teils ausgesprochen, teils ausgespart, heißt Caesar und der Prinzipat. Die Senatsregierung, korrupt und schwerfällig wie sie war, festgefahren in den Bahnen gemeindestaatlichen Denkens, sei, so sagt man, nicht fähig gewesen, das Weltreich zu regieren, dazu habe es der Neuordnung bedurft, wie sie Caesar und seine Nachfolger vornahmen. Es ergibt sich nun die Frage, ob dieses Urteil nicht in der historischen Bedingtheit der Kritiker selbst begründet ist, einer Art Besoffenheit vom Gedanken der Monarchie, der Herrschaft des einen, sei es Kaiser oder GRÖFAZ, Hauptsache einer. (Es wirkt sich eben oft in wissenschaftlichen Meinungen aus, wenn ein Wissenschafter, z.B. ein Historiker sein Gehalt in einem Staat bezieht, an dessen Spitze so ein Herrscher steht.) Es geht im Grunde darum, ob man es heute noch verantworten kann, nur deren Funktionierens wegen die Diktatur einer Form der Demokratie vorzuziehen. Für Cicero jedenfalls war die Alleinherrschaft keine annehmbare Alternative zu der Staatsform, an die er nach seiner Bildung durch römische Tradition und die in der Polisdemokratie verwurzelte griechische Philosophie glaubte. Die Krise der res publica, die durch den Ehrgeiz einzelner Männer und die Korruptheit und Uneinigkeit der Senatsregierung zum Ausbruch gekommen war, konnte nach seiner Meinung nicht allein durch Verwaltungsakte überwunden werden, sie war nicht so sehr ein organisatorisches als vielmehr ein moralisches Problem, und es bedurfte v.a. der inneren Wandlung, der Erziehung der führenden Männer und aller Stände zu verantwortungsbewußtem Handeln für die gemeinsame Sache. Nun gehört aber der Glaube an den guten Willen und die moralische Lenkbarkeit der Bürger zum Fundament jeder Demokratie, welche Ausprägung und welchen Reifegrad sie auch erreicht haben mag; in dieser Grundvoraussetzung liegt auch zugleich ihr Mangel, die "glorreiche Schwäche der Demokratie" (Mommsen). Eine Kritik an Ciceros politischer Grundüberzeugung enthält also zugleich einen Zweifel an der Möglichkeit einer 81 Büchner, Cicero, S.147. 66 Verwirklichung der Demokratie überhaupt. Wer Cicero Kurzsichtigkeit und unpolitisches Denken vorwirft, ohne seine völlige Hingabe an sein Staatsideal in Rechnung zu setzen, wird ihm nicht gerecht und muß andererseits die Diktatur Caesars, deren Programm doch recht undurchsichtig ist, und die spätere Monarchie gutheißen. In dieser funktionierte allerdings - aber auch nur unter guten Kaisern - die Reichsverwaltung und die Innenpolitik besser als in der republikanischen Zeit, die Freiheit aber war verloren und mit ihr die Staatsgesinnung und das Verantwortungsgefühl für eine "gemeinsame Sache". Dafür geben uns die Schriften des Tacitus und manche Briefe seines Freundes Plinius erschütternde Beweise, und diese stammen aus der Regierungszeit Trajans, der nach Augustus als der beste aller Caesaren anzusehen ist. 5) Eine glückliche Stunde war Ciceros triumphale Rückkehr aus dem Exil, in das er sich durch ein von seinem Feind Clodius durchgebrachtes Gesetz, vom eingeschüchterten Senat im Stich gelassen, von Pompeius verleugnet und von den Konsuln Piso und Gabinius brüskiert, begeben hatte. Es war ihm sehr schlecht gegangen. Sein Selbstwertgefühl hing, damals jedenfalls noch, fast ausschließlich von der Einschätzung durch die Umwelt ab, mit der Verstoßung aus Rom schien er jeden Halt verloren zu haben. Er mußte sich auch Sorgen um seine Familie machen. An die Gattin Terentia schrieb er einmal: "Ich bin verloren, bin im Elend! Soll ich dich jetzt bitten, zu mir zu kommen, dich, eine kranke, an Leib und Seele gebrochene Frau? Oder soll ich dich nicht bitten, soll ohne dich sein? ... Das eine sollst du wissen: Wenn ich dich habe, werde ich mir nicht ganz verloren vorkommen. Aber was soll aus unserer lieben Tullia werden? Da müßt ihr zusehen, ich kann euch keinen Rat geben. Aber was auch kommen wird, man muß auf jeden Fall darauf achten, daß die Ärmste ihre Ehre und ihren guten Ruf nicht gefährdet. Und was wird aus unserem kleinen Cicero werden? Wenn ich ihn doch immer in meinen Armen halten könnte! Ich kann nicht mehr weiterschreiben, der Kummer überwältigt mich." 82 (Bei der Lektüre solcher Textstellen bei Cicero kann man ahnen, welche Rolle Cicero im Humanismus gespielt hat, besonders bei Petrarca, der von der dulcedo et sonoritas verborum Ciceronis spricht: "eine gewisse Süße und Harmonie des Stils fesselten mich derart, daß alles, was ich sonst las oder hörte, mir heiser, rauh und unharmonisch vorkam." 83 Wir können, mit Walter Rüegg 84 zu sprechen, das Wesen des Humanismus in der Haltung finden, mit der Petrarca als 82 83 84 fam XIV 1 (4), 3. Sen. XVI,1. Walter Rüegg, Cicero und der Humanismus. Formale Untersuchungen über Petrarca und Erasmus, Zürich: Rhein-Verlag 1946, S.7-63. Abegedruckt in: K.Büchner (Hrsg.), Das neue Cicerobild, Darmstadt 1971. S.65-128. 67 moderner Mensch einem antiken Menschen begegnet und in dessen Sprache die befreiende Form seiner eigenen geistigen Situation und deren Bedürfnisse findet.) Es bedurfte des Abwartens bis zu den nächsten Wahlen, bei denen wieder Freunde Ciceros zum Zug kamen, und der Aufstellung eigener Schutztruppen gegen den Bandenterror des Clodius, um einen Volksbeschluß zu erreichen, der Cicero zurückberief. Seine Heimkehr gestaltete sich zu einem großen Triumph, von dem er noch lange zehrte: "Auf dem ganzen Weg schien es, als ob Italiens Städte meine Rückkehr als einen Festtag begingen. Die Straßen waren voller Abordnungen von überall her, die Umgebung von Rom war überfüllt von einer unübersehbaren Menge von Gratulanten. Der Weg vom Stadttor, der Aufgang zum Kapitol, die Rückkehr in mein Haus - alles war so, daß ich mitten in der größten Freude nur darüber Schmerz empfand, daß ein so dankbares Volk so elend und unterdrückt hatte sein müssen." 85 Wieder täuschte sich Cicero bezüglich der Tragfähigkeit der momentanen politischen Einmütigkeit. Die Abmachung zwischen Caesar, Pompeius und Crassus auf der Konferenz von Luca zur Erneuerung ihres Triumvirats traf Cicero wie ein Blitz aus heiterem Himmel, denn Pompeius war kurz vorher noch mit ihm zusammengewesen und hatte nicht das geringste von seinen Absichten verlauten lassen. Die folgenden Jahre brachten noch manche weitere Demütigung für Cicero. Er sieht immer mehr ein, daß seine Rolle in der Politik ausgespielt ist. Seinem Bruder gegenüber klagt er: "Es tut mir weh, liebster Bruder, es tut mir in der Seele weh, daß wir keinen Staat mehr haben, kein Gerichtswesen, und daß ich in meinem Alter, in dem ich mich eigentlich meiner Würde als Senator zu erfreuen hätte, mich entweder mit Prozeßkram herumschlage oder mich daheim mit literarischen Arbeiten aufrechterhalte, und daß mein Leitstern, an dem ich von Kindheit an meine Freude hatte, nämlich 'Immer der Erste zu sein und sich auszuzeichnen vor andern', ganz und gar erloschen ist, und daß ich meine Gegner teils unbehelligt lassen, teils sogar verteidigen muß, daß ich nicht in meiner Gesinnung, ja nicht einmal in meinem Haß frei bin." 86 In dieser für ihn nach außen so glanzlosen und wenig erfreulichen Zeit beginnt seine erste schriftstellerische Periode. Zwischen den Jahren 55 und 51 entstehen die Werke de oratore (Vom Redner), de re publica (Vom Staat) und de legibus (Von den Gesetzen). Es war Flucht aus der unerträglich gewordenen politischen Wirklichkeit und zugleich Fortsetzung 85 86 Pro Sestio 131. Quint III 5, 4. 68 der Politik mit anderen Mitteln. 6) Cicero kommt in ärgste Bedrängnis; als der Konflikt zwischen Caesar und Pompeius auf eine Entscheidung hindrängt, irrt Cicero zwischen den Fronten verloren herum. Caesar hat sich um ihn bemüht, ihn persönlich aufgesucht und gebeten, im Senat in seinem Sinn zu sprechen. Cicero hat ihm widerstanden, wie er seinem Freund Atticus brieflich berichtet: Beides ging deinem Rat entsprechend: Einmal habe ich so gesprochen, daß ich eher Respekt als Dankbarkeit bei ihm erweckte, und zum zweiten blieb ich dabei: Ich komme nicht nach Rom! Nur darin habe ich mich getäuscht, daß ich ihn für nachgiebig hielt. Nichts weniger als das... Nach langem Hin und Her: "Komm also und rede zum Frieden!" "So wie ich es für richtig halte?" Er: Sollte ich dir etwa Vorschriften machen?" Ich: "Dann werde ich mich dafür einsetzen, daß der Senat den Heereszug nach Spanien und den Transport von Truppen nach Griechenland mißbilligen soll, und ich werde das Geschick des Pompeius lebhaft bedauern." "Daß so etwas gesagt wird, will ich nicht!" "Das habe ich mir gedacht", sagte ich, "aber gerade deshalb will ich ja nicht kommen. Entweder muß ich mich so äußern oder wegbleiben, und wenn ich da bin, muß ich vieles sagen, was ich einfach nicht verschweigen kann." Das Ergebnis war schließlich, daß er, um einen guten Abgang zu finden, sagte, ich solle mir die Sache noch einmal überlegen. Das konnte ich nicht abschlagen, und so schieden wir. Ich glaube also nicht, daß er mit mir zufrieden war, aber ich war's mit mir, und das ist mir schon lange nicht mehr passiert. - Was das übrige anlangt - gute Götter! - was er da für Leute bei sich hat! Die reinste Unterwelt, um deinen Ausdruck zu gebrauchen!... Es ist aus mit uns... Doch seine Bemerkung zum Schluß - ich hätte sie beinahe vergessen -, die war noch besonders widerwärtig: Wenn er sich meiner Ratschläge nicht bedienen könne, so werde er sich eben an die Leute halten, die ihm zur Verfügung ständen, und zu den äußersten Mitteln greifen. 87 Cicero hat weitere Aufforderungen, wenigstens neutral zu bleiben, hartnäckig abgelehnt und mußte nach dem Sieg Caesars über Pompeius den Sieger mit großer Bangigkeit erwarten, - am 25.Sept.47 war es -Caesar ersparte ihm aber alle Peinlichkeit, stieg aus dem Wagen, begrüßte ihn herzlich und ging mit ihm ein langes Stück Weg in traulichem Gespräch. Cicero durfte nach Rom zurückkehren. Die Liktoren übrigens, die er schon die längste Zeit als Anwärter auf einen Triumph mit sich herumgeschleppt hatte (bei seiner Statthalterschaft in Kilikien im Jahr 51 wurde ein bißchen gekämpft und hatten ihn seine Soldaten zum Imperator ausgerufen), entließ er nun, weil ihm der Gedanke, den Triumph von Caesars Gnaden zu erhalten, 87 Att IX 21 (18), 1,2,3. 69 unerträglich war. 8) Ein signifikantes Ereignis im Leben Ciceros ist die Ermordung Caesars am 15.März 44, dem Senatssitzungstermin, bei dem Caesar die Königswürde hätte zuerkannt werden sollen. Cicero war nicht in den Attentatsplan eingeweiht; man traute ihm nicht genügend Mut und Entschlossenheit zu, und schließlich war er auch schon ein Mann von über sechzig Jahren. Aber nach der blutigen Tat hielt Brutus den Dolch in die Höhe und rief: "Cicero!" und beglückwünschte ihn damit zu der wiedergewonnenen Freiheit. Cicero galt also offenbar als der Repräsentant der republikanischen Staatsform. Im ersten Augenblick triumphierte Cicero auch über den Tod des Tyrannen, aber die Euphorie war bald verflogen. Es zeigte sich, daß die Tyrannenmörder die Freiheit nicht zu sichern verstanden. "Für mich besteht kein Zweifel, daß es auf einen Krieg hinausläuft. Jene Tat ist zwar mit dem Mut von Männern, aber mit dem Verstand von Kindern vollbracht worden." (Att XIV 21,3) schreibt Cicero und meint damit vor allem den kapitalen Fehler, den Thronerben Antonius nicht gleichzeitig zu entmachten. Es folgt ein neuerliches Triumvirat und ein neuerlicher Endkampf. Cicero ist wieder eine Zeit lang als Führer der Senatspartei der unbestritten einflußreichste Mann in Rom, so sehr, daß Antonius das Gerücht ausstreuen konnte, Cicero wolle sich zum Diktator ausrufen lassen. Das war natürlich kaum glaublich. Sein Verdienst in den Wirren war, zumindest den Versuch unternommen zu haben, eine Alternative zur Caesarnachfolge des Antonius zu schaffen und damit einen Versuch, die Republik zu retten. Es siegte wieder nicht die res publica, sondern die größere militärische Macht. 9) Aus den letzten Lebensmonaten Ciceros haben wir wenig Quellenmaterial. Er versuchte wohl, seinen Frieden mit Octavius zu machen und lebte teils in Rom und teils auf seinen Gütern. Möglicherweise bereitete er die Herausgabe seiner letzten Schrift vor, de officiis (vom pflichtgemäßen Handeln).Er konnte hoffen, den Schutz des Octavius zu genießen, der ihn einmal als "pater" bezeichnet hatte. Aber beim Triumviratsschluß Ende Oktober setzte Antonius durch, daß Ciceros Name an die Spitze der von den Triumvirn vereinbarten Proskriptionsliste gestellt wurde. Octavius soll sich drei Tage dagegen gesträubt haben. Cicero versuchte zu fliehen, aber es war zu spät. Als die Schergen kamen, untersagte er seinen Leuten, Widerstand zu leisten. Er beugte sich aus der Sänfte und erwartete so den Todesstreich. Der Anführer des Kommandos hieb ihm den Kopf und die Hand ab, mit der er die Philippischen Reden geschrieben hatte, und brachte beides befehlsgemäß zu Antonius. Dieser ließ Kopf und Hand auf der 70 Rednerbühne aufstecken, "ein gräßlicher Anblick für die Römer, die eher ein Abbild von Antonius' Seele als das Antlitz Ciceros zu erblicken glaubten" (Plutarch Cic 49). Octavius setzte zeichenhaft nach seinem Sieg über Antonius Ciceros Sohn im Jahr 30 v.Chr. zum Konsul und Pontifex ein, obwohl dieser noch kein Staatsamt innegehabt hatte und außer dem Namen des Vaters keinerlei Vorzüge aufzuweisen hatte. Manches deutet auch darauf hin, daß der spätere Princeps Augustus, dem das Bewahren des Staates am Herzen lag, seinen ehemaligen politischen Mentor möglicherweise besser verstand als in der Zeit seines gewaltsamen Aufstiegs. Im "Monumentum Ancyranum", dem politischen Rechenschaftsbericht seiner späten Jahre, weisen wörtliche Anklänge auf die Philippischen Reden Ciceros zurück, und manche von Augustus' Maßnahmen und Aussprüchen lassen erkennen, daß Cicero in vielem die augusteische Epoche vorbereitet hat. 2.2 Anspruch und Anerkennung des Geistes in Rom Wir greifen in gewollter Einseitigkeit aus dem so bunten und spannenden Lebensbild Ciceros eine Seite heraus und nennen es "Anspruch und Anerkennung des Geistes in Rom". Dieser Anspruch läßt sich von Cicero an bei Lukrez, Sallust und vor allem bei den augusteischen Dichtern erkennen. Er wird in der Weise geltend gemacht, daß Cicero seine innenpolitische Tat, Lukrez die philosophische Lehre Epikurs, die augusteischen Dichter ihr literarisches Wirken mit der Leistung des Imperators wie des Herrschers überhaupt vergleichen und sich dabei der Terminologie für die kriegerische Tat, aber auch für die daraus resultierenden Ehren bedienen. Cicero hat dabei, wie es scheint, einen entscheidenden Impuls gegeben.88 Bedenken wir, wie wenig Resonanz, geschweige denn Anerkennung, das literarische Schaffen und das Geistige überhaupt für lange Zeit in Rom fand. Was der alte Cato aussprach: "poeticae artis honos non erat; si quis in ea re studebat..., grassator vocabatur", galt streng genommen auch noch für die Zeit des Horaz. In der Wertskala des römischen Ruhms stand an erster Stelle die Leistung des Imperators, allenfalls beeindruckte der rednerische Glanz auf dem Forum und im Senat. Dichter, Schriftsteller und Philosophen standen allenfalls im Ansehen weniger, oft zu dem handfesten Zweck der Verherrlichung der res gestae imperatorum. Sogar von der Bildung des sogenannten Scipionenkreises macht man sich wahrscheinlich eine zu übertriebene Vorstellung, weil man ihn durch die idealisierende Brille Ciceros zu sehen gewohnt ist. Vgl. Vinzenz Buchheit, Ciceros Triumph des Geistes. Gymnasium 76 (1969), S.232-253. Abgedruckt auch in: Ciceros literarische Leistung. Hrsg.v.Bernhard Kytzler. Wissenschaftliche Buchgesellschaft Darmstadt 1973, S. 489-514. 88 71 Es bedurfte des Glücksfalls, daß sich die bedeutende geistige Potenz Ciceros mit der auctoritas des Konsuls und des ersten Anwalts Roms verband, um eine entscheidende erste Bresche für die Anerkennung des Geistigen in Rom zu schlagen. Cicero wußte, daß er nur auf der Basis einer anerkannten politischen Tat die traditionelle Wertskala aufbrechen konnte. Nicht zufällig forcierte er daher den Kampf um den Triumph des Geistes auf dem Höhepunkt seiner politischen Karriere, gegen Ende des Konsulats, als er die Niederwerfung der Catilinarischen Verschwörung erreicht sah. Aufschlußreich ist das letzte Drittel der dritten Catilinarischen Rede Ciceros, und andere Stellen.89 Im Bewußtsein, eine Leistung des animus, nicht des corpus vollbracht zu haben, wird der traditionelle Ruhm des Feldherrn von Cicero abgelehnt. Nicht Monumente, nicht Statuen, nicht Triumph, nicht Bilder zählen, sie sind als muta und tacita ungemäß und vergänglich. Gefordert werden memoria aeterna, sermones, litterarum monumenta, animorum simulacra summis ingeniis expressa et polita, stabiliora quaedam et viridiora praemiorum genera. Für den optimus quisque, d.h. für den Staatsmann ciceronischer Provenienz, gelten nur die monumenta aeterna. Cicero beruft sich sogar in Arch. 30 und Sest. 43 für die Ruhmesidee ausdrücklich auf seine philosophische Bildung. In allen Texten spricht er direkt oder indirekt von der quasi divina mens und von der aeternitas der Tat des wahren Staatsmanns, einer Tat nicht des corpus, der arma, sondern des animus. Die Nachwirkung seines Einsatzes für die Vorrangstellung des Geistes in Rom merken wir, wenn Horaz sein Exegi monumentum aere perennius schreibt und Ovid sein iamque opus exegi. Hier wird Cicero mitgefeiert. Die Idee des Geistes tritt mit Cicero in Rom und für lange Zeit im Abendland ihren Siegeszug an. Wenige lateinische Texte haben in Antike und Christentum so gewirkt wie das Somnium Scipionis.90 "Ciceros darin verewigter Glaube an die Wirkung und die Unsterblichkeit des Geistes hat sich bewahrheitet. Der Triumph des Geistes im Abendland ist auch ein Triumph Ciceros."91 2.3 Beredsamkeit und Weisheit bei Cicero Cicero war nicht nur der große Redner, als den man ihn kennt, auch nicht nur der Autor von jahrhundertelang als klassisch geltenden rhetorischen Abhandlungen, sondern hat sich auch lebhaft für die Philosophie der Kunst interessiert, die er meisterhaft lehrte und glänzend ausübte. In den herkömmlichen Darstellungen der Geschichte der Philosophie gilt Cicero als Cat. 3, 26; 4, 22ff.; Arch. 30; rep. 6, 8. Vgl. P. Courcelle, La postérité chretienne du 'Songe de Scipion', Rev. Et. Lat. 36, 1958/59, 205-234. 91 V.Buchheit, o.c., 514. 89 90 72 ein recht wirrer Eklektiker: Man verachtete diesen Literaten, der in der Philosophie nur Themen gesucht hat, die sich für die Beredsamkeit eignen. Die Darstellungen der lateinischen Literaturgeschichte schließlich schenken dem Schriftsteller, dem Rhetor, ja, selbst dem Literaturkritiker Cicero größere Aufmerksamkeit als dem Theoretiker, der sich bemüht hat, den Standort seiner Kunst innerhalb der Fachwissenschaften zu bestimmen, ihren Gegenstand zu definieren und ihre Aufgabe zu präzisieren. Und doch legt Cicero gerade hier, wo er aufgrund persönlicher Erfahrung spricht und nicht mehr kompiliert, eine große Selbständigkeit in der theoretischen Betrachtungsweise an den Tag, und seine wenigen über diesen Gegenstand geäußerten persönlichen Gedanken haben auf die Geschichte der abendländischen Kultur einen so großen Einfluß gehabt, daß sie ihren Lauf wesentlich und nachhaltig bestimmten.92 Sein Nachdenken über die Geschichte hat Cicero zu dem Schluß kommen lassen, daß für das Wohl der Stadt weder Weisheit noch Beredsamkeit allein erforderlich sei, sondern beides zusammen vorhanden sein müsse: "Ohne die Beredsamkeit kann die Weisheit den Städten nur wenig Nutzen bringen, und was die Beredsamkeit ohne die Weisheit angeht, so gereicht sie ihnen zumeist sehr zum Schaden, ist ihnen aber niemals nützlich."93 Beredsamkeit und Weisheit bilden demnach eine Einheit, wenigstens in dem Sinne, daß sie niemals getrennt werden dürfen. Der Anfang der Schrift 'De inventione rhetorica' enthält die Hauptgedanken, mit deren Wiederaufnahme und Fortentwicklung Cicero sich auch fernerhin bei erneuter Auseinandersetzung mit demselben Thema begnügt: Der Mensch ist erst von dem Augenblick an wirklich Mensch, wo er in einer Stadt lebt, deren Gesetze und Ordnung er anerkennt. Und nichts anderes kann ihn dazu bewegen, diese Gesetze und diese Ordnung anzuerkennen, als eine von der Weisheit eingegebene Beredsamkeit. Diesen beiden Gedanken gesellt Cicero aber bisweilen einen dritten zu: Der Mensch unterscheidet sich von den anderen Lebewesen nur durch die Sprache, so daß man ihn beinahe als "sprechendes Lebewesen" bezeichnen könnte. Diese Feststellung bedeutete an sich nichts Neues. Da sich das Denken nicht von der Sprache trennen läßt, macht es keinen großen Unterschied, ob man den Menschen als ein "vernunftbegabtes" oder ein "sprechendes" Lebewesen bezeichnet. Der Unterscheid hat allerdings seine Bedeutung, Vgl. Etienne Gilson, Eloquence et sagesse chez Cicéron, Phoenix 7 (1953), p.1-19. Aus dem Französischen übersetzt von Hartmut Froesch: Beredsamkeit und Weisheit bei Cicero. In: Das neue Cicerobild. Hrsg.v.Karl Büchner. Wissenschaftliche Buchgesellschaft Darmstadt 1971. S.179-207. 93 Cicero, De inventione rhetorica 1, 1. 92 73 will man Ciceros persönlichen Standpunkt verstehen. Indem er so auf den Ausdruck des Gedachten mehr Gewicht legte als auf das Denken selbst, durfte er die Ausdrucksfähigkeit eines jeden Menschen zum Maßstab seiner humanitas selbst nehmen. Wenn die Sprache den Menschen ausmacht, ist man ein umso besserer Mensch, je besser man spricht. Nach Ciceros Auffassung ist also der Redner, der diesen Namen zu Recht trägt, den übrigen Menschen in eben diesem Punkt überlegen, in dem sich der Mensch über die Tiere erhebt.94 Das ist ein beachtenswerter Hinweis, läßt er doch erkennen, warum die Studien, die einer braucht, wenn er sich um die Beredsamkeit bemüht, später die "humanistischen" heißen werden. Seine Sprache kultivieren bedeutet, in sich das wesentliche Element der Humanität herausbilden. Die Schrift 'De inventione rhetorica' war das Werk eines jungen Mannes von 21 Jahren. Das Werk 'De oratore', geschrieben im Jahre 55 v.Chr., als Cicero 50 Jahre alt war, sollte jene grundlegenden Gedanken wiederaufnehmen und ihnen eine vollendetere Ausprägung geben. Das in diesem Dialog diskutierte Problem ist die wahre Natur der Beredsamkeit. Cicero wendet sich entschieden gegen die These, daß ein Mensch mit natürlicher Redebegabung nur Rhetorik zu lernen habe, um beredt zu werden.95 Er prangert unermüdlich die verhängnisvolle Tendenz der Fachwissenschaften an, sich voneinander abzusondern, als wenn jede von ihnen sich allein genügen könnte. In der Auseinandersetzung zwischen den Verteidigern einer "allgemeinen Bildung" und den Verfechtern des "Spezialistentums", die im Lauf der Geschichte immer wieder auflebt, bleibt Cicero der entschiedenste Vorkämpfer der allgemeinen Bildung.96 Ein Redner, der wirklich beredt sein will, muß composite, ornate, copiose sprechen, d.h. in der rechten Ordnung, mit Gefälligkeit und in Fülle. Ohne die scientia, die allein ihn inspirieren kann, könnte er dieses Ziel nicht erreichen. Dazu gehört das Recht in seiner ganzen Breite, d.h. die persönliche Beherrschung der öffentlichen Angelegenheiten, die Kenntnis der Gesetze, des Gewohnheits- und Zivilrechts. Es genügt aber De inventione 1, 4: Ac mihi quidem videntur homines, cum multis rebus humiliores et infirmiores sint, hac re maxime bestiis praestare, quod loqui possunt. Quare praeclarum mihi quiddam videtur adeptus is, qui, qua re homines bestiis praestent, ea in re hominibus ipsis antecellat. 95 Cicero, De oratore 1, 2, 5: ...solesque non numquam hac de re a me in disputationibus nostris dissentire, quod ego eruditissimorum hominum artibus eloquentiam contineri statuam, tu autem illam ab elegantia doctrinae segregandam putes et in quodam ingenii atque exercitationis genere ponendam. 96 vis oratoris professioque ipsa bene dicendi hoc suscipere ac polliceri videtur, ut omni de re, quaecumque sit proposita, ornate ab eo copioseque dicatur (De oratore 1, 6). 94 74 noch nicht, nur selbst zu verstehen, wovon man spricht. Der Redner hat sich ja zum Ziel gesetzt, andere davon zu überzeugen, und wie vermöchte er das ohne Kenntnis der menschlichen Natur und der tiefsten Regungen des Herzens? Wir müssen also sagen, daß der Redner vor allem Rechts- und Menschenkenntnis besitzen muß.97 Philosophie und Beredsamkeit zu vereinigen, ist eine Entscheidung von außerordentlicher Tragweite für die Zukunft der europäischen Kultur im allgemeinen und des Humanismus im besonderen. Cicero gliedert die Philosophie nach der hellenistischen Einteilung, deren Erbe er ist, in drei Teilgebiete: Physik, Logik und Sittenlehre. Vom vollendeten Redner müßte man verlangen können, sie alle drei zu beherrschen, eins so vollkommen wie das andere. Die Hauptsache ist die Sittenlehre. (Vgl. das hellenistische Bild vom Obstgarten: Mauer = Logik, Baum = Physik, Früchte = Ethik.) Recht, Ethik, Kenntnis von den Leidenschaften des Menschen, Logik, oder vielmehr Dialektik - das ist noch nicht das gesamte Rüstzeug des Redners, denn es fehlt ihm noch die Geschichte, d.h. die genaue Kenntnis vergangener Zeiten, der Menschen, die in ihnen lebten, und ihrer Reden und Taten. Dies ist erforderlich, um mit einem reichen Schatz von Geschichten oder, um den Fachbegriff zu verwenden, Beispielen (exempla) versehen zu sein, die die Phantasie des Zuhörers anregen und gleichzeitig seine Aufmerksamkeit beleben. Nicht nur die Geschichte, alle Dichter, alle Meister in den freien Künsten müssen gelesen, besprochen, kritisch betrachtet sein, um aus ihnen Gründe und Gegengründe zu schöpfen, die sie zu unzähligen Fragen liefern.98 Wenn man Cicero auf die Untersuchung seines geistigen Ideals hin liest, zieht ein Fachausdruck bald die Aufmerksamkeit auf sich: der der artes. Cicero unterscheidet die scientia, oder das Wissen, von der ars, die für ihn nichts anderes zu sein scheint als eben dieses Wissen in methodischer Einteilung und Ordnung (artificiose digesta) mit dem Ziel, bequem benutzt werden zu können. Jede Kunst setzt also ein entsprechendes Wissen voraus, das sie in bestimmten Formeln zusammenfaßt und mit Hilfe der Dialektik ordnet. (Vgl. De oratore 1, 41 und 42.) Cicero ordnet die artes nach ihrem Platz ein, den sie in der Sorge um die oberste Realität, die Stadt, einnehmen. An der Spitze stehen die höchsten Künste, maximae artes, als da sind Politik, Kriegskunst und Beredsamkeit. Darunter folgen die mittleren Künste, mediocres artes, deren schöpferischer 97 98 De oratore 1, 11, 48. De oratore 1, 5, 18; vgl. 1, 34, 158-159. 75 Urgrund, gewissermaßen ihre Mutter, das ist, was die Griechen "Philosophie" nennen: Mathematik, Physik, Moral,, Logik, Grammatik. (De oratore 1, 2, 6) Es ist die Bildung eines römischen Bürgers aus guter Familie. Cicero nennt das eine eruditio libero digna (De oratore 1, 5, 17), er meint also die Gesamtheit der nichtsklavischen Künste, derer, die man noch heute in demselben Sinn artes liberales oder freie Künste nennt. Irgendwann muß Cicero auf das Problem gestoßen sein, daß die Philosophie eine gefährliche Konkurrenz für die Beredsamkeit um den ersten Rang darstellte. Cicero zeigt genau in dieser Frage die größte Selbständigkeit. Er hat sich nämlich eine eigene Geschichte der menschlichen Fachkenntnisse ausgedacht: In der Vergangenheit wie in einer Art goldenem Zeitalter muß es eine Epoche gegeben haben, in der die Menschen gleichzeitig und ungeteilt die Fähigkeit zu denken, zu urteilen und zu sprechen besaßen. Hierin bestehe das, was die Alten sapientia nannten: Weisheit. Solche Männer waren etwa bei den Griechen Lykurg und Solon, bei den Römern Fabricius, Cato und Scipio. Allesamt also Staatenlenker und Männer der Tat, die Wissenschaft niemals von der Praxis getrennt haben. Später haben einige aus Vorliebe für das Wissen in erster Linie Muße und Frieden als Erfordernisse ihrer Studien erstrebt. Hierzu gehören u.a. Pythagoras, Demokrit und Anaxagoras, die sich alle von der Politik abwandten, um sich nur mehr der Verfolgung des Wissens zu widmen: a regendis civitatibus totos se ad cognitionem rerum transtulerunt. das war der Ausgangspunkt alles Übels, gegen das anzugehen Cicero sich entschlossen hat. Hauptverantwortlicher für den verhängnisvollen Umschwung war Sokrates. Bis auf seine Zeit nannte man "Philosophie" jene Weisheit, in der sich das Wissen um die höchsten Dinge und die Kunst, sie zu behandeln, zur Eleganz der Rede vereinigten. Er aber löste diese beiden Komponenten der Weisheit voneinander und behielt deren Bezeichnung nur mehr allein für die Wissenschaft zurück: "Hieraus ging sozusagen jene Trennung von Zunge und Herz hervor, die wahrlich ungereimt, unnütz und tadelnswert ist, da uns nunmehr manche Lehrer nur das Wissen, andere das Reden lehren."99 Die Aufgabe, die Weisheit in ihrer vollendeten Gestalt wiederherzustellen, hat sich Cicero gestellt. Er mußte dazu sein eigenes Ideal des theoretischen Wissens den immer nur praktischen Zielen des Redners unterordnen. Genau hier haben Philosophen eingehakt und einen Grund für ihre Geringschätzung De oratore 3, 16, 59-61; vgl. ... postea dissociati (ut exposui) a Socrate diserti a doctis, et deinceps a Socraticis item omnibus, philosophi eloquentiam despexerunt, oratores sapientiam (De oratore 3, 19, 72). 99 76 Ciceros als Philosophen gesehen. Sie werfen ihm vor, das Wesentliche der Philosophie preisgegeben zu haben, indem er sie von der Trägerin der reinen Erkenntnis, zur bloßen Dienstmagd der Beredsamkeit herabgewürdigt habe. Es läßt sich freilich nicht bestreiten, daß Cicero das getan hat, und kein Philosoph könnte ihn davon freisprechen. Aber das ist noch kein Grund, nicht zu versuchen, ihn zu verstehen. Und wie könnte man ihn verurteilen, ohne ihn zu verstehen? Was meint er mit der eigenwilligen Formulierung: Verum ego quaero nunc, non quae sit philosophia verissima, sed quae oratori coniuncta maxime. (De oratore 3, 17, 64; Partitiones oratoriae 23, 78.) Die Lehre Epikurs etwa ist keine Philosophie für den römischen Redner. Die Epikureer sind zwar angenehme Menschen, und das Ärgste ist, daß sie sehr wohl recht haben könnten; aber selbst, wenn ihre Lehre völlig wahr wäre, sollen sie sie für sich behalten! Auch der Stoizismus taugt nicht, weil der Stoiker der Ansicht ist, niemand sei weise. Es wäre unsinnig, so jemandem die Leitung des Senats anzuvertrauen, der keinen von denen, an die sich seine Rede richtet, für weise oder frei hält. Mag die Sittenlehre der Stoiker richtig oder falsch sein, es ist nicht die der übrigen Bürger; sie ist folglich untauglich, und der Redner, der sich von ihr leiten ließe, käme nicht zum Ziel. (De oratore 3, 18, 66). Bleiben allein die Peripatetiker und Akademiker, d.h. die Schüler des Aristoteles bzw. des Karneades, die man sich zu Lehrern wählen könnte, wenn man die Beredsamkeit zum Ziel hat. Persönlich zieht Cicero den Probabilismus des Karneades und der neueren Akademie vor; er ist eine vortreffliche Schule, um verständig über alles sprechen zu lernen, bei allem das Für und Wider abzuwägen und schließlich jedesmal das Wahrscheinliche oder Mögliche zu wählen, nämlich jene Meinungen der Mitte, die alle Aussichten haben, in den Versammlungen die Abstimmungen für sich zu gewinnen. Bei jeder Frage ausschließlich mit den natürlichen Hilfsquellen seines Verstandes das herauszufinden, was als wahrscheinlich gelten kann: id quod in quoque verisimile est (De oratore 3, 21, 79), das bedeutet nichts Unmögliches. Wir dürfen uns nicht nach dem schlechten Beispiel jener Spezialisten richten, die durch ihre Studien von einer Frage zur anderen geführt werden, ohne je irgendwo anzugelangen. Nur, wer seine Kenntnisse in die Tat umzusetzen versteht, besitzt sie wirklich. Außerdem wird man im Grunde niemals etwas gut beherrschen, was man nicht schnell zu erlernen versteht. (De oratore 3, 23, 89. Dieser Satz des Crassus wird etwas später von Caesar aufgenommen und gebilligt <3, 36, 146>). Das ist ein erschreckendes Wort, es zeigt aber vortrefflich, wodurch die Existenz des Weisen, wie Cicero ihn auffaßt, praktisch erst möglich wird. Wenn man im Zusammenhang mit Cicero von allgemeiner Bildung spricht, muß man sofort hinzufügen, daß es sich um das genaue Gegenteil dessen handelt, was eine zweckfreie allgemeine Bildung darstellte. Es 77 ist auch Weisheit bezüglich der Dinge, die man kennen muß und über die man sprechen können muß, um den Staat gut zu lenken. Niemand, der nicht in höchster Bedrängnis seines Staatswesens sich engagiert hat, sein Leben riskiert hat wie Cicero, sollte über diese philosophische Überzeugung die Nase rümpfen. Und auch niemand, der nicht wie Cicero in der Zeit der Diktatur das Verurteiltsein zum bloßen theoretischen Philosophieren als letzte Schmach und zugleich letzten Trost erfahren hat. Etiene Gilson, der von einem "oberflächlichen Charakter" der ciceronischen Bildung spricht,100 und der Cicero zum Vorwurf macht, "sich selbst für einen Philosophen gehalten zu haben", räumt doch ein: "Seine Lehre entschuldigt allerdings diesen Anspruch ein wenig. Er war gewiß beredt; niemand aber ist beredt, wenn er nicht zugleich Philosoph ist; folglich war er Philosoph." (ebd. 204). Gilson tut Cicero aber m.E. weiter Unrecht, wenn er ausführt: "Von ihm (Cicero) aus war diese Einbildung (nämlich, Philosoph zu sein) recht verständlich, da die Philosophie, so wie er sie auffaßte, keine andere Schwierigkeit bot als die, sie gut in Worte zu kleiden. Wie also hätte sich dieser Fürst der Beredsamkeit für in der Philosophie nicht zuständig halten können, er, der in der Philosophie die eigentliche Quelle seiner Beredsamkeit sah?" (ebd.) Ciceros philosophisches Schrifttum zeigt, glaube ich, zur Genüge, daß der Vorwurf der Oberflächlichkeit einfach nicht greift. Das können wir erst anhand der Texte selbst demonstrieren. Die Philosophen (jedenfalls bis in unsere Zeit) hat Cicero zwar nicht überzeugt, aber der Einfluß seiner Gedanken auf die Geschichte der abendländischen Kultur ist unermeßlich gewesen. Und im 20. Jahrhundert begann man ihn auch als Denker wieder zu achten. 2.4 Ciceros Freude an der Philosophie Das Konsulatsjahr Ciceros, seine große politische Bewährungsprobe, wurde für sein inneres Leben zum Schicksalsjahr. Von Anfang an stand er infolge der dauernden Angriffe seiner Gegner unter äußerster Anspannung seiner Kräfte. Als nach verschiedenen wohlberechneten Vorstößen Caesars und seiner Anhänger die Verschwörung des Catilina zum Ausbruch kam, zeigte er sich so wachsam, klug und entschlossen, daß die Erhebung in wenigen Wochen ohne eine stärkere Erschütterung des Staates in sich zusammenbrach. Aber statt des erwarteten Dankes für seine Leistung erntete er auch 100 Gilson, o.c., 203. 78 von denen, die er gerettet zu haben glaubte, fast nur Anfeindungen, die ihn umso empfindlicher trafen, als er die Härte des geborenen Staatsmanns nicht besaß. Caesar, der ihm durch sein instinktsicheres Machtstreben von Anfang an überlegen war, drängte ihn nun mit starker Hand in das Dunkel der Geltungslosigkeit ab. In dieser Zeit versucht er sich durch Veröffentlichung seiner im Konsulatsjahr gehaltenen Reden wenigstens literarisch ins rechte Licht zu setzen. Dabei legt er eine Art philosophisches Glaubensbekenntnis ab. Zum Beispiel in der Rede Pro Rabirio. Rabirius war ein angesehener Bürger, der fast 40 Jahre zuvor, dem Ruf der Konsuln folgend, die Waffen aufgenomen hatte und bei den Straßenkämpfen einen zum Staatsfeind erklärten Volkstribunen getötet hatte. Es war nun eine der Maßnahmen Caesars, um den Widerstandswillen der verfassungstreuen Bevölkerung zu lähmen, gegen diesen Rabirius einen Prozeß anzustrengen, in dem er in einem altertümlichen Schauverfahren zum Tod verurteilt werden sollte. Cicero war es gelungen, die Anklage zu seinen Gunsten zu verwerten, da er selber eben die Zuverlässigkeit des Angeklagten und die in jener früheren Zeit verwirklichte Einigkeit aller Gutgesinnten als Vorbild für die Gegenwart hinstellen konnte. In der Rede Ciceros heißt es: "Hätte Marius unter so vielen Mühen und Gefahren leben wollen, wenn er mit seinem Hoffen und Planen nicht über die Grenzen dieses Lebens hinaus nur an sich und seinen Ruhm gedacht hätte? Ja, gewiß, als er die unübersehbaren Scharen der Feinde auf dem Boden Italiens zersprengt und den Staat von ihrem Ansturm befreit hatte, da glaubte er wohl, daß alles, was er sein eigen nannte, mit ihm im Tode dahingehen werde. Dem ist nicht so, ihr Quiriten. Niemand von uns kann sich ehrenvoll und mutig in den Gefahren der staatlichen Welt bewegen, ohne sich von der Hoffnung auf ein Nachleben und von dem Gedanken an diese Belohnung leiten zu lassen. Es gibt viele Gründe, die mich annehmen lassen, die Seelen der Redlichen seien göttlich und ewig, vor allem aber ist es dieser, weil sich gerade in den Besten und Weisesten das Vorgefühl des Nachlebens darin äußert, daß sie nur das Ewige schauen zu können scheinen ... Klein, ihr Quiriten, ist die Bahn des Lebens, die uns die Natur abgesteckt hat, unendlich die des Ruhms. Wenn wir mit diesem Ruhme diejenigen auszeichnen, die das Leben bereits überwunden haben, dann werden wir erreichen, daß uns selber einst im Tode eine größere Gerechtigkeit zuteil werden wird." (Rabir 29) Die Hoffnung der viri boni - denn nur für diese gilt die Hoffnung - auf ein Weiterleben im Diesseits und im Jenseits, im Ruhm bei den Menschen und in der ewigen Gemeinschaft mit den Göttern, ist die Kraft, von der sich Cicero, als er diese Sätze schrieb, getragen fühlte. Offenbar ist ihm in der Zeit, da er unter der Undankbarkeit seiner Mitmenschen litt, die Philosophie zur Trösterin geworden. Von dieser Zeit an wird er 79 das immer wieder das Bedürfnis haben, seinen Glauben an Nachleben zu bekennen. Vier Jahre nach der Veröffentlichung der konsularischen Reden, im Jahr 56, hatte er den Volkstribunen Sestius zu verteidigen, und wieder benutzte er die spätere Veröffentlichung der Rede, um sie durch Ausführungen, die er in den Verhandlungen vor den Richtern kaum hätte vorbringen können, zu erweitern. Die neue Wunde, die er inzwischen empfangen hatte, war seine Verbannung gewesen, eine Demütigung, die ihn zunächst hatte verzweifeln lassen und die er auch nach seiner unerwartet frühen Rückkehr lange Zeit nicht vergessen konnte. (Sest. 47) Bei den Bemerkungen über die Fragwürdigkeit des irdischen Lebens und über das Schicksal, das die Seele im Tod erwartet, hat Cicero sich in dieser Rede ausdrücklich auf das Studium der Philosophie berufen (47): nihil audieram, nihil videram, nihil ipse legendo quaerendoque cognoveram? - "War ich denn so einfältig, so unwissend, so bar aller Vernunft und Überlegungskraft? Hatte ich nichts gehört, nichts gesehen, nichts durch Lesen und Forschen gelernt? Wußte ich nicht, daß die Bahn des Lebens kurz, die des Ruhmes ewig ist - daß man, da allem der Tod vorbestimmt ist, wünschen muß, es möge sichtbar sein, daß man das Leben, das ja der zwingenden Macht des Todes unterworfen ist, vielmehr dem Vaterlande zum Opfer gebracht als der Natur aufgespart habe? Wußte ich nicht, daß die größten Philosophen miteinander im Streit gelegen haben, indem die einen erklärten, das Denken und Fühlen der Menschen werde im Tode ausgelöscht, die anderen aber, die Seelen der weisen und tapferen Männer besäßen gerade dann, wenn sie vom Körper abgeschieden seien, am meisten Empfindung und Lebenskraft, und daß von diesen beiden Möglichkeiten die erste, nämlich das Fehlen aller Empfindung, kein Grund zur Flucht, die zweite aber, das Leben im Besitz einer feineren Empfindung, sogar zu wünschen sei? Und schließlich: Da ich alles immer auf die Würde ausgerichtet hatte und der Meinung war, daß ohne diese dem Menschen nichts im Leben erstebenswert sein darf, und da in Athen sogar junge Mädchen, die Töchter, wenn ich mich nicht irre, des Königs Erechtheus, für ihr Vaterland den Tod verachtet haben, hätte da etwa ich, der einstige Konsul, der so große Taten vollbracht hatte, mich fürchten sollen?" In dem Werk über den Staat läßt er die großen Führer des römischen Volks unsterblich sein, dem irdischen Ruhm aber hat er hier, in dieser Schrift der Besinnung auf Rom und die in seiner Geschichte wirksamen Kräfte, keine Bedeutung mehr zuerkannt. Da er selbst zu oft erfahren hatte, wie rasch das Urteil der Menschen wechseln und wie leicht der Ruhm verfliegen kann, hat er vielmehr das Wagnis unternommen, die Ruhmbegierde, die eine der Grundkräfte des römischen Lebens war, wenn nicht ihres Wertes gänzlich zu berauben, so doch 80 entschlossen von dieser Welt zu lösen. Die nüchternen Feststellungen der griechischen Philosophie über die Begrenztheit des Ruhmens haben ihm dabei wesentliche Hilfe geleistet. Ein letztes mal hat sich Cicero über das Verlangen des Menschen nach Unsterblichkeit in den Tusculanen geäußert. Wieder werden in eigenartiger Weise die Gedanken von der Unsterblichkeit der Seele und vom Nachleben im diesseitigen Ruhm miteinander verbunden. Der erste Teil (1,26ff.) spricht von dem Glauben an die Unsterblichkeit. Dann (32) heißt es wieder: "Was wohl haben in unserem Staat die vielen großen Männer gedacht, die dem Staate ihr Leben geopfet haben? Sollte ihr Name in den Grenzen des Lebens eingeschlossen bleiben? Niemals wird sich jemand ohne die zuversichtliche Hoffnung auf die Unsterblichkeit für das Vaterland dem Tode darbieten. In Ruhe hätte Themistokles, hätte Epaminondas, hätte - um nicht nur ältere und fremdländische Beispiele anzuführen - ich selbst das Dasein verbringen können, aber es lebt in allen Seelen gewissermaßen ein Ahnungsvermögen, das sich auf die künftigen Jahrhunderte richtet, und gerade in den größten Geistern und den stolzesten Seelen entfaltet es sich und tritt am leichtesten hervor. Gäbe es dieses nicht, wäre wohl keiner so töricht, stets in Mühen und Gefahren zu leben." Die Tusculanen, in denen diese Sätze stehen, sind ein Teil des großen philosophischen Spätwerks, das Cicero im Alter von etwa 60 Jahren begonnen und in der unfaßbar kurzen Zeit von zwei bis drei Jahren zum Abschluß gebracht hat. Wie viele Fragen, die hier behandelt werden, von ihm schon früher durchdacht und geklärt worden sind, ist nicht an jeder Stelle so deutlich zu erkennen wie in der Erörterung der Unsterblichkeit. Man spürt aber auch sonst überall, wie tief die Grundlagen hinabreichen, auf denen sich der weiträumige Bau erhebt. Diese große Leistung hätte auch von einem so beweglichen und unermüdlich fleißigen Künstler, wie Cicero es war, niemals in so kurzer Zeit bewältigt werden können, wenn ihm nicht sehr reichliche eigene Vorarbeiten und Vorentscheidungen zur Verfügung gestanden wären. Für die Nachwelt ist diese Aufarbeitung der griechischen Philosophie, in welche die Erfahrungen eines großen römischen Lebens eingegangen sind, die wertvollste Gabe, die sie von Cicero empfangen hat. Nur durch Ciceros vermittelnde Tätigkeit ist Europa in dunklen Zeiten die erweckende Kraft der griechischen Philosophie erhalten geblieben, und sein klares, besonnenes Wort, das jeweils die gegensätzlichen Auffassungen prüfend nebeneinanderstellte, ist im Ablauf der Jahrhunderte immer wieder eine unschätzbare Hilfe gewesen, wenn es galt, das Recht und die Pflicht des freien Denkens ins Bewußtsein zu erheben. Daß aber Cicero als Schriftsteller sein für die geistige Freiheit so notwendiges 81 Werk gerade in einer Zeit der Unfreiheit verfaßt hat, während er durch Caesar zum Schweigen gezwungen war, ist eine Tatsache, die an die 'List' des Weltgeistes denken läßt, der dem Bösen nur deswegen den Triumph gestattet, damit das Gute siegen werde. Auch Cicero selbst durfte seine Leistung trotz dem Unwillen, der ihn oft überkam, als die eigentliche Erfüllung seines Lebens betrachten, das bei allen Wechselfällen doch in einer erstaunlichen Folgerichtigkeit verlaufen war und in dem sogar der Verlust sich in Gewinn verwandelte. Philosophieren ist ihm von den Jugendjahren an seine liebste Tätigkeit gewesen. Wenn er am Ende seines Lebens, in der Zeit des erzwungenen Schweigens, von der Freude, der delectatio animi, spricht, die in der Beschäftigung mit der Philosophie gewonnen werden kann (acad. 1,11; off. 2,2ff.), wenn er die Philosophie als das größte und schönste Geschenk bezeichnet, das die Götter den Menschen gegeben haben, (acad. 1,7; leg. 1,58; ad fam. 15,4), wenn er bekennt, daß die Philosophie uns Menschen "die Ruhe des Lebens gespendet und die Furcht vor dem Tode genommen hat", und wenn er von ihr rühmt, daß sie "die Seelen heilt, nichtige Beunruhigungen beseitigt, von Begierden befreit, Ängste verscheucht" (Tusc. 5,4f.; Tusc. 2,11), dann sind dieses Äußerungen, in denen, wie es der Lage entspricht, die Dankbarkeit für den Trost und die Stärkung, die er von der Philosophie empfangen hat (off. 2,2ff.; nat.deor. 1,7ff.; divin. 2,4ff.), alle anderen Empfindungen überwiegt. Es hat aber Zeiten gegeben, in denen er des Trostes noch nicht bedurfte. Bereits in der Jugend war seine natürliche Bildungsfreude für die Philosophie gewonnen worden, und er hatte das Glück gehabt, in Rom sowohl wie in Griechenland Lehrer zu finden, welche ihn gleichzeitig in der Redekunst, die er für die Tätigkeit im Staat und in der Gesellschaft benötigte, und in der Philosophie unterrichten konnten. Der Lehrer, dem er den Gedanken der Versöhnung von Philosophie und Redekunst verdankt, wird niemand anderer als Philon von Larissa , der damalige Schulvorsteher der Akademie, gewesen sein, den Cicero gerade am Beginn seiner - wenn man so sagen darf - beruflichen Ausbildung, Anfang der achtziger Jahre, in Rom gehört hatte, admirabili quodam ad philosophiam studio concitatus (Brut. 306), und dem er unter anderem auch die Überzeugung von der Notwendigkeit der Skepsis, der Zurückhaltung im Urteil, verdankte, die er sich schon früh zur Pflicht gemacht hat (inv. 1,1ff.). Schon beim Studium in Athen hatte er erwogen, wenn ihm infolge der politischen Verhältnisse die Rückkehr nach Rom nicht möglich sein sollte, sich ganz der Philosophie zu widmen. Zwanzig Jahre später konnte er im Hinblick auf das Unrecht, das ihm nach seinem Konsulat widerfahren war, aber auch wohl 82 in Erinnerung an jene frühe Erwägung, zu seinem Freunde Atticus sagen (Att. 2, 5, 2: April 59): "Was rede ich von der Politik? Ich will sie aufgeben und mit ganzer Seele und allem Fleiß philosophieren ... Hätte ich es nur von Anfang an getan. Nun aber, da ich erfahren habe, wie sinnlos ist, was ich für herrlich gehalten hatte, gedenke ich mit allen Musen Beziehungen zu pflegen"; und wenig später (2, 13, 2): "Wir wollen philosophieren - auf meinen Eid kann ich dir sagen, es gibt nichts, was dem gleich käme" oder (2, 16, 3): "So wollen wir uns denn, mein lieber Titus, jenen herrlichen Studien widmen und zu der Tätigkeit, die wir niemals hätten verlassen sollen, zurückkehren." Ähnlich klingt es in der Zeit, als er die Arbeit am Werk über den Staat begann (Att. 4, 18, 2; Oktober 54): "Das Leben, das am meisten meiner Natur entspricht - zu diesem kehre ich nun zurück, zu den Büchern, zu meinen Studien ... ich kann mit euch philosophieren." Neben solchen zwanglosen Bemerkungen in den Briefen stehen die für die Öffentlichkeit bestimmten Mitteilungen in den Vorreden zu einzelnen Büchern des großen philosophischen Spätwerks. Tusc. 5,5: "Alle Besserung muß man bei der Philosophie suchen. Nachdem uns schon in unserer ersten Lebenszeit unser Wille und unsere Neigung in ihren Schoß geführt hatte, sind wir nun in diesen schweren Bedrängnissen, von heftigem Sturm geschüttelt, in denselben Hafen geflüchtet, von dem wir ausgelaufen waren." Off.2,4: "Weil ich nicht untätig sein konnte, glaubte ich, da ich mich von Jugend an mit der Philosophie beschäftigt hatte, ich könnte mich auf die ehrenvollste Weise von den Widrigkeiten befreien, wenn ich zu ihr zurückkehrte. Auf sie hatte ich in meiner Jugend im Lernen viel Zeit verwendet; als ich später die Ämterlaufbahn begann und mich ganz dem Staat widmete, blieb ihr so viel Platz zugewiesen, wie von dem Staat und den Freunden nicht beansprucht wurde. Dieses aber wurde ganz mit Lesen verbracht, für das Schreiben hatte ich nicht die Ruhe." Nat.deor. 1,6: (Viele werden sich wundern, daß wir jetzt die akademische Skepsis erneuern.) "Wir haben aber nicht unvermittelt zu philosophieren begonnen. Von der ersten Zeit unseres Lebens an haben wir Fleiß und Mühe auf diese Tätigkeit verwendet, und dann, wenn es am wenigsten sichtbar war, haben wir am meisten philosophiert (cum minime videbamur, tum maxime philosophabamur)." Daß man ihn auch in dieser Zeit als Philosophen ansehen sollte, besorgte er, indem er auf seinem Ruhesitz in Tusculum die beiden Wandelhallen errichten ließ, die er mit den stolzen Namen Academia und Lyceum schmückte. Was hat Cicero nun eigentlich unter Philosophie verstanden? Daß Cicero, der Akademiker, in seiner Studienzeit die ganze Enkyklios Paideia, die Wortsowohl wie die Zahlwissenschaften, in sich aufgenommen hat, darf ohne weiteres vermutet werden. Vor allem aber muß für ihn Dialektik 83 wichtig sein, Platons königliche Kunst, mit deren Hilfe Platon selber einst im 'Phaidros' (265 d/e) die übliche Redekunst als Scheinkunst erwiesen hatte und die seit diesem förderlichen Tadel so eng mit allem Reden verbunden blieb, daß Zenon, der Stoiker, in einem bekannten Satz die Dialektik mit der geballten, die Redekunst mit der geöffneten Hand vergleichen konnte. (Sext.Emp. 2,7; Cic. fin. 2,17; or. 113;). Ja, man darf behaupten, daß Cicero sehr oft, wenn er von der Philosophie im allgemeinen sprach, mehr als alles andere gerade diese für den Redner unabweisliche Dialektik im Sinne hatte. (Es ist bemerkenswert, daß Cicero, wo er die Philosophie als Geschenk der Götter bezeichnet, ein Wort verwendet, das ihm zunächst zwar aus Platons Timaios vertraut war (47 b philosophias genos, hou meizon agathon out' elthen oute hexei potè to thneto génei dorethèn ek theon), das aber in Platons Philebos insbesondere der Dialektik galt: 16c theon mèn eis anthrópous dósis, hós ge kataphainetai emoí, póthen ek theon erríphe diá tinos Promethéos háma phanotáto tinì pyrí;). Sie, in der er sich, schon als er in Rom bei dem Stoiker Diodotos seinen ersten philosophischen Unterricht empfing, studiosissime geübt (Brut. 309) und in der sich fortzubilden er in Athen bei den scharfsinnigen Akademikern die beste Gelegenheit gefunden hatte, war die umfassendste aller Wissenschaften und so viel bedeutender als jede andere, als nach der von Platon begründeten Überzeugung ohne ihre Mitwirkung eine Wissenschaft überhaupt nicht Wissenschaft sein konnte. (Vgl. de or. 1,188; Brut. 152.) Denn die Fähigkeit, die durch diese ars disserendi, die Kunst also der 'Auseinandersetzung' oder der Erörterung, verliehen wurde, war, wie Platon gelehrt hatte, einmal das Vermögen, richtig zu trennen und zusammenzufügen, zum anderen, richtige Begriffsbestimmungen zu gewinnen. Das Teilen, das entweder als Einteilen, dividere, oder als Aufteilen, partiri, vor sich gehen konnte, (Einteilen = Zerlegen in Unterteile, etwa das genus in die species; Aufteilen = Zerlegen in Bestandteile) 101 gestattete dem Redner nicht nur, das zunächst Unüberschaubare überschaubar zu machen, sondern auch den Einzelfall und das Einzelstück durch Einordnen in die übergreifenden Zusammenhänge verständlich werden zu lassen. Die richtige Begriffsbestimmung andererseits gab jeder Aussage den festen Rückhalt. Die Griechen hatten alle diese Verfahrensweisen in langer Übung bis zu ihrer Vollendung ausgebildet, und wenn noch die anspruchslosesten Abrisse einzelner Wissenschaften, etwa Ciceros Schrift "De inventione" oder die Behandlung der sieben Freien Künste bei Cassiodor und Isidor von Sevilla, wahre Wunderwerke der Teilung und Begriffsbestimmung sind (was nicht ausschließt, daß sie uns für den Unterricht recht 101 Den Unterschied von dividere und partiri spricht Cicero an top. 30: in partitione quasi membra sunt, ut corporis caput, umeri, manus, latera, crura, pedes et cetera; in divisione formae, quas Graeci eíde vocant. 84 unzweckmäßig zu sein scheinen), dann läßt sich ermessen, was einst in der mündlichen Belehrung und Übung hatte erreicht werden können. Für uns, die wir zumeist nur noch in der Musik die Strenge der Form erleben können, ist mit der antiken Rhetorik auch die antike Dialektik verlorengegangen, und es ist daher begreiflich, daß wir Schwierigkeiten haben sie auch dort wiederzuerkennen, wo sie uns so anschaulich entgegentritt wie bei Cicero. Die Stelle Tusc. 5, 68 ff., in der Cicero das Bild des Philosophen malt, nachdem er am Anfang in bewegenden Worten von unser aller Schwäche gesprochen hat, sollten Sie in Ruhe selbst lesen. Zweieinhalb Jahre, nachdem Cicero dieses abgeklärte, dankbare Bekenntnis, in dem alle Unruhe seiner Kämpfe überwunden ist, vorgetragen hatte, ist er ermordet worden. (Hauptstelle ist Plut. Cic. 47,7ff., wo die Darstellung des Tiro benutzt ist).102 2.5 Ist bei Cicero philosophisch Neues zu erkennen? Zunächst stoßen wir auf ein Strukturproblem: das Problem, wie sich die auf Cicero zulaufende Philosophie zu ihrer eigenen Geschichte verhalten hat. Das Problem erscheint zum ersten mal in seinem vollen Sinn bei Aristoteles. Die Philosophie als geschichtliche Größe mit bestimmtem Ausgangspunkt und bestimmten Entwicklungsformen gibt es erst von ihm an. In der Vorsokratik und Sokratik herrscht zu allermeist das Pathos dessen, der als einziger weiß, während alle anderen irrende Toren sind. In diesem Pathos leben Parmenides und Empedokles, auch noch der Sokrates der platonischen Apologie. Bei Aristoteles ist es grundsätzlich anders, nach seiner Meinung ist der Mensch grundsätzlich auf die Wahrheit hin angelegt; das was die Menschheit seit jeher geglaubt hat, kann nicht völlig falsch sein. Es ist sicher unvollkommen und ungeklärt. Doch gerade dies ist die Aufgabe der Philosophie: nicht ihr Wissen dem Meinen der Leute entgegenzustellen, sondern aus der unbestimmten Ahnung der Menschheit eine bestimmte und begründete Einsicht herauszuarbeiten. Der Begriff des saphôs légein (um es terminologisch zu sagen) hat bei Aristoteles eine Bedeutung, die weit über das bloß Stilistische hinausreicht; es genüge hier, auf E.E. 1216 b 26-35 hinzuweisen. Was die früheren Philosophen nur geahnt haben, das vermag Aristoteles klar auszusprechen; was bei diesem und jenem als 102 Zu diesem Kapitel vgl. v.a. Harald Fuchs, Ciceros Hingabe an die Philosophie. Museum Helveticum 16 (1959), S.1-28. Abgedruckt in Das neue Cicerobild. Hrsg.v.Karl Büchner, Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 1971, (Wege der Forschung Bd.XXVII) S.304-347. 85 Teilwahrheit aufgetaucht war, findet sich in der Philosophie des Peripatos zu einem Ganzen zusammengeschlossen. Aristoteles hat seine Lehre bewußt als Vollendung und Synthese der gesamten philosophischen Tradition aufgefaßt. Er hat damit gleichzeitig der Tradition als solcher einen philosophischen Sinn und seiner eigenen Lehre einen geschichtlichen Rückhalt am consensus philosophorum zu geben versucht. Aus der von Aristoteles inaugurierten Anschauungsweise ergibt sich, daß die historisch gegebenen Lehren aufs stärkste vereinfacht, zusammengerückt und schließlich nur mehr als Varianten einiger weniger von der Natur der Dinge selbst angeregter Grundgedanken interpretiert werden. Das Ende ist der Nachweis eines allen Philosophen gemeinsamen Substrats von Fragen und Antworten; dieses kann dann sozusagen als philosophischer Katechismus auch dem Laien dargeboten werden. <Beispiel: Metaph. A 3-6> Im hellenistischen Zeitalter zeigt sich ein Unterschied zu Aristoteles: Karneades-Antiochos fassen nicht ihre eigene Lehre als das Telos der Philosophiegeschichte auf, wie es Aristoteles getan hatte. Die Richtung verläuft vielmehr umgekehrt. Das Telos ist in den "Alten" schon erreicht und in der späteren Entwicklung wieder verlorengegangen. Es gilt also, diese Fehlentwicklung zu überwinden und zur Lehre der "Alten" zurückzukehren. Was bei Aristoteles eindeutig Fortschritt hieß, wird nun zur Hinwendung zu einer als autoritativ anerkannten Klassik. Gemeinsam ist beiden Haltungen die Verankerung des Philosophierens in der Geschichte; nur wird die Geschichte hier als Anstieg, dort als Abfall von einer schon gewonnenen Höhe verstanden. Entscheidend wird jetzt der Begriff des Klassikers, der Autorität. Momente, an denen das abzulesen ist, sind etwa: 1. Die Namen, die sich die Philosophen als Anhänger dieser oder jener Lehre von der Zeit Platons an gegeben haben: Pythagoreioi, Herakleitoi, Anaxagoreioi... in jedem Fall liegt darin eine Art von Programm, eine ausdrückliche Bindung an einen bestimmten Philosophen und seine Lehre. Demokriteios hat sich in seiner Jugend Epikur selbst genannt. Von außerordentlicher Bedeutung ist die Heraklit-Exegese des Kleanthes gewesen, durch die ein breiter Strom heraklitischer Gedanken in die Stoa eingegangen ist. An Kleanthes hat wiederum Poseidonios angeknüpft. Die Großartigkeit seines Systems, wie es uns Karl Reinhart zu sehen gelehrt hat, beruht zu einem guten Teil darauf, daß Poseidonios unbekümmert auf die pathetischen Weltbilder der Vorsokratik zurückgreift. 2. Es gibt Texte, die man nicht mehr nur als Mitteilung philosophischer Ansichten verwertet, sondern die gültige Dokumente darstellen, auf die man sich beruft und die man auslegt, um sich auf sie berufen zu können. Von den 86 Vorsokratikern gehören hierher nur Empedokles und Heraklit. Am folgenreichsten ist die Erhebung Platons zur Autorität geworden. Es gab handlich vereinfachende Zusammenfassungen schon im Corpus Aristotelicum. Kein Zweifel, daß Schriftsteller wie Polybius und Cicero zu solchen Epitomai gegriffen haben, wenn sie Platons Schriften benutzen wollten. Wir wüßten gerne, was in den von Plutarch mor. 1118 C zitierten Platoniká des Aristoteles eigentlich stand. Der Titel weist auf Darstellung oder Diskussion von Lehren Platons hin. Bekannt ist, daß mit Krantor die Liste der Timaioskommentare anhebt, über deren Anlage und Inhalt wir, was die frühen Kommentare betrifft, auch nichts wissen. Wahrscheinlich hat man sich auf bestimmte Hauptstellen konzentriert, und vermutlich hat man sich bemüht, Platon für das eigene Philosophieren in Anspruch zu nehmen. Wieder ist Poseidonios typisch. Für ihn ist Platon in manchen Dingen nicht viel weniger Autorität als Heraklit. Was die Akademie betrifft, so beginnt im Grunde mit Antiochos die Zeit, in der sich ihre Mitglieder programmatisch Platoniker nennen, um die Erneuerung der echten Lehre Platons und seiner unmittelbaren Schüler zu manifestieren. 3. Für die Schulgeschichte fangen im Jahrhundert Ciceros die Kategorien der Orthodoxie und Heterodoxie eine beherrschende Rolle zu spielen an. Man hat sich gegenseitig Abweichen von der wahren Parteilinie des Marxismus-Leninismus vorgeworfen wie im 20. Jahrhundert. Schlagworte wie Eklektizismus und Klassizismus sind letztlich nicht geeignet, das Verständnis der Philosophie des Jahrhunderts Ciceros zu fördern. Wenn es Eklektizismus ist, das eigene Philosophieren geschichtlich zu begründen (und das wird immer bedeuten: sich selbst als das Telos derjenigen Wege zu fassen, die in den Traditionen "richtig" sind), dann ist auch Aristoteles ein Eklektiker gewesen. Und wenn man es Klassizismus nennen soll, seine eigene Philosophie als die Auslegung autoritativer Texte der Vergangenheit zu betreiben, dann ist der ganze Neuplatonismus klassizistisch. Besser wird es doch wohl sein, von dem einen wie von dem anderen dieser fatalen Begriffe abzusehen und an den Sachen festzuhalten. Zwischen dem System und der Geschichte der Philosophie eine Wechselbeziehung herzustellen ist peripatetische Tradition. Damit aber die Wendung zu den "Alten" zu verknüpfen ist das Neue, das im Zeitalter Ciceros sich entfaltet. Es ist nur das Ende der damit inaugurierten Entwicklung, wenn 500 Jahre später alle Philosophie in Platonexegese aufgeht. Eines der ersten und vornehmsten Dokumente jenes Philosophierens, das durch die Geschichte sich zu den "Alten" leiten ließ, durch die Bindung an die Autorität der "Alten" die Philosophie zu erneuern suchte und sie auch in der Tat für ein halbes Jahrtausend erneuert hat, ist Tusc.Disp. 1. Es 87 stammt aus dem Umkreis des Panaitios, Poseidonios und Antiochos.103 Es geht darin um die Frage, was der Tod sei und darum, daß prinzipiell drei Antworten auf diese Frage möglich sind: Er kann entweder die Zerstörung der Seele bedeuten oder ihr Hinuntergehen in die Unterwelt oder ihren Aufstieg zum Himmel. Von diesen drei Möglichkeiten wird die zweite abgelehnt als diejenige, die dem Denken des Volkes und der Dichter vor und außerhalb der Philosophie angehört; sie ist allerdings nicht ganz verkehrt, sondern enthält ein Stück möglicher Wahrheit (daß die Seele über den Tod hinaus lebt), aber in ungeklärter Form, sofern sie übersieht, daß die Bewegung der Seele in keinem Fall ein Sinken in die Unterwelt sein kann. Philosophisch im strengen Sinne sind nur die erste und die dritte Möglichkeit, jene als die minimale, diese als die maximale. In der Gesamtdisposition werden beide als äquivalent behandelt. Auch die platonische Apologie zielt in 40 C ff. der Intention nach auf eben diese Möglichkeiten und ist wie Ciceros Text bereit, das eine zu wünschen, aber auch mit dem anderen sich zu begnügen. Bedenken wir, welche Bedeutung allem Anschein nach Platons Apologie für die Akademie von Arkesilaos an besessen hat und daß Cicero selbst seine Thesen nicht dogmatisch, sondern nur als wahrscheinlich verstanden wissen will, so erkennen wir, wie stark die Aporetik der "Neuen Akademie" da noch einwirkt. Das ist der locus classicus, an dem sich in den letzten drei Generationen der Forschung immer wieder die Frage erhoben hat, in welchem Sinne bei Cicero philosophisch Neues zu erkennen sei. Wir können feststellen, daß die genannten drei Griechen hinter dem Werk stehen: Panaitios, Poseidonios und Antiochos. Die wissenschaftliche Arbeit an den Lehren dieser drei ist in den letzten Jahrzehnten überaus intensiv gewesen; doch Abschließendes haben weder die Genialität K.Reinhardts noch die vielen wohlmeinenden Versuche über Panaitios und Antiochos erreicht - am dauerhaftesten werden sich fraglos W.Theilers Untersuchungen über die Vorbereitung des Neuplatonismus bewähren. Jedenfalls aber bleibt noch viel zu tun, ehe wir über die drei (und damit auch über den Philosophen Cicero) einigermaßen Bescheid wissen.104 2.6 Bemerkungen zur Philosophie der Römer Welche Bedeutung das erste Buch von Ciceros Tusculanen in der Erforschung der Philosophie des letzten Jh.s v.Chr besitzt, hat K.Reinhardt in seiner abschließenden Darstellung des Poseidonios (RE, 1954) noch einmal mit größter Prägnanz herausgearbeitet. 104 Vgl. Olof Gigon, Die Erneuerung der Philosophie in der Zeit Ciceros. Entretiens sur l'antiquité classique, Vandoeuvre-Genève, Tome III, 1955, S.25-59. Abgedruckt in: Das neue Cicerobild. o.c. S.229-258. 103 88 Die Römer bedeuten in unserer Kultur ein beunruhigendes Problem. In den Fundamenten unserer gegenwärtigen Kultur, in der deutschen Klassik hat das Römertum keine feste Stelle im Bildungsaufbau erhalten. Es hat natürlich immer Stimmen der Bewunderung für die Zucht des imperium Romanum und seine Ordnung schaffenden Kräfte gegeben. Im Ganzen aber mußte die deutsche Klassik ihr großes Geschenk an Europa, die Entdeckung des originalen Griechentums, bezahlen mit einem Verzicht auf Rom. Rom trat in den Schatten, schon weil die Hinwendung zu den Griechen ja zugleich eine Abwendung von der gemeineuropäischen, römisch bestimmten Tradition war. Außerdem schien den Römern gerade das zu fehlen, was man bei den Griechen suchte und fand: die Originalität. Die römische Kultur dagegen ist abgeleitet: die Religion, die Kunst, die gesamte Literatur ist von den Griechen übernommen, sekundär, unoriginal. Diese Vorstellung hat die Wissenschaft lange Zeit beherrscht; sie herrscht noch heute weithin in der öffentlichen Meinung. Aber daß hiermit nicht das letzte Wort über die Römer gesagt sein kann, das zeigt schon die heute noch ungebrochene, lebendige Wirkung der Römer auf andere europäische Nationen. Es ist Zeit, das überalterte Urteil über die Römer fortzuräumen. Dabei reicht es nicht, die großartige römische Originalität in Rechtsund Staatsschöpfung hervorzuheben. Vielmehr muß man zu einer Kritik des Originalitätsbegriffs überhaupt gelangen. Auch die Griechen haben nicht aus dem Nichts geschaffen. Der subjektive Originalitätsbegriff ist die Prägung eines spezifisch modernen Inidividualismus und kann den antiken Gegenständen nicht gerecht werden; gerade die Antike muß an die Relativität und die Grenzen dieses modernen Subjektivismus mahnen. Die Originalität der Römer liegt gerade in der Aneignung des Griechischen. "Daß sie die griechische Kultur aufnahmen, war nicht eigene Schwäche, es war historische Notwendigkeit. Kein historisch bedeutendes Volk der Mittelmeerwelt hat sich dieser Notwendigkeit entziehen können. Aber während die anderen Nationen der Hellenisierung verfielen, sind die Römer gerade deshalb Römer geblieben oder eigentlich erst geworden, weil sie sich dem Griechischen weiter geöffnet haben als alle anderen. Indem sie sich nicht mit der passiven Annahme dessen begnügten, was damals unwiderstehlich und unentrinnbar von Griechenland ausstrahlte, sondern es mit kräftiger Aktivität ergriffen, drangen sie in die tieferen Bezirke des Hellenischen sowohl wie des eigenen Wesens; so wurden sie unter all den bloßen Hellenisten die einzigen Humanisten, mit Recht von der überlieferten Formulierung das zweite klassische Volk der Antike bezeichnet."105 Richard Harder, Die Einbürgerung der Philosophie in Rom. In: Das neue Cicerobild. Hrsg.v.Karl Büchner. Wissensch.Buchges. Darmstadt 1971. S.11. 105 89 Wenn wir uns heute Unbefangenheit und Gerechtigkeit gegen die Römer erst durch historische Besinnung wieder erwerben müssen, so gilt das doppelt von der römischen Philosophie. Denn hier scheint das Originalitätsproblem akuter zu werden als irgendwo anders. Seit je gelten die Römer als "das unphilosophische Volk". Was sie an philosophischer Literatur hervorgebracht haben, scheint sich einer klaren Einordnung in die Philosophiegeschichte zu widersetzen, so daß es entweder als unproduktiv und oberflächlich gescholten oder mit lahmer Apologetik entschuldigt wird. Aber die Philosophiegeschichte ist eben mit der Geschichte der philosophischen Lehren und Systeme nicht erschöpft. Originalität liegt auch in der produktiven Auseinandersetzung mit der Tradition. Die römische Philosophie, die eine Renaissance der griechischen ist, rückt als ebenbürtiger Gegenstand des historischen, und ich glaube auch des philosophischen Interesses neben die hellenistischen und spätantiken Systeme. Richard Harder urteilt: "Denn wenn es den Römern auch an der denkerischen Intensität mangelt, die alle bedeutenden griechischen Philosphen auszeichnet, so ist umso bedeutsamer die Lebensintensität, mit welcher sie die griechische Lehre ihren nationalen Ordnungen einfügten." (o.c.13) Er will daher nicht ausgehen von der Frage: Was bringen die Römer - dogmengeschichtlich - der Philosophie Neues? sondern von der andern: Was bringt die Philosophie - lebensmäßig - den Römern Neues? Damit bekommt man den Blick frei auf die Phänomene selbst. 2.7 Cicero - Mittel zum Zweck In der Aufklärung verbreitete sich das Gefühl, daß Cicero nur Berichterstatter, aber kein "Selbstdenker" sei, daß seine eigene Stellungnahme durch beklagenswerte Unbeständigkeit, ja Leichtfertigkeit getrübt werde. Um so mehr mußte die klassiche deutsche Philosophie, als sie in kraftvoller Besitzergreifung der griechischen Philosophie die Philosophiegeschichte schuf, an Cicero vorbeigehen. Die in der nachhegelischen Zeit sich intensivierende Philosophiegeschichte ist dann, da sie das gesamte Material umfassend ergriff, auch auf Cicero gestoßen; für ihr Urteil ist typisch Zeller, der die "Oberflächlichkeit, die sich der Unbeständigkeit noch rühmt" getadelt hat. Es kam noch ärger. Die Geschichte der Philosophie ist durch neue, ungemein komplizierte Methoden ihrer Erforschung eine eigene Wissenschaft geworden. Hermann Useners und seiner Schüler Leistung ist dabei besonders hervorzuheben, durch die mit intensivsten philologischen Mitteln jene Epochen der antiken Aus: Richard Harder, Kleine Schriften, München: Beck 1960, S. 330-353. (Die Antike Bd. V/1929, S.291-316. Ein Vortrag.) 90 Philosophie erschlossen werden konnten, die uns in der Überlieferung fast gänzlich verlorengegangen sind, nämlich der Vorsokratiker und der hellenistischen Philosophie. Im Zusammenhang damit erhielt die Beschäftigung mit Cicero eine neue Zielsetzung. Es wurde gefragt, was aus Ciceros Schriften aus verlorener griechischer Philosophie wiedergewonnen werden könnte. Die Forschung trat in das Stadium der Quellenkritik. Cicero wurde zum Scherbenberg, aus dem gleichsam die wertvollen alten Gefäße mühsam zusammengesucht und zusammengefügt werden sollten. Man suchte die "Arbeitsweise" Ciceros zu ermitteln, seine schriftstellerischen Gewohnheiten und Unarten, die Abschreibfehler und Mißverständnisse, die Nähte und Zwischenstücke, an denen die verschiedenen Vorlagen zusammengefügt waren. Ciceros Schriften wurden ein wichtiges Objekt der mit immer schärferen Messern, immer feineren Schnitten arbeitenden philologischen Sezierkunst, aber aus dem Bestand der lebendigen Bildungsmächte, in denen sich der Wert der Antike repräsentiert, hat man sie gestrichen. Auf der anderen Seite ist zu sehen, daß Cicero mit seiner philosophischen Schriftstellerei als solcher, mit der literarischen Formung Geschichte gemacht hat. Die Philosophie hat durch ihn in Rom Fuß gefaßt. Im Scipionenkreis war sie noch Privatsache. Keiner aus dem adeligen Freundeskreis hat das neue Lebensideal der humanitas so sehr als öffentliche Angelegenheit empfunden, daß er ihm nun literarisch geformten Ausdruck in lateinischer Sprache gegeben hätte. Das hat erst Cicero vollbracht. Auch sofern die Bücher Ciceros bloße Übersetzungen sind, kommt ihnen größte historische Bedeutung zu. Denn Übersetzung bedeutet nicht nur Hingegebenheit und Abhängigkeit, sondern auch Aneignung, Befreiung vom Original durch die Kraft geistiger und sprachlicher Formen in lateinische Sprache als ruhmvolle Kulturleistung - sowenig das unserem modernen Originalitätsdünkel einleuchten will. Außerdem übersetzt Cicero immer nur im einzelnen; als Ganzes sind seine Bücher eigene literarische Produktionen; der Stoff stammt von den Griechen, die literarische Gestaltung ist ciceronisch; sie gibt dem Stoff auch da, wo sie ihn unverändert übernimmt, einen neuen Zusammenhang, die Philosophie wird in eine römische, ciceronische Ordnung einbezogen - und zwar durch die literarische Formung, durch das Buch. Der Zusammenhang von Philosophie und Schriftlichkeit könnte Gegenstand einer eigenen Reflexion sein. Von der Problematik philosophischer Schriftstellerei hat nicht erst Nietzsche gewußt; sie spricht am eindringlichsten aus den berühmten Äußerungen Platons, welche die Übermittlung seiner Philosophie auf schriftlichem Wege geradezu für unmöglich erklären. Und doch sind es Philosophen gewesen, die das Buch im eigentlichen 91 Sinn, das Prosabuch überhaupt erst geschaffen haben; die frühesten griechischen Prosabücher sind die der ionischen Denker und Forscher. Daneben begegnet uns unter antiken Philosophen häufiger der völlige Verzicht auf jede Schriftstellerei. Das bedeutet keineswegs einen Verzicht auf Wirkung, sondern ist charakteristisch für solche Philosophen, die in enger Verbindung mit einer Gemeinschaft stehen, sei es der Kreis einer Schule, eines Ordens, einer Polis. Cicero hat die Philosophie in Rom eingebürgert, ihr das dauernde Bürgerrecht in Rom verschafft. Er beschwört und verewigt das Gedächtnis einer vergangenen Epoche gewissermaßen als ihr letzter Zeuge und hält dieses Erinnerungsbild seiner Mitwelt vor Augen. Wie Plato vereinigt er sozusagen die beiden Typen des schriftlichen und mündlichen Philosophierens. Wie Plato durch den Mund des Sokrates, so spricht Cicero in der ursprünglichen und endgültigen Fassung des Staatswerks nicht geradeswegs im eigenen Namen, sondern aus der Person des Vertreters der römischen Menschlichkeit, des Scipio Aemilianus. Eine verwandte historische Situation, die Stellung in einer zerbrechenden Kulturwelt, und eine verwandte innere Haltung zur Bildung: das hat der Dialog Ciceros mit Platon gemeinsam. Schließlich ist der Zusammenhang von Philosophie und Politik zu bedenken. Seit langer Zeit stoßen die beiden bei Cicero wieder aufeinander. Für Plato war die Philosophie Politik: eine Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln. Für den hellenistischen Philosophen ist, nachdem die Polis durch die Beamtenmonarchie abgelöst ist, die Politik kein zentrales Lebensproblem mehr; wenn im Hellenismus darüber debattiert wird, "ob der Weise Politik treiben soll", so hat das etwa das gleiche Gewicht wie die Frage, ob er eine Ehe eingehen soll; und wenn manche Philosophen aktiv am Staatsleben ihrer Heimat teilnehmen, so handelt es sich dabei nicht mehr um große Politik, sondern um Verwaltung, um Kommunalpolitik. In Rom zuerst sind es wieder primär politische Menschen, mit denen es die Philosophie zu tun hat. Das neue menschliche Ergriffensein von der Philosophie erklärt vielleicht Mängel und Schönheitsfehler, die Ciceros Bücher im einzelnen für den aufweisen, der griechische Philosophie in ihnen sucht; es nötigt uns aber auch Bewunderung ab, daß Cicero die Philosophie davor bewahrt hat, zur Heilslehre abzusinken. Seine philosophische Schriftstellerei ist von schwer abzuschätzender welthistorischer Bedeutung. Durch Ciceros Bücher hindurch hat griechische Philosophie die moderne Entwicklung entscheidend beeinflußt. Durch seine Gestaltung der humanitas hat er die römische Bildungstradition erweckt und für immer am Leben gehalten. Seine Hinwendung zu Plato ist ein ernster, folgenschwerer Schritt: durch Cicero 92 hat der Platonismus in einer faßlichen Form jahrhundertelang auf das Abendland gewirkt und es so reif gemacht zur schrittweisen Aufnahme des originalen Plato. In Griechenland hat die Philosophie in einer die Jahrhunderte kraftvoll und ruhig überdauernden schulmäßigen Tradition gelebt; im Abendland gibt es in diesem griechischen Sinn keine philosophische Schule, sondern hier bleibt die Philosophie immer gebunden an das Individuum, bestimmt durch ein neues, persönliches Erleben und Ergreifen durch den einzelnen. 3. Ciceros philosophisches Schrifttum im Überblick 3.1 Consolatio und Hortensius Von Ciceros edierten Reden ist mehr als die Hälfte erhalten, von der edierten Korrespondenz ebenfalls etwa die Hälfte. Nicht erhalten ist der Anfang seines philosophischen Schrifttums: die Consolatio und der Hortensius. Der Tod seiner geliebten Tochter Tullia im Februar 45 hat Cicero mehr als alles davor erschüttert. Dieser Schlag stellte seine philosophische Tätigkeit unter neue Aspekte. Es kam hinzu der Aspekt des Trostes in schwerem, fast unerträglichem Leid. Cicero schrieb sich selbst - und das war etwas Neues seine Consolatio. Beim Hortensius ist es fast verwunderlich, daß er nicht erhalten geblieben ist, denn zu Augustins Zeiten gehörte er zu den im rhetorischen Kurs üblichen Büchern. Augustin bekennt, daß das Buch ihm nicht, wie beabsichtigt, zur stilistischen Verfeinerung diente, sondern ihn zu Gott führte. Es war eine Einleitung in die Philosophie, über die man sich dank erhaltener Fragmente ein ganz gutes Bild machen kann. Cicero hat Hortensius, seinem Gegner als Anwalt und Redner, ein ehrenhaftes Denkmal gesetzt, indem er ihn zum Adressaten seiner exhortatio ad philosophiam machte. Die Schrift stand stark unter dem Einfluß des berühmten aristotelischen Protreptikòs eis philosophían, der allerdings kein Dialog war. Eine interessante Differenz zwischen den beiden liegt auch darin, daß der junge Aristoteles im stolzen Bewußtsein der Entwicklung des Denkens seit Sokrates die überschwängliche Hoffnung aussprach, die Philosophie werde nach den gewaltigen Erfolgen der letzten Zeit wohl bald ihre Vollendung erreicht haben (fgm. 8 Ross, vgl. Tusc. 3,69). Cicero, in dessen Mund zu seiner Zeit eine solche Äußerung einfach lächerlich gewirkt hätte, vertrat hier eine ganz andere Ansicht. Bei Augustin nämlich, in seiner Schrift 'contra Academicos', bringt Licentius, ganz erfüllt von den bei der Lektüre des 'Hortensius' empfangenen Eindrücken (c.acad. 1, 1, 4), ein Cicerozitat, das wohl trotz Fehlens eines ausdrücklichen 93 Hinweises im Text dem 'Hortensius' zuzuweisen ist: ... beatum esse, qui veritatem investigat, etiamsi ad eius inventionem non valeat pervenire (c.acad. 1 ,3, 7). 3.2 Akademische Untersuchungen. Cicero hat sie zweimal herausgegeben. Erhalten ist das eine der beiden Bücher, das zweite ("Lucullus"), aus der ersten Auflage. Von der zweiten Auflage ist nur ein kleiner Teil am Anfang des ersten Buchs erhalten. Die 'akademischen Untersuchungen' haben es mit Fragen der Erkenntnistheorie zu tun, wie sie gerade in der Akademie zunächst im Kampf mit den sich im Besitz eines festen Kriteriums der Wahrheit wähnenden Stoikern, dann im inneren Leben der Schule selbst bei der von Philon andeutungsweise, von Antiochos radikal durchgeführten Aufgabe des skeptischen Standpunkts von Bedeutung waren. Vom modernen Standpunkt aus erscheint es ganz natürlich, daß Cicero die beabsichtigte Gesamtdarstellung der Philosophie im Lateinischen gerade mit den grundlegenden Erkenntnisproblemen beginnt; für Cicero freilich ist - ganz im Gegensatz zur Moderne - die ethische Wertlehre Grundlage, wie er an einer bekannten Stelle in Rückschau auf seine philosophische Schriftstellerei formuliert: cumque fundamentum esset philosophiae positum in finibus bonorum et malorum, perpurgatus est is locus a nobis quinque libris (div. 2, 2). Im Lucullus wird eine kontradiktorische Verhandlung vorgeführt zwischen dem Titelhelden, der nach eigener Angabe die Ansichten des Antiochos wiedergibt, und Cicero, der sich zum Anwalt jener aufgegebenen, nach eigener Behauptung (nat.deor.1,11) überwundenen skeptischen Akademie macht. Die Rede des Lucullus ist ein Meisterstück in Inhalt und formaler Anlage; ihr gegenüber wirken die kleinlichen Besserwissereien der Quellenanalytiker fast ein wenig lächerlich. Sie setzen - völlig unbewiesen - voraus, daß ein schlechthin vollkommenes griechisches Original verdreht und verdorben worden ist. Man sollte statt dessen die besondere Leistung Ciceros würdigen, daß er nämlich eine lateinische Kunstsprache für die Philosophie geschaffen hat. Die philosophische Debatte fordert substantivische Begriffsbezeichnungen; und Cicero mußte z.B. für katálepsis comprehensio, cognitio, perceptio wählen. In einer humorvollen Wendung macht Cicero/Lucullus selbst auf das hier Geleistete aufmerksam, anläßlich des terminus enárgeia: perspicuitatem aut evidentiam nos, si placet, nominemus fabricemurque, si opus erit, verba, nec hic sibi (me appellabat iocans) hoc licere soli putet (17). Doch die Leistung geht weit über die Schaffung einzelner Worte hinaus. Die ganzen Debatten mußten aus einem geschmeidigen, seit Jahrhunderten dafür vorbereiteten Idiom in eine Sprache übersetzt werden, die 94 zunächst wohl eher hilflos anmutete. Dazu kommt die große Schwierigkeit der Materie speziell bei den Academici libri, die faßlich darzustellen keine leichte Sache war. 3.3 De finibus bonorum et malorum Im Briefwechsel mit Atticus kann man die Entstehung dieser Schrift genau vefolgen. Am 16.März 45 finden wir Cicero bereits mit der Frage beschäftigt, welchen Personen er in einem Werk über Epikur Rollen zuweisen solle (Att. 12,12,2). Am 30.Juni kommt schon die Nachricht, ..confeci quinque libros perì telon (Att. 13,19,4). Anfang Juli werden diese Bücher von den Schreibern Ciceros, dann von denen des Atticus abgeschrieben, und Cicero beklagt sich, daß manche Leute sich schon bevor das Manuskript ganz ausgefeilt war, durch Hilfe der Schreiber des Atticus Einblick verschafft haben. Cicero, ein Meister auch in ständiger Variierung der dialogischen Form, hat dieses Mal drei völlig voneinander unabhängige Gespräche geschaffen, die einerseits die Lehrmeinungen dreier philosophischer Richtungen über die höchsten oder äußersten Grenzpunkte der Gütertafel und der Übelliste, zugleich auch ihre Kritik vorführen. Im ersten Gespräch ist T.Manlius Torquatus Kontrahent. Gleich zu Beginn der Unterhaltung bemerkt Cicero auf die Frage, was ihm denn an Epikur so sehr mißfalle (17), außer der in diesem Zusammenhang unvermeidlichen declinatio der Atome (17-20) und einigen anderen Bedenken aus dem Bereich der Physik (20f.) und Logik (22), es sei einfach unverständlich, daß der erste Träger des Namens Torquatus jene Halskette dem Gallier entrissen habe, ut aliquam ex eo perciperet corpore voluptatem (23), oder daß jener andere Torquatus, Konsul des Jahres 165, als er, gegen den eigenen, schuldig gewordenen Sohn mit äußerster severitas vorging, dabei ans Privatvergnügen (de voluptatibus suis, 24) gedacht habe. Torquatus ist nicht unempfänglich für die ehrenvolle Erinnerung an seine Ahnen, läßt sich aber dadurch nicht bestechen (28f.): auf das Problem der voluptas eingehend, beginnt er in der bei ihm gewohnten epikureischen Klarheit mit der Feststellung Epikurs, von der Geburt an strebten alle Lebewesen nach Teilhabe an der Lust und Freiheit vom Schmerz (30); über diese Tatsache, die den unverbildeten und unverfälschten Zustand der Natur widerspiegelte, sei ebensowenig zu disputieren, wie darüber, ob Honig süß, Schnee weiß oder Feuer heiß sei. In der Praxis freilich sei das schwieriger, als es zunächst scheine (32f.): die Lebenskunst der Weisen beruhe darauf, in geschicktem delectus (33) mit dem wohlbedachten Kalkül jener compensatio, die den Kern der praktischen epikureischen Moral ausmacht, seine Entscheidung 95 zu treffen und dabei bisweilen auch auf eine Lust zu verzichten oder einen Schmerz in Kauf zu nehmen (33). Damit ist auch die von Cicero aufgeworfene Frage beantwortet: nicht virtus an sich sei das Motiv jener zweifellos herrlichen Taten gewesen (34f.); alles geschah, ut aut voluptates omittantur maiorum voluptatum adipiscendarum causa, aut dolores suscipiantur maiorum dolorum effugiendorum causa (36). Den Inhalt ganz zu referieren, würde zu weit führen. Geschickt benutzt Cicero u.a. das Testament des Epikur, die Unklarheiten in dessen Lustbegriff herauszuarbeiten. Das zweite Gespräch - mit Cato - handelt von der Meinung der Stoiker vom höchsten Gut und Übel (fin.3 und 4). Cato bedauert, daß Cicero so wenig Neigung für die Stoa zeigt. Cicero antwortet mit der These des Antiochos, daß doch die im wesentlichen aus der Namengebung entspringenden Unterschiede nicht die grundsätzliche Einigkeit in der Sache aufheben können: ratio enim nostra consentit, pugnat oratio. Das bestreitet freilich Cato ganz entschieden, und damit ist man beim Thema. Cato geht in seiner Argumentation von einem principium naturae (20) aus (3,16f.): als solches ist die voluptas der Epikureer unbrauchbar (17), denn noch ehe Lust und Schmerz dem Lebewesen überhaupt bekannt werden, ist bei ihm der Selbsterhaltungstrieb zu konstatieren, das Streben nach Erhaltung des eigenen status (16). Auch eine gewisse uninteressierte Entdeckerfreude der Kleinen (17E.) gehört zu den prima elementa naturae (19). Aus ihnen ergibt sich ein Wertbegriff: aestimabile esse dicunt...id, quod aut ipsum secundum naturam sit aut tale quid efficiat (20). Daraus ergibt sich der Pflichtbegriff (officium), griech. kathekon, 20), der auf die Erhaltung des naturgegebenen status und die Befolgung des Naturgemäßen geht. Eine tiefere Einsicht führt dazu, diese Auswahl (selectio 20) zu einer dauernden und harmonischen zu gestalten: der Mensch kommt dazu, in dieser Harmonie (convenientia, griech. homología, 21) das höchste Gut zu sehen. Cicero bemüht sich, in der Darstellung Catos vom Übergang von der Natur zur Weisheit einen Bruch deutlich hervorzuheben: cum autem omnia officia a principiis naturae proficiscantur, ab isdem necesse est proficisci ipsam sapientiam (23). Moral predigen ist leicht, Moral begründen aber schwer. Sollte es möglich sein, unter Vermeidung der von Stoikern und Epikureern begangenen Fehler eine Ethik aufzubauen? Dieser Versuch wird im dritten Gespräch (fin.5), das also mit Recht an dieser Stelle des Werkes steht, von dem eklektischen Standpunkt des Antiochos her unternommen. Man legt Piso nahe, zu eklären, quaenam sit istius veteris...Academiae de finibus bonorum Peripateticorumque sententia (8). Piso hebt in 96 einleitenden Betrachtungen (9f.) die ungeheure Fülle der Anregungen auf den verschiedensten Gebieten, wie Kosmologie, Naturwissenschaft, Logik, Rhetorik und Politik, durch das peripatetisch-akademische Schrifttum hervor und setzt sich kritisch mit verschiedenen Lösungsversuchen auseinander, die auf dem Gebiet der fines versucht wurden oder wenigstens denkbar sind (12f.). Seine eigene positive Darlegung (15f.) hat mit den Stoikern nicht nur in dem Prinzip des Selbsterhaltungstriebs (24) den Ausgangspunkt, sondern auch im weiteren Verlauf eine Reihe wesentlicher Gedanken gemein: mit fortschreitender Entwicklung tritt zu dem zunächst dumpfen und unbestimmten Trieb das Bewußtsein (agnoscere 24) und die Einsicht bei der Wahl des Naturgemäßen (naturae accommodatum 24); dieses freilich als der wahre Lebenszweck differenziert sich wesentlich für die verschiedenen Lebewesen, so daß das allgemeine Ziel secundum naturam für den Menschen genauer bestimmt wird: vivere ex hominis natura undique perfecta et nihil requirente (26). Damit aber verdienen die für den Menschen charakteristischen, ihn vom Tier unterscheidenden Dinge ganz besonderer Fürsorge; zugleich ergibt sich eine höhere Bewertung des Geistigen gegenüber dem Körperlichen (34) und innerhalb des Geistigen wieder ein Vorzug des dem Bewußtsein und Willen zugänglichen Teiles: zu den virtutes non voluntariae (36) gehören docilitas und memoria, die der Gruppe der ingeniosi zukommen; wahre Töchter der Vernunft, des göttlichen Elements in uns, aber sind die virtutes voluntariae (a.O.), als deren Vertreter die stoischen Kardinaltugenden prudentia, temperantia, fortitudo, iustitia genannt werden. Der wichtige stoische Begriff der Stufenfolge, von dem aus sich nur so etwas wie ein Wertbegriff begründen läßt, wird hier deutlicher als bei Cato veranschaulicht. Im Weiteren wird die Bedeutung von Selbsterkenntnis und Bewußtsein behandelt und schließlich die Beantwortung der gestellten Frage gewagt (59): Die Natur hat den Körper teils bei der Geburt, teils in der späteren Entwicklung vortrefflich ausgestattet; besonders ist dies auch vom Geist hinsichtlich seiner zureichenden Sinneskräfte zu sagen. Mit dem besten Teil des Menschen aber steht es anders: etsi dedit talem mentem, quae omnem virtutem accipere posset, ingenuitque sine doctrina notitias parvas rerum maximarum, et quasi instituit docere et induxit in ea, quae inerant, tamquam elementa virtutis. sed virtutem ipsam inchoavit, nihil amplius (a.O.). Wie die Sterne im Licht der Sonne, so verbleichen die bona corporis als parvae et exiguae accessiones bonorum im Lichte der Tugenden (71). Cicero macht am Schluß auf eine Schwierigkeit aufmerksam: Piso bezeichnete die äußeren Güter immerhin als Güter, wenn auch geringeren Wertes (80f.); daher der Verdacht: sapientem esse non esse ad beate vivendum satis (81). Piso antwortet ganz im Geist des Antiochos: ad beatissime vivendum parum est, ad beate vero satis (a.O.); die körperlichen Güter 97 vervollständigen das glücklichste Leben, aber so, daß ohne sie auch ein glückliches Leben möglich ist (71) - das sind Halbheiten, mit den Merkmalen eines schwächlichen Kompromisses. So schließt auch dieses Gespräch mit einem Fragezeichen. 3.4 Tusculanae disputationes Cicero bezeichnet diese Schrift als eine Ergänzung zu De finibus. In dem Überblick (div. 2,2) charakterisiert er knapp den Inhalt: totidem subsecuti libri Tusculanarum disputationum res ad beate vivendum maxime necessarias aperuerunt. primus enim est de contemnenda morte, secundus de tolerando dolore, de aegritudine lenienda tertius, quartus de reliquis animi perturbationibus, quintus eum locum complexus est, qui totam philosophiam maxime illustrat; docet enim ad beate vivendum virtutem se ipsa esse contentam. Grundsätzlich knüpfen beide Schriften, die Tusculanen wie De finibus, durchaus an den Probabilismus der neuen Akademie an. 3.5 De natura deorum Das 18.Jh. hat in dem Werk eines der schönsten in lateinischer Sprache geschriebenen Bücher gesehen. Freilich las man es damals nicht im kritischen Interesse an den griechischen Quellen und deren angeblich unvollkommener Wiedergabe durch Cicero, sondern aus einem lebendigen Gefühl heraus für die bedeutenden Anregungen und großen Fragen des Inhalts. Damit aber sind Wirkung und Einfluß auf das geistige Leben jener Zeit gar nicht zu überschätzen. Das 19.Jh. hat dann bei vielfach geänderter geistiger Grundhaltung das Verhältnis gerade zu dieser Schrift ganz verloren; nirgends sonst wütete die Quellenanalyse grausamer als hier. Im 20. Jh. hat sich das Blatt allmählich gewendet, und Wilhelm Süss bekennt: "Ciceros Schrift 'de natura deorum' ist für mich die Krone all seiner philosophischen Werke".106 3.6 De divinatione und de fato Das Thema der divinatio, der Erkundung des göttlichen Willens oder der Weissagung, war in nat.deor. mehrfach berührt worden; deutlich wurde dabei, daß der Epikureer dem Gedanken gänzlich ablehnend, der Stoiker aber durchaus sympathisierend Wilhelm Süss, Cicero. Eine Einführung in seine philosophischen Schriften (mit Ausschluß der staatsphilosophischen Werke). Verlag der Akademie der Wissenschaften und der Literatur in Mainz, in Komm. bei Franz Steiner Verlag Wiesbaden, 1966. (Abhandlungen der Geistes- und Sozialwissenschaftlichen Klasse Jg. 1965, Nr.5) S.301 (93). 106 98 gegenüberstand; kritisch und skeptisch äußerte sich zu der Frage auch der Akademiker Cotta in einem teilweise verlorenen Stück (3,13f.): ...divinatio, quae unde oriatur non intellego (14). Mit akademischen Waffen kämpft denn auch Cicero selbst im zweiten Buch der neuen Schrift gegen die divinatio, mit stoischen Argumenten begründet sie der Bruder Quintus im ersten. Hatte Balbus in nat.deor. aus der Möglichkeit der Weissagung auf die Existenz der Götter geschlossen (2,7-12), so wird in der nachfolgenden Schrift naturgemäß der umgekehrte Weg eingeschlagen und im positiven ersten Teil der Glaube an die divinatio aus dem Glauben an die Götter abgeleitet. Die Wichtigkeit des behandelten Themas ist nach Cicero unbestreitbar: sei man doch in Gefahr, auf diesem Gebiet entweder in gottlosen Frevel oder kindischen Aberglauben zu verfallen (1,7). Es geht um Zufall und Notwendigkeit. Wenn der Zufall herrscht, kann auch ein Gott nichts prophezeien: rerum igitur fortuitarum nulla est praesensio (2,18). Wenn dagegen das fatum, jene unausweichliche Kausalkette herrscht, so lautet die Frage: quid mihi divinatio prodest? (20A.) In diesem Fall hat man kein Recht zu sagen, daß durch eine Mahnung ein Unheil verhütet oder durch Nichtbeachtung eines Vorzeichens ein Unglück eingetreten sei: das schließt das durch seine Kausalkette determinierende fatum aus: vultis autem omnia fato. nulla igitur est divinatio (20E.). In diesem dialektischen Dreieck von Bestimmung, Freiheit und Vorsehung können unmöglich alle drei Prinzipien gleichzeitig wirksam sein. (Vgl. div. 2,21). Cicero kämpft mit einem gewissen überlegenen, fröhlichen Rationalismus: von den allgemeinen Gründen für die Berechtigung der Weissagungen sei offenbar nur der dritte, die Begründung durch die Sympathie im Weltganzen, einigermaßen ernst zu nehmen (33A.) - er lebt ja schließlich noch in den Begründungen der modernen Astrologen weiter. Doch welche Lächerlichkeit sei es, daß ein elendes persönliches Profitchen mit dem Weltganzen (cum caelo, terra rerumque natura, a.O.) in geheimnisvoller Verbindung stehen sollte, wie es doch sein müßte, wenn aus den Eingeweiden eine Vergrößerung des Vermögens mit Sinn und Verstand vorausgesagt werden könnte! Neben Gott und Unsterblichkeit ist die Freiheit des Willens die dritte große Idee der Aufklärungszeit, ein Problem, das in der antiken wie in der modernen Debatte sich als besonders schwierig und spröde erwiesen hat. Cicero hat diesen Fragenkreis in der Schrift de fato behandelt, doch ein besonderes Unglück der Überlieferung hat diese interessante Abhandlung durch den Verlust einer großen Partie am Anfang der eigentlichen Diskussion und durch mehrere kleinere Lücken schwer beschädigt. Die Fiktion der Schrift ist die, daß in einem der häufigen Besuche der beiden designierten Konsuln des folgenden Jahres 99 43, Hirtius und Pansa, auf Ciceros Gut bei Puteoli (s.Att. 14,9f.) der eine der beiden, Hirtius, den Wunsch äußert, selbst eine philosophische These vortragen zu dürfen, die dann von Cicero in einem ausführlichen Vortrag widerlegt werden soll. Diese These kann wohl nur gelautet haben: fato omnia fiunt. Gerade da aber ist die Lücke im Text. In der Darlegung Ciceros geht es zunächst um die sympátheia = naturae contagio, 5, jene geheimnisvolle Sympathie der Natur. Cicero hat gegen einzelne Beispiele nichts einzuwenden, hält aber manches für absurd. Entschieden bestreitet er den Fatalismus. Die unleugbare Verschiedenheit der Menschen in ihren Charakteranlagen und ihren Geschmacksneigungen darf nicht dazu führen, daß alle Willensregungen und Wünsche (voluntates atque appetitiones, 9A.) natürliche und von vornherein gegebene Ursachen (causae naturales et antecedentes, a.O.) voraussetzen; denn damit wäre es mit der Willensfreiheit aus: nihil esset in nostra potestate (a.O.). Die positive Wendung der Sache verdeutlicht später der Satz: "Denn nicht aus von Ewigkeit her bestimmten Ursachen, die aus einer von der Natur gegebenen Notwendigkeit herrühren, ist der folgendermaßen formulierte Sachverhalt richtig: Karneades begibt sich hinunter in die Akademie. Natürlich ist er nicht ohne Ursache; doch man muß den Unterschied wohl beachten zwischen zufällig vorausgegangenen Ursachen und solchen Ursachen, die in sich eine in der Natur begründete Wirkungskraft beschließen". (fat. 19: ...nec tamen sine causis; sed interest inter causas fortuito antegressas et inter causas cohibentes in se efficientiam naturalem.) So löst sich das Problem der Willensfreiheit verhältnismäßig einfach (23f.): voluntatis enim nostrae non esse causas externas et antecedentes (23E.); daher sei der Ausdruck, es wolle einer etwas oder auch nicht sine causa, sprachlich unkorrekt; gemeint sei: sine externa et antecedente causa, non sine aliqua (24). Mit diesem Thema hat sich also Cicero gerade in den Monaten nach Caesars Ermordung befaßt. 3.7 Die kleinen ethischen Schriften Cato maior und Laelius Wohl die liebenswürdigste Schrift Ciceros ist der Cato maior de senectute. Die Schrift ist, ungeachtet der zahlreichen Zitate aus Platon, Xenophon und anderen griechischen Schriftstellern, durch und durch römisch; dabei denke ich nicht so sehr an die vielen Beispiele aus der römischen Geschichte, sondern etwa an die Hervorhebung der auctoritas des Alters. apex est autem senectutis auctoritas (60, vgl.3). Dieser spezifisch römische Begriff, der an augere denken läßt und an die geheimnisvoll magischen Kräfte, die Ausstrahlung einer Persönlichkeit kennzeichnet, ist unübersetzbar; diesem Wert gegenüber verblassen alle Scheinwerte: habet senectus honorata praesertim tantam auctoritatem, ut ea pluris sit quam 100 omnes adulescentiae voluptates (61E.).107 Der Laelius de amicitia ist wieder dem Freund Atticus gewidmet. Mit starker Berührung zu Gedanken aus de natura deorum (1,121f.) führt Laelius aus, wie falsch die Ansicht sei, die Quelle der Freundschaft in der Hilfsbedürftigkeit anzusetzen (26,29,51): nach dieser utilitaristischen Theorie wäre ja gerade der Schwache am empfänglichsten und geeignetsten für die Freundschaft. Das genaue Gegenteil sei der Fall: der sittlich und geistig höherentwickelte Mensch habe recht eigentlich für Freundschaft Bedürfnis und Eignung (29); so ergebe sich: non igitur utilitatem amicitia, sed utilitas amicitiam secuta est (51E.). 3.8 De officiis Die letzte philosophische Schrift Ciceros. Seit den Tagen der alten Kirche, als Ambrosius die christliche Ethik unter stärkster Verwendung von Ciceros Pflichtenlehre aufbaute, steht diese Schrift hinter keiner anderen zurück, was tiefgreifenden Einfluß und bedeutende Wirkung anlangt. Zielinski, der sie für die "wichtigste und einflußreichste aller Schriften Ciceros" (S.66) hält, bringt dafür viele Beispiele von Urteilen. Montaigne hat sie für langweilig gehalten. (Essais II, 10). Nach dem stoischen Studienplan, der z.B. für Ciceros Lehrer Philon ausdrücklich bezeugt wird (Stob. II,41 W), bildet die praktische Ethik den Abschluß. Da mit der Theorie der Ethik in de finibus die Grundlage gelegt werden sollte, so schließt sich mit de officiis der Ring. Was Cicero mit einer wohlerwogenen, auch gegen die Bedenken des Atticus festgehaltenen Übersetzung durch das lateinische Wort officia wiedergibt, sind die kathékonta der Stoiker, d.h. die Pflichten, die im Unterschied zu der aus vollkommener Gesinnung vom Weisen vollbrachten Handlungsweise (katórthoma = officium perfectum, vgl. 1,8) in einer bestimmten Situation an den gewöhnlichen Menschen herantreten können und sich mit vernünftigen Gründen rechtfertigen lassen (a.O.). Da wir uns mit dieser Terminologie bereits in durchaus stoischer Atmosphäre befinden, wird natürlich nach den einleitenden Definitionsunterscheidungen (7-10) vom Begriff der Natur ausgegangen: die vernünftige Natur des Menschen äußere sich in vier Grundtrieben, dem Forschungstrieb (veri inquisitio atque investigatio, 13; vgl. dazu fin.3, 17E.), dem sozialen Trieb Vgl. Römische Wertbegriffe. Hrsg. v. Hans Oppermann. Wege der Forschung Bd.XXXIV. Wissenschaftliche Buchgesellschaft Darmstadt 1967. Einzelne Artikel über Res publica, Libertas, Concordia, Pietas, Verecundia, Virtus und Constantia, Honos, Humanitas etc. 107 101 (vitae societas, 12), zu dem ratio und oratio hinführen (a.O.); dann dem Willen zur Macht (appetitio principatus, 13), schließlich einem Sinn für Maß und Schicklichkeit, einer Art von ethisch-ästhetischem Grundempfinden (quid sit ordo, quid sit quod deceat, in factis dictisque modus, 14). Man erkennt sogleich, daß hier, noch verdeckt, die berühmten vier Kardinaltugenden auftreten, die als Allgemeingut der Antike dann auch der jungen Kirche vermittelt wurden (15-17). Das sind die philosophischen Schriften Ciceros, und damit ist zugleich der Diskurs insgesamt angedeutet, innerhalb dessen sich Ciceros religionsphilosophische Gedanken halten. 4. De natura deorum 4.1 Einleitung 4.1.1 Zur Religion und Religiosität des Volks der Römer Literatur zu Ciceros Religiosität: Ernst Sattmann, Ciceros Religiosität. Diss. Wien 1949. M. van den Bruwaene, La Théologie de Cicéron. Louvain 1937. Dazu Rezensionen von: - H.Leisegang - Philolog.Wochenschrift 58, 1938 - O.Tescari - Bollettino di filol.class. NS X 1938, 20ff. E.E.Burriss, Cicero's unbelief, in "The Classical Weekly" XVII (1924) S. 101ff. M.Y.Henry, The Relation of Dogmatism and Scepticism in the Philosophical Treatises of Cicero. New York 1925. K.Kerényi, Religio academici. Pannonia IV 1938 S.320ff. A.B.Krische, Die theologischen Lehren der griechischen Denker. Eine Prüfung der Darstellung Ciceros. Göttingen 1840. L.Reinhardt, Die Quellen von Ciceros Schrift De natura deorum. (Breslauer philolog. Abhandlungen Bd.3/2) Breslau 1888. Th.Vick, Karneades' Kritik der Theologie bei Cicero u. Sextus Empiricus. Hermes 1902 t. XXXVII. J.Vogt, Ciceros Glaube an Rom. Stuttgart 1935. O.Weinreich, Ciceros Gebet an die Philosophie. ARW 21, 1922 S.504ff. Die Fragestellung: Bei der Frage nach der Religiosität eines Menschen handelt es sich um eine moderne Problemstellung, mit welcher die Antike in dieser Form nicht vertraut war, wie es schon das Fehlen des entsprechenden sprachlichen Ausdrucks beweist. Wir verstehen unter Religiosität die subjektiv - persönliche, psychische Seite der Religion, also das innere religiöse Leben des Einzelnen; dieses umfaßt die Gesamtheit des Fühlens, Vorstellens, Wollens und Handelns, welche dem 102 Abhängigkeitsgefühl von unbekannten Mächten entspringend - auf einen höchsten Totalwert des individuellen Lebens hingeordnet ist, von welchem aus das Dasein seine endgültige Sinngebung erhält. Diesem Bedeutungsinhalt entspricht nun in der Antike kein vollkommen adäquater Begriff. Religiositas als nomen qualitatis von religiosus tritt überhaupt erst verhältnismäßig spät auf (bei Apul. De dogm.Plat. II 7 <229>) als Übersetzung von griech, hosiótes und hält sich innerhalb des Bedeutungskreises des Adjektivs: "religiositas deum honori ac supplicis divinae rei mancipata est"; es handelt sich also um kultische Frömmigkeit, welche die Innerlichkeit vollkommen beiseite läßt. "Was man von dem Menschen erwartet, was im römischen Sinn den religiösen Menschen charakterisiert, ist nicht Überzeugung und nicht das Gefühl, sondern Handlung."108 Wenn man also mit Pfister109 Religiosität als den Besitz transzendentalen Fühlens, Vorstellens und Wollens definiert, so ist nur letzteres, das Wollen, was im römischen Sinn das Merkmal des homo religiosus ausmacht, nämlich sein Wille zur gewissenhaften Anerkennung und Erfüllung seiner Verpflichtungen als Staatsbürger, besonders in Hinsicht auf das Sakralrecht. Wir sind dem schon im Zusammenhang mit der Etymologie von religio begegnet. Auch diesem Begriff entspricht in der subjektiven Sphäre: achtsames Bedenken, Gewissenhaftigkeit, peinliches Beobachten der religiones, der rituellen Bestimmungen. Der Bedeutungskreis von pietas, der, von der tiefen Einschätzung familiärer Achtung und Liebe ausgehend, mit einem geläuterten Gottesbegriff auch in den religiösen Bereich übergriff, berührt die ethische Seite der Religiosität, also auch nur eines ihrer Teilgebiete. Die in der offiziellen römischen Religion allein erforderliche äußerlich-kultische und von Ritualgesetzen bestimmte Frömmigkeit schließt natürlich nicht aus, daß im Einzelindividuum ein echtes Gefühl der Gebundenheit an das Numinose und eine durch religiöse Überzeugungen geläuterte Sittlichkeit lebendig ist. Die Staatsreligion war nach zwei Seiten hin für ein tieferes religiöses Bedürfnis unzulänglich geworden: einerseits war sie "auf einer primitiven Stufe stecken geblieben und hatte sich der Vergeistigung nicht für fähig erwiesen"110; sie bot also dem Gebildeten, der sich mit religiösen Fragen unter dem Einfluß griechischer Philosophie zu beschäftigen begann, keinerlei geistige Anregungen und 108 109 110 W.F.Otto, Religio und Superstitio. ARW XII (1909) S. 533 ff. u. XIV (1911) S. 406 ff. F.Pfister, Die Religion der Griechen und Römer. Bursian, Suppl. 229. Leipzig 1930. S. 30. R.Harder, Cicero und die Philosophie. Wiener Blätter für Freunde der Antike VI, 1929, S.143. 103 mußte ihn, der durch eine Periode der Aufklärung hindurchgegangen war, in einem Zustande inneren Zweifels und nach außen hin nur schlecht verhehlter Gleichgültigkeit zurücklassen. Andererseits fehlte dem nüchternen Zeremoniell weitgehend eine ergreifende Wirkung auf Gemüt und Phantasie, welcher Mangel dazu beitrug, daß die unteren Volksschichten, aber nicht nur diese allein, bereitwillig fremden orientalischen Kultformen Aufnahme gewährten111, wogegen sich freilich aus politisch-konservativen Gründen eine Reaktion geltend machte, welche auf die eigenen religiösen Kräfte zurückverweisen und die überlieferten Formen mit lebendigem Gefühl erfüllen möchte. Auf jeden Fall bedurfte die persönliche Religion des Römers "Ergänzungen sowohl nach der Seite des Intellekts als auch nach jener der Gefühlswelt"112; es ist hiebei zu beachten, daß es oft pseudoreligiöse Elemente patriotischer, philosophischer und ethischer Art sind, welche der Einzelne mit geradezu religiöser Inbrunst zur Gestaltung seines Weltbilds heranzieht. Das Verhältnis des Einzelnen zur objektiv gegebenen Religion wird in der Antike in viel geringerem Umfang als in der Moderne Schlußfolgerungen auf seine subjektive Religiosität zulassen, da Indifferenz gegenüber den offiziellen Religionsformen im Altertum nicht der Ablehnung irgendwelcher Glaubensinhalte oder sittlicher Forderungen gleichkam. Weiters darf man sich nicht verwundern, wenn der Mensch, allein auf sich gestellt, sich in entscheidenden Fragen religiöser Art nicht immer zu einer letzten Klarheit durchringen konnte. Bei Cicero wird in gewissem Grade das dreifache, an sich heterogene Lebenswerk die Untersuchung erleichtern, andererseits aber durch Widersprüchlichkeiten noch erschweren. Die Reden zeigen uns Cicero als Bürger und Politiker, seine Dialoge als philosophisch Interessierten, die Briefe als Menschen und Privatmann: dem entspricht - zunächst kurz skizziert - in religiösen Belangen das dreifache Bild eines ehrfürchtigen Vertreters der staatlichen Religion, eines keineswegs unbeteiligten Beobachters griechischer theologischer Systeme und eines scheinbar religiös Gleichgültigen. 4.1.2 Philologisches zum Werk nat.deor. Die Überlieferung des Werks De natura deorum hängt offensichtlich an einer einzigen Handschrift, von der in karolingischer Zeit mehrere Kopien gefertigt wurden. (Acht Schriften Ciceros sind auf diesem Weg auf uns gekommen.) Im kritischen Apparat - unter dem lateinischen Text - sind die Handschriften durch Großbuchstaben vertreten, dazu kommen 111 112 Vgl.Altheim Religionsgeschichte, II S.144 f. R.Egger, Die römische Religion, Wiener Blätter 3 (1925)S.73. 104 ältere Drucke, die durch Abkürzungen bezeichnet sind, wie z.B. Ven. = Veneta (1471). Die Philologen haben einen Stammbaum ein sog. Stemma - der Handschriften erstellt. Der Apparat will nicht nur die für die Textkonstitution wichtigsten Lesarten nachweisen, sondern auch sichtbar machen, welchen Weg die Editoren im Lauf der Jahrhunderte gehen mußten, um aus der Vielzahl der Entstellungen zu einem Text zu gelangen, an dem die vorliegende Ausgabe nur verhältnismäßig wenig zu ändern fand. Vor unserer zweisprachigen Textausgabe von Gerlach und Bayer in der Tusculum Reihe (Artemis Velag München und Zürich 1990) sind neuere Editionen von Arthur Stanley Pease (Cambridge, Massachusetts Bd.1 1955 u. Bd.2 1958) und M. van den Bruwaene (Bruxelles Livre 1 1970, Livre 2 1978, Livre 3 1981) zu nennen; in der Reihe Teubner haben O.Plasberg u. W.Ax eine frühere Textausgabe besorgt (Leipzig 1933). Literaturhinweise finden sich im Anhang unserer Ausgabe. Die Gliederung des Werks De natura deorum zeigt drei Bücher: 1.Buch: Darstellung und Kritik der epikureischen Theologie (Velleius - Cotta) 2. Darstellung der stoischen Theologie (Balbus) 3. Kritik der stoischen Theologie (Cotta) Die Detailgliederung siehe Handout. Nach Ciceros eigenem Hinweis (Div. II 3) wurde die Schrift nach der Veröffentlichung der Tusculanen (quibus libris editis tres libri perfecti sunt de natura deorum) und vor dem Abschluß der beiden Bücher De divinatione vollendet. Weitere Anhaltspunkte für die zeitliche Festlegung ergeben sich aus seinem Briefwechsel mit Atticus, da er diesem um den 4.August 45 mitteilt, er schreibe gegen die Epikureer (XIII 38,1), und am 5. August bestellt er sich Phaídrou perì theôn (XIII 39,2); beide Stellen sind wichtig für die Datierung der Ausarbeitung des 1.Buchs. Fertig war die Niederschrift jedenfalls noch vor Caesars Tod, da auf dessen Alleinherrschaft in N.D.17 (cum...is esset rei publicae status, ut eam unius consilio atque cura gubernari necesse esset) ebenso hingewiesen wird wie Div. II 6 (cum esset in unius potestate res publica), während Div. II 7 (nunc, quoniam de re publica consuli coepti sumus) sich schon auf die politische Lage nach Caesars Ermordung bezieht. In der äußeren Form verblieb Cicero bei dem von ihm mit Vorliebe gewählten "aristotelischen" Dialog, der im Gegensatz zu der dramatisch aufgelockerten Dialogform Platons die Möglichkeit bietet, ein Thema in zusammenhängender Rede zu behandeln, da unter Verzicht auf eine das gesamte Gespräch allein tragende Person - wie sie Sokrates in den platonischen 105 Dialogen bleibt - jeder Gesprächspartner einen vollständigen und zusammenhängenden Vortrag über die Doktrin seiner Schule zugeteilt erhält. Im Unterschied zu Aristoteles ergibt sich hier für Cicero freilich die Notwendigkeit, die einzelnen Thesen einer Schule zu einer Gesamtschau zu vereinigen, wobei es ihm überlassen bleibt, "alles von seinem Zwecke, seiner Auffassung und Behandlungsweise abhängig zu machen". 113 Das Gespräch selbst findet am Staatsfeiertag der Feriae Latinae, dem Bundesfest der latinischen Stämme, in der Wohnung Cottas, der die neuere Akademie vertritt, statt. Seine Gesprächspartner sind der Epikureer Velleius und der Stoiker Balbus, während Cicero sich mit der Rolle des Zuhörers begnügt. Cotta verkörpert gerade in seinen religiösen Anschauungen den Typ des gebildeten Römers der ciceronianischen Zeit, die zwischen dem Festhalten an dem alten, aus einer genauen Beachtung äußerer Riten bestehenden Götterkult und den neuen revolutionären Erkenntnissen steht, wie sie mit dem Fußfassen der griechischen Philosophie in Rom durch die Lehren des Epikureismus und der Stoa dem gebildeten Römer nahegebracht wurden. So kommt es zu einem inneren Zwiespalt gerade für die Gebildeten, in deren Händen neben der Führung des Staates auch die Leitung des Staatskultes lag. Gerade aber im Hinblick auf Cottas Stellung und die ihm in der zweiten Hälfte des ersten und im gesamten dritten Buch zugeteilte Rolle darf in ihm die tragende Gestalt und in seinen Ausführungen die Hauptaussage des 45 erschienenen Werks gesehen werden. Zwei Jahre vorher hatte M.Terentius Varro seine Caesar als Pontifex Maximus gewidmeten Antiquitates rerum humanarum et divinarum veröffentlicht114 und darin das Wesen der römischen Religion mit all ihren Gottheiten "mit ebensoviel pietätvoller Gelehrsamkeit wie systematischer Konsequenz" (W.Jaeger) 115 behandelt, wobei er nach Augustinus drei Arten der Theologie - die mythische, die politische und die natürliche unterschied. Für Varro gilt, daß jede - auch den Bereich der Religion betreffende - spekulative Theorie hinter den Interessen und Belangen des Staates zurückzutreten oder mit ihnen zu harmonieren hat; Götter und Religion sind nicht das Produkt theologischer oder philosophischer Spekulationen, sondern eine althergebrachte und damit in sich fundierte staatliche Einrichtung, bei der die Priorität des Staates ausschlaggebend ist. Will Varro aber als bewußter Römer A.Krische, Forschungen auf dem Gebiete der alten Philosophie, Bd.I: Die theolog.Lehren der griechischen Denker. Eine Prüfung der Darstellung Ciceros. Göttingen 1840. S.18. 114 vgl. August.C.D. VII 35 (I 318,27 Dombart-Kalb) und Lact. Inst.div. I 6,7 115 De civitate Dei VI 5: tria genera theologiae dicit esse [Varro], id est rationis, quae de iis explicatur, eorumque unum mythicon [appellari], alterum physicon, tertium civile. 113 106 einerseits die römische Staatsreligion erhalten, wozu sich bei Cicero Cotta (N.D. III 5) mit Entschiedenheit bekennt, gerät er anderseits mit seiner Dreiteilung in eine mythologische, politische und natürliche Theologie in den Konflikt, dem Cotta ausweichen kann und für den er eine Lösung darin findet, daß er die auctoritas in N.D. III 9 (tu auctoritates contemnis, ratione pugnas) zum Fundament der römischen Staatsreligion erklärt, andererseits es der philosophischen Skepsis überläßt, wieweit der menschliche Verstand dazu fähig ist, die absolute Wahrheit über das Wesen der Götter zu erkennen. W.Jaeger sieht somit in De natura deorum eine Antwort Ciceros auf das von Varro aufgeworfene Problem, in der ihm Ciceros "Verbindung von voluntaristischem Autoritätsglauben und metaphysischem Agnostizismus" noch typischer römisch erscheint als der "patriotische Konflikt in Varros Seele". 4.1.3 Der philosophiegeschichtliche Hintergrund Geplant ist Ciceros Schrift über das Wesen der Götter als eine Auseinandersetzung mit der Wahrheit des epikureischen und des stoischen Systems. Die Theologie des Aristoteles hatte unter seinen Nachfolgern an Interesse verloren, die platonische Ideenlehre war innerhalb der Akademie durch den von Arkesilaos und Karneades begründeten Skeptizismus verdrängt worden, und nur die Theologie der epikureischen, vor allem die der stoischen Lehre behielt bis in die Kaiserzeit ihre dominierende Stellung im hellenistischen und später im römischen Geistesleben. Da Epikur das Glück des Menschen in der Ataraxie, in der ausgeglichenen Ruhe des Geistes sah, zielte seine Theologie darauf ab, dem Menschen auch hier alle Ursachen zu einer ihn beunruhigenden Furcht, besonders der vor den strafenden Göttern und dem Tode, zu nehmen. Der Glaube an die Existenz der Götter wird ausgelöst durch die in unsere Seele eindringenden Bilder von Göttern, die damit in ihr den Begriff existierender, anthropomorpher göttlicher Wesen entstehen lassen. So gibt es wohl Götter, aber keine Welt als deren zweckbewußte Schöpfung. Denn diese Welt und die außer ihr noch bestehenden zahllosen anderen Welten sind ein Produkt des Zufalls, entstanden durch die Kollision, Adhäsion und Wirbelbewegung der von Ewigkeit her ins Leere (den Raum) fallenden Atome. Damit wird der volkstümliche Götterglaube hinfällig. Die Welt ist nicht um der Menschen willen da; es gibt keine Vorsehung, keine Weltschöpfung, kein Weltregiment, kein Eingreifen der Götter in das Leben der Menschen, da jede Sorge für die Welt und ihre Bewohner die Glückseligkeit der Götter, die im absoluten Freisein von allen Leistungen und Verpflichtungen begründet ist, und damit das ihnen eigene Wesen ja aufheben müßte. Mit dieser absoluten Untätigkeit der Götter ist der Mensch von der Angst vor der göttlichen Strafe befreit, durch den atomistischen Materialismus Epikurs 107 zugleich aber auch von der Furcht vor dem Tod erlöst. Denn wie sich die Welten wieder in ihre Atome auflösen, zerstreuen sich im Tode mit der Vernichtung der leiblichen Umhüllung auch die Atome der Seele. Die glückseligen Götter dagegen sind ewig; sie leben in zahlloser Menge in den Zwischenräumen der Welten, den sogenannten Intermundien, also im leeren Raum, aus den feinsten Atomen gebildet, in der denkbar schönsten Menschengestalt, zweigeschlechtig, untereinander in einer der menschlichen Freundschaft ähnlichen Verbundenheit, und nicht die Furcht vor ihnen, sondern die Bewunderung ihrer glückseligen und ewigen Vollkommenheit ist das einzige Motiv zu ihrem Kult, der nicht in zwecklosen Gebeten, sondern in einer ihnen angemessenen Verehrung zu bestehen hat.116 Im Gegensatz zu Epikur ist das Hauptanliegen der Stoa, das Weltall in seiner ganzen Ordnung und Schönheit als die Schöpfung einer waltenden Gottheit zu erklären. Eine gestaltende Kraft, aus feinstem Stoff gebildet, das Urfeuer (pyr technikón oder pneuma énthermon) durchdringt das ganze All; aber auch die alles lenkende Gottheit oder die Weltseele und damit das wirkende Prinzip besteht aus diesem Feuer. Die Gottheit offenbart ihre Existenz durch Träume und Vorzeichen; die Wahrsagekunst wird als Gottesbeweis benutzt, ohne daß die Gottheit ausgesprochen persönlich gedacht wird. Beherrscht wird die ganze Theologie der Stoa im Gegensatz zur epikureischen Lehre von dem überzeugten Glauben an eine göttliche Vorsehung (prónoia), die ihr Walten bis in die kleinsten Teile des Kosmos erstreckt. Über allem aber, die Götter eingeschlossen, steht die unentrinnbare Naturordnung, das unausweichliche Schicksal, das Fatum, heimarméne. Mit diesem ins Letzte gesteigerten Schicksalsglauben nähert sich die Stoa volkstümlichen Anschauungen, wie sie sich bereits bei Homer und den Tragikern finden. Um die Wende des dritten Jahrhunderts erwuchs vor allem der Stoa ein scharfer Gegner in den Vertretern der platonischen Akademie. Sie übernahmen die in ihren Wurzeln bis auf Demokrit, Kratylos und die Sophistik zurückzuverfolgende Skepsis, aus der in der Folgezeit der schulmäßige Skeptizismus der mittleren und neueren Akademie erwuchs. Arkesilaos von Pitane, der 268-241 die Schule leitete, begann mit seiner radikalen Skepsis die Erkenntnislehre der Stoa anzugreifen; Enthaltung vom eigenen Urteil, die bereits von Protagoras geübte Technik des Disputierens "in utramque partem"117 und vor allem die Aussage, daß wir nichts wissen können, nicht einmal 116 117 Vgl. Karl Marx, Die Differenz der demokriteischen und der epikureischen Naturphilosophie. Diss. Jena 1841. Vgl. De orat. III 67: Quem ferunt primum instituisse non quid ipse sentiret ostendere, sed contra id quod quisque se sentire dixisset disputare. 108 das, was wir nach Sokrates noch wissen konnten, nämlich nichts zu wissen, war die Basis seines vor allem gegen Zenon gerichteten Kampfes. Rund hundert Jahre später verwarf Karneades von Kyrene, der 156/155 mit dem Stoiker Diogenes und dem Peripatetiker Kritolaos als Gesandter in Rom weilte, noch radikaler alle erkenntnis-theoretischen Kriterien und alle logischen Beweisführungen, da es für ihn dafür keine echten Grundlagen geben konnte, und sah seine Hauptaufgabe in der Bekämpfung der von Chrysipp ausgebauten Lehre der Stoa. Besonders scharf ging Karneades gegen die stoische Theologie vor, die gerade in ihrem so kunstvollen Aufbau besonders empfindliche Angriffsstellen bot. Für ihn waren weder die Beweise für die Existenz göttlicher Wesen stichhaltig noch deren Vorstellung als persönliche, vernunftbegabte Wesen haltbar ohne die zwangsläufige Beigabe von Eigenschaften, die mit dem ihnen sonst zugestandenen Wesen nicht mehr vereinbar seien, und ebenso unerbittlich wurde die mit der stoischen Theologie so eng verbundene teleologische Weltauffassung von ihm bekämpft und abgelehnt. Freilich sollten die vorgebrachten Angriffe weniger eine absolute Verneinung jeder Existenz göttlicher Wesen bedeuten, sondern (vgl. N.D. III 44) nur die für diese Existenz aufgestellten Beweise in Frage stellen. So wurde Karneades zum schärfsten Gegner der gesamten stoischen Theologie, deren Darlegung und Kritik den eigentlichen Inhalt der drei Bücher Ciceros über das Wesen der Götter bildet. Die Frage nach dem Wesen der Götter, die mehr und mehr zu einer Frage nach dem Wesen Gottes und des Göttlichen schlechthin wird, bleibt nach Cicero, angefangen mit der späteren Stoa, bis zum Sieg des Christentums (529 schloß Justinian die Schule von Athen, und zwei Jahre danach wanderten die letzten nichtchristlichen Philosophen nach Persien an den Hof des Königs Chosroe aus) weiterhin ein integrierter Bestandteil der hellenistisch-römischen Philosophie. So schrieb Kornutos unter Nero eine allegorischphysikalische Mythendeutung, die u.a. auf Apollodoros' Perì theôn zurückging und in der unter Anwendung der ratio physica (des lógos physikós) der alten Stoa Zeus als die Weltseele oder als der Äther und Athene als Verstand des Zeus gedeutet wurde. Besonders charakteristisch ist jedoch für die spätere Stoa des ersten nachchristlichen Jahrhunderts ein bald mehr bald weniger persönlich aufgefaßtes Verhältnis des Menschen zur Gottheit und die ausgesprochene Betonung seiner Verwandtschaft mit ihr. Dies trifft bereits für Seneca (gest. 65) zu, der auf der einen Seite in seiner Physik keine wesentlichen Abweichungen von der allgemeinen stoischen Doktrin aufweist, andererseits aber doch im Gegensatz zu dem ausgesprochen pantheistisch geprägten Gottesbegriff der Stoa einen stark theistisch geprägten Gottesbegriff entwickelt, bei dem durch die Betonung 109 der göttlichen Vollkommenheit, der väterlichen Fürsorge und Güte gegenüber dem Menschen das Bild eines transzendenten persönlichen Wesens entsteht. Die gleiche starke Betonung des Religiösen finden wir bei Epiktet (gst. 138), der in seinen Diatriben bei allem Festhalten am stoischen Pantheismus mit der Aussage von Gott als dem Vater der Menschen und vom Menschen als einem Teil Gottes und somit einer Gottesverwandtschaft ebenfalls die Idee eines persönlichen transzendenten Gottes anklingen läßt. Diese enge Verbindung von Philosophie und starkem religiösem Empfinden teilt mit Seneca und Epictet vor allem der Stoiker auf dem römischen Kaiserthron, Marc Aurel (gest. 180). Seine "Selbstbetrachtungen" (Tà eis heautón), die auf der stoischen Allgemeindoktrin basieren, sind durchdrungen von der uns gerade aus Cicero N.D. II so geläufigen Erkenntnis einer göttlichen Fürsorge für die Welt, einer Einheitlichkeit und weisen Ordnung des Kosmos, einer göttlichen Vorsehung und einer naturgemäß bedingten Ergebung in das Weltgeschehen, aber auch durchdrungen von der Gewißheit einer echten Verwandtschaft des Menschen mit Gott. Im Zusammenhang mit Seneca, Epictet und Marc Aurel bedarf es noch einer Erwähnung Dions von Prusa (gest. um 100), der - mehr bekannt als Vertreter der kynischen Diatribe - in seinen theologischen Aussagen auf die Stoa, vor allem auf Poseidonios, zurückgreift und wie dieser aus der Grundhaltung seiner Zeit heraus sein Verhältnis zur Gottheit auf eine tief empfundene Gottesverwandtschaft des Menschen gründet. Eine gesteigerte Transzendenz der Gottesvorstellung läßt der bereits in der Zeit der ausgehenden Republik in Rom wieder auflebende Pythagoreismus - Nigidius Figulus (gest. 45 v.Chr.) wird als Erneuerer der pythagoreischen Philosophie bezeichnet - in Numenios aus Apameia (um 150) erkennen. In seinem Bemühen um eine höchstmögliche Steigerung der göttlichen Transzendenz entwickelt er eine Dreigötterlehre, in der er, um ein Wesen von absoluter göttlicher Transzendenz zu erhalten, unter den obersten Gott, das Prinzip des Seienden, im Sinne Platons einen zweiten Gott, den Demiurgen, stellte, der als Prinzip des Werdens auf die Materie einwirkend die Welt bildet, während die Welt selbst, als Geschöpf des Demiurgen, die dritte Gottheit darstellt. Der mittlere Platonismus des ersten und zweiten Jahrhunderts erweist sich als eine ausgesprochen eklektische Richtung, die mit Ausnahme des Epikureismus in erster Linie peripatetisches und neupythagoreisches, aber auch stoisches Gedankengut aufnimmt und sich auch skeptischen Einflüssen öffnet. Übernommen wird von der neupythagoreischen Schule vor allem der gesteigerte Gegensatz zwischen Gott und Welt und die wachsende Bedeutung der zwischen Gott und Welt stehenden Mittelwesen, der Dämonen. In Plutarch aus Chäroneia (45-125), der "als Mensch und Schriftsteller zu den sympathischsten 110 Erscheinungen des Altertums gehört (Prächter), haben wir neben Albinos (um 150) und Attikos (um 175) den wichtigsten Vertreter dieser Schule. Sein Streben nach einem sublimen Gottesbegriff erforderte zwangsläufig die Annahme von Mittelwesen zwischen Gott und Welt - wie sie schon der platonische Timaios in der Lehre von der Weltseele und den unteren, schaffenden Gottheiten enthielt -, von den Dämonen, die für Plutarch mit ihrem Eingreifen in das Leben der Menschen und als Werkzeuge der göttlichen Vorsehung die eigentliche Verbindung zwischen der göttlichen Sphäre und der menschlichen Welt bedeuten. Eine Pronoia (Vorsehung) durchdringt die gesamte Welt und wirkt in dieser mit den unter ihr stehenden Kräften, die aufgrund der verschiedenen Volksreligionen nur unter verschiedenen Symbolen und Namen verehrt und angesprochen werden. Mit dieser Gleichsetzung der hellenischen und nichthellenischen Gottheiten, die schon der früheren Akademie bekannt war, wird der Übergang zum Synkretismus des Neuplatonismus eingeleitet. Ausschlaggebend für die theologischen Aussagen der späteren, vom letzten Jahrhundert vor bis ins zweite Jahrhundert nach Chr. bestehenden skeptischen Schule, die ihre Polemik gegen die dogmatischen Schulen beibehielt, bei aller Zurückhaltung gegenüber jeder theoretischen Festlegung aber bemüht war, bestimmte Grundregeln für das praktische Verhalten zu finden, ist Sextus (Sextos Empeirikos) um 150, dem wir, besonders durch seine Schrift Pròs toùs mathematikoús (Adversus mathematicos I-XI) über die skeptische Theorie hinaus gerade für die Fragen nach dem Wesen der Götter wichtige Quellen für die von der Skepsis bekämpften dogmatischen Schulen verdanken. Anliegen der Skepsis blieb, in Anlehung an Karneades zu beweisen, daß jede Annahme über das Wesen der Götter zwangsläufig auch dem herkömmlichen Begriff der Gottheit widersprechende Ergebnisse nach sich ziehen müsse, da die Annahme einer bestimmten Eigenschaft der Gottheit die Annahme der entgegengesetzten Eigenschaft nicht ausschließen läßt. So kann die Gottheit u.a. weder unbegrenzt noch begrenzt, weder tugendlos noch tugendhaft sein (vgl. Adv.Math.IX 148ff u. 176f.). Mit Epikur (fr. 374 Usener) bekämpft Sextus im Hinblick auf das Übel in der Welt die Lehre von der göttlichen Vorsehung, die es eigentlich nicht geben kann, da es dem Wesen der wahren Gottheit einfach nicht entspricht, für das eine Vorsorge zu treffen, für das andere nicht. Damit wird gleichzeitig die Frage nach der Existenz Gottes berührt, aber nicht negativ entschieden, da ein skeptisches Abwägen nicht die Nichtexistenz der Gottheit und damit der Vorsehung positiv beweisen, sondern nur zur Vorsicht gegenüber den Thesen der dogmatischen Schulen mahnen soll. So wird der Skeptiker also ohne feste Ansicht (adoxástos) vom Dasein der Götter und ihrer Vorsehung reden und die Götter verehren. 111 Rund hundert Jahre später, am Ausgang der hellenistischrömischen Philosophie, inmitten einer bereits christlich geprägten Welt, entsteht der von der Mitte des dritten bis zur Mitte des sechsten Jahrhunderts dominierende Neuplatonismus, der die Transzendenz der Gottheit aufs stärkste betont und gleichzeitig bemüht ist, sie mit einer monistischen, auf dynamischem Pantheismus begründeten Weltanschauung zu verbinden. In ihm erhält die Frage nach dem Wesen Gottes die sublimste Beantwortung durch die antike Philosophie und zugleich ihre umfassendste Konzeption. Denn trotz allen Strebens, eine rein platonische Doktrin zu entwickeln, bedeutet der Neuplatonismus die Zusammenfassung des gesamten Erbes der griechischen Philosophie und der Vorstellungen der griechischen und nichtgriechischen Religionen zu einem System. Der "Wolkenflug metaphysisch-theologischer Spekulation" (A.Gercke) des Neuplatonismus hatte, ausgehend von Plotinos (204-270) zunächst einen dreifach gesteigerten Gottesbegriff entwickelt: das Eine (gleichzeitig das absolute Gute) als das über allem stehende Urwesen, die überweltlich denkende Substanz (nous) und die Weltseele, das zwischen der übersinnlichen und sinnlichen Welt vermittelnde Verbindungsglied. Iamblichos (gest. unter Konstantin, 304-337) steigerte die Transzendenz des plotinischen Gottesbegriffes und stellte über das Eine des Plotinos noch ein anderes, schlechthin erstes, noch über dem Einen (Guten) stehendes Eines und ließ in seinem Bemühen, die Überlieferungen der griechischen und orientalischen Religionen in sein System aufzunehmen, der Welt als in ihr enthaltene Wesen auch die Seelen der Götter des polytheistischen Volksglaubens, der Engel, Dämonen und Heroen, angehören. Die Erkenntnis der göttlichen Wesen aber118 ist unserem Wesen angeboren und mit dem der menschlichen Seele wesenhaft verbundenen Verlangen nach dem Guten unmittelbar gegeben. Der spätere Neuplatonismus, vertreten durch Hierokles (um 420) kehrt wieder zu einfacheren theologischen Aussagen zurück. Das gilt besonders für den Wegfall der von Plotinos so kunstvoll konstruierten Transzendenzsteigerung (dem Einen als Urwesen, dem überweltlichen Nus und der zwischen dem Übersinnlichen und Sinnlichen vermittelnden Weltseele). Überweltliche Gottheit ist nur noch der Demiurg, der Schöpfer und Lenker der Welt, der die Welt nicht - wie der Neuplatonismus in Übereinstimmung mit dem platonischen Timaios lehrte - aus der dem Demiurgen präexistent zur Verfügung stehenden Materie, sondern aus dem Nichts heraus durch seinen Willen schuf, in Parallele also zur jüdisch-christlichen Lehre von der Weltschöpfung, durch die Hierokles - und das ist das Bemerkenswerte - hier beeinflußt 118 Vgl. die Schrift De mysteriis liber, ed. Parthey 1837, deutsch v. Th.Hopfner, Leipzig 1922. 112 zu sein scheint, was auch für seine Aussagen über das Fatum (heimarméne) insofern gilt, als es nicht mehr als die mechanisch wirkende Notwendigkeit (wie in der Stoa) anzusehen ist, sondern sein Wirken unsre frei gewählten Handlungen nur im Ablauf der bestimmten Folgen beeinflußt. 4.2 Kommentar 4.2.1 Zur Einleitung In ihr (1 - 14) wird das skeptische Verfahren vorgestellt und Cicero selbst als Akademiker präsentiert. Daran schließt sich eine Überleitung und ein einleitendes Gespräch der Diskutanten (15 -17). 1. Brute: m.Iunius Brutus (85-42), durch Atticus mit Cicero befreundet, war 52 noch Gegner des Pompeius, im Bürgerkrieg aber auf dessen Seite; nach Pharsalus (48) wurde er von Caesar begnadigt und in dessen Freundeskreis aufgenommen; nach der Übertragung der Diktatur auf Lebenszeit an Caesar wandte er sich von diesem ab und wurde der Führer der Verschwörung gegen ihn. Nach Caesars Ermordung militärisch im Osten des Reiches erfolgreich tätig, wurde er 43 zum Staatsfeind erklärt, 42 von Antonius bei Philippi besiegt und endete durch Selbstmord. Cicero benannte nach ihm seine Schrift über die Geschichte der römischen Redekunst (De claris oratoribus), in der er ihm auch die Hauptrolle im Dialog zuerteilte, widmete dem vielseitigen Schriftsteller seine philosophischen Abhandlungen De finibus bonorum et malorum, Tusculanae Disputationes und Paradoxa Stoicorum, und jetzt, nach dessen akademischen Schriften De officiis, De patientia und De virtute, widmet er Brutus seine Schrift über die Götter, in der er sich in I 6-12 nachdrücklich als Anhänger der akademischen Philosophie bekennt. Die Zustimmung zurückhalten adsensionem cohibere : Anspielung auf das bereits von Pyrrhon von Elis (um 360-270) geforderte epéchein oder die epoché der Akademiker, d.h. auf die Pflicht, sich jedes bestimmten Urteils zu enthalten, da alle Dinge unsrer Erkenntnis unzugänglich sind, von der akademischen Skepsis unter Arkesilaos (316/15 - 241/40) übernommen, der die Enthaltung vom eigenen Urteil forderte und lehrte, daß wir nichts wissen können, nicht einmal das von Sokrates noch zugebilligte Wissen darüber, daß wir nichts wissen (vgl. I 11 <Arcesilas>). 2. Protagoras: Pr. von Abdera, älterer Zeitgenosse des Sokrates, einer der berühmtesten Sophisten, bekannt durch den Homo-mensura-Satz (der Mensch das Maß aller Dinge), stellte 113 einen die Existenz der Götter vorsichtig in Frage, ohne entschiedenen Atheismus zu vertreten. Diagoras Melius: D. von Melos, Zeigenosse des Protagoras, Schüler Demokrits, machte sich als Dithyrambendichter, nicht als Sophist einen Namen und wurde durch seine Verspottung der Religion zum sprichwörtlichen Atheisten der Antike. Theodorus Cyrenaicus: Th. von Kyrene (geb. vor 349), mit dem Beinamen "der Atheist", Philosoph der kyreneischen, von Aristippos aus Kyrene gegründeten Schule, die die Lust als den Zweck des Lebens ansah; lebte unter Demetrios von Phaleron (317-307) in Athen und wurde hier wegen Atheismus und Immoralismus angeklagt. 4. Carneades: K. aus Kyrene (etwa 214-128), nach Arkesilaos Leiter der Akademie in Athen, berühmt als meisterhafter Vertreter von These und Antithese (so 156-155 auch in Rom, wohin er zusammen mit dem Stoiker Diogenes und dem Peripatetiker Kritolaos gekommen war), ging positiv über die epoché des Arkesilaos hinaus und bildete eine Theorie der Wahrscheinlichkeit (émphasis, pithanótes), da bei der vollen Enthaltung von jedem eigenen Urteil auch jedes Handeln unmöglich gemacht würde. 6. Philo: Philon von Larissa, Schüler des Akademikers Kleitomachos, kam während des Mithridatischen Krieges 88 nach Rom, wo ihn u.a. auch Cicero hörte. Antiochus: A. von Askalon, geb. um 120, Schüler des Philon von Larissa, Begründer der letzten (fünften) Akademie in Athen, gab die akademische Skepsis auf und bildete ein eigenes, aus platonischer, aristotelischer und stoischer Doktrin gemischtes System; 79 war er Lehrer Ciceros in Athen119. Posidonius: P. von Apameia in Syrien (um 135-50), Hauptvertreter der mittleren Stoa, gründete auf Rhodos eine Schule und hatte hier u.a. Cicero und Pompeius als Hörer; "ein echter Vertreter des Hellenismus, zugleich Mystiker und Rationalist, Wundergläubiger und exakter Ätiologe, spekulativer Denker und Empiriker, selbständiger Beobachter Vgl. Fin. V 1: Cum audissem Antiochum, ut solebam, cum M.Pisone in eo gymnasio, quod Ptolemaeum vocatur, unaque nobiscum Q. frater et T. Pomponius et Lucius Cicero, frater noster cognatione patruelis constituimus... "Als ich seiner Zeit gewohnheitsgemäß im sogenannten Gymnasium des Ptolemaios mit Marcus Piso den Vortrag des Antiochos gehört hatte, und zusammen mit uns auch mein Bruder Quintus, Titus Pomponius und Lucius Cicero, der Verwandtschaft nach ein Vetter väterlicherseits, da beschlossen wir..." 119 114 und Verarbeiter historischer Tradition, Naturforscher und Menschenkundiger auch auf dem Gebiet der praktischen Politik", schuf er "eine Weltanschauung, in der sich Vorsokratisches, Platonisches, Aristotelisches und Stoisches zu einem wohlgefügten Systeme verbanden" (Praechter). 10. Pythagoras: P. von Samos (zweite Hälfte des 6.Jhs.) gründete in Kroton (Unteritalien) eine auf sittliche (Lehre von der Seelenwanderung) und wissenschaftliche Ziele (Mathematik) ausgerichtete philosophisch-religiöse Gemeinschaft. 4.2.2 Darstellung der epikureischen Theologie durch Velleius (18 - 56). Velleius bezieht sich zunächst auf die Lehre über Welt und Gott in der Stoa (18-24) und dann auf die Lehrmeinungen der griechischen Philosophen (25-41) sowie die Aussagen der Dichter (42-43), um diesen dann die Götterlehre Epikurs entgegenzusetzen (43-56). Näherhin: 43-45 Die Existenz der Götter ist in der menschlichen Seele als Vorbegriff (anticipatio - prólepsis) enthalten 46-50 Die menschliche Gestalt der Götter 51-53 Die Glückseligkeit der Götter 54-56 Epikur, der Erlöser der Menschheit Darauf folgt 57-59 eine Überleitung zur Kritik Cottas, die dieser dann 60-124 ausgiebig entwickelt. 25 Thales: T. von Milet (um 600) war der Begründer der ionischen Naturphilosophie; für ihn ist das Wasser der Urstoff aller Dinge; in diesem liegt eine bewegende, bildende Kraft; Geist und Stoff bilden also noch eine Einheit, im Gegensatz zu Velleius' Darstellung, die den Geist alles aus dem Wasser bilden läßt. Nach Aristoteles (De anima I 5 p.411 a 7) hat Thales das gesamte Universum für beseelt gehalten; in der Folgezeit wird die "Seele der Welt" des Thales im Sinne der Stoa als der leitende, alles durchdringende, den Kosmos durchwaltende Weltgeist interpretiert und als Gott bezeichnet. "Aber offensichtlich ist dies alles reine Mutmaßung, und wir wissen nichts über Thales' Gottesbegriff"120. Anaximandri opinio: Anaximander von Milet (um 610-546) nimmt als Urprinzip das Unendliche an, das alles umfaßt und das Ewige und Unvergängliche ist; aus ihm entstehen und vergehen 120 W.Jaeger, Die Theologie der frühen griechischen Denker 228. 115 in ewigem Wechsel eine Unzahl nebeneinander bestehender Welten, und diesem Vergehen sind auch die aus ihm entstandenen Götter unterworfen. Wenn A. unzählige Welten annimmt und damit den Begriff des "Unbegrenzten", scheint es sich dabei "nicht nur um eine unendliche Sukzession von Welten in der Zeit zu handeln, sondern zugleich um die Koexistenz unzähliger Welten oder Himmel"; und Ciceros nativi dei sind hier nicht ewig, sondern nur langlebig, weil diese Welten periodenweise entstehen und vergehen. Anaximenes: A. von Milet (gest. zwischen 528/525) nimmt als Urstoff die unendliche Luft an, die das ganze Weltall so umfaßt, wie unsere Seele uns beherrscht. Anaxagoras: A. aus Klazomenai in Kleinasien (gest. 428) in Athen mit Perikles befreundet, führt alles Entstehen und Vergehen auf die Mischung und Entmischung einer unbegrenzten Vielheit ursprünglich ungeordneter kleiner Elemente, Samen oder Keime (Homoiomerien) zurück, aus denen ein körperlos gedachter (und damit für die Epikureer unbegreifbarer) weltordnender Geist anstelle des Chaos die Welt gebildet hat. Daß er dieser Weltherrscher sein kann, ist ihm gerade und nur aufgrund seiner Unvermischtheit und Reinheit möglich, und so wird bei Anaxagoras "der Geist zum erstenmal im eigentlichen Sinne physikalisches Prinzip, auf dem die ganze 121 Weltkonstruktion beruht" . 27 Crotoniates Alcmaeo: Alkmaion von Kroton, Arzt und Anatom, Zeitgenosse und Schüler des Pythagoras, leitet aus der ewigen Bewegung, die die Seele mit allem Göttlichen gemeinsam hat, ihre Unsterblichkeit ab und steht damit im Widerspruch zur Ansicht der Epikureer. Pythagoras: P. erklärt das Zentralfeuer für das Vollkommenste der ganzen Natur, für die Weltseele, die Gottheit.122 Xenophanes: X. aus Kolophon bei Eresos (um 570-460) lebte in Elea (Unteritalien), kämpfte gegen den Polytheismus der Volksreligion und erhob die Forderung nach einem einzigen, durch die Kraft seines Geistes alles lenkenden Gott. Er nimmt als Urprinzip das Eine an; dies ist Gott und das Seiende, das 121 122 W.Jaeger a.a.O. 183-185. Vgl.Lactantius Inst. I 5,17: Pythagoras ita definivit, quid esset deus: animus per universas mundi partes omnemque naturam commeans atque diffusus, ex quo omnia quae nascuntur animalia vitam capiunt. – "Pythagoras hat den Gottesbegriff folgendermaßen definiert: ein Geist, der sich durch alle Teile der Welt und die gesamte Natur erstreckt und verteilt und aus dem alle Lebewesen, die geboren werden, ihr Leben erhalten." 116 nicht entstanden und ewig ist; Cicero faßt Acad. II 118 zusammen: Xenophanes (dixit) unum esse omnia neque id esse mutabile et id esse deum neque natum umquam et sempiternum. "Xenophanes (hat gesagt), das Eine sei das All, und dieses (Eine) sei einerseits nicht veränderlich und andrerseits Gott, niemals entstanden und ewig." Parmenides: P. aus Elea (geb. um 540), Schüler des Xenophanes, nimmt eine Reihe übereinander gelagerter Kugelkronen an, von denen die alle umfassende fest wie eine Mauer ist. In der Mitte aller Kronen, also im Zentrum der Welt, wohnt die Gottheit. Empedocles: E. von Akragas (Agrigentum) auf Sizilien (ca. 483423), war der Verfasser eines Lehrgedichts über die Natur. Zu quattuor naturas: E. begrenzt die naturae (die Urstoffe, Prinzipien, Elemente), "die Wurzeln aller Dinge", auf vier Wasser, Feuer, Luft und Erde - und erhebt sie zu göttlichewigen Prinzipien allen Seins.123 Protagoras: Da es für Protagoras nur subjektive Vorstellungen, aber keine objektive Wahrheit gibt und das Wissen sich nur auf subjektive Wahrnehmungen gründen kann, sind diese in Hinblick auf die Erkenntnis der Gottheit fraglich und machen den Zweifel an deren Existenz verständlich. Democritus: Demokrit aus Abdera erweiterte um 420 die von Leukippos begründete Atomlehre. Diogenes Apollonates: D. von Apollonia (in Phrygien oder auf Kreta), jüngerer Zeitgenosse des Anaxagoras, nimmt wie Anaximenes als Prinzip aller Dinge die Luft an, geht aber weiter und teilt ihr geistige Eigenschaften, Leben und Bewußtsein zu.124 30 Velleius rügt an der inconstantia Platonis zunächst, daß er patrem huius mundi nominari neget posse. Vgl. dazu Tim. 28c Tòn mèn oun poietèn kaì patéra tou de tou pantòs heurein te érgon kaì heurónta eis pántas adynaton légein. - "Den Schöpfer und Vater dieses Weltalls zu finden ist schwer; und ihn, wenn man ihn gefunden hat, allen zu verkünden, ein Ding der Vgl. Lukrez I 705-711; 716; 763-780. Vgl. August. C.D. VIII 2 (I 322,32 D.-K.): aerem quidem dixit rerum esse materiam, de qua omnia fierent, sed eum esse compotem divinae rationis, sine qua nihil ex eo firi posset. - "Diogenes von Apollonia hat gesagt), die Luft sei zwar die Urmaterie der Welt, aus der alles entstehe, sie bsitze aber göttliche Vernunft, ohne die nichts aus ihr entstehen könne." 123 124 117 Unmöglichkeit." Cicero übersetzt dieselbe Stelle (Tim. 2) so: Atque illum quidem quasi parentem huius universitatis invenire difficile, et cum iam inveneris, indicare in vulgus nefas. - "Vor allem sei es <erstens> schwer, jene <Gottheit>, die gleichsam der Schöpfer dieses Weltalls sei, zu entdecken und <zweitens> eine Sünde, sie <dann>, wenn man sie entdeckt habe, der großen Masse preiszugeben." Bei Laktanz lesen wir: Dei vim maiestatemque tantam esse dicit in Timaeo Plato, ut eam neque mente concipere neque verbis enarrare quisquam possit. - "Gottes Macht und Majestät, sagt Platon in seinem 'Timaios', ist so gewaltig, daß niemand sie begreifen noch mit Worten verkünden kann." Celsus dagegen, "der erklärte Epikureer, der sich aber öfter auf den Platon zurückwarf" (Krische 184), schließt aus dem Timaioszitat, daß Gott akatonómastos sei, weshalb er von Origenes zurechtgewiesen wird: árreton mèn kaì akatonómaston oú phesin <Pláton> autòn einai, rhetòn d' ónta eis olígous dynasthai légesthai. - "<Platon> sagt nicht, daß er <Gott> unerklärbar und nicht genau zu bezeichnen sei, sondern er sagt, daß er nur wenigen <in seinem ganzen Wesen> verständlich gemacht werden könne."125 Platon muß seine Worte jedoch wohl mehr auf die atheistische Richtung der Sophistik, die das Schaffen der Natur auf eine vernunftlose wirkende Ursache zurückführte, gerichtet haben bzw. allgemein auf alle erweitert haben, die seinen Gedanken über die Schöpfung fernstanden, "um dadurch die wenigen festzuhalten, bei denen sich gerade die angedeutete Schwierigkeit der Erkenntnis Gottes ergeben soll" (Krische) quid sit omnino deus: Auszugehen ist von Legg. VII p. 821 a 24: tòn mégiston theòn kaì hólon tòn kósmon phamèn oúte zeteîn oúte polypragmoneîn tàs aitías ereunôntas. Ou gàr oud' hósion eînai. - "Über den höchsten Gott und über das gesamte All dürfe man weder Forschungen anstellen, sagt man, noch sich viel Mühe damit machen, daß man den Ursachen <allen Seins> nachspürt, denn das verstoße in jeder Weise gegen die Frömmigkeit." Platon will hier das Vorurteil gegen die astronomischen Studien seiner Zeit abbauen, durch das seine Zeitgenossen in Hinblick auf die Himmelsgottheiten (Sonne, Mond, Planeten) in falschen Vorstellungen leben, weil es als Eingriff in die Religion gilt, über den höchsten Gott und den Kosmos zu forschen, während Platon vom Gegenteil überzeugt ist, so daß mit phamèn - "sagt man" - nicht Platons Ansicht, sondern die seiner Zeit gemeint ist. sine corpore ullo deum vult esse: Da sich in Platons Schriften keine Stelle findet, wo das Wesen Gottes dem Ausdruck nach als 125 Origenes, Contra Cels. VII 42 und 43. 118 unkörperlich bezeichnet wird, "eben weil dieser Begriff bei der durchgreifend idealen Richtung des Denkers sich selbst setzt und beglaubigt", wird in der epikureischen Vorlage, in der ein körperloser Gott als reines Vernunftwesen undenkbar ist, "aus der allem Körperlichen überhobenen Vernunft gefolgert", denn aísthesis (Empfindungsvermögen), phrónesis (Denkvermögen) und hedoné (Lustempfindung) sind nach Epikur einerseits mit dem Gottesbegriff verbunden, andrerseits aber nur in einem Körper denkbar (vgl.Krische 192). mundum deum esse: Ganz im Gegensatz zu einer fälschlich unterlegten pantheistischen Auffassung erklärt Timaios im Hinblick auf die vollendete Schöpfung des Bildners, dieser habe seine Welt dià pánta dè tauta eudaímona theòn egennésato - " Wegen all dieser Eigenschaften schuf er also einen glückseligen Gott" (Tim. 34 b), nachdem von ihr vorher ausgesagt wird, daß sie durch die Vorsehung der Gottheit zu einem beseelten und vernunftbegabten Wesen geworden sei (Tim. 30 c) oder zu einem sich selbst genügenden und vollkommensten Gott (Tim. 68 e). Platons Welt ist also nicht "Gott schlechthin", sondern erst durch ihren Schöpfer und Vater zu einem "Gott im mystischen Sinne" geworden. caelum et astra et terram: Die Dreiteilung der Schöpfung in das Gebiet der Fixsternwelt (caelum), den darunter liegenden mittleren Teil, in dem sich die Sonne samt den Planeten bewegt, und die Erdgegend. Die Weltkörper sind Götter als sichtbare und erzeugte Kinder des ewigen Vaters (Tim. 40 d). animos: Das Prädikat der Göttlichkeit für die Seelen (vgl. Tim. 41 d - 42 d) ist hier weniger aus dem Wesen als aus ihrem Ursprung, als Erzeugnis des ewigen Schöpfers, abzuleiten; göttlich ist die Seele als unentstanden und somit auch unvergänglich, weil sie - vgl. die bekannte Definition Phaidr. 245 c ff. - ihem Wesen nach sich selbst bewegt und als sich selbst Bewegende Ursprung und Anfang der Bewegung ist. Xenophon: Zu X. vgl. Mem. IV 3,13. Sokrates nennt die Sonne nicht Gott, sondern vergleicht nur Gott mit der Sonne. Dagegen trifft das "modo unum tum autem plures dicere" zu; denn Sokrates nahm einen höchsten Gott, den Schöpfer und Lenker des Weltalls, an und ließ daneben aus Rücksicht auf die staatliche Ordnung auch die Volksgötter gelten. Antisthenes: A. (ca. 455-360), Schüler des Gorgias, dann des Sokrates, Begründer der kynischen Schule, bekämpfte den Polytheismus und Anthropomorphismus der alten Volksreligion, ohne mit der homerisch-hesiodeischen Mythologie zu brechen, und stellte die Lehre von dem einen, natürlichen Gott auf; vgl. Lact. Inst. I 5,18: Antisthenes <dicit> multos quidem 119 esse populares deos, unum tamen naturalem, id est summae totius artificem. - "Antisthenes <sagt>, es gebe zwar viele Volksgötter, aber trotzdem nur den einen, natürlichen Gott, d.h. den Schöpfer der Welt." Speusippus: Speusippos, Neffe Platons und dessen Nachfolger in der Leitung der Akademie zu Athen von 348-339, schloß sich in seinen theologischen Anschauungen Platon an. Die Vernunft ist eine das All regierende seelische Kraft (vis animalis), die mit Gott gleichgesetzt wird; das Gleiche gilt für die das gesamte All erfüllende Weltseele. 33 Aristoteles in tertio de philosophia libro: = Aristot. fr. 26 (R). Zur Korrektur der von Velleius vorgebrachten Punkte: menti tribuit omnem divinitatem: Es gilt zu prüfen, was Aristoteles gesagt und gedacht, was der epikureische Epitomator davon ausgewählt und welchen Sinn drittens Cicero hineingelegt hat. Für Aristoteles liegt zunächst das vollendete Wesen Gottes in der schöpferischen Tätigkeit der betrachtenden Vernunft. Nach Krische (280) beruht in der eigentlichen Quelle des epikureischen Exzerptes der Begriff der Gottheit ganz auf dem der höchsten Intelligenz und besteht das Leben der Gottheit in dem ewigen Sichselbstdenken der betrachtenden Vernunft; beides soll die Gottheit bei Cicero dadurch erhalten, daß der Vernunft alle Göttlichkeit zugesprochen wird. mundum ipsum deum: Aristoteles hat sowenig wie Platon eine Lehre, die die Einheit des göttlichen Wesens und des Kosmos nach pantheistischer Weise enthält, aufgestellt. Da er Gott in der höchsten Potenz des Seins als die erste Wesenheit auffaßt, die keine Materie hat (vgl. Met. XII 6 p. 246, 18), sondern reine und vollkommene Tätigkeit ist, ergibt sich für ihn, daß erstens dem Begriff und der Zahl nach Gott einer ist, der, selbst unbewegt, für die bewegte Welt das Prinzip der Bewegung ist und daß zweitens das von Gott ewig und beständig Bewegte eins ist, daß also nur eine Welt existiert. replicatione quadam: Nach Cicero soll hier nicht die einfache Kreisbewegung gemeint, sondern auf eine besondere (quaedam) hingewiesen werden; er deutet ihre Eigentümlichkeit zwar an, "verdeckt aber durch die Unbestimmtheit der Wendung ... wenn nicht wirklich seine eigene, doch des Epikureers begriffliche Unklarheit" (Krische). caeli ardorem deum esse: der ardor caeli (vgl. II 41: astra ... oriuntur in ardore caelesti, qui aether vel caelum nominatur; Tusc. I 22 Aristoteles ... cum quattuor nota illa genera principiorum esset complexus, e quibus omnia orerentur, 120 quintam quandam naturam censet esse, e qua sit mens; dazu I 41 quinta illa non nominata magis quam non intellecta natura und I 65 sin autem est quinta quaedam natura, ab Aristotele inducta primum, haec et deorum est et animorum. - "Als Aristoteles jene bekannten vier Arten von Elementen, aus denen sich alles entwickele, ihrem Begriff nach behandelt hatte, kam er zu der Meinung, es gebe <außerdem noch> eine Art fünftes Element, aus dem der Geist bestehe"; vgl. dazu Tusc. I 41: "Jenes fünfte Element, das ebenso schwer mit einem Namen zu benennen wie zu begreifen ist", und I 65: "Wenn es aber ein fünftes Element gibt, das Aristoteles zuerst eingeführt hat, dann ist dieses das Element, aus dem die Götter und die Seelen bestehen." Das quintum genus ist für Cicero das aus der Physik des Aristoteles entlehnte Element des Himmels und der Gestirne und das Prinzip der belebenden Wärme in den Lebewesen, von Aristoteles aither genannt, wobei die etymologische Ableitung zu aíthein (brennen, glühen) bei Anaxagoras ausdrücklich abgelehnt wird. Im Gegensatz zu ihm hat sich Cicero hier vermutlich der Ableitung des Anaxagoras angeschlossen und von sich aus seiner Vorlage die Identität der Gottheit mit dem Äther hinzugefügt. 34 Xenocrates: X. aus Chalkedon in Bithynien, nach Speusippos 339-314 Leiter der Akademie in Athen, führte alle weltlichen Erscheinungen auf zwei Prinzipien, auf die Einheit (das Männliche, Zeus, die Vernunft) und auf die unbestimmte Zweiheit (das Weibliche) zurück. Der Himmel besitzt göttliches Wesen, die Gestirne sind Himmelsgötter; unterhalb des Mondes als des Mittelwesens zwischen Göttern und Menschen befinden sich die Dämonen; in den Elementen wohnen göttliche Kräfte, die Gottheiten des Volksglaubens. Ponticus Heraclides: Herakleides von Pontos, dem Land an der Südküste des Schwarzen Meeres (ca. 390-310), Schüler Platons, knüpfte an Heraklits Theorie eines heliozentrischen Weltsystems an, die von Aristarchos von Samos (320-250) vollendet wurde. Das Weltall besteht aus verbindungslosen, d.h. durch leere Räume getrennten Grundkörperchen, wobei der Aufbau der Welt abweichend von der rein mechanischen Naturerklärung der Atomistik durch ein göttliches Walten zustande kommt. Theophrasti inconstantia: Theophrastos von Lesbos, um 370-287, der bedeutendste Schüler des Aristoteles und von 322 an dessen Nachfolger in der Leitung des Peripatos in Athen, blieb, allerdings mit Einschränkungen, in den aristotelischen Anschauungen und verteidigte vor allem die peripatetische Lehre von der Weltewigkeit gegenüber der Stoa. 121 Strato: Straton von Lampsakos, der "Physiker", seit 288 als Nachfolger Theophrasts Leiter des Peripatos, baute die aristotelische Lehre empirisch-naturalistisch aus. omnem vim divinam in natura sitam esse: Straton will die Natur in ihrem gesetzmäßigen und zweckmäßigen Bilden und Schaffen als eine nur blind, d.h. unbewußt wirkende Ursache und nicht als beseeltes Wesen verstanden wissen126 und entwickelte seine Physik gegen die demokriteisch-epikureische Atomistik (vgl. dazu Acad. II 121: Quaecumque sint, docet, omnia effecta esse natura - "Alles, was existiert, lehrt <Straton>, sei von einer <unbewußt schaffenden> Naturkraft gebildet worden." 36 Zeno: Zenon aus Kition auf Zypern (325-262) begründete um 300 in Athen "durch Veredelung der kynischen Ethik und durch ihre Verbindung mit heraklitischer Physik und modifizierten aristotelischen Lehren" (Praechter) die stoische Schule. Velleius' Darstellung weicht insofern von der Wahrheit ab, als die Stoa nicht das Gesetz als Gott, sondern Gott als das Gesetz ansieht, vgl. Lact. Inst. I 5, 20-21: Chrysippum naturalem vim divina ratione praeditam, interdum divinam necessitatem deum nuncupat, item Zeno naturalem divinamque legem - "Chrysipp bezeichnet die mit göttlichem Denkvermögen begabte Naturkraft, manchmal auch die göttliche Notwendigkeit als Gott, ebenso Zenon das natürliche und göttliche Gesetz." rationem quandam: Vgl. Lact. Inst. IV 9,2: Zeno rerum naturae dispositorem atque opificem universitatis lógon praedicat, quem et fatum et necessitatem rerum et deum et animum Iovis nuncupat - "Zenon verleiht dem Ordner der Welt und dem <kunstvollen> Gestalter des Alls den Namen Logos, den er <mitunter auch> als Schicksal, notwendig bedingten Ablauf <aller> Dinge, als Gott und Geist Jupiters bezeichnet." Vgl. auch Tertull. Apol. 21: Apud vestros quoque sapientes lógon, id est sermonem atque rationem, constat artificem videri universitatis. Hunc enim Zeno determinat factitorem, qui cuncta in dispositione formaverit, eundem et fatum vocari et deum et animum Iovis et necessitatem omnium rerum - "Auch bei euren Philosophen gilt der Logos, d.h. sermo atque ratio, bekanntlich als der kunstvolle Bildner des Alls. Denn diesen <Logos> bestimmt Zenon als den Schöpfer, der alles in <so kunstvoller> Anordnung gebildet habe, und läßt dem gleichen <Logos> die Bezeichnung Schicksal, Gott, Geist Jupiters und notwendig bedingter Verlauf aller Dinge zukommen." ardorem, qui aether nominetur: Vgl. Acad. II 126: Zenoni et Vgl. Seneca bei August. C.D. VI 10 (I, 267,22 D.-K.): Platonem et Peripateticum Stratonem, quorum alter fecit deum sine corpore, alter sine animo - "...Platon und den Peripatetiker Straton, von denen der eine Gott keinen Körper, der andere ihm keine Seele zugestehen will." 126 122 reliquis fere Stoicis aether videtur summus deus, mente praeditus, qua omnia regantur - "Dem Zenon und fast <allen> übrigen Stoikern gilt der Äther als die höchste Gottheit, mit dem Denkvermögen begabt, durch das alles geleitet werde." 37 Aristonis: Ariston von Chios (um 250), Schüler des Zenon und Vertreter der alten Stoa, ging weiter als Zenon; alles mit Ausnahme der Tugend und des Lasters ist gleichgültig; die Physik, zu der auch die Lehre vom Wesen der Götter gehört, kann dem Menschen über dieses keine sicheren Erkenntnisse vermitteln, daher das "neque formam dei intellegi posse" und das "neque in dis sensum esse" und das "dubitare" darüber, "omnino deus animans necne sit" des Epicureers. Cleanthes: Kleanthes von Assos in der Troas war Schüler und Nachfolger Zenons in der Leitung der Stoa. in libris contra voluptatem: Kleanthes hatte, wie vor ihm Antisthenes in seinem gleichnamigen Werk Perì hedonês, gegen den Hedonismus geschrieben und gegen die epikureische Deutung des Lustbegriffs seine eigene entwickelt, wobei er die Lustempfindung als ersten Trieb der Natur ablehnte und betonte, daß die Lust ihrer sittlichen Bedeutung nach keinen Wert im menschlichen Leben habe. Da das höchste Gut in einem Leben in Übereinstimmung mit der Natur besteht, griff er von da aus ebenfalls den Hedonismus an, indem er keinen unbeschwerten Genuß, sondern Tätigkeit als höchsten Zweck des Lebens forderte. fingit formam quandam et speciem deorum: Anspielung auf die Allegorie der Naturgötter und ihrer Ableitung aus den elementaren Grundkräften, mit der der Epikureer im Hinblick auf die ursprüngliche und natürliche anthropomorphe Vorstellung von den Göttern, über die uns nach I 46 (a natura habemus omnes omnium gentium speciem nullam aliam nisi humanam deorum) Natur und Vernunft (partim natura nos admonet partim ratio docet) belehren, nicht einverstanden sein kann. Persaeus: Persaios von Kition auf Zypern, Schüler des Zenon in Athen, lebte um 270 am Hofe des Makedonenkönigs Antigonos Gonatas; er erblickte in den Wohltätern der Menschheit göttlichen Geist und leitete daraus ihre göttliche Verehrung ab. res sordidas: Zu den dei sordidi im eigentlichen Sinn zählt die Cloacina, die Göttin der Cloaca maxima in Rom, deren Heiligtum an der Stelle lag, wo die Cloaca maxima ins Forum eintrat (vgl. Wissowa RE IV 1, 60); dann der altrömische Bauerngott Sterculus; von stercus, Kot, Mist, "der göttliche Erfinder des Düngens der Felder" (vgl. Marbach, RE IV A 123 2,2412.) Chrysippus: Chrysippos von Soloi (oder Tarsos) in Kilikien (281/78-208/5), Schüler und Nachfolger des Kleanthes und zweiter Begründer und Hauptvertreter der stoischen Schule ("Wenn Chrysippos nicht gewesen wäre, existierte die Stoa nicht"), ausgezeichnet durch seine dialektische Schärfe, gab der Stoa die Grundlagen, die nach seinem Tode im wesentlichen unverändert blieben. Zur Stelle: a) principatus: das hegemonikón, die Grundkraft, das herrschende Prinzip des Kosmos. b) communis natura: die allgemeine Natur, ist im Gegensatz zu der menschlichen die alles durchdringende und alles beherrschende Kraft der Natur. c) fatalis vis, das fatum, das Schicksal, ist zu verstehen als die Kraft, die alles mit absoluter Gesetzmäßigkeit bestimmt und den ganzen Kosmos durchdringt, die unabänderliche Wahrheit des Kommenden, während necessitas die unbesiegbare und gewaltsame Ursache ist, die neben der fatalis vis besteht und der keine Vernunft innewohnt. 41 Orphei: Orpheus, Sohn des Apollon und der Kalliope, König von Thrakien, Sänger und Dichter, galt als Verfasser einer Theogonie, ebenso sein Schüler Musaios. Hesiodi: Hesiodos aus Askra in Böotien schrieb um 700 seine Theogonie, die für die Kenntnis der sog. homerischen Religion von besonderem Wert ist. Diogenes Babylonius: D. von Seleukia am Tigris, Vertreter der alten Stoa, nach Zenon von Tarsos Leiter der Schule in Athen, kam 116 als Gesandter nach Rom hielt dort philosophische Vorträge und zog sich dadurch die Feindschaft Catos zu. 42 - 43: Die Aussagen der Dichter Die Angriffe gegen die religiösen Aussagen und Darstellungen der Dichter decken sich inhaltlich mit Varros Kritik des "primum genus theologiae", des "genus mythicon" oder "fabulosum" der Dichter, in dem "sunt multa contra dignitatem et naturam immortalium ficta. In hoc enim est, ut deus alius ex capite, alius ex femore sit, alius ex guttis sanguineis natus; in hoc, ut dii furati sint, ut adulterarint, ut servierint homini; denique in hoc omnia diis adtribuuntur, quae non modo in hominem, sed etiam quae in contemptissimum hominem cadere possunt".127 (August. C.D. VI 5 <I 252, 28ff. <Das "genus fabulosum" der Dichter> bietet <uns> viele Dinge, die gegen die Würde und das Wesen der Götter verstoßen. Denn da lesen wir, daß eine Gottheit aus dem Haupt <einer anderen>, eine andere aus dem Schenkel <eines Gottes> und wiederum eine andere aus den Blutstropfen <eines 127 124 D.-K.>). 43 - 56: Die Götterlehre Epikurs Die Aussagen 43 - 56 über das Wesen der Götter sind echtes Lehrgut Epikurs, aber auch des Philodemos, das Cicero dessen zahlreichen Schriften Perì theon oder vielleicht einer aus dem Kreise jüngerer Epikureer für ihn zusammengestellten Epitome entnehmen konnte. Praechter (I 473) verweist in diesem Zusammenhang auf den in I 59 unter Berufung auf das Urteil des Philon von Larissa als "coryphaeus Epicureorum" genannten Zenon, den auch Cicero selbst gehört hatte. Näher liegt die Annahme, daß Cicero eine für ihn von Philodemos selbst geschriebene Epitome zur Darstellung der epikureischen Theologie benutzt hat. (Vgl. Usener, Epic. LXVI und Hermes 1916, 606ff.). 43 - 45: Die Existenz der Götter ist in der menschlichen Seele als Vorbegriff (Prolepsis, anticipatio) enthalten. 43 Epicurum: Epikuros aus dem attischen Gargettos (342-271), Schüler des Demokriteers Nausiphanes (vgl. I 73), ist der Begründer der nach ihm benannten epikureischen Philosophie. quae est enim gens... (Denn wo gibt es ein Volk oder eine Menschenart, die nicht auch ohne eine Belehrung einen bestimmten Vorbegriff von den Göttern besäße, den Epikur prólepsis d.h. eine bestimmte, in der Seele vorauserfaßte Vorstellung von einer Sache nennt, ohne die man etwas weder erfassen noch untersuchen noch diskutieren kann?): Zu dieser These vgl. Cic.Legg. I 24: Nulla gens est neque tam mansueta tam fera, quae non, etiamsi ignoret, qualem habere deum deceat, tamen habendum sciat (Kein Volksstamm ist von so friedfertiger oder von so wilder Natur, daß er - auch wenn er nicht wüßte, was für eine Gottheit zu haben für ihn passend wäre - trotzdem nicht wüßte, daß er eine haben muß.); Tusc. I 30: Multi de dis prava sentiunt; id enim vitioso more effici solet; omnes tamen esse vim et naturam divinam arbitrantur; nec vero id collocutio hominum aut consensus effecit, non institutis opinio est confirmata, non legibus; omni autem in re consensio omnium gentium lex putanda est (Viele machen sich über die Götter falsche Gedanken; denn das ist meist die Folge von falscher Sitte und Gewohnheit. Trotzdem glauben alle an die Existenz einer göttlichen Kraft und einer göttlichen Natur; dies hat aber nicht eine Vereinbarung oder ein göttlichen Wesens> geboren wurde <oder entstanden ist>; da lesen wir, daß Götter gestohlen, Ehebruch begangen und einem Menschen als Sklaven gedient haben; kurz, es wird darin all das auch den Göttern angehängt, was nicht nur einem Menschen <schlechthin>, sondern vielmehr einem Menschen der verächtlichsten Art zustoßen kann. 125 Übereinkommen der Menschen zustande gebracht, dies ist keine durch Sitten und Gebräuche, keine durch Gesetze entstandene Meinung; in jedem Falle aber muß die Übreinstimmung aller Völker als ein Naturgesetz angesehen werden.) Ferner Sen. Ep. 117,6: Deos esse inter alia hoc colligimus, quod omnibus insita de dis opinio est nec ulla gens usquam est adeo extra leges moresque proiecta, ut non aliquos deos credat (Daß es Götter gibt, schließen wir u.a. auch aus der Tatsache, daß allen <Menschen von Natur aus> eine <bestimmte> Vorstellung von Göttern eingeboren ist und daß es nirgends ein Volk gibt, das so sehr außerhalb <aller> Gesetze und Sitten liegt, daß es nicht an irgendwelche Götter glaubte.). Noch Calvin wiederholt dieses Argument mit ausdrücklichem Bezug auf Cicero (Calvin Inst. I 3,1 - ille Ethnicus = der bekannte heidnische Philosoph). anticipationem (prólepsin) – „Vorbegriff“: Zum Begriff der prólepsis bei Cicero ist zunächst auffällig, daß Cicero festhält, daß Epikur selbst das prólepsis genannt hat, was vor ihm noch niemand mit diesem Ausdruck bezeichnet hatte (I 44). Das heißt nicht, daß es den Terminus vorher nicht gegeben hätte, sondern nur, daß Epikur ihn in diesen Zusammenhang als erster gestellt hat. Er hat einen Ausdruck aus der Erkenntnislehre, der schon vor ihm der Stoa geläufig war, theologisch verwendet. Der Stoiker Zenon hat das Wesen der Vorstellung so definiert: sie sei eine Prägung (ein Prägebild) in der Seele (týposis en psychê, St.v.fr. I Nr.58); und Kleanthes verglich sie mit dem Abdruck eines Petschafts in Wachs (St.v.fr. I Nr. 484); Chrysippos aber bekämpfte die wörtliche Auffassung des zenonischen Ausdrucks und definierte seinerseits die phantasía als heteroíosis psyches (Sext. Empir. adv. math. 7, 228ff. 372, St.v.fr. II Nr. 56). Welche Stellung hat diese prolepsis im Zusammenhang der Erkenntnislehre der Stoa? Wenn wir ein Objekt wahrgenommen haben, so bleibt auch nach der Entfernung desselben davon eine Erinnerung (mnéme) zurück. Aus vielen gleichartigen Erinnerungen bildet sich die Erfahrung (empeiría, welche definiert wird als tò tôn homoeidôn phantasiôn plêthos). Aus den Wahrnehmungen geht durch den Fortgang zum Allgemeinen der Begriff (énnoia) hervor, und zwar teils von selbst (anepitechnétos), teils durch eine absichtliche und methodische Denktätigkeit (di' hemetéras didaskalías kaì epimeleías); im ersten Fall entstehen die prolépseis (oder koinaì énnoiai), im anderen die technisch gebildeten énnoiai (St.v.fr. II Nr. 83). Die prólepsis ist (nach Diog. L. 7, 54) énnoia physikè tou kathólou. Ihren Sensualismus durchbrechend sprechen die Stoiker auch von émphytoi prolépseis, angeborenen Begriffen (Stoic.vet.fragm. III Nr. 69). Der lógos (nous) ist ein 126 Produkt der fortschreitenden Entwicklung des Menschen; er sammelt sich (synathroízetai) aus den Wahrnehmungen und Vorstellungen allmählich an bis gegen das vierzehnte Lebensjahr (St.v.fr. I Nr. 149). Von der Wahrnehmung, dem Näheren, dem Einzelnen ausgehend, kann man zu dem Ferneren, dem Allgemeinen durch die logischen Operationen aufsteigen, und das Weltganze kann nur durch die Vernunft erkannt werden; auch hier kommt der Rationalismus gegenüber dem Sensualismus, mit dem die Stoiker einsetzen, zur Geltung. Die kunstgerechte Bildung von Begriffen, Urteilen und Schlüssen ruht auf gewissen Normen, welche die Dialektik zu lehren hat. (In der Lehre vom Begriff vertreten die Stoiker die Ansicht, die später als Nominalismus oder Konzeptualismus bezeichnet worden ist. Sie halten dafür, daß nur das Einzelne reale Existenz habe und das Allgemeine nur in uns als subjektiver Gedanke sei, und bekämpfen deshalb die Ideenlehre (St.v.fr. I Nr. 65).) Das Gemeinschaftliche des Begriffs der prólepsis in der Epikureischen und Stoischen Schule besteht darin, daß er in der Erfahrung seinen Anknüpfungspunkt findet, indem jede Erkenntnis von außen gewonnen wird. (Die Art und Weise, wie die Vorstellung in uns zustande kommt, unterscheidet die beiden Schulen dann.) Velleius erläutert den terminus zunächst so: "id est anteceptam animo rei quandam informationem, sine qua nec intellegi quicquam nec quaeri nec disputari potest. (d.h. eine bestimmte, in der Seele vorauserfaßte Vorstellung von einer Sache, ohne die man etwas weder erfassen noch untersuchen noch diskutieren kann). Wie aber kann die Anknüpfung an die Erfahrung geschehen, wenn es um den Glauben an die Götter geht? Unbewußt? Den bewußten, aus der Herrlichkeit der Welt schlußfolgernden Weg, d.h. in nuce den kosmologischen Gottesbeweis hat der Epikureer Velleius ja von sich gewiesen, wie ihm Cotta (I 100) auch vorhalten wird: Ferner wolltest du die Männer tadeln, die auf Grund der großartigen und herrlichen Werke, als sie die Welt an sich, als ihre einzelnen Teile, Himmel, Länder und Meere, und als sie das Herrlichste davon, Sonne, Mond und Sterne, betrachtet und auch das rechtzeitige Eintreten, den Wechsel und die Veränderungen der Jahreszeiten festgestellt hatten, zu der Vermutung gelangt waren, es gebe ein hervorragendes und außergewöhnliches Wesen, das dies hervorgebracht habe und nun in Bewegung halte, regiere und lenke. Selbst wenn sie von ihrer Vermutung aus nicht das Richtige treffen, sehe ich trotzdem, was sie im Auge haben: Welches große, herrliche Werk gibt es in aller Welt denn nun für dich, von dem du glauben könntest, es sei aus göttlichem Geist entstanden, und das dich die Existenz von göttlichen Wesen ahnen ließe? 'In meiner 127 Seele', sagst du, 'trug ich eine ihr eingepflanzte gewisse Vorstellung von einem göttlichen Wesen.' ('Habebam', inquis, 'in animo insitam informationem quandam dei.') - Was kann das bedeuten? Eine mögliche Antwort ist: Cicero hat den Epikureismus nicht ganz verstanden. (Der Kommentator Krische (48-51) kritisiert, daß Cicero hier von eingepflanzten und selbst angeborenen Erkenntnissen der Götter redet und daneben die anticipatio oder praenotio derselben bestehen läßt, die als eine im Geist vorher erfaßte Vorstellung zu denken sei. Der Fehler Ciceros liege nicht in der Bezugnahme auf die doppelten Vorstellungsarten, sondern in der Vermischung beider, "wobei die prolepsis zu geistig gefaßt und ihr in dem sinnlichen Eindruck haftender Ursprung gänzlich verwischt wird".) Eine andere mögliche Antwort ist die, daß wir den Epikur noch nicht ganz verstanden haben. Wenn man unseren relativ großen zeitlichen Abstand bedenkt, ist die Wahrscheinlichkeit für letzteres größer. Nehmen wir an, Epikur habe - dem atomistischen Grundprinzip treu -jede Vorstellung von außen abgeleitet, so konnte er die prolepsis nur für eine Erinnerung an oftmals von außen erhaltene Erscheinungen ausgegeben haben, d.h. aber, für ihn muß es solche Erscheinungen, sei es im Wachen, sei es im Schlaf, gegeben haben. Die Frage ist dann nur, wie wir diese Annahme nachvollziehen können. Die neuere Forschung hat sich bemüht, den Epikureismus nicht zu isolieren, nicht unbewußt dem polemischen Schema der Kirchenväter zu verfallen. Man ist auch der Frage nachgegangen, welche Fäden Epikurs Lehre von den Göttern und der wahren Frömmigkeit nicht nur mit der allgemeinen Religiosität der frühhellenistischen Zeit, sondern auch mit der platonischen Auffassung verknüpfen; auch wenn der Unterschied sehr groß zu sein scheint. Es ist auf das Buch von Festugière hinzuweisen: Epicure et ses Dieux.128 Das Buch beschränkt sich nicht auf Theologie und Frömmigkeitslehre des Kepos und ist ein besonders geeigneter Zugang zum Geist der epikureischen Philosophie überhaupt. Es versucht die wichtige Frage zu beantworten: Wie konnte eine Lehre, in deren Mittelpunkt der verständig abwägende Kalkül von Lust- und Unlustquanten steht, jene Anziehungskraft gewinnen, die sie weit über den Hellenismus hinaus nachweislich gehabt hat? 128 In engl. Übersetzung: Festugière, Epicurus and his Gods. Oxford 1955. 128 Zweckmäßiger Weise knüpft man bei der Untersuchung des Verhältnisses Epikurs zu den Göttern an den theologischen Passus des sog. Menoikeus-Briefs an, den Diogenes Laertios überliefert hat (10, 122/35). Dieser Brief entwickelt die Summe der neuen Lebenskunst, er verfolgt die Absicht persönlicher Seelsorge, ist aber sicher darüber hinaus von vornherein als Propagandaschrift für weitere Kreise gedacht, also eine Art "Protreptikos" in Briefform. Es gilt, die Elemente des guten Lebens zu begreifen, die stoicheîa toû kalôs zên. Und dabei geht es zunächst um die Theologie (10, 123f.): Der Adressat soll die allgemeine, im Menschen angelegte Vorstellung von der Gottheit (koinè toû theoû nóesis) rein, d.h. nicht verfälscht durch die entstellenden Zutaten der Doxa, bewahren; die Aussagen der Menge befinden sich im Widerspruch zu der Erkenntnis der Götter (gnôsis tôn theôn), die als solche "augenscheinliche Deutlichkeit" (enárgeia - wichtiger Grundbegriff der epikureischen Kanonik) besitzt. Den falschen Vermutungen der Nichtweisen (hypolépseis pseudeîs) über die Götter stehen gegenüber die "wahren Vorstellungen" (prolépseis), wie sie die Weisen darüber besitzen. Folge der reinen Gottesvorstellungen sind (spirituelle, nicht durch den Eingriff der Götter in den Weltlauf zustandekommende) "Förderungen", insofern die Götter die ihnen ähnlichen Menschen, eben die Weisen, "aufnehmen", d.h. ihrer geistigen Gemeinschaft würdigen, während bei den "Schlechten", eben den Nichtweisen, die falschen Gottesvorstellungen zu "Schädigungen" führen (d.h. zu einer Quelle innerer Nöte zu werden pflegen). Theoì mèn gàr eisín, enargès gàr autôn estin he gnôsis. "Denn Götter gibt es tatsächlich: unmittelbar einleuchtend ist deren Erkenntnis." - Erinnern wir uns an Thomas Bernhards Aussage im Blödelton (was aber seine normale Art war, die ernstesten Dinge zu erörtern): "Gott ist ja überall, brauch ich ja nicht daran zu glauben". Das heißt nichts anderes, als daß es eine Denkmöglichkeit ist, geradeso gut wie ihr Gegenteil: daß die Anschauung Gottes für den, der es zu fassen wüßte, die alltäglichste Sache sein könnte. So ein Mensch hätte wohl selbst etwas Göttliches an sich. Und der Brief des Epikur klingt aus mit der Versicherung, daß die Beherzigung dazu führe, "unter den Menschen zu leben wie ein Gott" (zése ... hos theòs en anthrópois); denn keineswegs gleiche einem sterblichen Wesen ein Mensch, der im Besitze unsterblicher Güter lebe. Ein Vorblick auf das Christentum zeigt uns: Christus wird als theós im Urchristentum gesehen. Auf die Erklärung Jesu (was eine theologische Aussage des Evangelisten sein kann): egò kaì ho patèr hén esmen (Ich und der Vater sind eins), antworten 129 die Juden nach Jo 10,30ff. mit dem Vorwurf: sù ánthropos on poieîs seautòn theón. Da macht Jesus ihnen an einem Bibelzitat begreiflich, daß eine solche Benennung an sich nichts Unerhörtes ist, und daß ein Würdename, der nach Psalm 82,6 den Menschen anscheinend zusteht, dem Heiligen und Abgesandten Gottes grundsätzlich nicht verwehrt werden könnte. Aber freilich, der Würdename, den er selbst hier in Anspruch nimmt, ist nur hyiòs toû theoû (Sohn Gottes). Es war E.Bignone,129 der nachgewiesen hat, daß "Epikur unter intensiver Auseinandersetzung mit der platonischen und aristotelischen Lehre von der Lust seine zentrale Position gewonnen und gesichert hat" (so Pohlenz GGA 1936, 519/24). Vor allem hat Bignone das "deus mortalis"-Motiv des Briefschlusses überzeugend als bewußte Beziehung auf Aristoteles zu deuten vermocht: wenn Aristoteles als Ideal das Leben nach dem Geist schilderte, das den Menschen zum Gott macht (hóste dokeîn pròs tà álla theòn eînai tòn ánthropon frg. 61 Rose = protr. frg 10 c Ross), so wollte Epikur dieses Ideal nicht nur als verträglich mit den Grundlagen seines eigenen, ganz anders gearteten Philosophierens erweisen, sondern zeigen, daß es nur von seinen Voraussetzungen her voll zu realisieren sei. Im Zusammenhang mit dem deus mortalis-Motiv muß ich natürlich auch Hölderlin zitieren: An das Göttliche glauben Die allein, die es selber sind. Was man in Zusammenhang mit dem Vers lesen muß: Und es ehret der Knecht nur den Gewaltsamen. D.h.: Daß es eine Gottesvorstellung geben könne, die sich nicht auf Macht, Fürsorge und Strafgewalt Gottes gründet, sondern nur darauf, daß er ist, daß er Gott ist - davon wissen nur wenige. Hier spricht sich eine heroische Form des Gottesglaubens aus. Ein heroischer Mensch verehrt die Götter um ihrer Erhabenheit und ungetrübten Seligkeit willen, ohne sich selbst darum elend und nichtig zu fühlen, und der in der Gewißheit des Todes keine Demütigung und keine Drohung empfindet. (Anderseits fehlt dem Epikureismus der aristokratische Dünkel bzw. der Dünkel der Männergesellschaft). Diese Hochgemutheit ist später immer wieder aufgenommen worden. Ein Beispiel, das ich Walter F.Otto verdanke: Spinoza, den Goethe sehr verehrte, sagt in seiner Ethik: "Wer Gott liebt, kann nicht wollen, daß Gott ihn wiederliebe". Aber auch innerhalb der katholischen Kirche findet das Motiv seinen spezifischen Ausdruck: In der franziskanischen E.Bignone, L'Aristotele perduto e la formazione filosofica di Epicuro 1/2, Firenze 1936. 129 130 Identifikation mit dem leidenden Christus. So kann es in einem Gebet des Franziskus von Assisi lauten: "Nicht um geliebt zu werden, sondern um zu lieben..." Ein Aspekt dieser Tendenz zur Identifikation mit Gott (grob gesagt) ist der einer gewissen Verinnerlichung. es erhebt sich daher die Frage, und sie ist schon in der Antike gestellt worden, wie das Verhältnis zum Kult, zum Äußerlichen der Religion zu verstehen ist. Antike Kritiker haben Epikur gerne vorgeworfen, sein relativ konservatives Verhältnis zur Volksreligion sei nur ängstliche Anpassung und im Grunde reine Verstellung. Cicero nat.deor. 1, 85 heißt es von Epikur: ne in offensionem Atheniensium caderet – um bei den Athenern nicht Anstoß zu erregen. Und Plutarch, non posse suaviter vivi 21 p. 1102 b = Us. 103,7: hypokrínetai ... euchàs kaì proskynéseis er heuchelt Gebete und Demutsgesten. Wir sind heute aber eher geneigt zu glauben, daß Epikur den Gedanken der homoíosis theô (Angleichung an Gott, imitatio dei) weiterentwickelte. Die Gottesanschauung und Gotteserkenntnis, und die mit ihr in enger Verbindung stehende homoíosis theô ist die edelste Form des eudaimoneîn. Man hat bei Epikur Anklänge an die Mysteriensprache registriert, z.B. in der Verwendung des Wortes téleios für den Eingeweihten (Philodem de dis 1, col. 24, 11: "Den vollkommen Vollendeten können nach unserem Glauben auch die Götter allesamt nicht schrecken"), anderseits den Bezug zur hohen Bildniskunst des 4.Jh. hergestellt, deren Götterbilder man nicht als "irreligiös, als rein künstlerische Phänomene" (so Otto) werten dürfe. In diesem Sinn wird man die Darstellung der epikureischen Theologie durch Nilsson (Geschichte der griechischen Religion, 2, 1950, 239 ff.) in einzelnen Punkten korrigieren müssen, wo die Religiosität Epikurs unterbewertet wird. Ein guter Ausdruck scheint der von Schmid zu sein, der die theologische Lehre Epikurs als eine Philosophie der olympischen Religion bezeichnet.130 Es muß uns klar sein: Mit solchen Versuchen der Annäherung weichen wir dem Anspruch der Bestimmung eines Gottesbegriffs aus. Aber, wie Heinrich Dörrie im Reallexikon für Antike und Christentum es konstatiert, für den griechisch-römischen Bereich dürfen wir einen Gottesbegriff nicht einfach voraussetzen. Die griechische und die römische Religiosität wurzeln in vielfältigen, reich differenzierten Vorstellungen Wolfgang Schmid, Götter und Menschen in der Theologie Epikurs: RhMus 94, 1951, 97/156. - Die theoì rheia zóontes, die leicht lebenden Götter sind hier wie von keinem anderen griechischen Denker thematisiert. Vgl. Hölderlin: Ihr wandelt droben im Licht/ Auf weichem Boden, selige Genien! / Glänzende Götterlüfte / Rühren euch leicht, / Wie die Finger der Künstlerin / Heilige Saiten. 130 131 von den Göttern und vom Göttlichen. Aber der Schritt, von da zu einem Gottesbegriff zu gelangen, ist, ungeachtet mehrerer Ansätze, die dazu hätten führen können, nicht getan worden. Seit Sokrates hat die griechische Philosophie daran gearbeitet, zunächst unreflektierte Vorstellungen derart zu verdichten, daß man sie ergreifen = begreifen kann. In aller Regel steht am Ende einer solchen Arbeit des Prüfens (Sokrates: exetázein) eine Definition; diese Arbeit ist durch die Schulen Platons, Aristoteles', der Stoiker hundertfach geleistet worden; Platons Ideenlehre, nach ihm Aristoteles' Logik dienten vornehmlich der Begriffsfindung. Viele Begriffe, die auf dem Feld der Ethik erarbeitet wurden, werden bis heute verwendet. - Es ist daher in hohem Maße auffällig, daß keine philosophische Richtung zu einem Gottesbegriff gelangt ist, derart, daß die Besonderheit eines Gottes, oder des Gottes, mit rationalen Mitteln ausgedrückt worden wäre. Wohl herrscht vollständige Einmütigkeit darüber, daß (negativ ausgedrückt) die Götter von aller menschlichen Defizienz frei sind, daß sie (positiv ausgedrückt) Wesen von höchster und subtilster Steigerung der Existenz sein müssen. Eben darum aber entziehen sie sich dem Begriffen-Werden (katalambánesthai), d.h. ihr Wesen ist akatálepton - unbegreifbar. Anders ausgedrückt: Das Göttliche entzieht sich jedem Versuch, es definitorisch festzulegen. Konsequenter Weise gibt es auch keine Theologie, sondern nur vielerlei Reflexionen über das Wesen der Götter und des Göttlichen. Die Ergebnisse solcher Reflexionen sind häufig als theologoúmena formuliert worden, d.h. als einzelne Aussagen, die einzelne Wesenszüge des Göttlichen kennzeichnen. Solche theologoúmena, die man etwa bei Homer und Hesiod, bei Herakleitos v. Ephesos und bei Platon fand, hat man nachmals mit sorgsamem Fleiß gesammelt. Aber man hat sie nicht zu einer Gesamt-Aussage, also nicht zu einer theología vereinigt oder verdichtet. Denn hierüber bestand wie gesagt eine nie erschütterte Einhelligkeit: Das Göttliche entzieht sich dem Begriffen-Werden (katalambánesthai). So entsteht zwischen Platon und Philon v.Alex. eine ganze Nomenklatur, durch welche die Unergreifbarkeit = Unbegreiflichkeit Gottes bezeichnet wird: akatáleptos, dysthératos, akatonómastos, dýsleptos u.a.m. Hier liegt der Ausgangspunkt für eine theologia negativa, die über ihren Gegenstand, Gott, im Grunde nur das eine auszusagen weiß, daß alle etwa möglichen Aussagen nicht bis an diesen Gegenstand heranreichen. Darum hat sich während der Antike keine Theologie herausgebildet, die sich mit christlicher Theologie vergleichen ließe: Der Mittelpunkt einer solchen Theologie war der Begrifflichkeit entrückt; die Aufgabe, Gott zu denken, führte folgerichtig zu dem Ergebnis, daß die Gottheit menschliches Denken transzendiert (hyperekbaínei). - Zu dieser Vorstellung steht nicht im Widerspruch, daß die Präsenz des Göttlichen (parousía), vor allem seine Fürsorge für die Menschen (prónoia, providentia), 132 als durchaus real erlebt wurde. <Es galt als gesichert, daß die Menschen seit frühester Zeit bestimmte Vorstellungen (protai énnoiai) von den Göttern hegten. Ein legitimer Zugang, vielleicht der einzige legitime Zugang, zum Wesen der Gottheit schien mit der Frage gegeben zu sein, woher denn die frühesten Menschen diese ihre Vorstellungen hatten. es wird bezeichnenderweise nicht ein Begriff entwickelt, sondern es wird nach der Uroffenbarung gefragt.> Unter Griechen ist nie bestritten worden, daß eine Verwandtschaft zwischen Göttern und Menschen besteht. (locus classicus sive canonicus: Arat. phaen. 5 = Act. 17, 28). Nach stoischer Überzeugung hat diese Verwandtschaft ihren Grund darin, daß allein Götter und Menschen (im Gegensatz zur übrigen Schöpfung) ihre Handlungen dem Logos gemäß einrichten oder einrichten sollten. Trotz dieser auf den Logos gegründeten Verwandtschaft (syngéneia) der Menschen mit den Göttern ist es auch in der Stoa nicht zur Begründung einer begrifflich-systematischen Theologie gekommen. Denn gerade die Stoa konnte sich von ihrer auf Rationalität beruhenden Grundkonzeption nicht lösen. Sie gelangte nicht etwa zu einer die Welt transzendierenden Theologie, sondern sie bezog das, was 'alle' von den Göttern wußten, in ihre Physik ein: Seit jeher hat man Götter verehrt, weil diese nichts anderes sind als die für den Menschen segensreichen Kräfte der Natur, diese habe man mit Recht mit Namen benannt und darum zu Unrecht für Personen gehalten. Damit drang die Stoa zu einer Begrifflichkeit der Götter und des Göttlichen vor, freilich mit der Umkehrung, daß das Göttliche als Synonym zur Natur und zu den in der Natur wirksamen Ursachen verstanden wurde. Logos, Natur, Kausalnexus und Gott sind hiernach gleichbedeutend. Man ist wohl nur hier, in der Physik der Stoa, dazu gelangt, eine Begrifflichkeit des Göttlichen zu statuieren. Das aber konnte nur geschehen auf der Grundlage einer kühnen Umbenennung: Die Stoa projizierte ihre physikalischen Grundvorstellungen mit entwaffnender Kühnheit in die überkommene Religion hinein. Epikur - Christentum Es ist eine Streitfrage, die seit De Witt's Epikur-Büchern die Forschung beschäftigt hat: das Problem etwaiger Affinität des Christentums zum Epikureismus als einer Heilslehre. Aus der Sicht der christlichen Antike selbst ist die Sache von vornherein klar. Es haben nur ausnahmsweise weitherzige Männer wie Clemens von Alexandrien positive Züge an Epikurs Lehre erkennen können. Merkwürdig berührt, daß gegen ihn auch dann noch polemisiert wird, als er schon zur Bedeutungslosigkeit herabgesunken war. Ist das ein Indiz dafür, daß die quasireligiösen Züge des Epikureismus bemerkt, aber verdrängt 133 wurden, weil im eigenen Verständnis von Religion kein Platz dafür da war? Aus der Sicht der heutigen Forschung ist eine mögliche Frage, ob in Epikureismus und Christentum eine gewisse Verwandtschaft festzustellen ist. Es geht darum, ob solche Analogien, wie die des gemeinsamen Gedächtnismahls, der Gemeindebildung, der Seelsorge, der beichte-ähnlichen Aussprache, der seelsorglichen Briefliteratur, usw. die Annahme einer wirklichen Affinität der beiden Geistesmächte zueinander und die Konstruktion einer spezifischen, vom Epikureismus zum Christentum führenden Entwicklung rechtfertigen, wie das v.a. De Witt angenommen hat. Die Glückseligkeit der Götter - und der Menschen Die Diskussion der Vertreter der hellenistischen Schulen kann sich auf manches Gemeinsame beziehen, das sogar die fundamentalen inhaltlichen Positionen betrifft. Z.B. den Grundbegriff der Glückseligkeit. Das ist eine Folge der Übereinstimmung im praktischen Grundprinzip, das für den weiteren Ausbau der Systeme bestimmend ist. Die Philosophiehistoriker sind sich ziemlich einig in der Beurteilung dieses praktischen Grundprinzips, wenn auch ihre Urteile manchmal etwas zu pauschal ausfallen. So urteilt etwa Pierre Aubenque131: "Die Philosophen der hellenistischen Epoche, die weniger darum bemüht sind, das Sein zu sagen, als die Menschen zu trösten und zu beruhigen, erreichen nicht die theoretische Kraft des Platonismus oder Aristotelismus." Oder Bertrand Russell132: "der Sinn des Lebens war weniger, etwas positiv Gutes zu leisten, als vielmehr, dem Unglück zu entrinnen." Und C.F.Angus133: "Die Metaphysik trat in den Hintergrund; die Ethik, die nunmehr Angelegenheit des einzelnen wurde, spielte die Hauptrolle. Die Philosophie war nicht länger die brennende Fackel, die einigen wenigen furchtlosen Wahrheitssuchern voranleuchtet; sie war eher ein Krankenwagen, der auf den Spuren des Daseinskampfes hinterdreinfuhr und die Schwachen und Verwundeten auflas." Hirschberger134 wiederum meint: Die Philosophie nimmt sich im Hellenismus des Menschen als solchen an, der in dieser durch die Kriege Alexanders und der Diadochen so aufgewühlten und unsicheren Zeit im inneren Menschen das Heil und das Glück Pierre Aubenque, Die hellenistischen Philosophen: Stoizismus, Epikureismus, Skeptizismus. In: Geschichte der Philosophie. Ideen, Lehren. Hrsg.v. Francois Chatelet. Ullstein. 132 Bertrand Russell, Philosophie des Abendslandes. Ihr Zusammmenhang mit der politischen und sozialen Entwicklung. Europa Verlag, Zürich. 133 C.F.Angus, in: Cambridge Ancient History, Bd. VII S.231 134 J.Hirschberger, Geschichte d.Philosophie I, Freib.1953,215 131 134 sucht, das die äußeren Verhältnisse ihm nicht mehr geben können, die zwar von stets neuer Größe träumen, dafür aber immer mehr Ruinen schaffen. Darum überwiege in dieser Zeit die Ethik. Sie habe zugleich auch noch die Aufgabe zu übernehmen, die der alte religiöse Mythos einst erfüllt hatte. Der Mythos zerbröckelt mehr und mehr und wird durch das rationale Denken aufgelöst. Stoa und Epikureismus bieten eine neue Seelsorge an und wirken dadurch auf weiteste Kreise, viel mehr als Akademie und Peripatos es je vermochten. Solche Urteile sind in fast allen Details anfechtbar, trotzdem sind sie anregend. Man kann z.B. überlegen, wie ernst das Zerbröckeln des Mythos zu nehmen sei, wenn dieser nach 2500 Jahren noch immer seine Wirkung tut. Oder, ob die angebliche Ersetzung der Religion durch Ethik nicht eine Projektion eines nachkantischen Denkers in die Zeit des Hellenismus sei. Ob nicht die Periode des Hellenismus zu ausschließlich negativ von der vorangegangenen Epoche her beurteilt werde. Wenn man dagegen versucht, wertungsfrei den Unterschied zu beschreiben, so wird man mit Malte Hossenfelder - in moderner Terminologie sagen können: Die auffälligste Gemeinsamkeit der hellenistischen Schulen ist der Vorrang, den sie der praktischen gegenüber der theoretischen Philosophie 135 einräumen. Der Einfluß des praktischen Denkens reicht im Hellenismus sehr weit. Er ist so ein herausragendes Paradigma für die Diskussion über die Rolle praktischer Interessen in der theoretischen Wissenschaft, wie sie im 20. Jahrhundert unter dem Titel "Werturteilsstreit" ausgiebig geführt worden ist. Das Problem hat zwei Aspekte: 1. einen normativen, unter dem gefragt wird, welche Rolle Werturteile in der Wissenschaft spielen sollen oder dürfen. 2. einen faktischen, sofern an historischen Beispielen gezeigt wird, wie weit tatsächlich in In Anlehnung an Kants Kritik der praktischen Vernunft (Akademie-Ausg. V 119 sqq.), wo er vom Primat der praktischen Vernunft spricht. Hier ist eine inhaltliche Abhängigkeit der theoretischen Vernunft von der praktischen gemeint. Wenn nämlich eine theoretisch unentscheidbare Annahme so unzertrennlich mit einem praktischen Gesetz verknüpft ist, daß dessen Befolgung von jener Annahme abhängt, dann sind wir nach Kant berechtigt, die Wahrheit der Annahme zu setzen. So ist die Behauptung, die Seele des Menschen sei unsterblich, mit theoretischen Mitteln nicht entscheidbar, sie ist weder beweisbar noch widerlegbar. Die Unsterblichkeit der Seele ist aber Voraussetzung der Realisierung des höchsten Gutes, die von einem praktischen Gesetz geboten wird. Folglich dürfen wir die Unsterblichkeit der Seele annehmen und verändern dadurch unser theoretisches Weltbild, zu dem die Frage der Unsterblichkeit ja gehört, aus praktischen Prinzipien inhaltlich. Denn nach den eigenen Regeln der theoretischen Vernunft müßten wir sagen, daß sich über die Unsterblichkeit der Seele keine Aussage machen läßt, im Interesse eines praktischen Grundsatzes aber sagen wir, daß die Seele unsterblich ist. 135 135 konkreten Fällen die Absichten die Ansichten bestimmt haben. Unter diesem zweiten Aspekt nun kommt dem Studium der hellenistischen Philosophie insofern eine ausgezeichnete Bedeutung zu, als sich in ihr eine Vorherrschaft des Praktischen nachweisen läßt, die besonders radikal und umfassend ist. Der Primat der praktischen Vernunft kommt bereits in der Definition der Philosophie in den einzelnen Schulen zum Ausdruck: - nach Epikur ist die Philosophie "eine Tätigkeit, die durch Argumentation und Diskussion das glückselige Leben verschafft (Us. fr. 219). - Die Stoiker eklären, "die Weisheit sei ein Wissen von göttlichen und menschlichen Dingen, die Philosophie die Übung einer nutzbringenden Kunst, nutzbringend aber sei allein und zuoberst die Tugend," d.h. die Philosophie als "Streben nach Weisheit" dient der Tugend (SVF II 35. 36). - Analog wird schließlich auch die Skepsis definiert als "Kunst, auf alle mögliche Weise erscheinende und gedachte Dinge einander entgegenzusetzen, von der aus wir wegen der Gleichwertigkeit der entgegengesetzten Sachen und Argumente zuerst zur Zurückhaltung, danach zur Seelenruhe gelangen" (Sextus P H, I 8). Aus allen drei Definitionen geht hervor, daß das theoretische Bemühen seinen Sinn nicht in sich selbst hat, sondern einen praktischen Zweck verfolgt. Das gleiche ergibt sich aus der Bewertung der einzelnen philosophischen Disziplinen. Physik und Logik werden um der Ethik willen betrieben. Chrysipp sagt es ausdrücklich: "Die Physik ist zu keinem anderen Zweck heranzuziehen als zur Auseinandersetzung über Gut und Übel", denn "an die Untersuchung von Gut und Übel, an die Tugenden und an die Glückseligkeit kann man nicht anders und nicht angemessener herangehen, als von der allgemeinen Natur und von der Einrichtung der Welt aus." (SVF III 68). Es wird hier fraglos vorausgesetzt, daß aus einem Sein ein Sollen, aus deskriptiven Sätzen präskriptive abgeleitet werden können. Dieser sogenannte "ethische Naturalismus" beherrschte die gesamte Antike. Man glaubte eben ganz naiv, daß sich aus der Erkenntnis der wahren Natur der Dinge und des Menschen auch die wahren Werte ergeben müßten. Der Naturalismus ist jedoch keineswegs auf die Antike beschränkt, sondern bleibt eine weit verbreitete Auffassung. Er findet sich bei Descartes und im Utilitarismus ebenso wie heute, v.a. bei Verhaltensforschern, die offenbar der Überzeugung sind, man könne aus der Beobachtung der Graugänse moralische Einsichten gewinnen. 136 (Das ist ein scheinbarer Primat der theoretischen Vernunft. Man will argumentieren können: weil die Dinge so und so beschaffen sind, müssen wir uns so und so verhalten. Das kann aber nur als Rechtfertigung gelten, wenn es so scheint, als ob die theoretische Beschreibung der Dinge unabhängig und rein nach theoretischen Prinzipien gewonnen wurde, so daß die praktischen Grundsätze von den theoretischen abhängig sind. In Wirklichkweit entscheidet über die Annahme einer Theorie ihre Tauglichkeit für die Rechtfertigung praktischer Überzeugungen. Welches Weltbild man anerkennt, hängt also davon ab, an welche praktischen Ziele man glaubt. Das ist eine durchaus vertraute Erscheinung, daß z.B. wissenschaftliche Enqueten je nach den Interessen (z.B. wirtschaftlichen oder politischen) des Auftraggebers zu unterschiedlichen Ergebnissen führen. Ein solches Verfahren ist nach den Regeln der Logik natürlich unzulässig, aber der Fehler beibt verborgen, weil eine Täuschung vorliegt. Der Primat der praktischen Vernunft tritt hier nicht als solcher auf, sondern im Gewand des Primats der theoretischen Vernunft.) Der Grundbegriff, von dem die Hellenisten ausgehen, ist wie gesagt die Eudämonie, eudaimonía, die wir üblicherweise mit "Glückseligkeit" übersetzen. Sie bildet das telos, d.h. den höchsten Zweck oder das größte Gut, dem alle anderen Güter untergeordnet sind. In diesem Punkt unterscheiden sich die Hellenisten nicht von ihren Vorgängern oder Nachfolgern, vielmehr ist der Eudämonismus in der ganzen Antike so selbstverständlich, daß er häufig nicht mehr ausdrücklich gemacht, sondern stillschweigend vorausgesetzt wird. Etymologisch bedeutet eudaimonía "einen guten Dämon haben", "unter einem guten Stern stehen", daß es einem gut geht, daß "das Leben gelingt". Das muß man noch spezifizieren: Im Hellenismus wurde negativ spezifiziert: das Glück wird gesehen in der Freiheit von innerer Erregung. Pyrrhoneer und Epikureer bezeichnen diesen Zustand als Ataraxie, die Stoiker nennen ihn Apathie, gemeint ist aber in beiden Fällen letztlich daselbe, nämlich Abwesenheit von Affekten wie Furcht, Trauer, Begierde u.ä., d.h. von Zuständen seelischer Spannung und Erregung. Die entsprechende positive Charakterisierung wird vorwiegend metaphorisch versucht, und zwar mit Hilfe der Zustände des Wassers. Für die Epikureer und die Pyrrhoneer besteht die Eudämonie in der völligen "Meeresstille" (galéne) des Gemüts, während die Stoiker sie definieren als "Wohlfluß des Lebens" (eúroia bíou). Auch hier liegt im wesentlichen dieselbe Vorstellung zugrunde, wenn man der Metapher nachgeht und fragt, wann ein Fluß "wohl fließt", - er tut es dann, wenn er ungehindert dahinströmt, ohne daß sich Strudel und Wellen bilden, so daß auch hier das tertium comparationis, wie bei der Meeresstille, die glatte und sanfte Obrfläche ist. Sie 137 wird zur Metapher für das, was die Glückseligkeit positiv ist: die vollkommene Ruhe und Ausgeglichenheit des Gemüts, der innere Frieden. Für den Charakter der verschiedenen philosophischen Systeme ist es dann wichtig, worin die Gefahren für die innere Ruhe bzw die Ursachen der Erregung zu sehen sind. Aus ihnen ergeben sich die Mittel und Wege, die zur Erreichung und Sicherung der Eudämonie empfohlen werden. Die hellenistischen Schulen sind einhellig der Überzeugung, daß der innere Frieden dann bedroht ist, wenn man sein Herz an Unverfügbares hängt, d.h. wenn man Bedürfnisse ausbildet, die man nicht selbst aus eigener Kraft und jederzeit befriedigen kann. Man darf also nur das begehren, von dem man sicher sein kann, daß man es auch erreicht, weil es von einem selbst abhängt, allem übrigen gegenüber muß man sich gleichgültig verhalten. Tut man das nicht, so ist das Glück dahin, weil der tatsächliche oder bloß mögliche Mißerfolg eine Fülle von Affekten erzeugt, die den Seelenfrieden zerstören. So beunruhigt z.B. das Streben nach Besitz nicht nur, solange es tatsächlich erfolglos bleibt, sondern auch der Besitzende wird gepeinigt von der Furcht vor dem möglichen Verlust, eben weil Besitz etwas ist, das man gegen seinen Willen einbüßen kann. Das praktische Grundprinzip ist also, nur solche Bedürfnisse anzuerkennen, deren Befriedigung ganz in der eigenen Macht steht. Für die Interpretation der Welt ergibt sich daraus die Aufgabe, sie so zu erklären, daß allein das als wahrer Wert erscheint, was jederzeit verfügbar ist, alles Unverfügbare aber sich als wertfrei, als gleichgültig herausstellt. (Total anders ist die Glückslehre des Christentums: Kein Auge hat es geschaut und kein Ohr hat es gehört, was Gott denen bereitet hat, die ihn lieben. Allerdings wurde die antike Apathie-Lehre auch von Kirchenvätern übernommen, die dann das Problem hatten, daß in der Bibel dem lieben Gott so manche Affekte nachgesagt werden, von Zorn bis Erbarmen.) Die Unterschiede der Schulen ergeben sich nur aus der unterschiedlichen Konsequenz und Radikalität, mit der dieses Programm verfolgt wird. Die Richtung ist die gleiche. Übrigens die entgegengesetzte gegenüber der neuzeitlichen Tendenz. Denn wo immer Bedürfnisbefriedigung ein Ziel des Handelns ist, gibt es zwei Wege, dieses Ziel zu erreichen: Man kann versuchen, entweder möglichst viel Befriedigung, oder möglichst wenig Bedürfnisse zu haben. Die Neuzeit hat den ersteren Weg beschritten, über die Beherrschung der Außenwelt, der Hellenismus den zweiten, über die Beherrschung der Innenwelt. Und da sich heute gegen die Richtigkeit des ersten Bedenken erheben und viele in ihm eine Widersprüchlichkeit erkennen, weil die technische Unterwerfung der Natur einerseits die Möglichkeit einer höheren Lebensqualität eröffne, die sie andererseits wieder zerstöre, kommt der antiken Glückslehre 138 neue Aktualität zu. Sie ist auf dem negativen Weg schon sehr weit vorgedrungen, so daß eine Beschäftigung mit ihr dazu beitragen könnte, die Vorteile und Nachteile besser abzuschätzen und vielleicht den einen oder anderen Umweg, als heute erledigt, einzusparen. Zum Verständnis der hellenistischen Eudämonielehre müßte man bei den klassischen Philosophen anknüpfen: Platon hat am Ende des ersten Buchs der Politeia Sokrates fragen lassen, was das Gerechte ist, ob es eine Tugend ist und ob der, dem sie innewohnt, glücklich ist. Gerechtigkeit als Grundfrage der Politik ist Leitmotiv der Politeia, und es ist typisch für Sokrates, daß er Glück und Tugend im Zusammenhang sieht; auch, daß er Tugend für lehrbar hält, so daß es einen Bildungsweg zum Glück gibt. Komplizierter wird es dadurch, daß Platon Staats-, Individualund Völkerpsychologie und -ethik miteinander in Verbindung setzt. So wie der Staat wird auch die Seele als dreigeteilt vorgestellt (Vernunft - logistikón / philomathés / philósophon; das Begehrliche - tò epithymetikón; dazwischen das Mutartige - tò thymoeidés); hinter den ethischen Intellektualismus des frühen Plato wird also vom späteren ein Fragezeichen gesetzt. Die Verknüpfung von Glück und Ethik, von Ethik für den einzelnen und Staatsethik sind also schon platonisch. Es ist zu vermuten, daß es ein breit diskutierter Themenkomplex ist, der nicht nur im Hauptwerk Platons eine bedeutende Rolle spielte, sondern auch im Lehrbetrieb der Akademie. Die folgende Argumentation kann man sich sehr gut als schon akademische vorstellen: Das worauf es eigentlich ankommt, was allem Denken und Tun letztlich Sinn verleiht, kann nicht das Glück des Staates oder der Gemeinschaft, sondern nur das Glück des einzelnen sein. Denn so, wie man sich keinen Staat und keine Gemeinschaft ohne Individuen, wohl aber Individuen ohne Staat oder Gemeinschaft denken kann, ebenso absurd ist es, von einem glücklichen Staat oder einer glücklichen Gemeinschaft zu sprechen, wenn ihre Mitglieder unglücklich sind, wohl aber läßt sich umgekehrt vorstellen, daß in einem glücklosen Staat oder einer glücklosen Gemeinschaft glückliche Individuen leben. Folglich wird man den Sinn jeder Gemeinschaft im Individuum sehen müssen, zu dessen Glück sie Mittel ist. Das wäre eine Antithese zu Aristoteles' These, der Mensch sei zoon politikón und könne nur als solches glücklich werden. Um die Aktualität solcher Gedanken zu erfassen, braucht man nur die Reden Vaclav Havels lesen136 Die Ethik des Aristoteles ist als ganze eine Theorie des Václav Havel, Angst vor der Freiheit. Staatspräsidenten. Reinbek bei Hamburg 1991. 136 Reden des 139 Glücks, für welche das Glück nicht nur faktisch letztes Ziel menschlichen Strebens, sondern auch Richtschnur praktischer Orientierung und kritischer Beurteilung des Handelns ist. In der Frage, ob Ethik mit Glück zu tun habe, ist Aristoteles der Gegenpol zu Kant. Kant hat den Glücksgedanken aus der Ethik verwiesen. Zur Beantwortung der Frage, "Was soll ich tun?" (KrV, B 833) trägt die Orientierung am Glück nichts bei. Ja, sie wird von Kant zum "geraden Widerspiel" der Sittlichkeit erklärt (KpV, A 61). Nicht nur ist der Glücksbegriff als Handlungsbegriff zu unbestimmt (GMS, B 46f.); würde das Glück, als letzter Gegenstand des Wollens, zu dessen Bestimmungsgrund, so würde dies zudem die menschliche Autonomie aufheben und Moralität verunmöglichen (KpV, A 59; vgl. KU, 83). Nur durch seine Form, nicht durch seinen Gegenstand soll der gute Wille bestimmt sein. Unbestimmtheit und Heteronomie machen die Orientierung am Glück für die Bestimmung sittlichen Handelns unnütz, ja unzulässig. Man hat diesen Gegensatz als Gegensatz von Sollens- und Wollensethik, Pflicht- und Glücksethik, oder auch von deontologischer und teleologischer Ethik beschrieben. (Dahinter liegt ein tiefgreifender historischer Wandel. Kants Theorie artikuliert sowohl einen verschärften Begründungsanspruch wie einen der Antike unbekannten Begriff von Subjektivität. Daß dieser Schritt für eine neuzeitliche Reflexion - so auch für jede Erneuerung der Glücksethik nicht rückgängig zu machen ist, bedeutet allerdings nicht schon die Unangreifbarkeit der Kantischen Eudämonismuskritik. Bei Aristoteles ist nun ein Anknüpfungspunkt die Frage, in welchem Sinn das Glück überhaupt Gegenstand des Wollens sein kann. Die Sprache markiert hier einen deutlichen Unterschied. Ich wünsche, glücklich zu sein; "mich aber dafür entscheiden, glücklich zu sein, das geht nicht an" (EN 1111 b 28). Denn, so Aristoteles' Argument, Glück steht nicht in meiner Macht. Auch wenn wir die Zweideutigkeit des Wortes "Glück" durch die Unterscheidung von fortuna und beatitudo, eutychía und eudaimonía, oder von Glück-Haben und Glücklich-Sein beheben, so bleibt auch die eudaimonia ganz offensichtlich mit einem Moment von Unverfügbarkeit behaftet. In welchem Sinn ist dann aber Glück überhaupt Gegenstand unseres Wollens? Nach Aristoteles ist es als das schlechthinnige Endziel allen Tuns und Könnens definiert, d.h. als jenes Ziel, das schlechthin nur um seiner selbst willen angestrebt wird und für das es keinen anderen möglichen Zweck gibt. (EN I. 5). Daß es ein solches Letztes geben muß, gründet anch ihm in der Unmöglichkeit des unendlichen Regresses: Würde alles wieder um eines anderen willen getan, so würde sich die Richtung des Wollens selber verlieren und alles wäre Mittel, 140 nichts mehr Zweck (Met. II. 2). In der Beschreibung dieses letzten Ziels schwankt Aristoteles zwischen zwei Modellen: dem Modell des in einer Hierarchie von Zweck-Mittel-Verknüpfungen letzten Ziels - das höchste Gut als Gegenstand der Politik, die an der Spitze der Künste und Wissenschaften steht - und dem Modell des umfassenden, andere Zwecke einbegreifenden Ziels - wonach das einzelne um seiner selbst willen Erstrebte eine besondere Art ist, das Allgemeine, das Glück zu realisieren. Als letztmöglicher Zweck ist Glück leichter beschreibbar. Glück ist dann jene letzte Antwort auf die Frage nach unserem Wollen, wo das Was und Warum zusammenfallen, oder anders gesagt: jene Antwort, die keiner weiteren Begründung fähig noch bedürftig ist. Es markiert die Nichtwiederholbarkeit der Wozu-Frage. Wer fragt, warum wir glücklich sein wollen, hat das Wort "Glück" nicht verstanden. Dieser begründungslogischformalen und negativen Bestimmung entspricht positiv etwa die Umschreibung, daß Glück dasjenige sei, was wir "eigentlich", letzten Endes und im Ganzen wollen. R.Spaemann137 sieht im ursprünglichen Glücksbegriff zwei Schwerpunkte, die später auseinandertreten und zum Teil gegeneinander artikuliert werden: Autarkie und Erfüllung. Das erste Moment betont die Seite der Selbstbehauptung und Selbständigkeit und ist z.T. ausdrücklich gegen Erfüllung gewendet: Unabhängigkeit gründet dann in Erfüllungs-, ja Wollensverzicht. So wird die Beständigkeit des Glücks gegen die Instabilität äußerer Glücksgüter gesichert. Die Minimalisierung der Erwartungen, die Bedürfnislosigkeit erscheint als Schutz des Weisen gegen das Unglück, als Basis seines Glücks. Fraglos kann eine solche "asketische" Haltung ernstzunehmende Aspekte von Glückserfahrung enthalten; die stoische Apathie oder epikureische Ataraxie sind Varianten ihrer Ausformulierung. Dennoch scheint sie als ganze mit dem, was wir spontanerweise Glück nennen, nur in paradoxer Weise vereinbar. (Diesem gleichsam defensiven läßt sich ein positiver Begriff von Autarkie gegenüberstellen, der auf Freiheit, d.h. - so Aristoteles Met. 982 b 26 - auf das "um seiner selbst und nicht um eines andern willen" Leben abzielt, oder der dann im modernen Sinn mit einem emphatischen Begriff von Selbstsein oder ausgebildeter Individualität verknüpft wird.) Das Komplementärmoment zur Autarkie, die Erfüllung, ist im Glücksbegriff vielleicht noch ursprünglicher verankert. "Plerosis" ist schon bei Platon Stichwort - Fülle als Gegensatz zum Mangel und Behebung einer Leere, zuallererst als R.Spaemann, Philosophie als Lehre vom glücklichen Leben, in: G.Bien, Hg., Die Frage nach dem Glück, 1978, S.15. 137 141 Realisierung von Intentionen, Wünschen und Absichten. Daneben meint die Metapher der Fülle Überfluß. Sie kann zum Gegenpol jenes Selbstbezugs werden, für den der Titel Autarkie steht bis zum Aufgehen-im-anderen, zur Selbstvergessenheit, ja Selbstauslöschung. Auch dies sind bekanntlich Bilder vom Glück. Das Alleswerden, das zugleich Selbstauslöschung ist, ist das Gegenbild zur Selbstbehauptung ohne Erfüllung. Der hellenistische Erfüllungsverzicht scheint wohl mit Freiheit, doch nur paradoxerweise mit Glück vereinbar; beim Selbstverzicht, etwa im Neuplatonismus, verhält es sich umgekehrt: er scheint wohl mit Glück, aber nur paradoxerweise mit Freiheit vereinbar. Wir müssen nun ausdrücklich die Frage stellen, was denn diese ganze Eudämonie-Problematik mit Religionsphilosophie zu tun hat. Sie hat mit der Wirklichkeit des Menschen zu tun, mit seiner Selbstverwirklichung, mit seiner letzten Zielsetzung und den Fragen um Willensfreiheit und Autarkie. Um den Sinn des Lebens. O.Marquard hat das Aufkommen der sogenannten Sinnfrage geradezu als Pseudonymisierung der Glücksthematik bezeichnet.138 Der Sinnbegriff entspricht der Struktur des Selbstzwecks: Wenn die Sinnfrage die ist, die nach Camus letztlich lautet, ob es sich lohnt oder nicht, zu leben, so entspricht dies der Frage nach dem Selbstzweck des Lebens. Welcher Begriff in der christlichen Theologie entspricht am ehesten dem philosophischen Glücksbegriff? - Das "Heil"? Der "Segen" Gottes? Die "Erlösung"? Wer diese Begriffe reflektiert, wird unweigerlich mit den gleichen Fragen nach der Verwirklichung des Menschseins, nach Freiheit, Autarkie des Individuums konfrontiert. Es verdient Beachtung, daß sowohl der erste Psalm der Bibel mit "Glücklich" beginnt als auch die sog. Seligpreisungen der Bergpredigt mit dem normalen Wort "Glücklich" zu übersetzen sind. Es handelt sich um eine provokante Glückslehre. Es braucht uns daher nicht zu verwundern, daß die frühen christlichen Theologen, denen die antike Bildung noch voll zur Verfügung stand, höchst sensibilisiert waren für die Behandlung der Glücksthematik in der heidnischen Philosophie. Wenn Epikur bzw. die Dialogpartner in Ciceros Buch De natura deorum über das Glück der Götter und Menschen sprechen, so tun sie das in einem allgemeinen Kontext, den ich im Vorangegangenen zu entfalten versucht habe. Sie tun es aber auch in einem ganz speziellen religionsphilosophischen Kontext, den ich noch ansprechen muß: O.Marquard, Wider die allzulaute Klage vom Sinnverlust. Philosophische Bemerkungen und eine Fürsprache fürs Unsensationelle, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 31.Okt.1983, 9f. 138 142 Aristoteles bestimmt in seiner Nikomachischen Ethik - wie schon vorher Platon (Symp. 205 a) - das Glück als Besitz des Gutes, das um seiner selbst, nicht um eines anderen willen erstrebt wird, ein Gut, das mithin Ziel und Sinnerfüllung des menschlichen Lebens ist, nicht vorübergehend und flüchtig, sondern beständig und bleibend. So gesehen ist das Glück der primäre Beweggrund allen menschlichen Handelns. Glück besitzt der Mensch in dem Maß, als sich sein eigentliches Selbst, d.h. die ihm eigene Geistnatur verwirklicht. Dies geschieht in den praktischen und - vor allem - kontemplativen Tugenden. Somit gilt: "Wer hindert uns, glücklich denjenigen zu nennen, der gemäß vollendeter Tugend wirkt und über die äußeren Güter in ausreichender Weise verfügt, nicht eine flüchtige Zeit, sondern ein ganzes Leben" (1101 a). Aristoteles betont ausdrücklich, "daß, wenn irgend etwas ein Geschenk der Götter an die Menschen ist, dann die Glückseligkeit..., und zwar umso mehr, als sie von den menschlichen Gütern das beste ist" (1099 b). Aber er beschränkt sich doch ausdrücklich auf das unvollkommene, durch menschliche Praxis erreichbare Glück (1097 a), das den Menschen "als Menschen" glücklich macht (ebd.; 1102 a). Die "theologische" Dimension des Glücks wird mithin bei Aristoteles nicht geleugnet, die Untersuchung aber außerhalb dieser Fragestellung angesiedelt. Das damit gegebene Problem der Ausklammerung spitzt sich freilich v.a. hinsichtlich des Glücks kontemplativphilosophischen Lebens (im Gegenüber zum Glück des praktischbürgerlichen Lebens) zu: Das Glück der theoría verhält sich für Aristoteles zum Glück der sittlichen Praxis wie eine göttliche zu einer bloß menschlichen Möglichkeit (1177 b). Erst in der Betrachtung des Göttlichen findet der Mensch sein volles Glück/Heil und nimmt, soweit es ihm möglich ist, am spezifisch Göttlichen, an der Unsterblichkeit teil. Jedoch: Wenn dies das Endziel des Menschen ist (1176), so stellt sich das Problem, ob und wie weit er es in diesem Leben erlangen und folglich ganz glücklich werden kann. Diese Frage findet bei Aristoteles keine letzte Antwort mehr. Darauf wird später Thomas von Aquin ausdrücklich hinweisen.139 Thomas v.Aquin, Summe gegen die Heiden, Buch III, Kap.48 (hrsg.u.übers.v.Karl Allgaier. Lat.Text besorgt u.mit Anm.vers.v.Leo Gerken. Darmstadt 1990. Bd.3,1, S.193): "Wenn also die letzte menschliche Glückseligkeit, wie oben dargelegt wurde (III 38ff.), nicht in einer Gotteserkenntnis besteht, durch welche Gott gemeinsam von allen oder mehreren gemäß einer unsicheren Meinung erkannt wird; noch weiterhin in einer Gotteserkenntnis, durch welche er auf dem Wege eines Beweisverfahrens in den betrachtenden Wissenschaften erkannt wird; auch nicht in einer Gotteserkenntnis, in welcher er durch den Glauben erkannt wird, - es ist aber nicht möglich, in diesem Leben zu einer höheren Erkenntnis zu gelangen, so daß er in seiner Wesenheit erkannt werde, oder auch nur so, daß man andere getrennte Substanzen 139 143 Von diesem offenen Problem her gesehen findet sich nun aber bei Aristoteles - trotz sachlicher Identität von Glück und Heil - doch ein Differenzierungs-Ansatz, nämlich zwischen irdisch-realisierbarem unvollkommenem "Glück" und göttlichgeschenktem vollkommenem "Heil". Des letzteren kann die (praktische) Philosophie zwar noch ansichtig werden, aber zu finden ist es allein im Bereich des Religiösen. (Das ist auch der Grund, weshalb der griechische Begriff der sotería in besonderer Weise im religiösen Kult zu Hause ist: nur die "Götter" können vom Tod erretten - wie auch von den Launen unberechenbaren Geschicks.) Das kontemplative Ideal des Aristoteles ist mit der Vorstellung verbunden, daß der Geist etwas Göttliches sei (1177 a 15-16; 177 b 28 u.ö.) und sich der Mensch im Umgang mit dem Göttlichen "seiner eigenen Unsterblichkeit vergewissert". Sofern der Geist als göttlich angesehen wird, scheint das Leben gemäß dem Geiste die eigentlich menschlichen Möglichkeiten zu überschreiten (1177 b 26-31). Ja, man ist geneigt zu sagen, daß der "Mensch so nicht leben kann, insofern er Mensch ist, sondern nur, insofern er etwas Göttliches in sich hat" (1177 b 28-29). Anderseits gilt jedoch auch, daß der Mensch vor allen Lebewesen dadurch ausgezeichnet ist, daß er über Geist verfügt: Geist ist ihm eigentümlich (oikeîon 1178 a 5-6); der Mensch ist - was auch immer er sonst noch sein mag - vor allem Geist (1178 a 7). Ja, es liegt sogar nahe, vom Geist als dem eigentlichen Selbst des Menschen zu sprechen (1178 a 2). Analoge Vorstellungen finden sich im Spätwerk Platons. Namentlich der Timaios ist aufschlußreich. Die Vorstellung, daß der Intellekt das wahre Selbst des Menschen sei, findet sich auch im Alcibiades maior, und zwar im Zusammenhang der Frage nach der Referenz des Ausdrucks "(wir) selbst" (130 a 10 sqq., bes. 133 b 5-7). Bei Plato ist wichtigstes Lehrstück und wichtigster Gegenstand philosophischer Erfahrung die Idee des Guten (510 b), die den Gegenständen der Erkenntnis Wahrheit und Erkennbarkeit verleiht (508 e - 509 b); die dem erkennenden Subjekt die Möglichkeit der Erkennntis dieser Gegenstände gewährt (508 e); die den Gegenständen der Erkenntnis Sein (tò eînai) und Seiendheit (ousía) verleiht (509 b); und die selbst nicht mit Seiendheit identisch ist, sondern an Würde und Bedeutung noch über Seiendheit hinausragt (509 b). Zum Begrifflichen kommt erkenne, so daß aus diesen Gott wie aus größerer Nähe erkannt werden könnte, wie bereits dargelegt wurde (III 45), doch muß in irgendeiner Gotteserkenntnis die letzte Glückseligkeit bestehen, wie vorhin erwiesen wurde (III 37)-: dann ist es unmöglich, daß in diesem Leben die äußerste Glückseligkeit des Menschen sei." 144 aber hier offensichtlich eine emotionale Erfahrung: In der Lichtmetaphorik des Sonnengleichnisses erscheint die Idee des Guten als das "Glänzendste" (518 b); es handelt sich um eine Sache von "unvorstellbarer Schönheit" (509 a). Weitere Hinweise auf den Bereich unvorstellbarer Schönheit gibt die mythische Beschreibung des locus intelligibilis im Phaidros: der "überhimmlische Ort" birgt "farblose, formlose und stofflose Wesenheit, die wirklich ist" (247 d); hier gibt es herrlich anzusehende Schönheit" (250 b 5-6), die aus "jenem" (i.e. den anderen Ideen) als wirkliche Schönheit hervorleuchtet" (250 c 8 - d 1). Entsprechend kennen die erotischen Mysterien, von denen Diotima im "Gastmahl" zu berichten weiß (210 e 4-5), "das Schöne selbst", das "lauter, rein und unvermischt anzusehen ist" (211 e 1) und als "göttliches Schönes" gilt (211 e 3). Die Freude, die mit der Betrachtung des Seienden verbunden ist, kann freilich nur der Philosoph kosten (582 c 7-9). Das philosophische Leben erfüllt sich im Umgang mit den reinen Urgestalten, den Ideen. Und so wie Platon diese Urgestalten als göttlich bezeichnete, so betrachtete er die Abwendung der Seele vom abbildhaften Bereich des Leiblichen und die Hinwendung zum Bereich der urbildhaften Ideen sogar als Versuch einer "Angleichung an Gott" (Theaet 176 b 1: homoíosis theô). Obschon dies für die spätere Tradition wichtige Motiv der Angleichung an Gott bei Platon unterschiedliche Ausprägungen findet140, scheint der religiöse Kern dieser Vorstellung an die Gewißheit gebunden, daß der Bereich der Ideen zugleich die Heimat der unsterblichen Seele ist und daß sich diese als "innerer Mensch" begriffene Seele im Jenseits für alle die in dieser Welt begangenen Handlungen verantworten muß. Freilich lassen sich die eigentlich religiösen Momente nur schwer dechiffrieren. Sooft in den platonischen Schriften auch von Gott, Göttern und Göttlichem die Rede ist, so wenig füllen sich die Worte mit konkretem Gehalt. Sicher kannte Plato keinen persönlichen Gott. Auch läßt die Ideenphilosophie einer wie immer gearteten Gottes-Vorstellung keinen eigentlichen Raum. Und so gewinnt man am Ende den Eindruck, daß es sich bei den platonischen Reden über Götter und Göttliches um eine der dichterischen Sprache angeglichene Ausdrucksweise handelt: Zwar rekurriert der Schriftsteller Plato auf wohlbekannte Vorstellungen; doch meint der Philosoph de facto anderes. Denn Gegenstand seiner Religiosität waren die unvergänglichen Ideen. 60 - 124: Kritik der epikureischen Theologie 140 cf. Tim.90 a; Phaedo 82 a; Respubl.500 c; 613 a; Phaedr.248 a. 145 Die Kritik der epikureischen Theologie in I 60-124, die über die kurze Darstellung durch Velleius hinausgeht, führt in ihren grundsätzlichen Aussagen bis auf Karneades zurück; Parallelen dazu aus Karneades bringt Sextus Empiricus Adv. math. IX, und Cicero selbst weist im Vorwort I 4 ausdrücklich auf Karneades hin. Offen bleibt, ob wir den Vermittler der Karneadischen Kritik in Kleitomachos (so Praechter I 473) oder in Ciceros Lehrer Philon (so Philippson) zu suchen haben. Als Quelle für den Schluß der Kritik (123-124) wird von Cicero selber Poseidonios (Perì theôn, Buch V) genannt, wobei ebenfalls offen bleibt, ob er das Zitat unmittelbar Poseidonios oder einem jüngeren Stoiker entnahm. 4.2.3 Darstellung der stoischen Theologie durch Balbus (Zweites Buch) 1-3 4-12 Einleitung und Disposition Die Existenz der Götter; Beweise aus der römischen Geschichte, den Auspizien und Haruspizien 13-38 Die Göttlichkeit des Kosmos 39-58 Die Göttlichkeit der Gestirne 59-72 Das Wesen der einzelnen Götter 73-153 Beweisführung für die Leitung des Kosmos durch die Götter 73-80 Erster Beweis: Die leitende Vorsehung der Götter 81-90 Zweiter Beweis: Alles ist von einem beseelten Anfang gezeugt 91-153 Dritter Beweis: Die wunderbare Einrichtung der himmlischen und irdischen Dinge 91-101 Die Erde 102-117 Der Himmel 118-119 Die Gestirne 120-133 Pflanzen und Tiere 134-146 Der menschliche Körper 147-153 Sinne und Vernunft 154-167 Die göttliche Fürsorge für den Menschen 154-161 Die Welt ist der Götter und Menschen wegen geschaffen 162-167 Die Götter sorgen für das Menschengeschlecht im ganzen wie im einzelnen 168 Schlußwort Nach Usener (Epic. LXVII f.) wurde von Cicero für das zweite Buch neben Poseidonios' Schrift Perì theôn ein Handbuch des Karneades benutzt. Der einheitliche Charakter der Darstellung gerade der stoischen Theologie legt jedoch die Annahme einer einzigen Vorlage nahe, bei der sich Wendland (Posidonius' Werk 146 Perì theon, Arch.f.Gesch.d.Philos. I <1888>, 200-210) für Poseidonios und Pohlenz (Gött.gel.Anz. 1922, 168) für Panaitios entschied. Philippson (RE VII A 1, 1154-55) vertritt ebenfalls die Entscheidung für eine einzige Vorlage, sobald der in II 115 neu eingeführte Begriff der stabilitas der von II 91 an für den Beweis der göttlichen Weltregierung charakteristischen admirabilitas untergeordnet (vgl. dazu II 121.124-125.139.141.146) und kein neuer Beweisgrund sein soll. Daß in II 85 und 118 die Entscheidung darüber, ob die stabilitas mundi wirklich sempiterna ist (Panaitios) oder nur perdiuturna sein kann (Altstoa und Poseidonios in Hinblick auf die ekpyrosis) offenbleibt, weist auf eine Kompromißbereitschaft des Verfassers hin, der bei einem Vergleich der ganzen Rede mit Paralleldarstellungen (Sextus, Diogenes Laertius, Aetios, Theon und Areios Didymos) ein stoisches Handbuch benutzt zu haben scheint. Die Abfassung der Quelle nach Panaitios und die Annahme, daß auch Gedankengut des Poseidonios verarbeitet wurde, legt nach Philippson die Annahme nahe, daß der Verfasser ein Zeitgenosse Ciceros war. Wir beschränken uns im Folgenden auf einige Aspekte: Existenz Gottes Die Systematik der stoischen Theorie wird von Balbus bereits im Vorgespräch (II 3) angegeben: "Im allgemeinen teilen die Vertreter unserer Lehre diese ganze Untersuchung über die unsterblichen Götter in vier Teile. Zuerst beweisen sie die Existenz der Götter, dann ihre Eigenschaften, drittens daß die Welt von ihnen geleitet wird, und schließlich, daß sie sich der menschlichen Angelegenheiten annehmen. In unserem Gespräch hier will ich aber nur die beiden ersten Punkte behandeln; der dritte und vierte dagegen sollte meiner Meinung nach auf einen anderen Zeitpunkt verschoben werden, weil sie zu umfangreich sind." (Primum docent esse deos, deinde quales sint, tum mundum ab his administrari, postremo consulere eos rebus humanis.) Nach den Beweisen aus der römischen Geschichte kommt in II 12f. die wichtige Aussage: "Daher steht bei allen Menschen auf der ganzen Welt die Hauptsache fest; allen ist ja angeboren und gleichsam in die Seele gemeißelt: es gibt Götter. Über ihr Wesen gehen die Meinungen auseinander; ihre Existenz wird von niemandem geleugnet. Unser Kleanthes behauptet nun, es seien vier Gründe, aus denen sich die Vorstellungen <von der Existenz> der Götter in der menschlichen Seele gebildet haben. Als ersten nennt er den, den ich eben dargestellt habe und den er aus der Vorahnung der kommenden Dinge erstanden wissen will; der zweite Grund liegt nach ihm in der Größe der Vorteile, die 147 aus der zweckmäßigen Beschaffenheit des Klimas, aus der Fruchtbarkeit der Erde und aus der Fülle mehrerer anderer Annehmlichkeiten gewonnen werden; als dritten Grund nennt er den Schrecken, der die Herzen durch Blitze, Unwetter, Wolkenbrüche, Schneestürme, Hagel, Verwüstungen, Seuchen, Erdbeben, häufiges unterirdisches Dröhnen, Steinregen und eine Art Blutregen erfüllt, aber auch durch Erdstürze und plötzliche Spaltungen der Erde, ferner durch widernatürliche Mißgeburten bei Mensch und Vieh, dazu durch Erscheinungen von brennenden Fackeln am Himmel, ebenso durch die Sterne, die die Griechen kometai und wir Haarsterne nennen, die vor kurzem im Feldzug des Octavius Vorboten eines großen Unglücks gewesen sind, ferner durch Zwillingssonnen, eine Erscheinung, die sich nach der Erzählung meines Vaters einmal unter dem Konsulat des Tuditanus und Aquilius gezeigt hatte, in dem Jahre also, in dem unsere andere Sonne, Publius Africanus, erlosch, Vorzeichen also, die die Menschen in Schrecken versetzten und somit ahnen ließen, daß eine bestimmte himmlische und göttliche Macht existiere; der vierte, und zwar der bei weitem wichtigste Grund aber soll in der immer gleichbleibenden Bewegung und Umdrehung des Himmels, der Sonne und des Mondes und in den gesonderten Bahnen, dem Nutzen, der Schönheit und der Ordnung aller Gestirne beruhen, in Erscheinungen, deren Anblick allein schon hineichend beweise, daß ihr Dasein nicht einem blinden Zufall zu verdanken sei; denn käme z.B. jemand in ein Haus, in ein Gymnasium oder auf ein Forum und sähe dort die allen Dingen zugrunde liegende planvolle Berechnung, Gesetzmäßigkeit und Ordnung, dann könnte er nicht sagen, dies geschehe ohne Ursache, sondern müßte erkennen, es sei irgendein leitendes Wesen da, dem man zu gehorchen habe; noch viel mehr muß er dann bei so großen Bewegungen und Veränderungen und bei den geordneten Bahnen so vieler und so riesiger Körper, die sich trotz ihres unermeßlichen und unendlichen Alters niemals irgendwie getäuscht haben, erst recht annehmen, daß derartige gewaltige Vorgänge innerhalb der Natur durch eine denkende Kraft gelenkt werden." Die vier Gründe des Kleanthes sind also: 1. Orakel erweisen ein wissendes Verfügen Gottes über die Zukunft. 2. Wir verdanken unsere Existenz Ursachen, die als Wirkung des Himmels erkennbar sind; z.B. Fruchtbarkeit des Bodens, günstiges Klima usw. 3. Überlegene Naturgewalten schrecken uns 4. Schönheit und Ordnung im Gleichmaß der Gestirnbahnen usw. Daran schließt sich der Beweisgang des Chrysippos (II 16f.) Die aus den vier Gründen des Kleanthes erwachsende prólepsis einer natürlichen Gotteserkenntnis läßt sich nicht in Reinheit 148 aufrechterhalten und bedarf der Klärung und Absicherung durch die Philosophie. Drei Beweise der Existenz Gottes, die zurückgeführt werden, haben sich erhalten: auf Chrysipp 1. Cicero De natura deorum 3, 10, 25 und 2, 6, 16 (= II 1011f.) 2. Sextus Empiricus adv.math. 9, 77 (= II 1020) 3. Themistius paraphr. in Aristot. analyt. post.: Comm. in Aristot. Gr. 5, 1, 49, 21/6 (= II 1019). Der erste Syllogismus lautet: * Wenn es etwas gibt, was der Mensch nicht hervorbringen kann, so ist derjenige, der es zu bewirken vermag, besser als der Mensch. * Wer anders aber als Gott könnte dem Menschen überlegen sein? * Nun gibt es aber etwas, das Menschen nicht hervorzubringen vermögen. * Also existiert die Gottheit. Der zweite Beweis ist der kosmologische Gottesbeweis: * Aus der Schönheit der Welt und der Himmelserscheinungen sind wir gezwungen zu schließen, daß die Welt als Heimat der Götter errichtet wurde. Der dritte Beweis ist empirisch: * Da es eine Verehrung der Götter im Kult gibt, gibt es auch eine Gottheit. Wir wollen die Stringenz bzw. Nichtstringenz dieser Beweise hier nicht analysieren, sondern nur die Tatsache würdigen, daß rationale Gotteserkenntnis von den Stoikern zum Thema gemacht worden ist. Und wir wollen überlegen, welche Wege zur Gotteserkenntnis grundsätzlich in Erwägung gezogen worden sind. Gotteserkenntnis - Sein (Wesen) Gottes Die theologische Reflexion der späteren Antike, insbesondere die Reflexion, die vom Platonismus ausging, machte sich das stoische Axiom zu eigen, der Mensch sei vermöge des ihm innewohnenden Logos der Gottheit verwandt. Nun aber wurde mit Logos nicht mehr der Wesenskern der immanenten Gottheit bezeichnet, sondern nun wird Logos als die Funktion verstanden, kraft welcher die die Welt transzendierende Gottheit wirkt. Diese Neuwendung wird bereits in dem einzigen wörtlichen Zitat aus den Schriften des Thrasyllos, des Hofastronomen und Beraters am Hofe des Kaisers Tiberius, 149 Von nun an ist Logos die entscheidende Funktion, durch welche die die Welt transzendierende Gottheit alles Erschaffene lenkt. Unbestritten blieb das Axiom, daß die Gottheit durch eine an den Logos gebundene Erkenntnis, nämlich logismô kaì dianoía, begriffen werden müsse. Damit wurde das Postulat aufgestellt, die Erkenntnis Gottes als der eigentlichen Substanz (ousía) müsse mit den Methoden der philosophischen Begriffsbildung erfolgen. Hierzu wurden drei Wege angeboten, die zum Ziel der Gotteserkenntnis führen: ausgesprochen141. (1) Die via analogiae. Man stellt eine Analogie her, welche das Göttliche in Vergleich rückt zu allem, was in dieser Welt hervorragt, z.B. zum König, zur Sonne. In diesem Zusammenhang ist Platons Sonnengleichnis (resp. 6, 509 b) wieder und wieder herangezogen worden. Dieser Weg war philosophischer Propädeutik vorbehalten; darum bedient sich Kelsos dieser Beweisführung (vgl. Orig. c.Cels. 7, 42). Diese Methode führt nicht zur Begrifflichkeit; sie arbeitet mit Vergleichen. (2) Die via eminentiae. Nach dieser Methode wird gelehrt, daß die Gottheit als die eigentliche Substanz alle übrigen Werte übertrifft. Als locus classicus wurde die Rede der Diotima (Plat. conv. 210 a/d) angeführt: Unter Diotimas Anleitung vollzieht Sokrates den Aufstieg in der Welt der Werte, bis er zur Anschauung des Schönen an sich gelangt. Dieses Lehrstück hat Augustinus conf. 4,20 nachvollzogen. Einen besonders wichtigen Beitrag verdankt die Theologie des späteren Platonismus den Überlegungen, die Aristoteles (metaph. 11, 9, 1074 b 15 / 1075 a 10) über dasjenige Wesen anstellt, das im höchsten Sinne Noûs ist; damit nahm Aristoteles eine Beweisführung wieder auf, die er bereits in Perì philosophías frg. 16 Ross (= frg. 16 Rose) vorgetragen hatte. Diese Argumentation, von Philon und von Albinos mit wörtlichen Anklängen wiederholt, ist so recht zum beispielhaften Lehrstück für die Anwendung dieser Methode geworden. (3) Die via negationis ging aus von dem Axiom, daß über die Gottheit keine positive oder konkrete Aussage gemacht werden kann. Insofern stellt die via negationis eine Art Fortsetzung der via eminentiae dar: Wer auf der Grundlage des ersteren Nachweises einen Einblick in die Transzendenz des Göttlichen gewinnt, stößt endlich zu der Erkennntis durch, daß keine Aussage, aber auch keine Erkenntnis bis an die Gottheit heranreicht. Denn diese transzendiert sogar die Aussage "sie ist". Als Stütze für den Satz, daß die Gottheit jenseits des Seins und jenseits des Denkens ihren 'Ort' habe, wurde Platons Porph. in Ptol. Math. harm.: 12, 21/8 Düring; H.Dörrie: Festschr. P. Trouillard. Vgl. Philo Alexandrinus: Gleichsetzung des stoischen lógos mit dem schöpferischen Wort (dabar) Gottes in der Bibel. 141 150 Parmenides und vor allem das Sonnengleichnis (resp. 6, 509 a/c) herangezogen. Einen letzten Schritt tat Plotin: ihm war es gegeben, den jenseitigen, höchsten Gott in der unio mystica zu erfahren142; auch diese Erfahrung entzog sich der rationalen Mitteilbarkeit. Gerade weil sie unlösbar war, ist die Frage nach dem Wesen Gottes (tì tò theîon) als ungemein brennend empfunden worden. Denn Erkenntnis bewirkt Kommunikation, Kommunikation bewirkt Teilhabe. In diesem Punkt war die Stoa 'seelsorgerlich' allen übrigen Schulen überlegen; denn nach stoischer Lehre hat ein jeder an dem Logos als einer göttlichen Kraft teil. Aber die Stoa konnte nichts über die éschata, über ein individuelles Weiterleben nach dem Tode, verheißen. Der heiße Wunsch, die Gottheit, sei es erkennend, sei es im Mysterium, zu erfahren, hat das Bedürfnis nach sotería, nach Erhaltung der Existenz über den Tod hinaus zur Voraussetzung. Es bestand also ein geradezu dringendes Bedürfnis, es möge auf die Frage: tì tò theîon; – Was ist das Göttliche? - eine Antwort gegeben werden. Alle Bemühungen um die Erkenntnis Gottes wurden als heilbringend gewertet. Denn jede Erkenntnis setzt eine Gleichartigkeit des Erkennenden mit dem Erkannten voraus, stellt also die heilbringende Teilhabe her. Es war daher viel zu wenig (denn es entsprach dem lebhaft empfundenen Bedürfnis nicht), wenn kaiserzeitliche Philosophie eine schrittweise Annäherung an Gott soweit möglich (homoíosis theô katà tò dynatón: Plat.Theaet. 176 b) verhieß. Es muß tiefe Enttäuschung bewirkt haben, daß die Philosophen außerstande waren, einen Gottesbegriff auf rationaler Grundlage und mit nachvollziehbaren Argumentationen beizusteuern. Denn wem es etwa gelungen wäre, den Seienden zu erkennen, der wäre kraft der damit gewonnenen Teilhabe selbst zum Sein gelangt und somit der Vergänglichkeit entrückt worden. Keine Philosophie konnte diese Chance nutzen. Damit ist einer der Gründe (vielleicht der stärkste Grund) bezeichnet, welcher der sog. Gnosis zu nachhaltiger Wirkung verhalf. Denn hier wurde ja eben das versprochen, was keine Philosophie zu leisten vermochte, nämlich gnôsis theoû – Erkenntnis Gottes - in dem doppelten Sinne: a) als Erkenntnis Gottes (wobei Gott der Gegenstand der Erkenntnis ist), b) als das von Gott Erkannt-sein (wobei Gott Subjekt des Erkennens ist). Denn der, den Gott kennt, kann nicht zugrunde gehen. Bezeichnenderweise bedient sich die Gnosis in dem verhältnismäßig späten Stadium, aus dem schriftliche Zeugnisse 142 Vgl. Porphyr. vit. Plot. 23, 7 ff. und R.Harder im Komm. zSt. 151 vorliegen, einer der philosophischen Fachsprache angenäherten Terminologie; sie ist aus einer Gott-Suche hervorgegangen, durch die man eben das aufzufinden unternahm, was die Philosophen zu verweigern schienen.143 'Gottesbeweis', Gewißheit, Glauben: Der Gottesbeweis, d.h. der Versuch, sich der Existenz Gottes durch einen Beweis zu versichern, ist für die Griechen in seiner Denkbarkeit an mehrere Vorbedingungen geknüpft: (1) Das Wissen muß selbst zuvor in seinen ermöglichenden Bedingungen erkannt sein. (2) Das Dasein Gottes muß in einer Weise fraglich geworden sein, daß das Bedürfnis nach dem erkenntnissichernden Beweisverfahren übermächtig wird und die natürliche Scheu vor dem 'arcanum' der Gottheit dahinter zurücktritt. Beide Bedingungen sind in Griechenland erst im 5./4.Jh. v.Chr. erfüllt. Die durch die Aufklärung, insonderheit durch die Sophistik, ferner durch die großen Katastrophen des 5./4.Jh. heraufgeführten politischen und gesellschaftlichen Umwälzungen erschütterten auch den altüberkommenen Götterglauben der Hellenen und ermöglichten damit erstmals die Frage nach der Existenz des Gottes sowie die Suche nach ihrem Beweis. Spätestens nach den Analytiken des Aristoteles liegt dem antiken Denken ein Begriff von Wissen und Wissenschaftlichkeit vor, der den Gottesbeweis möglich, ja sogar notwendig werden ließ. Der Gedanke eines Beweises, der Stringenz des Logos im 'theologeîn' hängt eng zusammen mit dessen psychischem Korrelat, der Zustimmung. Zustimmung ist ein Konstitutivum von Glauben. Darüber hat im 19. Jahrhundert John Henry Newman (On a Grammar of Assent) Wichtiges geschrieben. Es ist aber nicht so, wie das oft und oft dargestellt worden ist, daß die Griechen sich in ihrer Philosophie um Erkenntnis und Wissen bemüht hätten und daß dazu dann von außen der biblische Begriff des Glaubens getreten sei; und seither - seit dieser Verbindung zweier Denktraditionen durch die Kirchenväter - hätten wir den typischen abendländischen Gegensatz von Wissen und Glauben. Das stimmt so nicht. Ein Indiz dafür ist die Tatsache, daß die Stoiker von ihrem Weisheitsideal, dem sophós, behaupteten, er sei "gläubig". Das (u.a.) hat die Stoiker den Juden und Literatur: E.R.Dodds, The Greeks and the Irrational (Berkeley 1951); H.Dörrie, Die Frage nach dem Transzendenten im Mittelplatonismus: Entr.Fond.Hardt 5 (1957) 193/223; H.Merki, Homoíosis theo. Von der platonischen Angleichung an Gott zur Gottähnlichkeit bei Gregor von Nyssa = Paradosis 7 (Freiburg/Schw. 1952). Zum Motiv des Erkanntseins von Gott: vgl. Paulus 1 Kor 13,12: „Jetzt erkenne ich unvollkommen, dann aber werde ich durch und durch erkennen, so wie ich auch durch und durch erkannt worden bin.“ 143 152 Christen besonders sympathisch gemacht. Nun könnte man einwenden, die Stoiker seien eben schon semitisch beeinflußt, und bedeutende Stoa-Forscher wie Max Pohlenz haben das auch hervorgehoben, (besonders zu einer Zeit, als rassistisches Denken politisch favorisiert war). Es empfiehlt sich aber, den Terminus "glauben" im griechischen Denken zurückzuverfolgen. a) Vorsokratik Da ist zunächst zu verweisen auf frühes naturwissenschaftliches Forschen. Es bereitete nämlich nicht nur das Glauben an den Mythos den frühen griechischen Denkern Schwierigkeiten, sondern die selbe Schwierigkeit betraf auch naturphilosophische Lehren. (Sie wurden übrigens anfangs wie der Mythos in feierlicher, dichterischer Form vorgetragen.) Unter den neuen naturwissenschaftlichen Gedanken nahm der Atomgedanke und damit die Annahme des Leeren als eines inneren Aufbaumoments der Körperwelt eine besonders hervorragende Stelle ein, da er einen radikalen Bruch mit der 'natürlichen' Anschauung bedeutete. 'Hinter' der Welt der 'natürlichen' Erfahrung tut sich eine zweite, wahre Welt der Atome auf. Die Sinneswahrnehmung – aísthesis - steht gleichsam an der Grenze zwischen diesen beiden Welten. Die Grundannahme der alleinigen Wirklichkeit der Atome und ihrer Bewegung durch das Leere läßt den Gehalt der sinnlichen Wahrnehmung nur als Schein gelten. Aber dieser Schein ist zugleich das Wahre, wie es sich zeigt. (Vgl. den Satz in Goethes 'Natürliche Tochter': "Das Wesen, wär' es, wenn es nicht erschiene?") So dürfte es zu verstehen sein, daß Demokrit seine kritische Einschränkung der Wahrheit der Sinneswahrnehmung durch die "Antikritik" der Sinne an dem Tun des Verstandes ergänzt.144 Die písteis, von denen Demokrit redet, sind offenbar einerseits Gewißheiten von äußeren Sachverhalten, anderseits ein Vertrauensverhältnis zwischen Sinneswahrnehmung und Denken. Die Gewißheiten von Sachverhalten sind in der Weise problematisch, daß das Vertrauensverhältnis zwischen Denken und Sinneswahrnehmung zum Problem geworden ist. Einer erwogenen Verwerfung der aisthéseis folgt bei Demokrit die Besinnung auf deren fundierenden Charakter. Es wäre sozusagen nicht nur ein Abbrechen von Brücken, sondern ein Wegziehen des Bodens, auf dem die Theorie fußt. Niemand konnte das besser wissen als eben derjenige, der darauf gebaut hatte. In diesem Sinn lobt Demokrit den Anaxagoras für dessen Satz: ópsis adélon tà phainómena. - "Schau des Unanschaulichen sind die Erscheinungen".145 Die wahre Welt ist zwar eine Welt der ádela, eine Welt dessen, was nicht unmittelbar am Tag liegt, aber, so sagt nun 144 145 Demokrit B 125 (II 168, 8) D 8. Sextus Empiricus VII 140; 59 B 21 a D 8. 153 Anaxagoras, das Erscheinende ist nicht nur irgend ein Aspekt des Verborgenen, der Schein ist vielmehr das Wahre, wie es sich zeigt. Es muß daher auch ein Verfahren geben, sich vom Erscheinenden her einen Weg zu bahnen zu der zugrunde liegenden Welt. Die pístis naturwissenschaftlicher Erkenntnis ist gebunden an die aísthesis. Die Zustimmung zu ihr wird im Satz des Anaxagoras postuliert, eben weil sie problematisch ist. Der philosophische Gemeinplatz des pisteúein toîs phainoménois – den Phänomenen vertrauen - hat hier seine Wurzel, wo mittels des Terminus pístis die Zwiespältigkeit der Phänomene in ihrer Fragwürdigkeit und Fragwürdigkeit thematisiert worden ist. b) Sophistik Es ist noch auf eine andere Denktradition der Griechen zu verweisen: neben der naturphilosophischen auf die sophistische. Gegen diejenigen Philosophen, die wie Heraklit, Parmenides usw. - etwas vereinfacht gesagt - behaupteten, die Ansichten der 'Menschen', d.h. der Menschen im allgemeinen seien sämtlich falsch und die Wahrheit sei von ihnen völlig verschieden, wendet sich der Sophist Protagoras. Seine Verteidigung der 'natürlichen' Ansichten des 'einfachen' oder 'gemeinen' Mannes gegen die Ansprüche der Philosophen und Wissenschaftler scheint nicht nur für Protagoras charakteristisch gewesen zu sein, sondern für die Sophisten des 5.Jh. übrhaupt. Diese Haltung darf wohl nicht als reaktionär, sondern als begründet in dem neu entdeckten Problem der Sophisten ausgelegt werden, das sich hier als eng verschlungen mit der naturwissenschaftlichen Problemstellung erweist: das Problem des Eigenlebens des Logos, der Macht der Rede. Gorgias hat es vielleicht am eindrucksvollsten gesagt: Der Logos ist ein dynástes mégas, ein großer Herrscher. Er vermag die Seele zu übermächtigen, durch peíthein (überreden), ja apatân (täuschen), und dies, obwohl er doch weder durch Größe (smikrotáto sómati) noch durch sonstige Erscheinungsqualitäten (aphanestáto) die Sinnesorgane beeinflussen kann. Und doch vollbringt er wahrhaft göttliche Werke. Wie macht er das? Er hat, bzw. ist selbst eine zweite Erfahrungsquelle, nämlich durch die Affekte (phóbon ... lýpen ... charán ... éleon). Der Weg vom logos zur doxa führt also nicht über die Sinne, sondern ist physiologisch verankert: wie Heilmittel und Gifte sympathetisch auf den Körper wirken, so 'vergiften' die lógoi die Seele und bewirken die Affekte. Der allmählich aus dem Polis-Leben heraus sich differenzierende Stand der sophistischen Redner (heute würde man sagen: Bildungsfunktionäre in freier Trägerschaft) 154 relativierte durch seine eigene Erfahrung von dem Eigenleben der logoi die allein am Vorstellungsschema orientierten zeitgenössischen naturphilosophischen Lehren. Die logoi, so weiß Isokrates (3, 5-9; vgl. 15, 253-257) sind das, wodurch sich der Mensch vom Tier unterscheidet. Sie sind die Ursache der meisten Güter, denn ohne die Kunst der Überredung hätten die Menschen sich nicht zusammentun und Städte gründen können, sie hätten keine Gesetze geben und téchnai erfinden können. Der logos ist Voraussetzung zur Unterscheidung von Gut und Schlecht, zur Erziehung der Unvernünftigen und zum Erkennen der Vernünftigen. Mit dem lógos streiten wir über das Zweifelhafte und suchen Klarheit über Unklares, denn wir gebrauchen, wenn wir in einer Rede andere überzeugen, dieselben Argumente (písteis), die uns zu Gebote stehen, wenn wir mit uns selbst zu Rate gehen. Kurz, der lógos ist Führer in allem Denken und Tun, und nichts Vernünftiges geschieht ohne ihn (Isokr. 4, 47-50). Das Wesen des lógos ist pístis, zugleich das 'Argument', der Beweis (in untechnischem Sinn), und dessen Effekt, die vertrauensvolle Zustimmung, die 'Gewißheit', beide vermittelt durch peíthein; darauf beruht seine geschilderte Kraft. Die Vertrautheit mit der Rednersituation, Menschen überzeugen zu müssen, hat mithin den Geist als 'innere Geselligkeit' verstehen gelehrt, eine dem lógos eigene Differenziertheit. Die Frage nach der Wahrheit in diesem inneren Verhältnis des lógos ist allerdings hier bei Isokrates vorgängig, unter Hinweis auf die Erfordernisse der Praxis, abgebogen auf die Empirie.146 Das griechische Denken hatte, wie ich zu zeigen versuchte, bereits tiefe Blicke in beide Labyrinthe der Philosophie getan (um mit Erich Heintel bzw. Leibniz zu reden): in das Labyrinth des Kontinuums und in das der Freiheit.147 c) Plato Eine wichtige dritte Denktradition der Griechen bezüglich "Glauben", und die, die das christliche Denken entscheidend Isocr. 15 296: empeiría, héper málista poiei dynasthai légein... "Es gibt zwei Labyrinthe für den menschlichen Geist: das eine betrifft die Zusammensetzung des Kontinuums, das andere das wesen der Freiheit. das eine wie das andere aber entspringt aus derselben Quelle, nämlich aus dem Begriff des Unendlichen... <Denn> man muß vor allem wissen, daß alle Geschöpfe einen Stempel der göttlichen Unendlichkeit in sich tragen, und daß dies der Ursprung der vielen wundersamen Dinge ist, die den menschlichen Geist in Staunen setzen. (Leibniz, Über die Freiheit, II 499 und Theodizee, Vorrede IV 7). Vgl. E.Heintel, Die beiden Labyrinthe der Philosophie, Bd.1, Wien 1968. 146 147 155 mitgeprägt hat, geht auf Plato zurück. Plato fingiert in seinem Dialog Gorgias ein Streitgespräch zwischen dem Sophisten Gorgias und Sokrates. Darin werden auf Vorschlag des Sokrates zwei Arten der Überredung angesetzt, die eine, welche Glauben hervorbringt ohne Wissen, die andere aber, welche Erkenntnis hervorbringt. (Plat. Gorg. 454 e 1 ff.). Gorgias muß zugeben, daß die peithó, welche die Rhetorik bewirkt, nur Glauben ohne Wissen impliziert. Wenn pístis der máthesis oder der epistéme (Erkennntis) als Kontrast gegenübergestellt wird, so kann das nur im Hinblick auf ihre Zwiespältigkeit geschehen. Sie ist dann eine Art dóxa (Meinung), wie sie ja auch im Liniengleichnis der Politeia eine Unterabteilung der dóxa bildet. Tut Sokrates dem Gorgias Unrecht, indem er listig zweierlei Gewißheiten einführt, von denen die eine, die der epistéme, undiskutiert bleibt, während an der anderen allein ihr negativer Aspekt betrachtet werden soll? Insofern Gorgias die Unterscheidung von zwei Weisen der Gewißheit offenbar neu ist, ja. Denn Gorgias hatte dadurch eine ganz andere Problematik im Auge. Ihm ging es nicht um eine Analyse der Gewißheit als solcher, sondern um die empirisch erfaßten Möglichkeiten, sie hervorzurufen. Daher kann das Berechtigte an seiner Methode in der von Sokrates aufoktroyierten Differenzierung nicht zur Geltung kommen. Denn von diesem Stand des Problembewußtseins bei Sokrates gibt es kein Zurück zur Auffassung einer einheitlichen 'Überzeugung', er kann nur durch weitere Differenzierung überboten werden. Gorgias hätte fragen können, inwiefern es denn sinnvoll sei, von peithó zu reden, welche einer angenommenen episteme zukomme, wenn diese ohnehin nur wahr sein könne. Er hätte auch fragen können, ob pístis, die ja nicht nur falsch, sondern auch wahr sein könne, in letzterem Fall nicht der episteme gleichzusetzen sei. Fragen also, die Plato in späteren Dialogen noch beschäftigen sollten. Die enge Beziehung und doch Differenz zwischen Erkenntnis und richtiger Ansicht ist eine platonische Konstante.148 Plato hat also eine nicht näher erläuterte 'Gewißheit', 'Überzeugtheit', also eine glaubensartige Haltung, in seinem Begriff der epistéme enthalten sein lassen. John Gould149 charakterisiert die epistéme als "an inward and decisively personal conviction (analogous perhaps, though we must beware of being misled by the connotations of the word, to the Christian 'faith')." Diesem Erkenntnisbegriff setzt Plato einen Glaubensbegriff entgegen, dem er zwar dieselbe peithó zuschreibt, aber eben nur diese, kein eidénai. pístis und epistéme haben also etwas Meno 97 c 4 ff., Symp. 202 a 5 ff., Politic. 309 c 5 ff., Phileb. 11 b 8, Tim. 37 b-c, Theaet. 201 c-d, Sophist. 233 c 10 f. 149 John Gould, The Development in Plato's Ethics, Cambridge 1955, S.24 148 156 gemeinsam, die peithó, sie sind hinsichtlich ihrer peithó identisch, hinsichtlich der alétheia aber verschieden. Diese Identität in Differenz veranschaulicht er in den Verhältnisbestimmungen des Liniengleichnisses. Dort gibt er der pístis auch ihre Funktion in einem Prozeß des Aufstiegs zur Erkenntnis. Und das ist letztlich die Voraussetzung dafür, daß in der Stoa die pístis als notwendig zur Weisheit gehörig betrachtet wird. Die platonische Kunst der Unterscheidung, die Dialektik, hat bereits die Griechen zu sehen gelehrt, daß beides - Wissen und Glauben - in sich problematisch ist, daß sie zusammen gehören und nur im Zusammenhang eines Prozesses, eines Denkweges verständlich sind. (Den Gedanken des Denkweges, der méthodos hatte schon Parmenides entfaltet.) Eine Konsequenz daraus zog Aristoteles mit seinem Organon, der großartigen Entfaltung der Wissenschaften vom Logos (Analytiken, Topik, Rhetorik, Hermeneutik) - er sagte sich: man kann etwas unwillkürlich tun, aber auch hodô, methodisch; alles, was man unwillkürlich tut, kann man im Prinzip auch methodisch, wissenschaftlich betreiben. Die Stoiker waren in vielem nur die Fortsetzer dieser wissenschaftlichen Grundhaltung. es ist ihnen z.B. gelungen, die aristotelische Logik entscheidend weiterzuentwickeln.150 Eine andere Konsequenz zogen die Skeptiker: Sie sagten sich, wir müssen zwar im großen und ganzen so leben wie alle anderen, die glauben, definitiv zu wissen, aber wir tun es mit dem ständigen Vorbehalt, daß wir eines besseren belehrt werden könnten. Und eine andere Konsequenz - oder besser: die Konsequenz aus all dem zogen die Kirchenväter, die das erkenntnistheoretische Problem der griechischen Philosophie erstens als ein theologisches adaptierten (und darin waren ihnen Leute wie Cicero vorangegangen), und die das erreichte Problembewußtsein überboten, indem sie es in den Horizont der Eschatologie stellten. D.h. die epoché des Skeptikers ist unentbehrlich angesichts der Hoffnung des "Kein Auge hat es je gesehen und kein Ohr hat es gehört, was Gott denen bereitet hat, die ihn lieben". Die Dialektik ist unentbehrlich angesichts der Notwendigkeit, aus geschichtlicher Erkenntnis Folgerungen, die zugleich Prämissen des weiteren Glaubens sein können, zu ziehen. Auswirkungen philosophischer Theologie auf das Christentum Es hat einige Zeit gedauert, bis das Christentum, das sich in Literatur zur stoischen Logik: B.Mates, Stoic Logic, Berkeley 1953. J.Mau, Stoische Logik. Ihre Stellung gegenüber der Aristotelischen Syllogistik u. dem modernen Aussagenkalkül. In: Hermes 85 (1957) 147-58. M.Frede, Die stoische Logik. Gött.1974 150 157 den ersten Jahrhunderten vor allem in den Kreisen verbreitet hatte, deren religiöse Bedürfnisse bisher von den griechischen Mysterien und den gnostischen Mythologemen der verschiedenen östlichen Religionsströmungen befriedigt worden war, vom dritten Jahrhundert an mit einigen führenden Vertretern und bevorzugten Bildungskreisen, vom vierten Jahrhundert an mit den großen Massen der neu gewonnenen Anhängerschaft in die sozialen Schichten emporgedrungen ist, deren Weltbild bisher die - in vieler Hinsicht zur Religion gewordene - griechische Philosophie der Spätzeit bestimmt hatte. Damit wird die Auseinandersetzung zwischen den Grundgedanken der christlichen Religion und den wesentlichen Elementen der griechischen Philosophie zum wichtigsten Problem der Geistesgeschichte der folgenden Jahrhunderte sowohl vom Standpunkt der theologischen Entfaltung und philosophischen Formulierung der christlichen Lehre, als auch von dem des Fortlebens der griechischen Philosophie. Denn einerseits ist dem nunmehr im christlichen Geistesleben erwachten philosophischen Bedürfnis gegenüber eine solche philosophische Ausprägung des christlichen Grundgehalts notwendig geworden, andererseits kann in der nunmehr christlich gewordenen Welt die griechische Philosophie nur in der Synthese mit dem Christlichen fortleben. Das Grundmysterium des Christentums ist die Menschwerdung Gottes, und davon ausgehend, die Menschwerdung des Göttlichen in der Heiligung des Menschen, und die Vergöttlichung des Menschen in der Vereinigung des Menschen mit Gott in der Erlösung. Das philosophische Problem, das damit verbunden ist: Wie kann das so gefaßt werden, daß dadurch der Geschöpflichkeitscharakter des Menschen nicht bedroht wird, und das Eigendasein des Geschöpfes nicht als etwas Aufzuhebendes und zu Überwindendes erscheint, sondern vielmehr als etwas, das auch in der Verbindung mit dem Göttlichen, ja gerade durch sie seinen eigenen Sinn und Wert hat - die Erweiterung der Lehre von der Menschwerdung zu einer die ganze Schöpfung umfassenden Mystik der Gott-Welt-Vereinigung, in der die Schöpfungslehre erst ihren eigenen Sinn erhält? Die beiden gegensätzlichen antiken Denkschemen, wonach das Materielle entweder die letzte, äußerste Seinswelle der aus dem Göttlichen und Geistigen in stufenweisem Absteigen emanierenden Seinsflut ist, oder als das prinzipiell Andere, als "Nichtseiendes" (me on) dem "Seienden", dem Göttlichen und Geistigen gegenüber steht die aber beide darin übereinstimmen, daß in der Vervollkommnung des GeistigMenschlichen und seiner Erhebung zum Göttlichen das Materielle gemieden, verflüchtigt, beseitigt oder ins Geistige verwandelt werden muß, - werden zugunsten einer wesenhaft christlichen Auffassung des Verhältnisses zwischen Schöpfer und Geschöpf überwunden, nach dem Prinzip: "Kein Geschöpf Gottes ist 158 verwerflich". Aber - ist es die mitreißende Konsequenz des origenistischen Spiritualismus, die sich trotz allem geltend macht, ist es die antidualistische Scheu, dem Materiellen eine zu große Bedeutung, eine zu selbständige Rolle neben dem Göttlichen und Geistigen einzuräumen, wenn man es als etwas betrachtet, das neben Gott in alle Ewigkeit bestehen bleibt? - jedenfalls kann man immer wieder ein Abgehen von der Generallinie feststellen, von der Auffassung vom Menschlichen als dem Bindeglied zwischen geistiger und leiblicher Welt, aus der Überzeugung von der Sinnhaftigkeit und Endgültigkeit dieser Verbindung und aus der Vorstellung des Durchwirktwerdens der ganzen Schöpfung, bis hinunter zum Materiellen, durch die vergöttlichende Kraft der Menschwerdung, die zugleich eine Mitteilung des Göttlichen an das Sichtbare ist, zurück in eine Erklärung des Ursprungs und Sinnes der leiblichen Natur des Menschen, die zwar nicht die Materialität als Folge der Sünde oder als ihren Anlaß betrachtet (d.h.: die Versetzung in die materielle Welt als Strafe für die Zuwendung der Seele zur Materie, wie es Origenes erklärt), die aber trotzdem insofern einen Zusammenhang zwischen Sünde und Materialität annimmt, als nach dieser Erklärung die Materialität, die "Umkleidung des Seelisch-Geistigen mit dem Gewande des SichtbarLeiblichen" im Hinblick auf die von Gott vorausgesehene Versündigung geschehen ist und zu dem Zweck, im Menschen durch die "Erfahrung" (peira) der Gottferne und den mit dem leiblichen Leben verbundenen Schmerz, die Sehnsucht nach der Rückkehr zu Gott erwecken und ihn zur Umkehr bewegen zu können.151 Das traditionelle Bild für diese Umkleidung - das aus der Genesis (3,21) bekannte "Fellkleid" (dermatinos chiton), mit dem Gott Adam und Eva nach dem Sündenfall bekleidete, - legt aber die Vorstellung nahe, daß diese "Überkleidung" erst nach dem Sündenfall geschehen ist, und es liegt in der inneren Konsequenz dieses Gedankengangs, daß bei der Rückkehr zum ursprünglichen Zustand der Seele diese Überkleidung wieder verschwindet, was auch gelegentlich gesagt wird. Die notwendige Folge aus dieser Haltung der leiblichmateriellen Seite des Menschen gegenüber ist die Tatsache, daß auch in der Lehre von der Menschwerdung neben der irenäischen Gregor von Nyssa, M.P.G. 44, 205 A; 44, 181 C; 44, 189 C; 44, 255 B; 45, 33 D - 37 C; 46, 57 C; 46, 372 C; 46, 512 A; 46, 521 C - 524 B. Die zuletzt angeführte Stelle lautet: "Wenn wir wären, wie wir ursprünglich geschaffen wurden, hätten wir das fellene Gewand nicht nötig gehabt... Nachdem aber... der Mensch freiwillig den Trieb zum Tierischen und Unvernünftigen genommen hatte, so fand die Weisheit Gottes, damit sowohl die Freiheit der Natur bleibe, als auch das Böse verschwinde, den Ausweg, den Menschen darin zu belassen, wohin er sich gewünscht hatte, damit er, die Übel kostend, die er angestrebt hatte, und durch Erfahrung lernend, was er statt wessen eingetauscht hatte, mit seinem Streben freiwillig wiederum den Lauf zur früheren Seligkeit nehme." 151 159 Linie, die darin eine Versöhnung und Verbindung des Göttlichen mit dem Materiellen sieht, eine andere Auffassung nebenher geht, die von einer Verwandlung des Menschlichen zum Göttlichen in Christus redet, von einem Aufgehen des endlichen Menschlichen im unendlichen Göttlichen, wie ein Tropfen Essig in der Wassermenge des Meeres aufgehen würde.152 Überwunden wird - v.a. dank der denkerischen Leistung der Kappadokier - das neuplatonisch-arianische Konstruieren der Welt aus Gott, die origenistisch-neuplatonische Präexistenzlehre, der origenistische Kyklos, und vor allem die platonische Lehre von der ursprünglichen und wesenhaften Göttlichkeit der Seele; der eigentliche und tiefste Grundgedanke des Platonismus dagegen - die Kontinuität zwischen dem natürlichen, wesenhaften Sein der Seele und ihrer übernatürlichen Bestimmung, die seinsmäßige Hinordnung der Seele auf ihr übernatürliches Ziel - ist durch die Kappadokier in das christliche Denken herübergenommen und eingebaut worden, und zu einem Grundmotiv des Denkens der Ostkirche geworden. Aber die Kehrseite des platonisch-neuplatonischen Gedankens von der Emanation der Schöpfung aus Gott, wonach das geschöpfliche Dasein als ein depotenziertes und "gefallenes" Göttliches betrachtet werden muß, ist noch nicht überwunden: die Auffassung nämlich, daß die Vollendung des Geschöpflichen in dem völligen Aufhören seiner eigenen geschöpflichen Seinsweise und im Wiederaufgehen im Göttlichen, in einem Verwandeltwerden in das Göttliche zu suchen sei. Der eigentliche, ursprüngliche Sinn des Gedankens vom Wiederaufgehen im Göttlichen und vom seinsmäßigen Einswerden ist ja darin zu suchen, daß er die Umkehrung und Wiederaufhebung des Hervorgehens aus Gott und der seinsmäßigen Absonderung von ihm - also des "Falls" der geistigen Wesen aus der Ureinheit in Gott bedeutet. Und von diesem Motiv haben sich auch die Kappadokier nicht ganz frei machen können. Nicht als ob sie nicht ernstlich bestrebt wären, das (irenäischmethodianische) Motiv der Verknüpfung und Versöhnung des Materiell-Geschöpflichen mit dem Geistig-Göttlichen in der Lehre von der Menschwerdung und der Erlösung dem origenistischen Spiritualismus gegenüber zur Geltung zu bringen; aber es besteht doch immer eine gewisse Tendenz, an die Stelle der Verklärung der Schöpfung durch Gott und in Gott "Wenn jemand einen Tropfen Essig ins Meer schüttet, wird auch der Tropfen zu Meerwasser, in die Beschaffenheit des Meerwassers verwandelt", 45, 1221 D. "Wenn das Fleisch in das Meer der Unsterblichkeit verwandelt wird...", 45, 1224 A. "Die menschliche Natur in Christus, vom Körperlichen und Geformten zum Unkörperlichen verwandelt", 45, 1253 B/C "wird das, was die Gottheit ist", 45, 1276 C. "Die ganze Menschheit hat Er mit seinem eigenen Lichte durchdrungen, durch die Verbindung mit ihm selbst sie zu dem machend, was er selbst ist", 46, 1021 D. 152 160 eine Absorbierung des Geschöpflichen durch das Göttliche zu setzen und die "Vergöttlichung" des Menschen in der Erlösung nicht als eine Erhebung des Menschen zu Gott, sondern als ein Verschwinden und Ausgelöschtwerden des Menschlichen vor dem Göttlichen aufzufassen. Diese Spannung zwischen einer dem Platonismus entspringenden, einseitig spiritualistischen Haltung und der orthodox-christlichen Beurteilung des Geschöpflichen im Sinne der irenäischen Formulierung und, als Folge davon, ein gewisses "Überhängen" nach der "monophysitischen" Seite haben sie, die Begründer der orthodoxen Theologie, an das östliche Denken weitergegeben. Alle theologischen Ansätze der griechischen Philosophie hatten in den ersten Jahrhunderten der christlichen Ära durch den Härtetest der Christologie zu gehen. Nehmen wir als Beispiel die Lehre des Theodor von Mopsuestia von den zwei Personen in Christus, die zwar durch Einwohnung und "dem Wohlgefallen nach" eins werden, aber doch so, daß dabei die vollkommene göttliche und die vollkommene menschliche Person voneinander wesentlich getrennt bleiben. Christus, der Mensch, hat mit seiner völligen Sündelosigkeit, mit der Vollkommenheit seines sittlichen Wollens verdient, daß der göttliche Logos, die zweite göttliche Person, in so vollkommener Weise in ihm wohnt und sein ganzes Sein durchdringt,153 daß sie als eins betrachtet werden können, so wie die Gnade Gottes und die Berufung zum ewigen Leben alle die erhalten, von denen Gott voraussieht, daß ihr sittliches Wollen es verdienen wird. (Danach ist das "Wohlgefallen wie am Sohne" nur die vollkommenste und höchste Form der Gegenwart Gottes im Menschen durch die Gnade, was Theodor übrigens auch ganz offen ausspricht. (M.P.G. 66, 976 B/C.) Der Grundgedanke bei Theodor und bei Paulus von Samosata ist derselbe: Christus, der Mensch, in dem der Logos wohnt, nicht wesenhaft, sondern durch Wissen und Teilhaben, ist mit der Gottheit des Logos vereinigt dadurch, daß sein Wille ganz mit dem göttlichen Willen übereinstimmt, ganz in göttlichem Willen ruht. Die Auffassung von der menschlichen Natur, die uns hier entgegentritt, ist stoisch: daß sie in ihrem gegenwärtigen empirischen Zustand, in ihrer jetzigen katástasis ein in sich ruhendes, sinnvolles Ganzes ist, nicht das Ergebnis eines "Abfalls" von einem höheren Zustand, einer Entstellung und Verschlechterung eines ursprünglich besseren geistigeren Über den sittlichen Willen, die próthesis (den Vorsatz) des Menschen Christus, unabhängig von der Gnade und von der göttlichen Einwohnung, handelt Theodor, M.P.G. 66, 976 D, 977 B, 986 A/B und 989 D, und 66, 986 B sagt er sogar: "Gemäß dem, daß er im voraus wußte, wie er sittlich beschaffen sein werde, einigte sich der göttliche Logos mit ihm (dem Menschen Christus) gleich bei der Geburt". 153 161 Daseins, daß die Neigung zur Sünde und die Sterblichkeit nicht als Strafe für diesen Abfall, als Anzeichen der Widernatürlichkeit (im höheren Sinn) des jetzigen Zustands zu betrachten sind, sondern sich notwendig und sinnvoll aus dem Wesen des menschlichen "Compositum", der Verbindung eines geistigen mit einem materiellen Wesensteil ergeben. Diese Auffassung ist ganz aristotelisch. Und ebenso aristotelisch ist der Gedanke, daß das "Göttliche", das "Unsterbliche" nicht in einem "ganz Anderen" besteht, zu dem das Menschliche aus seiner Erniedrigung (in die irdische, sichtbare Welt) erst emporgehoben werden müßte, sondern daß es dann schon gegeben wäre, wenn die Beherrschung des materiellen Teiles im Menschen durch den geistigen (sowohl im Sinne der formgebenden Kraft der Seele gegenüber den auseinander - und auf den physischen Verfall des Organismus hin strebenden Kräften des materiellen Substrats, als auch im Sinn der sittlichen Kraft des Geistes gegenüber den von den niederen Seelenteilen stammenden Widerständen gegen das Vernunftgemäße) vollkommen und dauernd werden könnte. Wenn Aristoteles als das (nie ganz zu verwirklichende) Ziel des menschlichen Daseins das Unsterblichsein, soweit dies Menschen möglich ist", 154 bezeichnet , so meint er nicht einen prinzipiell über dem menschlichen liegenden Zustand, sondern das menschliche Wirken, insofern im Menschen etwas Göttliches gelegen ist155, das ungehinderte Wirken des Geistes in der Beherrschung des Leiblichen, der Ordnung des Sittlichen, und vor allem (denn das ist das letzte Ziel, zu dessen Verwirklichung leibliches Leben und sittliche Ordnung eigentlich da sind) in der Erkenntnis, der theoria. Diese ist nichts prinzipiell über der Sphäre des menschlichen Geistes Stehendes, setzt keine mystische Erhebung zu einer dem menschlichen Denken normalerweise unerreichbaren Sphäre voraus, sondern besteht in der rationalen Erkenntnis und der denkenden Erfassung der vollkommenen Ordnung der Welt, und der einfachen, rein "seienden", in höchster begrifflicher Exaktheit zu erfassenden Natur ihres ersten Bewegers, der obersten Substanz, des absoluten Seins, des reinen Denkens der nóesis noéseos. Könnten wir diese theoria, diese völlige rationale Erfassung des ganzen geordneten Kosmos (die die Erfassung des Ursprungs seiner Ordnung, des ersten Bewegers, in sich schließt) in einem alles umfassenden noetischen Akte vollkommen und ständig verwirklichen, dann wäre unser Erkennen, dann wäre unser Dasein göttlich.156 "Nach Unsterblichkeit streben, so weit es möglich ist". Eth. Nic. X, 7, 1177b 33. 155 "Wirken, insofern etwas Göttliches in ihm ist", ebenda, 1177b 28. 156 Im berühmten XII. Buch der Metaphysik sagt Aristoteles von der Betrachtung des ersten Bewegers, die ihm die eudaimonia verleiht: "Wenn nun der Gott immer so selig ist, wie wir nur auf Augenblicke, so möchte das schon etwas Wunderbares sein", Met., XII, 7, 1072b 24. Die 154 162 Prinzipiell ist also das Göttliche mit den Mitteln des Geistigen, die in unserer eigenen, menschlichen Natur gegeben sind, zu erreichen und zu verwirklichen. Daß es tatsächlich nicht möglich ist, liegt nur an der gegenwärtigen Katastasis, an dem faktischen Zustande des leiblich-geistigen "Compositums", der eine völlige Beherrschung des Materiellen durch das Geistige im allgemeinen nicht ermöglicht. Aber man muß immer danach streben, immer die völlige Beherrschung des Materiellen durch das Geistige als Ziel im Auge zu behalten, und darf sich nicht mit der Berufung auf die Unmöglichkeit der vollkommenen Verwirklichung dieser Beherrschung dem Streben nach ihrer Durchführung entziehen. Das ist die Denkweise, die Aristoteles "menschlich gesinnt sein" anthrópina phroneîn, 1177a 32, nennt, im Gegensatz zum athanatízein, dem Streben nach der völligen Herrschaft des Geistes. Wenn aber einmal diese Herrschaft verwirklicht zu sein scheint durch eine Tugend, die das Maß des menschlicherweise Normalen überschreitet, in einer so vollkommenen Beherrschung der niedrigen Triebe durch den Geist, wie sie unter den Menschen im allgemeinen nicht vorzukommen pflegt, dann kann eine solche Tugend übermenschlich, heroisch und göttlich (Eth. Nic. VII, 1, 1145a 19) genannt werden. Nicht als ob selbst diese Tugend etwas prinzipiell Anderes, nicht mehr Menschliches wäre, sondern weil eine solche Vorherrschaft des Geistes, eine solche Vollkommenheit faktisch unter Menschen nicht vorkommt wenn sie auch an und für sich erst die wahre Verwirklichung der im Menschlichen angelegten, dem Menschlichen immanenten Seinsform ist, die in allem und jederzeit die Vorherrschaft des Geistes und die Lenkung der niedrigeren Kräfte durch den Verstand verlangt und als wesensgemäß voraussetzt. Denn das "Göttlichkeit" der menschlichen theoria ist in dem Prinzip enthalten: "Wenn die Vernunft etwas Göttliches im Vergleich zum Menschen ist, so ist auch das ihr gemäße Leben göttlich im Vergleich zum Menschlichen", 1177b 31. Daß aber Aristoteles mit dieser "Göttlichkeit" des nous ihn keineswegs der menschlichen Sphäre entrücken will, sondern nur die Verwandtschaft des Höchsten im Menschen mit dem Göttlichen ausdrückt (im Sinne von 1177 a 15 - es ist vom "Besten" im Menschen die Rede -: "ob es nun selbst etwas Göttliches ist, oder das Göttlichste in uns..." und 1179a 26: "Das Beste und den Göttern Verwandteste, was also in uns die Vernunft wäre..."), das beweist die an das Kapitel VII angefügte Schlußbemerkung (ein offensichtlicher Nachtrag): "Es scheint ein jeder eigentlich und zutiefst das zu sein, was in ihm das Höchste und Beste ist. Es wäre also unsinnig, wenn er nicht das ihm eigene Leben erwählte, sondern das eines anderen Wesens... denn was einem eigentümlich ist, das ist einem jeden von Natur das Liebste und Erfreulichste, dem Menschen also das vernunftgemäße Leben, wenn die Vernunft der eigentliche Mensch ist". Es soll die Immanenz des nous und der auf seiner Tätigkeit begründeten eudaimonia betont werden, damit man nicht in dem nous, wenn er auch "göttlich" und das "Göttliche im Menschen" genannt wird, etwas vom Menschen Verschiedenes, über dem Menschlichen Stehendes sehe - wenn auch die ständige Wirksamkeit und die unbeschränkte Herrschaft des nous nur den Göttern zugeschrieben werden kann. 163 vollkommene Menschliche ist das Göttliche, und "göttlich", "übermenschlich" nennen wir es nur deshalb, weil die Menschen selbst das Menschliche in seiner wesensgemäßen Vollkommenheit nicht zu verwirklichen pflegen; darum ist uns der Mensch, der die volle Tugend besitzt, die Herrschaft des Nous ganz verwirklicht, "göttlich" (1145a 27-29); so kann man sagen: "Aus Menschen werden Götter durch das Übermaß der Tugend" (1145a 23), d.h. aus eigener, sittlicher Kraft, bloß dadurch, daß sie als einzige die wahre, sittliche Aufgabe und die innere Seinsbestimmung des Menschen ganz erfüllen. Das ist im christlichen Kontext die Auffassung, daß Christus durch seine einzigartige, sittliche Vollkommenheit (die Gott voraussah) es verdient hat, Gottes Sohn zu werden und den höchsten Grad des göttlichen Wohlgefallens zu erlangen (auf diese Voraussicht ist dann die Einwohnung schon vom Augenblick der Geburt an zurückzuführen). Stoisch ist bei vielen Kirchenvätern die stärkere Hervorkehrung des Sittlichen, dem Erkenntnismäßigen der theoria gegenüber (das ist aber eine Wendung, die auch der spätere Peripatos mitgemacht hat), stoisch ist vor allem der Gedanke, daß die sittliche Vollkommenheit in der vollkommenen Übereinstimmung des sittlichen Wollens mit dem Willen Gottes (mit dem Weltgesetz, würde der Stoiker sagen), in dem vollkommenen Ruhen in diesem Willen, in der synkatáthesis besteht, wie der stoische Ausdruck lautet. Er "hatte mit Gott einen Willen", war bei Paulus von Samosata die Formel für die Vereinigung des Menschen Christus mit der Gottheit überhaupt, und Theodor von Mopsuestia sagt: "Er war ihm durch die Gleichheit des Willens verbunden."157 Der stoische "Weise" ist eben derjenige, der einsieht und erkennt, daß alles nach dem obersten Weltgesetz in unwandelbarer Notwendigkeit geschieht, und der seinen Willen ganz dieser Notwendigkeit unterordnet, das Weltgesetz ohne jedes Widerstreben und ohne jeden Eigenwillen in sein eigenes Wollen aufnimmt, dadurch aber selbst sein eigenes Wollen mit dem Göttlichen vereinigt und "göttlich" wird, soweit dies eben in der Natur des menschlichGeistigen liegt, wenn es seine Aufgabe in der Welt und seine ihm zugewiesene Rolle vollkommen erfüllt. Hans Urs von Balthasar sah darin die größte christliche Versuchung: "Zwei Richtungen also bedrohen vor allem die christliche Endlehre: der vulgäre wie gelehrte Chiliasmus maßt sich einen innergeschichtlichen Absolutheitsstandpunkt an, zieht den Himmel auf die Erde herab, die naturalistische Gnosis stellt den Menschen auf den jenseitigen Absolutheitsstandpunkt, hebt ohne Sprung die Erde in den Theodor v. Mopsuestia, in ep. S.Pauli comm. ed Swete, II, 311, ähnlich M.P.G. 66, 989 D und 66, 992 C. 157 164 Himmel."158 Die christliche Häresie, in der diese Denkrichtung 159 vorherrschend wird, ist der Nestorianismus. Diese für Antiochia typische Häresie hängt mit der aristotelisch-stoischen Denkweise eng zusammen. (Daß dann der Nestorianismus gerade zur spezifischen Häresie der ostsyrischen, dem Perserreich unterstehenden christlichen Kirche wurde, hat seinen Grund in äußeren, geschichtlichen Ereignissen. Die Rezeption des Aristotelismus im Syrertum hat im übrigen auch die Fundamente gelegt für den syrischarabischen Aristotelismus, der später dem Westen die ersten entscheidenden Impulse zur Rezeption des Aristotelismus in das abendländische Geistesleben mitgeteilt hat, und lange Zeit die Quelle war, aus der der Westen die aristotelischen Hauptwerke kennen lernte, bevor sie noch unmittelbar aus dem Griechischen übersetzt wurden.) Die andere große Monophysitismus160. Häresie der Kirchenväterzeit ist der Er ist aus dem alexandrinischen Hans Urs von Balthasar, Apokalypse der deutschen Seele. Studie zu einer Lehre von letzten Haltungen. Bd.I. Der deutsche Idealismus. SalzburgLeipzig 1937. S.26. 159 Nach Nestorios, 5.Jh.n.Chr., persischer Herkunft, 428 bis 431 Patriarch von Konstantinopel, durch das Konzil von Ephesus auf Betreiben Kyrills von Alexandreia abgesetzt; seine Lehre von den zwei Naturen in Christus wurde von der Kirche für ketzerisch erklärt. Bruchstücke seiner (griechischen) Schriften sind meist in lateinischer, syrischer, armenischer Übersetzung erhalten. Die von ihm ins Leben gerufene kirchliche Bewegung der Nestorianer lebt noch heute fort. Text: Fr.Loofs, Nestoriana, 1905. 160 Monophysitismus (aus móne physis = eine Natur) ist die Lehre von der "einen Natur" in Christus, wie sie in der Diskussion und Reflexion über das Verhältnis von Gottheit und Menschheit in Christus vom 4. bis zum 6. Jh. von vorwiegend alexandrinischen Voraussetzungen aus entwickelt worden ist. Der Ausgangspunkt ist das Kerygma über den Jesus, den einen menschgewordenen Sohn Gottes, oder das Bekenntnis zur wahren Gottheit und wahren Menschheit des einen Christus. Die theologische Reflexion will das Wie dieser Einheit in Verschiedenheit erklären. Der Monophysitismus betont, besonders dann im Gegensatz zu Nestorius, die Einheit unter Beeinträchtigung der Verschiedenheit in Christus. Die bekannteste Form des Monophysitismus ist der Arianismus und Apollinarismus, wonach Christus nach dem streng verstandenen Logos-SarxSchema vertanden wird, d.h. Christus ist Logos und Sarx (Fleisch, Leib) ohne menschliche (höhere) Seele, und zwar so, daß der Logos (bei den Arianern ein höheres, aber geschöpfliches Wesen, bei den Apollinaristen streng nizänisch als Gott verstanden) die Stelle der "(Geist-)Seele" einnimmt und zum Lebensprinzip des Fleisches Christi und zur Quelle aller geistigen, leiblichen Akte wird. Logos und Fleisch bilen zusammen die "eine Natur (Physis, Hypostase) des fleischgewordenen Logos". Einheit und Vrschiedenheit in Christus werden erst später mit Hilfe der Unterscheidung von Person und Natur erklärt. - Klassische Definition von "Person" nach Boethius (um 480-524), dem letzten Philosophen stoischen Gepräges in der Antike, der großen Einfluß auf die mittelalterliche Scholastik hatte: "Die Person ist die individuelle Substanz einer 158 165 Neuplatonismus herzuleiten. Es ist die Auffassung, die in der Menschwerdung Christi nicht eine Verbindung zwischen Göttlichem und Menschlichem sieht, in der beide Elemente zwar untrennbar, aber ohne Vermischung und Verwandlung verbunden sind, so daß jedes der beiden seine eigenartige Natur bewahrt,161 sondern die Menschwerdung als ein Aufgehen, ein Aufgesogen- und Verwandeltwerden des in die Vereinigung aufgenommenen Menschlichen in das aufnehmende Göttliche betrachtet. Letzten Endes stammt das aus dem neuplatonischen Spiritualismus und aus dem platonischen Mißtrauen gegen das Materielle und das Menschliche.162 Denn die eigentliche Konsequenz dieser Auffassung von der Menschwerdung ist ja der Gedanke, daß auch das Werk der Erlösung nicht auf eine Verbindung des Menschlichen mit dem Göttlichen, auf ein "Überkleidetwerden" des Irdischen und Geschöpflichen mit dem Gewand der Gnade und der Unsterblichkeit, sondern auf ein Aufgesogenwerden des Geschöpflichen in das Göttliche hinzielt, auf ein Ausgelöschtwerden des Irdischen durch das Göttliche, da das Irdische, als dem Göttlichen wesenhaft entgegengesetzt, in der Vereinigung mit ihm vor dem Göttlichen nicht mehr bestehen kann, sondern notwendigerweise seiner eigenen Wesenheit "entkleidet" und in das Göttliche verwandelt werden muß. Diese letzte logische Konsequenz aus der alexandrinischen Geisteshaltung hat ja der Origenismus tatsächlich gezogen, und eine "Heimholung" des Alls der geistigen Wesen (durch deren Entfernung von Gott die materielle Welt erst entstanden ist), ein Wiederaufgehen aller in die Einheit des Logos gelehrt, wie sie "monistischer" selbst ein Plotin nicht vertreten hat. Eutyches hat - nach dem Zeugnis des Theodoret im "Eranistes" (M.P.G. 83, 153 D) ausdrücklich von einem "Aufgesogenwerden" (katapothenai) der Menschheit durch die Gottheit (theotes) gesprochen, das nicht ein "Vernichtetwerden" (aphanismos), sondern eine Verwandlung ins Wesen der Gottheit ist (ebendort, 157 A) und es kehrt sogar der Vergleich des Tropfens im Meere wieder (153 D), worauf ihm der "Orthodoxe" des Theodoret nicht unzutreffend antwortet: "Das sind hellenische (d.h. heidnische) und manichäische rationalen Natur". Damit ist ein Begriff dafür gefunden, daß das Individuum nicht etwas bloß Akzidentelles, sondern etwas Substantielles sein soll. "Unvermischt, unverwandelt, ungetrennt, ungeschieden... jede Natur in ihrer Eigenart verharrend", sagt das Chalcedonense. 162 "Sehr schlecht machst du, Gastfreund, das Menschengeschlecht", sagt Megillos in den Gesetzen (804 B) zum athenischen Gast (=Platon) und in der Politeia (515 A) sagt Sokrates, als er das Höhlengleichnis zu erzählen beginnt, und ihm der Einwand gemacht wird: "ein sonderbares Bild gebrauchst du, und sonderbare Gefangene schilderst du uns", zur Antwort nur: "Solche, wie wir eben sind." Es ist überflüssig, noch viel bekanntere Stellen wie das soma-sema-Motiv, den Sturz der Seele aus der himmlischen in die irdische Sphäre oder die plotinische "Flucht des Einsamen zum Einsamen" anzuführen. 161 166 Märchen" (ebenda). Es ist die alte orphische, platonische und neuplatonische Überzeugung, daß das Menschsein ein Abgefallensein von einem höheren, geistigen Zustand bedeutet, das aufgehoben werden muß, wenn sich das im Menschen lebende Geistige mit dem Göttlichen vereinigen soll, weil das Menschliche, als solches, ein Widergöttliches ist. Antik gedacht, kann man das Verhältnis Geist-Materie und überhaupt Absolutum-Welt wirklich nur entweder monistisch fassen und das Endliche im pantheistischen Sinn als Manifestation des Unendlichen betrachten - oder man faßt es als Dualität und betrachtet das Materielle, das Endliche, ja das Für-sich-sein des Geschöpflichen überhaupt als einen Abfall, der durch ein völliges Aufgehen des Geschöpfes in ihm, ein Umgestaltetwerden ins Göttliche aufgehoben werden muß. Der christliche Begriff vom Geschöpf, das neben Gott steht, nicht aus seinem Wesen ist und deshalb doch nicht etwas wesenhaft Widergöttliches ist, sondern zu Gott emporgehoben, von Gott durch seine Gnade verklärt werden kann, - das ist das prinzipiell Neue am Christentum; Irenäus hat diesen Begriff zum erstenmal in theologisch befriedigender Weise formuliert aber noch ohne das Rüstzeug der antiken Philosophie dazu zu verwenden. Mit der Übernahme der antiken Philosophie ist dann der christliche Seinsbegriff entscheidend bedroht worden - und der Höhepunkt dieser Bedrohung ist eben der Monophysitismus. In ihm hat sich - nachdem die geistigen Grundlagen für die Überwindung dieser antiken Denkweise (mit Beibehaltung des Wahrheitsgehaltes des Platonismus) durch die kappadokischen Väter schon gelegt worden waren - der antike Seinsbegriff noch einmal zu machtvollem Widerstand gegen die christliche Auffassung vom geschöpflichen Sein erhoben und drohte, von innen her das christliche Geistesleben zu zersetzen. Erst aus dem siegreichen Kampf gegen diese Gefahr ist die eigentliche orthodoxe Theologie hervorgegangen. Erst dort, wo die irenäische163 Konzeption der Verbindung des Göttlichen mit dem Geschöpflichen, der Verklärung des Geschöpflichen durch das Göttliche sich gegenüber dem monophysitischen Aufgehen des Geschöpflichen im Göttlichen durchgesetzt hat, kann man von einer orthodoxen Theologie sprechen, die die innere Bedrohung durch den hellenischen Seinsbegriff überwunden und die Eirenaios, lat. Irenaeus, 2.Jh.n.Chr., aus Kleinasien, Bischof von Lyon seit 178, bedeutender griechischer Kirchenschrift-steller. Von dem Hauptwerk "Prüfung und Widerlegung der falschen Gnosis ("Adversus haereses" genannt) sind im Original nur Bruchstücke erhalten, größere zusammenhängende Teile in einer alten lateinischen Übersetzung; es will zeigen, daß die wahre Lehre der Kirche von der Zeit der Apostel her sich rein fortgepflanzt hat, dagegen von den Gnostikern verfälscht wurde, und ist als Quelle unserer Kenntnis der Gnosis und als Zeugnis der Kirchengeschichte von größtem Wert. Text: W.Harvey, 1957. - Übers.: H.Haid I.II, 1872.73. 163 167 hellenische Philosophie zum Ausdrucksmittel des christlichen Weltgefühls gemacht hat. Man kann, von diesem Gesichtspunkt her gesehen, die geistesgeschichtliche Bedeutung der Worte: "unvermischt und unverändert", mit denen das Chalzedonense die Form der Vereinigung des Menschlichen mit dem Göttlichen umschreibt, gar nicht hoch genug veranschlagen.164 Göttliche Vorsehung (Kausalität, Freiheit) Zu 154-167: Die göttliche Fürsorge für den Menschen mit den zwei Thesen des Balbus: 154-161: Die Welt ist der Götter und Menschen wegen geschaffen. 162-167: Die Götter sorgen für das Menschengeschlecht im ganzen wie im einzelnen. omnia hominum causa facta (II 154) - diesen stoischen Gedanken bringt Cicero auch Fin. III 67: Praeclare Chrysippus cetera nata esse hominum causa et deorum, eos autem communitatis et societatis suae ("Sehr treffend sagt Chrysipp, alles übrige sei um der Menschen und Götter willen geschaffen, diese <selbst> aber zu ihrer gegenseitigen Gemeinschaft und Verbundenheit.") Auch Off. I 22: Ut placet Stoicis, quae in terris gignantur, ad usum hominum omnia creari ("...wie die Stoiker glauben, daß alles, was auf Erden entsteht, zum Nutzen der Menschen geschaffen werde.") Er klingt noch bei Laktanz an, vgl. De ira 14: Vera est sententia Stoicorum, qui aiunt nostra causa mundum esse constructum: omnia enim, quibus constat mundus, ad utilitatem hominis accomodata sunt ("Richtig ist die Meinung der Stoiker, die die Behauptung aufstellen, die Welt sei unsertwillen geschaffen worden: denn alles, woraus die Welt besteht, sei dem Nutzen des Menschen angepaßt.") Noch heute sprechen Naturwissenschafter vom sog. "anthropischen Prinzip" in unserem Kosmos. mundus communis deorum atque hominum domus (ebd.): Im Weisen ist dieselbe Vernunft, die in der Natur liegt, zur vollkommenen Entfaltung gelangt; durch sie ist die Gemeinschaft mit den Göttern gegeben, so daß beide in der Gemeinschaft des Rechts stehen und das All als der gemeinsame, unter der Herrschaft des höchsten Gottes stehende Staat der Götter und Menschen anzusehen ist. Ausführlich wird der Gedanke Fin. III 62 abgehandelt: "Von Natur aus sind wir veranlagt zu Vereinigung, Gesellschaft und Staatsgemeinschaft. Das Weltganze aber, lehren die Stoiker, wird regiert durch den Willen der Götter, und dieses ist gleichsam die umfassende Endre von Ivánka, Hellenisches und Christliches im frühbyzantinischen Geistesleben. Wien 1948, 97f. 164 168 Stadt- und Staatsgemeinschaft der Menschen und der Götter, und jeder einzelne von uns ist ein Teil dieses Weltganzen. Daraus leitet sich von Natur die bekannte Verpflichtung her, daß wir das Interesse der Gemeinschaft unserem Privatinteresse überordnen." Die stoische These: mundus deorum hominumque causa...inventa sunt (ebenso die globale Aussage II 80: nihil nec maius nec melius mundo) wird angegriffen und stark in Zweifel gestellt bei Lukrez (V 195-221); besonders gilt das für V 195-199: Quod<si> iam rerum ignorem primordia quae sint, hoc tamen ex ipsis caeli rationibus ausim confirmare aliisque ex rebus reddere multis, nequaquam nobis divinitus esse paratam naturam rerum; tanta stat praedita culpa; Wenn ich die Natur ursprünglicher Stoffe nicht kennte, würd' ich mir doch getraun, aus des Himmels Beschaffenheit selber dreist zu behaupten und noch aus mehreren anderen Gründen, dieser Dinge Natur, mit so großen Mängeln behaftet, sei kein göttliches Werk, allein für den Menschen bereitet. Cicero selbst läßt im dritten Buch De natura deorum Cotta ausführlich Gegengründe ausbreiten. Zunächst (20-64) gegen die Göttlichkeit des Kosmos: 20-28 Die Göttlichkeit des Kosmos ist aus seiner Vollkommenheit nicht zu beweisen; die Stoiker verwechseln Naturkraft und Vernunft. 29-34 Ein körperliches, lebendes und äußeren Eindrücken unterworfenes Wesen kann nicht ewig, mithin auch nicht göttlich sein. 35-37 Das stoische pyr technikón kann nicht unvergänglich, also auch nicht göttlich sein. 38-39 Der Begriff der Tugend ist unvereinbar mit dem Wesen Gottes. 40-64 Die Fragwürdigkeit der Ansichten über das Wesen der Götter vom stoischen Gottesbegriff bis zu den falschen Vorstellungen über das Wesen der Volksgötter. Danach wird die göttliche Fürsorge für den Menschen widerlegt: 65-78 Das Denkvermögen kann nicht als eine gute Gabe der Götter angesehen werden. 79-88 Die göttliche Fürsorge für die Menschen ist unzureichend, denn 80-81 Die Götter sorgen nicht für das Wohl der Guten; 82-84 die Götter treten dem Bösen in der Welt nicht entgegen; 85 das Gewissen regiert den Menschen unabhängig vom göttlichen Willen; 169 86 der Mensch vermißt die göttliche Gerechtigkeit auch in den wichtigsten Dingen; 87-88 das Glück der Schlechten widerlegt die Macht der Götter über den Menschen. 89-92 Die göttliche Vorsehung kennt ihre Macht nicht oder kümmert sich nicht um den Menschen oder vermag nicht zu erkennen, was das Beste ist. 93 Die angeblich von den Göttern geschickten Träume widersprechen der stoischen Behauptung, die Götter kümmerten sich nicht um den Einzelnen. Zum besseren Verständnis der Thematik empfiehlt es sich, ein Originaldokument stoischer Religiosität heranzuziehen, nämlich den Zeushymnus des Kleanthes. Zeus wird hier mit polyónyme („vielnamiger“) angesprochen. Aristotels hatte gesagt. Tò òn pollachôs légetai.165 Gott hat wie das Seiende viele Namen. Einer seiner Namen ist ja: ho ón (vgl. die Szene mit Moses und dem brennenden Dornbusch in der Septuaginta-Übersetzung). Für den Stoiker ist Gott das aktive geistige Prinzip, das die Materie durchdringt, belebt und bewußt gestaltet. Gott ist die schöpferische Urkraft, die erste Ursache alles Seins. Er ist der Logos, der die vernünftigen Keimkräfte aller Dinge in sich trägt. Gott ist mit der Materie unlöslich verbunden und kann ebenso feuriger Geist wie denkendes Feuer genannt werden. Er ist der Welt immanent, ist ihre Seele. Er ist das Pneuma, das alles durchdringt und selbst im niedrigsten Stoff gegenwärtig ist. Lauter Namen Gottes. Die Identifikation Kosmos/Gott ist ganz griechisch, dieses Staunen, diese fromme Verehrung für die Welt, wie sie sich dem Schauenden darbietet, dieses weltfromme Gefühl, das in der deutschen Klassik so treffend nachgefühlt worden ist, etwa in den Worten des Lynkeus bei Goethe: "Zum Sehen geboren, zum Schauen bestellt, dem Turme geschworen, gefällt mir die Welt. ... Ihr glücklichen Augen, was je ihr gesehn, es sei wie es wolle, es war doch so schön." Eine Konsequenz ist, daß Theologie zur Kosmologie wird. Und es deutet sich schon an, was später zum Durchbruch kommen wird: Anthropologie als dritte im Bunde. Denn bei den Stoikern ist der Mensch in Theologie und Kosmologie schon immer mit im Spiel - durch den Logos. Im Neuplatonismus kommt dann der platonische Abbildgedanke hinzu, d.h. der menschliche Logos wird als Abbild des göttlichen begriffen, womit die Grundkozeption der christlichen theologischen Anthropologie harmoniert, die es erlaubt, jeweils die Steigerung der Transzendenz mit der Steigerung der Immanenz zu koppeln; zugleich liegt darin der Systemkonflikt zwischen Transzendenz und Rationalität, der die Vgl. Brentano, Von der mannigfachen Bedeutung Aristoteles, Freiburg i.Br. 1862, ND Darmstadt 1970. 165 des Seienden nach 170 Geschichte der mittelalterlichen Scholastik durchzieht. (Sie stand einerseits unter dem Motiv der Steigerung der Transzendenz Gottes, war anderseits auf die Durchführung des Programms der Gottesbeweise und der natürlichen Gotteserkenntnis festgelegt.) Der Abbildgedanke wird überhöht durch die geheimnisvolle Einheit von creator und creatura in der hypostatischen Union, die sich aus der Inkarnation, aus dem Logos sarx ergibt. Aber das ist jetzt nicht unser Thema. Wir haben es hier bei Cicero mit einer weiteren Konsequenz der stoischen Auffassung zu tun: mit Kausalbestimmtheit, Zielbestimmtheit, Determination einerseits, Freiheit anderseits. Die Vernunft ist sich selbst der letzte Zweck, d.h. sie strebt danach, sich selbst möglichst vollkommen zu verwirklichen und zu erhalten. (Selbsterhaltung - oikeíosis kommt auch in dieser Hinsicht zur Geltung). Nun ist sie in der Welt am vollkommensten realisiert in der persönlichen Vernunft der vernunftbegabten Wesen, und um diese zu erhalten und zu mehren, ist alles übrige organisiert. Die persönliche Vernunft, die sich in den einzelnen Seelen entwickelt, ist also der höchste Zweck der Welt, ganz im Sinn des hellenistischen Individualismus. Konsequenterweise faßten die Stoiker auch die Weltvernunft als persönliche Vernunft auf, woraus sich erklärt, daß sie sie als Gott ansprachen und mit Zeus identifizierten und daß sie die Welt als ganze nach dem Muster des Menschen zu einem mit einer vernünftigen Seele begabten Lebewesen machten. Daraus läßt sich vielleicht verstehen, was zur Ausbildung der stoischen Lehre von der göttlichen "Vorsehung", der prónoia, geführt hat. Ich glaube, daß von daher der Anthropozentrismus dieser Vorsehungslehre verständlich wird. Anthropozentrismus meint: die Welt ist um der vernünftigen Wesen, der Götter und Menschen, willen da, und zu ihrem Besten ist alles eingerichtet. Das wurde mit vielen Argumenten zu belegen versucht. Sie haben das beinhart durchgezogen, ohne Angst vor Lächerlichkeiten (was sich übrigens in der europäischen Aufklärung wiederholt hat): Chrysipp wußte sogar, daß auch die Schädlinge dem Menschen dienen, denn die Wanzen verhindern z.B., daß wir zu lange schlafen, und die Mäuse, daß wir unsere Sachen nachlässig verwahren... Man berief sich z.T. auch auf den Gottesbegriff. Weil die Venunft als weltgestaltendes Prinzip auch persönliche Gottheit ist, kann man argumentieren, daß eine Gottheit, die nicht zweckmäßig und vorsorgend handelt, nicht denkbar sei. (SVF II, 1106 sqq.). Die Welt wird also durch göttliche Vorsehung regiert, und zwar 171 gibt es nur einen Gott, eben die in allen Dingen wirkende und formende Vernunft. Trotzdem wollten die Stoiker die Volksreligion mit ihrem Polytheismus keineswegs angreifen, sondern sie versuchten, sie mit ihrem Pantheismus in Einklang zu bringen, indem sie die griechischen Götter allegorisch erklärten als verschiedene Erscheinungsweisen der einen und selben Vernunftgottheit, die fälschlich für selbständige Götter gehalten wurden. Reformismus ist den Stoikern ferngelegen. Der stoische Weise folgt wie jeder normale Bürger den religiösen Riten und Gebräuchen seines Landes, nur daß er tiefer blickt und ihr wahres Wesen durchschaut. (SVF II, 1008 sqq.). In der Neuzeit wurde die antike Geistspekulation in der Subjektivitätsphilosophie von Descartes bis Kant und Fichte überhöht. In Kants Kritik der praktischen Vernunft (1788) hat das Vernunftethos der Stoa den konsequentesten Ausdruck gefunden. Aber niemnd hat so entschieden, so großartigeinseitig wie G.W.F.Hegel (1770-1831) die Intellekt-Struktur, die Geistbestimmtheit des Menschen, die für die Stoa zentral war, wiederzufinden vermeint in den logischen Strukturen der Wirklichkeit überhaupt, in der Kulturgeschichte der Menschheit und im Wesen und Wirken des Gott-Geistes selber. Noch auf den Kopf gestellt im Diamat hat der Glaube an die logischen Strukturen der Wirklichkeit bzw. deren Behauptung als Machtposition seine ungeheure Wirkung gehabt. Es wurden ihm nicht weniger Hekatomben Menschenopfer dargebracht als im von den Nationalsozialisten angezettelten Weltkrieg umgekommen sind. (Ich erwähne das nur, weil durch diesen Zusammenhang deutlich wird, wie auch der schrulligste Philosoph in seiner Studierstube, ohne es zu wollen und ohne es zu ahnen, das Weltgeschehen mitbestimmt. Insofern haben die Stoiker doch recht gehabt. Wenn die Vernunft das wirkende und formende Prinzip ist, das allein irgendwelche Schranken setzen kann, dürfen diese Schranken nicht von außen, etwa vom Stoff auferlegt werden, sondern müssen in ihr selbst liegen. So kann man sich denken, daß die Stoiker zur Vorstellung von der Vernunft als einer gesetzmäßig wirkenden Kraft kamen; sie kann bei ihrem Schaffen nicht beliebig verfahren, sondern ist in allen ihren Handlungen an unveränderliche Gesetzmäßigkeiten gebunden. Übrigens ist diese Theorie nicht von heute auf morgen entstanden, sondern hat Wurzeln zumindest bis zu Heraklits Wort: "Es nähren sich alle menschlichen Gesetze von dem einen göttlichen" (frgm. 114); vgl. auch Platons Verteidigung des nómos - er ist physei, und Plato erhebt ihn zur Gottheit, vgl. Ep VIII 354 e. Die Vorstellung der Gesetzmäßigkeit war für die Stoiker 172 verbunden mit dem Begriff der Heimarmene, des Schicksals, in dem sich der griechische Glaube ausdrückt, daß alles Geschehen in der Welt genau vorherbestimmt und unentrinnbar sei. Dieser Glaube ließ sich durch die Annahme der Gesetzmäßigkeit der Natur stützen, denn wenn alle Vorgänge nach strengen, unabänderlichen Gesetzen verlaufen, dann sind durch die Ereignisse zu einem beliebigen Zeitpunkt die Ereignisse zu jedem anderen Zeitpunkt genau festgelegt. Ein Zufall ist ausgeschlossen, unter diesem Namen verbirgt sich nur unsere Unkenntnis der Gesetzmäßigkeiten. (Spinoza: von Zufall kann nur die Rede sein respectu defectus nostrae cognitionis). Gesetzmäßigkeit wird von den Stoikern mit dem Begriff der Kausalität gefaßt. Und Kausalität ist als eine Funktion zu interpretieren: Ursache ist das, durch das die Wirkung entsteht. Und das ist dann der Fall, wenn es unmöglich ist, daß die Ursache gegeben ist, die Wirkung aber nicht eintritt. Im Begriff der Ursache wird also eine notwendige Verknüpfung der Dinge gedacht, so daß auf das eine unausbleiblich das andere folgt. Wenn nun die Vernunft in all ihrem gestaltenden Schaffen an eine solche Ordnung gebunden ist, so daß nichts ohne Ursache geschieht, dann ergibt sich, daß alle Dinge in einer unausweichlichen Verflechtung zusammenhängen, indem für alle Zeiten festliegt, was auf was folgt. Infolgedessen nannten die Stoiker die Heimarmene die "unverbrüchliche Reihe der Ursachen" (wobei sie das Wort von heirmós, "Reihe", ableiteten.) Dafür hatten sie v.a. zwei Begründungen: Sie verwiesen erstens auf die Mantik, deren Möglichkeiten sie offenbar als Erfahrungstatsache akzeptierten, und zweitens beriefen sie sich auf den logischen Grundsatz vom ausgeschlossenen Dritten. - Da jede Aussage entweder wahr oder falsch ist, so auch eine Aussage über die Zukunft. Das sei aber nur denkbar, wenn heute schon feststehe, was morgen geschehe.166 Durch ihre Auffassung von der kausalen Determiniertheit des Weltgeschehens (Kausal-Determinismus) haben die Stoiker ihren ethischen Grundsatz abgesichert, daß die äußeren Dinge unverfügbar seien, weil der Determinismus die Möglichkeiten der Vernunft band. Darüber hinaus ergab sich daraus ein willkommenes Argument für die Theodizee. Denn natürlich blieb der Glaube an die Zweckmäßigkeit der Welt, in der alles zum Besten des Menschen eingerichtet sein sollte, nicht unwidersprochen. Man brauchte ja nur den Blickwinkel leicht zu ändern, um die Welt als höchst unzweckmäßig und ihren Schöpfer als Schwachsinnigen oder Stümper erscheinen zu lassen. Die Gnostiker, für die das in besonderem Maß zutrifft, haben den SVF I, 176. II, 965 sqq. I, 89. II, 1000. 945 sqq. 917 sqq. 939 sqq. 952 sqq. 166 173 demiurgós konsequent als böses Prinzip aufgefaßt. Die Stoiker hatten zwar mit den äußeren Übeln keine Schwierigkeiten, weil diese in ihren Augen keine Übel, sondern adiáphora waren. Aber sie konnten natürlich den Mangel an Tugend, das Vorhandensein der Untugenden, den Mangel an sittlicher Einsicht nicht leugnen, sonst wäre ja auch ihr eigenes Streben, die Menschen durch Philosophie erst zum Guten zu bekehren, überflüssig gewesen. Der platonische Ausweg, die Schuld dem Stoff anzulasten, dessentwegen eine makellose Welt nicht realisierbar sei, war ihnen versperrt, denn das hätte bedeutet, daß der Stoff nicht vollkommen eigenschaftslos und die Vernunft nicht das allein bestimmende Prinzip wäre. Das Übel mußte also seinen Ursprung schon in der Vernunft haben. Und hier bot der Determinismus Hilfe. Wenn die Vernunft gesetzmäßig handelt und die Gesetze aus ihr selbst stammen müssen, dann sind diese die Gesetze des vernünftigen Denkens, wie sie die Logik entwickelt. Nun ist es ein logisches Gesetz, daß der Begriff des Guten nicht ohne den des Übels möglich ist, ebenso wenig wie das Wahre ohne das Falsche gedacht werden kann. Folglich, da die Vernunft die Welt schafft, muß es das Übel geben. Was steckt darin für ein Denkfehler? Offenbar wird ein logisches Prinzip mit einem ontologischen durcheinandergebracht. Man muß sie aber in Schutz nehmen, denn für sie ist das keine naive Verwechslung, sondern durchaus konsequent, da sie ja in der Vernunft die allein formgebende Kraft sahen; denn dann ist, was logisch notwendig ist, auch ontologisch notwendig. Der Kausal-Determinismus hat aber einen großen Nachteil. Er verträgt sich eigentlich nicht mit der teleologischen Weltdeutung, weil er die Freiheit, die Voraussetzung jeder Zwecksetzung, undenkbar macht. Diese Schwierigkeit wird von den Stoikern nicht thematisiert. Sie waren sich zwar darüber im Klaren, daß, wenn alles Geschehen durch vorhergehende Ursachen vollständig determiniert ist, kein Raum für die freie Entscheidung bleibt, aber sie haben sich nicht Rechenschaft darüber abgelegt, daß die Entscheidungsfreiheit im Begriff der Zwecksetzung impliziert ist, so daß von einer teleologischen Struktur sinnvoll nur in einer Welt gesprochen werden kann, in der auch Freiheit, und zwar nicht so, wie sie sie interpretieren, sondern wirkliche, völlig undeterminierte Wahlfreiheit zwischen Alternativen, möglich ist. Für die Stoiker waren prónoia und heimarméne, zwecktätige Vorsorge und kausale Determination, nur verschiedene Aspekte 174 ein und der selben Struktur (SVF I, 176. 160.) Die Stoiker sind hier ihrem ethischen Bedürfnis gefolgt: Einerseits wollten sie, daß die zwecksetzende Vernunft als das herrschende Prinzip in der Natur dargestellt wird, anderseits wollten sie, daß die Unverfügbarkeit des Naturgeschehens verständlich bleibt. Diese Annahme führte ja zur Auffassung, daß der einzelne nur dann glücklich wird, wenn er sich in der Natur keine Zwecke setzt, so daß sich das Paradoxon ergab, daß der einzige Zweck, den man sich setzen soll, der ist, daß man sich keine Zwecke setzen soll. Darin liegt der Grund, weshalb die Stoiker den Determinismus trotz aller Schwierigkeiten so konsequent durchzuhalten suchten und den Fatalismus so weit trieben, daß auch sämtliche Handlungen der vernunftbegabten Wesen vorherbestimmt seien. Die aus heutiger Sicht mangelhafte Argumentation der Stoiker hat - das muß man zu ihrer Ehrenrettung auch sagen - etwas für sich, und das ist die Nähe zum Phänomen. Das Phänomen des Glücks ist so ein paradoxer Tatbestand: Es soll dem Wunsch und Willen entsprechen und doch durch den Willen nicht erreichbar sein. Paradox wie die tachistische Malerei, in der das Unwillkürliche als Mittel zur Freisetzung der Kunst dient. Paradox wie das interesselose Wohlgefallen, wie die "GratisTat", die einmal jemanden (in einem Roman des ausgehenden 19. Jh.) so fasziniert hat, daß er damit experimentierte, und z.B. jemand Wildfremden auf der Straße gleichzeitig einen Tausendfranc-Schein in die Hand drückte und gleichzeitig eine Ohrfeige herunterhaute.167 Ich verweise nur noch darauf, daß an der Kausalitätsproblematik die Annahme eines ersten Bewegers des Kosmos hängt. Für die Stoiker ist das die Weltvernunft, die dem ganzen Kosmos, dem auch alle Menschen angehören, einwohnt und seine Zwecke bestimmt. Und zweitens, daß daran das Problem der Willensfreiheit des Menschen hängt. Die Stoiker standen vor dem Problem, sie zu retten, da sie ja in ihrem Weltbild ausgeschlossen zu sein schien. Sie mußten sie aber unter allen Umständen sichern, denn für sie bestand doch das Glück in der Erreichung der Zwecke, die man sich selbst gesetzt hat. Es durfte nicht denkunmöglich werden, daß der Mensch sich überhaupt eigene Zwecke setzen kann. Sie haben das Problem unter dem Begriff des eph' hemîn („bei uns“, d.h. in unserer Macht liegend) verhandelt. D.h. die entscheidende Frage lautete: Gibt es etwas, das "an uns" liegt? Nun, viel weiter als bis zu dieser Frage sind sie auch nicht gekommen. Aber schließlich ist das Freiheitsproblem hier im Hellenismus zum Joris Karl Huysmans, A rebours, 1884. Deutsche Übers.: Gegen Strich. (Übers.v.Hans Jacob). Berlin (Benjamin Harz Verlag) 1903. 167 den 175 ersten Mal bewußt geworden. (Bild von der Walze, deren eigene Beschaffenheit verursacht, daß sie, gestoßen, rollt; Bild vom Hund, der an einen Wagen gebunden, seinen eigenen Willen mit dem Zwang verbindet, mitzulaufen, sonst würde er eben nur gezogen. D.h. der Stoiker denkt die Freiheit um: sie falle in Wirklichkeit mit der Notwendigkeit zusammen. Damit wir können, was wir wollen, müssen wir wollen, was wir können... Schopenhauer hat in seiner berühmten Preisschrift "Über die Freiheit des menschlichen Willens" die Behauptung aufgestellt, die Alten hätten eines der "tiefsten und bedenklichsten Probleme der neueren Philosophie" - gemeint ist die Frage nach der freien Entscheidung - "noch nicht zum deutlichen Bewußtsein gebracht". Diese Feststellung mag zutreffend sein, wenn der antiken Betrachtung die kaum übersehbare, verästelte Problemanalyse der Gegenwart gegenübergestellt wird. Eine in unseren Augen auch nur annähernd erschöpfende Behandlung der Willensfreiheit in ihren komplexen Bezügen zu Psychologie, Ethik, Metaphysik und Religion fehlt dem Altertum tatsächlich. Die Schopenhauersche Behauptung ist aber kaum haltbar, wenn wir nach dem Problembewußtsein fragen. Hier läßt sich leicht zeigen, daß die grundsätzliche Frage schon in der Antike mit aller Dringlichkeit gestellt und bedacht worden ist; wesentlich ist, daß die Frage überhaupt entdeckt worden ist. Diese Entdeckung ist nicht schon in den Anfängen der Philosophie zu suchen. Das Problem hat sich erst später ergeben, als eine unvorhergesehene Konsequenz, nachdem andere Probleme der Philosophie scheinbar bewältigt worden waren. Es hat sich eine Kluft aufgetan, als man verschiedene Themenbereiche zu einer Einheit zusammenfassen wollte. Es ist eine Aporie, in die der Mensch durch sein Grundverhalten kommt, wenn er die Welt bewältigen will. Als erkennendes Wesen ist er darauf angewiesen, Gesetzmäßigkeiten zu finden, er will Ordnung schaffen, im Chaos den Kosmos sehen; als tätiges Wesen aber soll er seiner spezifischen Natur entsprechend freie Entscheidungen treffen - und eines Tages entdeckt er, daß die Forderung nach einer irgendwie geordneten Welt seinem ebenso primären Anliegen, frei zu handeln, widerstreitet, weil auch seine Handlungen der gesuchten Ordnung verfallen müssen. Zwei elementare Voraussetzungen geraten miteinander in Konflikt: das Axiom des bíos theoretikós stellt die Basis des bíos praktikós in Frage und umgekehrt; und je reicher die beiden Bereiche entwickelt sind, um so größer wird das Dilemma, so daß alles Bemühen darauf gerichtet sein muß, die Kluft zu überbrücken. Dieses Ringen hat etwas Unheimliches, weil es plötzlich wieder an den Anfang zurück wirft und alles bisher Erreichte als nichtig erscheinen läßt. Die Philosophiegeschichte erweist sich denn auch unter diesem Gesichtspunkt als nicht abreißende Kette von Versuchen, den 176 Graben zu schließen, ohne daß das Anliegen je etwas von seiner Dringlichkeit verloren hätte. (Das Dilemma gipfelt in der negativen Dialektik Adornos, die man auf den trivialen Punkt bringen kann: "Wie man's macht, ist's falsch.") Werfen wir einen Blick auf die Neuzeit: Die Freiheit ist das Programm der neuzeitlichen Humanität. Befreiung des Menschen vom Aberglauben und politischem Zwang begründet und fordert Spinoza mit Leidenschaft in der ersten großen Freiheitsschrift der Neuzeit, im "Theologisch-politischen Traktat" von 1670. In diesem Traktat übt Spinoza eine fundamentale Bibel- und Religionskritik wie auch eine Staatskritik, deren Grundzüge bis heute gültig sind. Er nimmt sich selber die libertas philosophandi, die er der Obrigkeit abfordert, und zeigt, daß die Freiheit weder den Staat noch Glauben und Religion beeinträchtigt, daß vielmehr die Anerkennung der Freiheit beide in Wahrheit ermöglicht. Seither ist Freiheit ein zentrales Thema der Philosophie wie der Politik. Gleichwohl ist sie alles andere als selbstverständlich gewesen. Überall muß Freiheit begründet und überall muß sie erkämpft werden. Die Reflexion des Begründungszusammenhangs wie auch der revolutionäre Kampf dauern fort. Aber sie halten ihrerseits einen Fallstrick für die Freiheit bereit; denn durch die Begründung, wenn sie schlüssig sein soll, wird ein System der Notwendigkeit konstituiert, das zwar dem Aberglauben keinen Raum mehr läßt, aber auch die Freiheit in Frage stellt. Freiheit, die sich als notwendig begründet, restringiert sich selbst und beschränkt sich schließlich auf ein Anerkennen der Notwendigkeit. Der revolutionäre Kampf um die Freiheit aber kann nicht umhin, Zwang und Gewalt auszuüben, und nicht selten endete dieser Kampf mit der Errichtung eines neuen, vielfach radikalisierten Zwangssystems. Beides aber, die Anerkennung eines Systems der Notwendigkeit wie auch die Hinnahme eines neuen Systems des politischen Zwangs, widerspricht der Freiheit. Die Vernunft gerät mit ihrem unbedingten Streben nach Freiheit mit sich selbst in theoretischen und praktischpolitischen Widerspruch. Gerade Systeme der Notwendigkeit wie die Mathematik und die Metaphysik, aber auch die Wissenschaften von der Natur oder die historisch überkommenen und unerschütterlich erscheinenden Ordnungen der Sitte und der Gesellschaft, nicht zuletzt die politische Macht des absoluten Monarchen oder des totalitären Staates haben ie Freiheit herausgefordert und sind durch die Forderung nach Freiheit in Frage gestellt worden. Die Neuzeit, die Epoche der Selbstbefreiung des Menschen, ist durch einen bisher nicht aufgehobenen Widerspruch gekennzeichnet. In der Antike ist eine erste Periode vornehmlich dem Erkennen einer kosmischen Ordnung hingegeben, da ist es einleuchtend, daß die Frage nach der Willensfreiheit noch nicht auftaucht. 177 Erst die Zeit der Sophisten und des Sokrates, die menschliches Tun zum Gegenstand wissenschaftlicher Erörterung macht, legt die Grundlagen zur Erfassung der Willensfreiheit. Allerdings bleibt die Diskussion im Bereich der ethischen und psychologischen, d.h. der Wahlfreiheit stehen. Dasselbe gilt auch für Aristoteles, welcher der Wahlfreiheit die bekannten Kapitel in der Nikomachischen Ethik widmet, ohne aber zur metaphysischen Freiheitsfrage vorzustoßen. (Da hätte er nämlich fragen müssen, wie sie sich mit seinem sonstigen Weltdeterminismus vereinbaren läßt.) Bei Plato, v.a. im Schlußmythos der Politeia, ist eine gewisse metaphysische Verankerung zu finden, in dem Sinn, daß eine präexistentielle Lebenswahl postuliert wird, auf die dann eine dem Zwang verfallene Daseinsform folgt. Es war aber erst der Neuplatonismus, der den Mythos im Sinn einer bewußten Antwort auf die Willensfreiheitsfrage gedeutet hat. Bei Platon bleibt es noch unausdrücklich, aber daß er die freie Entscheidung in irgendeiner Form voraussetzt, gehört zum Wesen seiner Philosophie. In ihrer ganzen Schwere ist die Problematik, ob der Mensch in seinen Entscheidungen wirklich frei sei, erst von der Stoa erfaßt worden, wobei v.a. durch die Kontroversen mit den übrigen Schulen, den skeptischen Akademikern und den Epikureern, die Schwierigkeit ins volle Bewußtsein rückte. Einerseits können ja die Stoiker nicht genug die Zwangsläufigkeit des Weltgeschehens betonen, in dem - mit Ausschluß des Zufalls - eine unverbrüchliche Kausalität herrschen soll, anderseits ist die Bestimmung des Menschen als eines sittlich, d.h. frei handelnden Wesens eines ihrer dringlichsten Anliegen, und die Gegner haben denn auch den Widerspruch, der sich aus den zwei Postulaten ergibt, mit Vehemenz herausgestellt, was natürlich die Stoiker veranlaßte, mit größtem Aufwand an Scharfsinn die Vereinbarkeit beweisen zu wollen. Allerdings konnten sie in der Freiheit nicht mehr als die innere Zustimmung / synkatáthesis zum äußeren Geschehen fassen. Bekannt ist diese stoische Lehre von der synkatáthesis für uns v.a. in jener überspitzten Sentenz des seneca: ducunt volentem fata, nolentem trahunt. Die Schwierigkeit der stoischen Verteidigung war besonders groß, weil das vorausgesetzte Weltbild die Vereinbarkeit der beiden Forderungen fragwürdig erscheinen ließ. Einmal galt es, die Freiheit des sittlichen Wesens gegen die series causarum, zusammengefaßt in der heimarméne, dem fatum, sicherzustellen. Sie halfen sich mit der Unterscheidung von Haupt- und Nebenursachen, die dem Menschen das Mitspielen im Kausalgefüge ermöglichen sollten, während Epikur, um die Freiheit zu retten, die er als unmittelbare Erfahrungstatsache ansah, in seinem System das feste Kausalgefüge opferte und dem 178 ursachelosen Zufall eine Stelle einräumte, populär geworden in seiner von den Gegnern verspotteten Theorie der Deklination der Atome aus der geraden Fallrichtung. Das stoische Weltbild erschöpft sich aber nicht nur in einem Kausalgefüge. Die im fatum vereinten Kausalreihen sind gleichzeitig Ausdruck einer zweckgerichteten, planvollen Schöpfung der göttlichen prónoia, der providentia. Im stoischen Weltbild steht kausales Geschehen im Dienst eines finalen. Im kausalen Naturzusammenhang fassen wir auch Gott. Damit brechen zwei neue Schwierigkeiten auf. Nach dem consensus gentium ist Gott, sofern man sein Wesen analog dem unseren in einen bíos praktikós und theoretikós auseinandelegt, allmächtig und allwissend. Diese beiden Eigenschaften Gottes aber stehen im Widerspruch zur Willensfreiheit. Ein Gott, der alles ordnet, und nach einem festen Plan prädestiniert, schließt eine autonome Entscheidung des Menschen aus. Hier bricht zudem das aufregende Problem der Theodizee auf: Gott trägt, wenn der Mensch in seinem Handeln unfrei ist, auch die Verantwortung für das Böse unseres Tuns. Nicht minder aber ist die Freiheit der Entscheidung durch Gottes Allwissen gefährdet, zu dem, soll es vollkommen sein, selbstverständlich auch das Wissen um die Zukunft gehört. Damit aber wird wiederum unsere Freiheit zur bloßen Fiktion, weiß doch Gott zum voraus, wie unsere Entscheidungen ausfallen werden. Die Diskussion hat sich vor allem bei der Erörterung der Mantik ergeben, denn durch Zeichen und Orakel kann der allwissende Gott auch dem Menschen einen Blick in die Zukunft verstatten. (Ein heute noch weit verbreiteter Glaube, denn viele Zeitungen widmen ihm täglich eine Spalte.) Aus der Verschlingung der Probleme des fatum (das den Zufall negiert) und der providentia hat sich im Altertum unsere Frage nicht mehr zu lösen vermocht, auf Kosten natürlich der anderen Bezüge, die wir heute mitzusehen gewohnt sind. (Wesentliche Bestimmungen der Freiheit sind: die Freiheit von Zwang oder Nötigung; der Spontaneität, der Indifferenz, des Urteils, zum Guten; als Selbstursächlichkeit - liber est causa sui.) Das gilt für die Anfänge des christlichen Denkens, gilt aber auch für die gesamte spätere heidnische Philosophie. Immer wieder wird unter dem Titel heimarméne oder prónoia auch das eph' hemîn miterörtert; so lautet griechisch der bei den Stoikern zum Fachausdruck gewordene Terminus, den wir lateinisch mit liberum arbitrium wiederzugeben gewohnt sind. Einen Ausschnitt aus dem Ringen der Spätantike um die Rettung der Willensfreiheit bietet die Consolatio philosophiae des Boethius.168 Der Philosoph sieht hier sein persönliches 168 Ernst Gegenschatz, Die Freiheit der Entscheidung in der "Consolatio 179 Schicksal als Opfer einer iniusta confusio. "Minus etenim mirarer, si misceri omnia fortuitis casibus crederem. Nunc stuporem meum deus rector exaggerat." (IV 5,5: "Weniger würde ich mich nämlich wundern, wenn ich glaubte, alles verkehre sich in blinden Zufällen; jetzt erhöht mein Staunen, daß Gott der Lenker ist.") Boethius weist dann die Vereinbarkeit von praescientia und Freiheit nach. Die Vereinbarkeit von praedestinatio und arbitrii libertas bleibt bei ihm aber offen. Immerhin, in dem Punkt, auf den er sich konzentriert hat, ist er zur Klärung gelangt; das ist schon sehr viel, denn, um es mit Malebranche (1638-1715) zu sagen: La liberté, c'est un mystère. Hans Jonas hat in unserer Zeit (nach Auschwitz!) die Problematik erneut aufgegriffen. Von den vier Denkmöglichkeiten169: (1) Gott kann und will die Übel dieser Welt verhindern (aber die Übel sind offensichtlich da); (2) Gott kann weder noch will er sie verhindern (aber inwiefern wäre er dann noch Gott?); (3) Gott kann zwar, will aber nicht (inwiefern wäre er dann aber noch allgütig?) (4) Gott will zwar, kann aber nicht (inwiefern wäre er dann aber noch allmächtig?) entscheidet sich Jonas für die letztere - Gott ist nicht allmächtig; er hat einen Teil seiner Macht an niedrigere Instanzen abgegeben. Sein Gedanke vom leidenden, werdenden, sich sorgenden Gott - ein menschlich berührendes Zeugnis der Frömmigkeit in unserer Zeit.170 "Verzichtend auf seine eigene Philosophiae" des Boethius. Museum Helveticum 15 (1958), S.110-129, sowie Wege der Forschung Bd. 483, Darmstadt 1984. 169 vgl. Lactantius De ira 13,20f: "Deus aut vult tollere mala et non potest, aut potest et non vult, aut neque vult neque potest, aut vult et potest." - als "argumentum Epicuri" vielleicht zu den Fragmenten aus Nat.deor. III gehörend. 170 Hans Jonas, Der Gottesbegriff nach Auschwitz. Eine jüdische Stimme. In: ders., Gedanken über Gott. Frankfurt am Main, 1994. "Nur mit der Schöpfung aus dem Nichts haben wir die Einheit des göttlichen Prinzips zusammen mit seiner Selbstbeschränkung, die Raum gibt für die Existenz und Autonomie einer Welt. Die Schöpfung war der Akt der absoluten Souveränität, mit dem sie um des Daseins selbstbestimmender Endlichkeit willen einwilligte, nicht länger absolut zu sein ein Akt also der göttlichen Selbstentäußerung. Und da erinnern wir uns, daß auch die jüdische Überlieferung nicht gar so monolithisch in Dingen der göttlichen Souveränität ist, wie die offizielle Lehre es erscheinen läßt. Die mächtige Unterströmung der Kabbala, die in unsern Tagen von Gershom Scholem neu ans Licht gezogen wurde, weiß von einem Schicksal Gottes, dem er sich mit der Weltwerdung unterzog. Dort gibt es hochoriginelle und sehr unorthodoxe Spekulationen, unter denen meine nicht so gänzlich allein stehen würde. Zum Beispiel radikalisiert mein Mythos im Grunde nur die Idee des Zimzum, diesen kosmogonischen Zentralbegriff der Lurianischen Kabbala. Zimzum bedeutet Kontraktion, Rückzug, Selbsteinschränkung. Um Raum zu machen für die Welt, mußte der 180 Unverletzlichkeit, erlaubte der ewige Grund der Welt, zu sein. Dieser Selbstverneinung schuldet alle Kreatur ihr Dasein und hat mit ihm empfangen, was es vom Jenseits zu empfangen gab. Nachdem er sich ganz in die werdende Welt hineingab, hat Gott nichts mehr zu geben: Jetzt ist es am Menschen, ihm zu geben. Und er kann dies tun, indem er in den Wegen seines Lebens darauf sieht, daß es nicht geschehe oder nicht zu oft geschehe, und nicht seinetwegen, daß es Gott um das Werdenlassen der Welt gereuen muß. Dies könnte wohl das Geheimnis der unbekannten 'sechsunddreißig Gerechten' sein, die nach jüdischer Lehre der Welt zu ihrem Fortbestand niemals mangeln sollen und zu deren Zahl in unserer Zeit manche der erwähnten 'Gerechten aus den Völkern' gehört haben möchten: daß kraft der Überwertigkeit des Guten über das Böse, die wir der nichtkausalen Logik der dortigen Dinge zutrauen, ihre verborgene Heiligkeit es vermag, zahllose Schuld aufzuwiegen, die Rechnung einer Generation gleichzustellen und den Frieden des unsichtbaren Reiches zu retten." (S.48f.) 4.2.4 Zum Schluß des Buches: Im letzten Satz des Buchs teilt Cicero mit, daß ihm die Erörterung des Balbus wahrscheinlicher vorkam und daß Velleius mehr durch die Ausführung Cottas überzeugt worden war. Die Komparative verior und propensior zeigen, daß nur die Reden des Balbus und des Cotta miteinander verglichen werden. Cicero will durch dieses Ergebnis die Waage im Gleichgewicht halten, ohne dadurch der Wahrheit und seinem Gewissen Gewalt anzutun. Das erreichte Gleichgewicht ergibt ein weiteres Argument gegen die Meinung, daß Cicero einen Sieg der akademischen Lehre wünschte. Dann wäre es ja nicht gerade richtig gewesen, die Ausführungen Cottas ausgerechnet den Beifall des Epikureers Velleius gewinnen zu lassen und sich selbst an die Seite des Stoikers zu stellen; diese Schlußfolgerung gilt natürlich ganz abgesehen von der Frage, ob es ihm mit dieser Wahl ernst war. Es ist nun merkwürdig, daß die eine Seite, die mit der anderen in einen Gleichgewichtszustand gebracht werden soll, aus der akademischen Lehre besteht, die selbst beansprucht neutral zu sein. Hier wird aber die Ausführung Cottas der positiven Götterlehre entgegengesetzt und daher, infolge der Kontrastwirkung, in eine gewisse Negation gedrängt. Gerade das En-Ssof des Anfangs, der Unendliche, sich in sich selbst zusammenziehen und so außer sich die Leere, das Nichts entstehen lassen, in dem und aus dem er die Welt schaffen konnte. Ohne diese Rücknahme in sich selbst könnte es kein anderes außerhalb Gottes geben, und nur sein weiteres Zurückhalten bewahrt die endlichen Dinge davor, ihr Eigensein wieder ins göttliche 'alles in allem' zu verlieren." (S.47f.) 181 aber wird Cicero nun nicht gewollt haben, so daß er als Akademiker, der nicht unmittelbar an der Debatte beteiligt war, den gleichen Endstand, auf den seine Schule soviel Wert legte, herbeiführen konnte. Er vermied dadurch den Eindruck oder wenigstens machte er den Versuch dazu -, daß die Akademie "doch eigentlich atheistisch" war, einen Eindruck, den die gegen die Götterlehre gerichtete Erörterung Cottas auf einen nicht allzu kritischen Leser machen könnte. Wir meinen aber andererseits, daß diese Aussage Ciceros keineswegs im Widerspruch mit seiner wirklichen Meinung gewesen zu sein braucht. Als Akademiker konnte er, wenn er auch die These seiner Schule: "daß nichts (auch in theologicis) sicher ist", ungeschwächt aufrechterhielt, doch sehr gut die Wahrscheinlichkeit (ad veritatis similitudinem propensior sagt er in III, 95) der stoischen Lehre gelten lassen und anerkennen. Das wird Cicero auf dem Gebiet der Götterlehre als richtiger Römer besonders gern getan haben. Ciceros Schlußfolgerung in III, 95 kann sehr gut seine wahre Überzeugung wiedergeben - natürlich mit der Einschränkung, die er selbst in I, 10 macht: Qui autem requirunt quid quaque de re ipsi sentiamus, curiosius id faciunt quam necesse est ff. Das wichtigste Motiv für die Abgabe seiner Stimme so wie er es getan hat, wird somit wohl in dem Bedürfnis zu finden sein, ein akademisches Gleichgewicht zustande zu bringen, und nicht in dem Wunsch, seine persönliche Meinung für die Nachwelt festzulegen.171 5. Zum Nachwirken der Schrift De natura deorum Literatur: Zielinski, Th., Cicero im Wandel der Jahrhunderte, 4.Aufl. Leipzig-Berlin 1929. Grunwald, G., Geschichte der Gottesbeweise im Mittelalter bis zum Ausgang der Hochscholastik (Beiträge zur Geschichte des Mittelalters VI 3) 1907 Price, J.V., Theists in Cicero and Hume, in: Texas Studies in Literature and Language 5 (1963), 255ff. Price, J.V., Sceptics in Cicero and Hume, in Journal of the History of Ideas 25 (1964), 97-106. Als das Christentum nach dem Ende der Verfolgung zu den ersten literarischen Versuchen einer Verteidigung und Selbstdarstellung ansetzte, wurde der Heide Cicero mit einem Teil seiner philosophischen Schriften zum "Bannerträger im Kampf um das Erbe der alten Welt" (Zielinski). Das gilt für Ebenso Kleywegt, Ciceros Arbeitsweise im zweiten und dritten Buch der Schrift De natura deorum. Groningen (J.B.Wolters) 1961. S.219 ff. 171 182 die Bücher "De officiis", die für Ambrosius die Grundlage seiner christlichen Pflichtenlehre ("De officiis ministrorum") bilden, und in noch weit stärkerem Maße für "De natura deorum", weil gerade diese Schrift dazu geschaffen schien, daß mit ihren Aussagen der Angriff auf das Heidentum und die Beweisführung für die Richtigkeit der christlichen Lehre gewagt werden konnte. Minucius Felix Das geschah zum ersten Mal im "Octavius" des Minucius Felix, der "Jungfernrede des lateinischen Christentums, ciceronianisch in der Inszenierung und Ökonomie, ciceronianisch endlich in Gedankeninhalt und Redeweise" (Zielinski). Dionysios von Alexandreia Beim christlichen Kampf gegen die griechisch-lateinische Atomistik, der mit dem Origenes-Schüler Dionysios (248-265 Bischof von Alexandreia) und seiner Schrift Perì physeos (von Eusebios in seiner "Praeparatio evangelica" zitiert) beginnt, kann man Ciceros Einfluß vermuten. Arnobius Die sieben Bücher "Adversus nationes" ("Gegen die Heiden") des Nordafrikaners Arnobius sind nicht nur eine unerschöpfliche Fundgrube für alle Belange der heidnischen Kulte und Religionen seiner Zeit, sondern auch mehrfacher Beleg dafür, daß Ciceros "De natura deorum" zum Kampf gegen die heidnischen Religionen verwendet wurde. Laktanz Laktanz, der Schüler des Arnobius, lehnt sich in seinen Schriften "De opificio" und "De ira Dei" so sehr an das zweite Buch von De natura deorum an, daß Hieronymos (Ep. 70,5) sie eine "Epitome der ciceronianischen Dialoge" nennen konnte. Augustinus In der "Civitas Dei" wird Cicero - "ein würdiger Mann, aber ein schlechter Philosoph" (II 27), "dieser Akademiker, dem alles als ungewiß gilt" (IV 30) - von Augustinus in doppelter Absicht benutzt: einmal, um die eigenen geschichtstheologischen Grundgedanken (v.a. im fünften Buch) durch ihn zu erhärten, zum anderen um ihn anhand seiner "Natura deorum" theologisch ad absurdum zu führen. Civ.Dei V 9 bringt die große Auseinandersetzung Augustins mit Ciceros Lehre von der Willensfreiheit. Die volle Willensfreiheit des Menschen, wie sie uns bei Cicero gerade auch Nat.deor. III 86 in dem stolzen Ausspruch "virtutem nemo umquam acceptam deo rettulit" begegnet oder in seiner Schrift über das Fatum ausgesprochen wird - "Sed haec ex naturalibus causis vitia 183 nasci possunt, exstirpari autem et funditus tolli, ut is ipse, qui ad ea propensus fuerit, a tantis vitiis avocetur, non est id positum in naturalibus causis, sed in voluntate studio disciplina"172 -, diese Willensfreiheit war die Basis, auf der Cicero seine Ethik aufbaute. Pelagius war ihm darin gefolgt und hatte dem Menschen trotz des Sündenfalles durch die ungebrochene Willensfreiheit (liberum arbitrium) die Fähigkeit zur Tugend zugesprochen, der die Gnade Gottes dann nach dem Maße der Verdienste gegeben wird. Dagegen kämpft Augustinus, und gegen Ciceros "verabscheuenswürdige Erörterung" (disputatio detestabilis) in der fragmentarischen Schrift "De fato", in der die göttliche Praeszienz aufgegeben wird, um damit die Freiheit des menschlichen Willens zu retten, richtet sich vor allem Civ.Dei V 8-9, wo Augustinus die Willensfreiheit des Menschen durch die frei waltende Gnade Gottes ersetzt. Die Schrift Augustins: "De diversis quaestionibus ad Simplicianum" soll uns den Entwicklungsgang veranschaulichen, den Augustinus im Lauf seines Lebens bezüglich dieses Themenkomplexes genommen hat.173 Die Gebildeten der spätantiken Welt gingen, wenn sie nicht Skeptiker waren, davon aus, der Mensch sei Herr seiner Handlungen. Auch wenn sie die Natur als eine allumfassende Gottheit verehrten und ihrem Gang eiserne Notwendigkeit zuschrieben, priesen sie die menschliche Selbstgestaltung. Cicero und Seneca waren von der Schwäche des Menschen überzeugt; sie sahen ihn umgeben von einem Meer der Bosheit. Aber sie hielten ihn für fähig, das Ziel aller Dinge zu erfassen; sie dachten, er sei mächtig, sich dem Andrang all des Überflüssigen zu entziehen, das ihm die Gesellschaft zuträgt. Er sollte sich selbst ein Maß setzen, genug, nicht zu viel zu haben. Er sollte seine Angelegenheiten ordnen, vor allem seine Affekte.174 Durch vernünftige Lebensführung und freie Entscheidung sollte er sich ein seliges Leben (vita beata) sichern. Daß der Mensch dies könne, daß er dazu seine Vernunft bekommen habe und daß alle Philosophie diesem Ziel diene - dies war eine allgemeine Überzeugung der spätantiken Welt. De Fato 11. "Solche Fehler können aus natürlichen Ursachen erwachsen; daß sie aber ausgerottet und von Grund auf ausgemerzt werden, so daß selbst der, der zu ihnen hinneigte, sich völlig von solchen Lastern zurückhält, das liegt nicht in natürlichen Ursachen begründet, sondern im Willen, im Streben, in der Zucht." 173 Nach: Logik des Schreckens. Augustinus von Hippo, Die Gnadenlehre von 397, Lat.-Deutsch, Hrsg.u.erkl.v.Kurt Flasch. Deutsche Erstübersetzung v.Walter Schäfer. Mainz 1990. 174 Seneca, Epistolae morales, Ep. I 9,17. Philosophische Schriften, Bd.3, ed. M.Rosenbach, Darmstadt 1980, S.58: suo arbitrio res suas ordinare. 172 184 In ihr wuchs auch Augustin auf. Er berichtet in den Bekenntnissen, welch einen Durchbruch zu sich selbst anno 373 die Lektüre Ciceros für ihn gebracht hatte. Weisheit und damit Herrschaft über die bloße Natur in uns war erreichbar; beim Lesen Ciceros erfaßte er diese Weisheit als den Sinn seines Lebens. Die Seele galt Cicero wie vielen in der Antike als göttlich. Lassen wir sie ihre natürliche Tätigkeit entfalten, dann sind wir frei. Wir überwinden so die Irrungen der Menschen und kehren zurück zur Sternenheimat der Seelen. Dieses Lebenskonzept muß Augustin bald brüchig erschienen sein, denn er schloß sich einer Gruppe radikaler Christen an, den sogenannten Manichäern. Sie nannten als ihre Grunderfahrung den Zwang, der auf ihnen lastete - auf ihnen, insofern sie der sichtbaren Welt zugehörten. Daß wir nicht tun können, was wir als vernünftig ansehen und wollen, dies hatte nach ihrer Philosophie seinen Grund in der Herrschaft des bösen Prinzips über die sichtbare Welt. Freiheit gab es für sie nur durch die Befreiung aus dem Gefängnis der Körperwelt, nicht durch Selbstgestaltung des vernünftigen Willens. Etwa neun Jahre lang gehörte Augustin den Manichäern an. Dann, 386, entdeckte er mit Hilfe der platonischen Bücher die Einheit des göttlichen Prinzips. Dies bedeutete zugleich die Wiederentdeckung der freien Entscheidungskraft des Menschen. Die selbsttätige Beziehung der menschlichen Vernunft auf ein glückseliges Leben trat wieder in Kraft. Als Augustin sich Ostern 387 taufen ließ, bejahte er das chistliche Credo, weil es der Aufstiegsbewegung des menschlichen Geistes Durchsetzungskraft gebe in der sichtbaren Welt: Die Menschwerdung des weltbegründenden Logos, die die sichtbaren Glaubensmysterien und die kirchliche Predigt deuteten ihm darauf hin, daß wir nicht die Gefangenen dieser Weltmaschine sind. Weil er das Christentum so verstand, konnte er das spätantike, vor allem das neuplatonische Denken - mit wenigen Veränderungen - wieder aufgreifen und weitergeben. Die Botschaft der Kirche verlieh der freien Selbstgestaltung neue Motivationskraft; ihre Organisation gab der Wahrheit eine starke Außenseite. Diese Wahrheit hatten nach Augustin die antiken Philosophen, besonders die Schüler Platons, erkannt; das Christentum sollte bewirken, daß sie die Massen erfaßte, also nicht mehr nur wenigen Intellektuellen vorbehalten blieb; jetzt wurde sie dem gesamten Volk zugänglich, wenn auch in Stufen. Wie es seine Art war, behielt Augustin seine Entdeckungen nicht für sich. Er schrieb sofort ein Buch über das glückselige Leben. Noch im Jahr der Taufe schrieb er über die Unsterblichkeit der Seele. Im Jahr darauf, 388, begann er sein Buch über den freien Willen. Die Absage an die Manichäer war eine Rückkehr zur Freiheit des menschlichen Wollens, und 185 Augustin sprach dies nachdrücklich aus. Wie die Neuplatoniker ließ Augustin alles Sein und Leben von einem obersten Prinzip abhängen; wie die Neuplatoniker erklärte er die menschliche Wahrheitserkenntnis als Teilhabe am göttlichen Licht. Wenn die Bibel von Erleuchtung und Begnadung sprach, deutete Augustin diese Worte in diesem allgemeinen neuplatonischen Rahmen. Danach hatte die Sünde Adams die Menschen geschwächt, nicht aber um ihren freien Willen gebracht. Die Menschheit litt unter den Folgen der Adamssünde, aber sie war nicht schuldig geworden mit Adam, denn, so argumentierte Augustin in seinem neugewonnenen Freiheitskonzept, Sünde und Schuld setzen voraus, daß ich wissentlich und willentlich beteiligt bin. Aber daß wir willentlich und wissentlich mit Adam gesündigt hätten, davon konnte nach dem Augustin der Jahre 386 bis 395 keine Rede sein. Die Erbsünde konnte die wesentliche Bestimmung des Menschen zu Weisheit und zu glückseligem Leben also erschweren, aber nicht außer Kraft setzen. Der Mensch, der sich dem Guten zuwendete, konnte mit der Hilfe Gottes rechnen. Hatte er sich einmal kraft seines freien Willens entschlossen, den Glauben anzunehmen und die Taufe zu empfangen, trat er in einen neuen Lebenszusammenhang mit Gott: Der Heilige Geist selbst wurde über ihn ausgegossen und wirkte mit Zustimmung des Begnadeten in ihm seine Werke.175 Im Rahmen dieser Entwicklung sind Augustins Verschiedene Probleme, an Simplician zu lesen. Die Entstehung dieses Werks ist wahrscheinlich im Jahr 397 anzusetzen. Das bedeutet: Etwa 10 Jahre nach seiner endgültigen Abkehr vom Manichäismus, nach der Beschäftigung mit den platonischen Büchern und nach der Taufe revidierte Augustin seine Auffassung des Christentums an entscheidenden Punkten. Man hat darüber geurteilt: Augustins bislang überlagerter Manichäismus breche wieder durch; jetzt gebe er das gegen die Manichäer erkämpfte Freiheitsbewußtsein wieder preis. Vielleicht urteilt man so zu voreilig, indem man die Argumente übergeht, die er für sich anführen konnte. Was ist hier neu? Wenn es einen Text gibt, der dabei auslösend wichtig war, dann war es der Satz aus dem 1.Korintherbrief 4,7: "Was hast du, das du nicht empfangen hättest?" Gegen die Entscheidung Gottes gibt es keine Appellation. Sie in Diskussion zu ziehen, wird 397 für Augustin zum Inbegriff der Unsittlichkeit, nämlich zum Stolz. Der Mensch kann sich jetzt nicht mehr für seine wesentlichen Lebensinteressen, also für sein ewiges Los, auf allgemeine Kriterien wie zum Beispiel Gerechtigkeit berufen. Schon die Absicht, daran zu Vgl.A.Pincherle, La formazione teologica di S.Agostino, Rom 1947; P.Brown, Augustine of Hippo. A Biography, Berkeley 1967, dt. Frankfurt/Main 1973, bes. die Kapitel 9-11; K.Flasch, Augustin. Einführung in sein Denken, Stuttgart 1980, S.55-155; A.Pincherle, Vita di S.Agostino, Bari 1980, bes. S.70-118. 175 186 appellieren, nennt Augustin schlicht: Unverschämtheit. Der Anfang des Glaubens liegt nicht mehr in unserer Hand. Hatte Augustin vor 397 diesen ersten Schritt dem Menschen zuerkannt, so streitet er ihm nun ausdrücklich die Kompetenz zu diesem Beschluß ab. Denn sonst hinge von uns, nicht von Gott ab, wie es mit uns weitergeht. Der Gedanke einer Art von Wechselspiel zwischen göttlicher Gnade und menschlichem Entschluß, den Glauben anzustreben und anzunehmen, erscheint Augustin jetzt unerträglich. Der Mensch kann - in allem, was wichtig ist - keinen neuen Anfang setzen. Ausdrücklich verwirft Augustin jede Art göttlicher Reaktion auf gutes sittliches Handeln: Nicht nur geht das Glaubenwollen nicht mehr dem Glauben voraus, nicht nur begründet das sittliche Wollen und Handeln nicht mehr die Begnadung; auch das göttliche Vorherwissen künftigen guten Handelns darf nicht mehr als Grund der Zuwendung Gottes gelten. Wäre das Vorherwissen künftigen menschlichen Handelns ein Entscheidungsgrund Gottes, dann hingen - nach dieser neuen Betrachtungsweise - der göttliche Wille und der Endausgang menschlichen Lebens vom Menschen ab. Vor 397 hatte Augustin das nicht gestört. In jenem Stadium war die spätantike Wertetafel insofern berücksichtigt, als das göttliche Urteil sich auf sie bezog. Jetzt zerschlägt Augustin diese Wertetafel. Ausdrücklich lehnt Augustin jetzt ab, eine Initiative auch nur teilweise auf den Menschen zurückzuführen. Er verwirft die Vorstellung von einem gemeinsamen Wirken von Mensch und Gott. Augustins neue Gnadenlehre von 397 überläßt das wesentliche Interesse der Menschen dem souverän wählenden und verwerfenden Gott. Wenn es nicht nach guten Absichten und Handlungen, nicht nach Wahrheitssehnsucht und Glaubensbereitschaft der Menschen und auch nicht nach dem göttlichen Vorherwissen all dieser menschlichen Qualitäten geht, dann liegen dem realen Weltgeschehen reine Willensbeschlüsse zugrunde. Es sind Entscheidungen, gegen die an keine Regeln appelliert werden darf. Wir dürfen uns von ihnen keine humanitär aufgeweichten Vorstellungen bilden. Es sind die Beschlüsse eines Wesens, das von Zwillingen vor ihrer Geburt sagt, daß es den einen liebt, den anderen haßt - Jakob und Esau, Genesis 25-27! Und gerade darauf, daß dies vor ihrer Geburt gilt, daß sie selbst nichts dazu getan haben konnten, legte Augustin 397 den Nachdruck. Der Gott Platons und Plotins, der ihm 386 die Überwindung des Manichäismus ermöglicht hatte, verhielt sich vorbehaltslos als reine Güte. Er teilte sich neidlos mit.176 Der Gott der antiken Philosophen zürnte nicht und forderte keine Menschenopfer. Für die Schriftauslegung ergab sich daher der 176 Vgl. bes. Platon, Timaios 29 a-e. 187 religionsphilosophische und hermeneutische Grundsatz: Alle Bilder und Erzählungen von Gottheiten sind nach dem Maßstab des schlechthin Guten und Neidlosen zu deuten. Sie sind also in der Regel zu korrigieren, zu sublimieren, d.h. auf die Würde eines allumfassenden, schlechthin guten Wesens zu beziehen. Daraus folgte die Religionskritik und Dichterauslegung der antiken Philosophen. In diese Deutungsweise war Augustin in der Auseinandersetzung mit den Manichäern hineingewachsen; jetzt, 397, entzieht er sich ihr zugunsten unerforschlicher Gottesbeschlüsse. Diese Weltverdüsterung und diese Entmächtigung des Menschen müssen Gründe haben. Wir müssen mit einer Vielzahl von Gründen rechnen, in die uns Augustin nur teilweise Einblick gibt. Er stellt als sein Hauptmotiv die Intention des Apostels Paulus im Römerbrief voran: Niemand soll sich der eigenen Leistungen rühmen dürfen (Röm 9). Augustin hat mit dieser, merkwürdigerweise bis zu unserer Ausgabe von 1990 unübersetzten Schrift die "Todesurkunde des Gottes der Philosophen", die "Gründungsurkunde des Augustinismus"177 geschrieben. Hier finden wir einen Augustin ohne Glättungen, einen Denker tiefsinniger Schroffheiten jenseits großkirchlicher Kompromisse. Dieser Text illustriert die Geschichte des Terrors in Europa; er wirft Licht auf die Geschichte des westlichen Christentums, bis hin zum Tugendfanatismus Robespierres und zu Säuberungen des 20.Jahrhunderts. Zugleich liegt hier paradoxerweise ein Dokument menschlicher Selbstbehauptung vor. Am Schluß der Schrift De diversis quaestionibus ad Simplicianum I 2 sagt Augustin: "Und doch: WAS WERDEN WIR NUN SAGEN? IST ETWA BEI GOTT UNGERECHTIGKEIT, der eintreibt, von wem er will, und schenkt, wem er will, der keineswegs Ungeschuldetes eintreibt oder fremdes Gut schenkt? IST ETWA BEI GOTT UNGERECHTIGKEIT? DAS SEI FERNE! Aber warum dann bei dem einen so, bei dem anderen anders? O MENSCH, WER BIST DU DENN? Wenn du Geschuldetes nicht zurückzahlst, hast du Grund, freudig zu danken; wenn du zurückzahlst, hast du keinen Grund zur Klage. Glauben wir also einfach, auch wenn wir es nicht zu fassen vermögen. Denn der, der die ganze geistige und leibliche Schöpfung hervorgebracht und begründet hat, er hat alles nach Zahl, Maß und Gewicht wohlgeordnet. Aber unerforschlich sind seine Ratschlüsse und unaufspürbar seine Wege. Rufen wir Alleluja und singen wir sein Loblied! Fragen wir nicht: Was soll das oder was soll jenes? Denn alles ist zur rechten Zeit erschaffen." 177 K.Flasch, l.c. 10 und 51. 188 Ist hier nicht bereits der dialektische nächste Schritt erahnbar: der Vernunft den Glauben nicht als die Zumutung ihrer Selbstopferung anzubieten, sondern als die Eröffnung der Möglichkeit ihrer Selbsterfüllung?178 Daraus ergeben sich ungeheure Konsequenzen ethischer Art. Zunächst gibt es die Erfahrung eines Ordnungsschwundes, des Zweifels an einer auf den Menschen beziehbaren Struktur der Wirklichkeit (symbolisch steht dafür die Erkenntnis des heliozentrischen Systems). Diese Erfahrung ist Voraussetzung für eine generelle Konzeption des menschlichen Handelns, die in den Gegebenheiten nichts mehr von der Verbindlichkeit des antiken und mittelalterlichen Kosmos wahrnimmt und sie deshalb prinzipiell für verfügbar hält. Der Ordnungsschwund ist mit einem neuen Begriff der menschlichen Freiheit verbunden. Aber die Last, die diesmal dem Menschen zufällt, ist anderer Natur als die ihm von Augustin auferlegte: sie ist "Verantwortung für den Zustand der Welt als zukunftsbezogene Forderung, nicht als vergangene Urschuld."179 Die Zerstörung des Weltvertrauens hat den Menschen erst zum schöpferisch handelnden Wesen gemacht, hat ihn von einer verhängnisvollen Beruhigung seiner Aktivität befreit. Charles Taylor hat die These formuliert: "In dem Maße, wie im modernen Zeitalter das Gefühl schwindet, in eine kosmische Ordnung von Ideen hineingestellt zu sein, und die theologische Perspektive aufhört, unmittelbar zugänglich zu sein oder den anerkannten Hintergrund unseres Lebens zu bilden, wächst das Gefühl, daß die Aufgabe, das Leben zu bejahen und eine Quelle inneren Wertes zu finden, uns selbst zufällt. Diese Bejahung hängt entscheidend von der Anerkennung durch den Menschen ab. Es liegt an uns, zu sehen, daß das Dasein gut ist."180 (Zu glauben, daß es nicht gut ist, ist die gnostische Versuchung, die die Kirche von Anfang an begleitet.) Die Frage an die christlichen Kirchen, die sich daraus ergibt, lautet: Kann ein christlicher Antihumanismus authentisch sein? Mittelalter Nach Augustinus verliert Cicero an Bedeutung. Die geistige Elite der Christen braucht ihn nicht mehr, um für eine Apologie der neuen Lehre oder für eine Polemik gegen das Vgl. Hans Blumenberg, Aspekte der Epochenschwelle: Cusaner und Nolaner. Erweiterte und überarbeitete Neuausgabe von "Die Legitimität der Neuzeit", vierter Teil. 2. Aufl. Frankfurt am Main 1982; v.a. S.34ff. 179 Hans Blumenberg, Säkularisierung und Selbstbehauptung. Erweiterte und überarbeitete Neuausgabe von "Die Legitimität der Neuzeit", erster und zweiter Teil. 2.Aufl. Frankfurt am Main 1983. S.158. 180 Charles Taylor, Humanismus und moderne Identität. In: Der Mensch in den modernen Wissenschaften. Castelgandolfo-Gespräche 1983. Hrsg. v. Krzysztof Michalski. Klett-Cotta Stuttgart 1985. S.117-166. S.162. 178 189 Heidentum aus den religionsphilosophischen Schriften Aussagen zu entlehnen. Das angehende Mittelalter kann auf den heidnischen Philosophen verzichten. Dafür steigen Livius und Sallust in der Gunst der folgenden Jahrhunderte, oder Vergil, der mit seiner vierten Ekloge, in der man eine Huldigung an die Geburt des Erlösers zu erkennen glaubte, so sympathisch christlich anmutende Gedankengänge anklingen ließ. Candidus An der Schwelle zur Scholastik steht der Alkuinschüler Candidus (Brun), der von Fulda zur Klosterschule Tours, dann an den Hof Karls des Großen gekommen und von da zurück nach Fulda gegangen war, um hier als Nachfolger des Hrabanus Maurus die Leitung der Klosterschule zu übernehmen. Ihm zugeschrieben werden die "Dicta de imagine Dei" (Manuscrits de SaintGermain-des-Prés num. 1334), in denen u.a. auch ein stoischer Gedankengang aus der "Natura deorum" zu einem ersten Versuch eines Gottesbeweises im Mittelalter herangezogen wird. In der dreifachen Stufenreihe alles Seienden, alles Lebenden und alles Erkennenden steht der Mensch infolge seines Intellekts zwar obenan, ist aber keineswegs allmächtig, da seinem Wollen Grenzen gesetzt sind. Folglich muß es über dem Menschen eine höhere und bessere Macht geben, von der sein eigenes Sein abhängt, eine höhere und allmächtige Macht, die über alle Dinge herrscht, die da sind, leben und erkennen - eben Gott. Das ist eine Paraphrase des Chrysipp-Beweises aus Nat.deor. II 16: "Si est aliquid in rerum natura, quod hominis mens, quod ratio, quod vis, quod potestas humana efficere non possit, est certe id, quod illud efficit, homine melius... id autem quid potius dixeris quam deum?" Humanismus Als Petrarca zur Welt kommt, waren Briefe und Reden und alle rhetorischen und philosophischen Schriften Ciceros beinahe vergessen, und Petrarcas Bedeutung beruht ja darin, daß er als "der anerkannte Führer der Humanisten, der ersten rein weltlichen Intelligenz des neuen Europas" (Zielinski) anzusehen ist, dem wiederum der durch ihn zu neuem Leben erweckte Cicero zum geistigen Führer wurde. Petrarca lebt von Jugend auf mit Cicero, dem er bis zu seinem Tode eine sich immer mehr steigernde Verehrung entgegenbringt. "Si mirari Ciceronem hoc est Ciceronianum esse," bekennt er am Ende seines Lebens, "Ciceronianus sum. At ubi de religione, idem de summa veritate et de vera felicitate deque aeterna salute cogitandum incidit aut loquendum, non Ciceronianus certe aut Platonicus, sed Christianus sum, quippe cum certus mihi videar, quod Cicero ipse Christianus fuisset, si vel Christum videre vel Christi doctrinam percipere potuisset".181 181 Petrarca, De ignorantia 1162, 46 - 1163, 2. Diese 1337-38 verfaßte 190 Luther Bei Martin Luther finden wir eine fast liebevolle Zuneigung zu Cicero, die - in scharfem Gegensatz zu der schroffen, unversöhnlichen Denkungsart Calvins - so weit geht, daß er hofft, "unser Herrgott werde ihm und seinesgleichen gnädig sein" (Tischreden 73,4). Keiner der antiken Autoren wird in seinen Schriften häufiger erwähnt, weniger anhand von Zitaten als in allgemeinen Urteilen über den Wert der von ihm entwickelten Gedanken. "Cicero übertrifft Aristotelem weit in Philosophia und mit Lehren. Officia Ciceronis sind viel besser denn Ethica Aristotelis. Und nachdem Cicero in großen Sorgen, im Regiment gesteckt ist und große Bürde, Mühe und Arbeit auf ihm gehabt hat, doch ist er weit überlegen Aristoteli, dem müßigen Esel, der Geld und Gut und gute faule Tage genug hatte." "Aristoteles ist zwar ein guter und listiger Dialecticus gewest, der den Methodum und richtigen ordentlichen Weg im Lehren gehalten hat; aber die Sachen und den rechten Kern hat er nicht gelehrt wie Cicero. Wer die rechtschaffene Philosophie lernen will, der lese Ciceronem." "Cicero ist ein sehr weiser Mann gewest, hat mehr geschrieben denn alle Philosophi, und alle Bücher der Griechen durchlesen. Mich wundert, daß der Mensch, in so viel großen Geschäften und Händeln, so viel hat können lesen und schreiben" (73,4). Cicero hat die feinsten und besten Quaestiones in der Philosophie gehandelt: Ob ein Gott sei? Was Gott sei? Ob er sich auch menschlicher Händel annehme oder nicht? Und es müsse ein ewig Gemüte sein usw." (73,4). - Das ist die Disposition der schulgerechten stoischen Abhandlung in Nat.deor. II 3: "dividunt nostri totam istam de dis immortalibus quaestionem in partes quattuor. Primum docent esse deos, deinde quales sint, tum mundum ab his administrari, postremo consulere eos rebus humanis"; und mit dem "ewig Gemüte" ist die alles durchdringende, über allem waltende ewige Weltseele gemeint. In unserem Zusammenhang zu nennen sind auch Philipp Melanchthon (1497-1565), Johannes Calvin, Michel Eyquem Seigneur de Montaigne (1533-92), auf die ich aber nicht Altersschrift (genauer Titel: De sui ipsius et multorum ignorantia") enthält eine scharfe Kritik an den auf Aristoteles fußenden Averroisten seiner zeit. Er bekämpft sie mit dem in Nat.deor. entwickelten stoischen Weltbild, er benutzt Cottas Widerlegung der epikureischen Theologie und fällt im Hinblick darauf über Cicero das Urteil, "ut interdum non paganum philosophum, sed apostolum loqui putes, quale est illud in primo <libro> contra Velleium, Epicureae sententiae defensorem" (1151, 41-43). Viermal wird hier der Titel der Ciceroschrift ausdrücklich zitiert. 191 eingehe. Der europäische Deismus Wie die Renaissance als das Zeitalter der freien Entfaltung der Persönlichkeit ohne den wiederentdeckten Cicero unmöglich gewesen wäre, so geht die zuerst in England aufkommende Lehre von der "natürlichen Religion" oder das philosophische Gebäude des Deismus in seinen elementaren Begriffen auf Cicero zurück. Ohne Ciceros "Natura deorum" kein europäischer Deismus. Um die Existenz Gottes zu beweisen, bedurfte es zum mindesten zweier natürlicher Beweise - eines intuitiv-empirischen und eines kosmologisch-teleologischen -, die wir beide - einmal aus epikureischer und stoischer (I 43.44 und II 12) und einmal nur aus stoischer Sicht (II 15) - in "Nat.deor." finden. Einmal: "<Epicurus> vidit esse deos, quod in omnium animis eorum notionem inpressisset ipsa natura. Quae est enim gens aut quod genus hominum, quod non habeat sine doctrina anticipationem quandam deorum, quam appellat prolepsin Epicurus, id est anteceptam animo rei quandam informationem, sine qua nec intellegi quicquam nec quaeri nec disputari potest"182 Mit dem bekannten kosmologisch-teleologischen Beweis befinden wir uns dagegen auf rein stoischem Boden, weil hier aus der Einmaligkeit des Kosmos gefolgert wird, "ut, si quis in domum aliquam aut in gymnasium aut in forum venerit, cum videat omnium rerum rationem modum disciplinam, non possit ea sine causa fieri iudicare, sed esse aliquem intellegat, qui praesit et cui pareatur, multo magis in tantis motionibus tantisque vicissitudinibus, tam multarum rerum atque tantarum ordinibus, in quibus nihil umquam immensa et infinita vetustas mentita sit, statuat necesse est ab aliqua mente tantos naturae motus gubernari".183 Nat.deor.I 43 - "Er <Epikur> nämlich hat allein erkannt, daß erstens einmal Götter existieren, weil die Natur selbst in den Seelen aller Menschen den Begriff davon eingeprägt hat. Denn wo gibt es ein Volk oder eine menschenart, die nicht auch ohne eine Belehrung einen bestimmten Vorbegriff von den Göttern besäße, den Epikur prólepsis d.h. eine bestimmte, in der Seele vorauserfaßte Vorstellung von einer Sache nennt, ohne die man etwas weder erfassen noch untersuchen noch diskutieren kann?" Vgl.I 44;II 12. 183 Nat.deor. II 15 - "denn käme z.B. jemand in ein Haus, in ein Gymnasium oder auf ein Forum und sähe dort die allen Dingen zugrunde liegende planvolle Berechnung, Gesetzmäßigkeit und Ordnung, dann könnte er nicht sagen, dies geschehe ohne Ursache, sondern müßte erkennen, es sei irgendein leitendes Wesen da, dem man zu gehorchen habe; noch viel mehr muß er dann bei so großen Bewegungen und Veränderungen und bei den geordneten Bahnen so vieler und so riesiger Körper, die sich trotz ihres unermeßlichen und unendlichen Alters niemals irgendwie getäuscht haben, erst recht annehmen, daß derartige gewaltige Vorgänge innerhalb der Natur durch eine denkende Kraft gelenkt werden." 182 192 David Hume184 Für das Nachwirken von Ciceros religionsphilosophischer Hauptschrift ist David Hume (1711-1776) das schönste Beispiel. Das gilt für das Nachwirken der epikureischen Theorie über die natürliche Gotteserkenntnis als solche wie für deren Konfrontation mit der stoischen und der skeptischen Theorie, wie sie Cicero in De natura deorum vorgenommen hat. Die entscheidende Schrift Humes heißt "Dialogues concerning Natural Religion“, posthum veröffentlicht im Jahr 1779. Hume hat die natürliche Religion nicht in ihrem ganzen Umfang diskutiert, sondern ein einzelnes Problem herausgegriffen, allerdings ein fundamentales Problem: die Bestimmung unseres Begriffs vom höchsten Wesen durch die Prädikate Geist, Denken, Intelligenz, oder (in der Ausdrucksweise Kants) den Übergang von der Weltursache zum Welturheber, vom Deismus zum Theismus. (Vgl. Kritk d. reinen Vernunft B 659). Hume hatte von seiner Jugend an ein enges Verhältnis zu Cicero, "der den Skeptizismus in der theoretischen Philosophie mit dem Stoizismus in der praktischen zu einer eigenartigen Synthese verband" (Gawlick). Er ist selbst als ein Cicero redivivus bezeichnet worden. Aus gutem Grund hat Hume dem Werk die Form eines Dialogs gegeben: Nur so werden die verschiedenen Aspekte des Problems lebendig und glaubhaft dargestellt, nur so tritt jenes Ganze in Erscheinung, das die Wahrheit ist. (Vgl. Cicero De nat.deor. I 12 - Non enim sumus ii quibus nihil verum esse videatur sed ii qui omnibus veris falsa quaedam adiuncta esse dicamus tanta similitudine ut in ... nulla insit certa iudicandi et adsentiendi nota.) Die Rolle, die bei Cicero der Stoiker Balbus spielt, nimmt bei Hume Cleanthes ein: die des Theisten, der das höchste Dasein durch Begriffe zu bestimmen sucht, die von der Natur des Menschen hergenommen sind, und der das Recht hierzu aus der Ähnlichkeit ableitet, die er zwischen den Werken der Natur und den Erzeugnissen menschlicher Kunst feststellt. Es ist bezeichnend, daß Hume seinem Theisten den Namen Cleanthes gegeben hat, denn der historische Kleanthes (331-233 v.Chr.) war einer der Väter der stoischen Lehre. Der Skeptiker heißt bei Hume Philo, weil Philo von Larissa (um 90 v.Chr.) Lehrer Ciceros war in der skeptischen Philosophie. Offensichtlich ist auch das Schlußurteil des Pamphilus bei Hume über die vorgetragenen Ansichten mit dem Schlußurteil Ciceros in seinem Buch in Übereinstimmung: Pamphilus sagt, Philos Grundsätze seien wahrscheinlicher als die Demeas, die David Hume, Dialoge über natürliche Religion. Neu bearbeitet und herausgegeben von Günter Gawlick. Hamburg 1980. Handout: S.36f. (Schluß des Dritten Teils). 184 193 des Cleanthes aber kämen der Wahrheit näher. (Cicero hat am Schluß gesagt, dem Epikureer seien die Ausführungen des Skeptikers wahrer vorgekommen, ihm selber aber schienen die des Stoikers größere Wahrscheinlichkeit zu besitzen.) Im Fall Ciceros ist es der Verfasser selbst, der den Rahmen des Gesprächs absteckt und das abschließende Urteil fällt, im Fall Humes ist es eine vom Verfasser erfundene Figur, von der nicht ohne weiteres angenommen werden darf, daß sie für den Verfasser spricht. Bei Cicero leuchtet das abschließende Urteil in etwa ein; wir finden es verständlich, wenn Cicero im Epilog die Ansicht des Stoikers in vorsichtiger Weise billigt, obwohl er sich in der Vorrede zur Akademie und ihrer Skepsis bekannt hat. Das ist deshalb kein Widerspruch, weil Cicero die praktische Bedeutung der natürlichen Religion im Auge hat. In der theoretischen Philosophie war er Skeptiker und zwar vor allem deshalb, weil ihm die theoretische Philosophie der Stoiker durch den Dogmatismus verhängnisvolle Folgen für die praktische Philosophie zu haben schien: Ihr Determinismus macht seiner Überzeugung nach die Freiheit des Menschen und damit die Grundlage der Moral zunichte. Bei Hume macht der skeptische Philo im letzten Teil der Unterredung seinem Partner Cleanthes Zugeständnisse, die seine frühere Kritik an dessen Position weitgehend aufzuheben scheinen. Es könnte scheinen, daß der Wunsch nach endlicher Versöhnung des Widerspruchs Vater des Gedankens wird, oder daß der Autor den negativen Eindruck, den der Leser gewonnen haben könnte, durch einen konzilianten Schluß abschwächen will. Seine Kritik hatte sich gegen die Argumentation, nämlich die Analogieschlüsse, des Theisten gerichtet. Er hält sogar den Skeptizismus für die einzig mögliche Grundlage des Theismus. Der Philo Humes fürchtet also, die Kritik an den Argumenten für den Theismus würde ihm als Kritik am Theismus selbst ausgelegt werden, und darum präzisiert er im letzten Teil seine Überzeugungen und legt eine Art Glaubensbekenntnis ab: Niemand habe einen "tieferen religiösen Sinn" oder bringe "dem göttlichen Wesen, wie es sich die Vernunft in dem unerklärlichen Plan und Kunstwerk der Natur offenbart, innigere Verehrung" entgegen als er selbst. Dem Eindruck von Zweck, Absicht oder Plan in der Natur könne sich selbst der oberflächlichste und stumpfsinnigste Denker nicht entziehen; fast alle Wissenschaften führten zu der Anerkennung eines intelligenten Urhebers der Natur, und diese Tatsache habe umso größeres Gewicht, als die Wissenschaften nicht direkt auf dieses Ergebnis ausgingen. Humes Dialogues haben Johann Georg Hamann (1730-1788)185 Unter Berufung auf Hume, der nicht die Macht der analytischen Vernunft, sondern ihre Anfälligkeit gegenüber Irrtümern und Selbstzerstörung zeige, lehnte Hamann die Konstruktion einer Vernunftreligion ebenso ab wie Kants Konzeption der "reinen Vernunft". Vernunft sei nicht zu trennen von 185 194 beeinflußt, der sie sogar übersetzt hat und u.a. Immanuel Kant (1724-1804) darauf aufmerksam machte, der die Bedeutung der Dialogues für die Kritk an der dogmatischen Metaphysik erkannte. In den "Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik", die im Frühjahr 1783 erschienen, setzte Kant sich eingehend mit den Dialogen auseinander: So schwach Humes Einwände gegen den Deismus sind, so stark sind seine Einwände gegen den Theismus. Er greift den Anthropomorphismus an, der allen Versuchen anhaftet, das Urwesen mit Prädikaten zu bezeichnen, die vom Menschen hergenommen sind, und meint, der Anthropomorphismus könne vom Theismus nicht abgetrennt werden, weil sonst nur ein Deismus übrigbliebe, "aus dem man nichts machen, der uns zu nichts nützen und zu gar keinen Fundamenten der Religion und Sitten dienen kann." Es gilt jedoch, den dogmatischen Anthropomorphismus vom symbolischen zu unterscheiden: Jener ist zwar schädlich, aber vermeidbar; dieser ist unvermeidbar, aber unschädlich. Wer die Welt so ansieht, als ob sie das Werk eines höchsten Verstandes und Willens wäre, der bestimmt das höchste Wesen nicht an sich selbst, sondern in bezug auf die Welt, deren Teil er selber ist. Dies ist Erkenntnis durch Analogie. Hume gebraucht das Wort Analogie wiederholt so, als bezeichnete es eine "unvollkommene Ähnlichkeit zweier Dinge"; es bezeichnet aber eine "vollkommene Ähnlichkeit zweier Verhältnisse zwischen ganz unähnlichen Dingen." Auf das Problem der Dialoge angewendet heißt das: Es geht in Wirklichkeit nicht um die Frage, ob die Welt den Erzeugnissen menschlicher Kunst gleicht, und wir folglich schließen dürfen, daß sie eine ähnliche Ursache wie diese hat, sondern es geht um die Frage, ob die Welt sich so zum höchsten Wesen verhält, wie sich die Erzeugnisse menschlicher Kunst zum menschlichen Verstand verhalten. Wer diese Proportion aufstellt, - und niemand kann vermeiden, sie aufzustellen - , der sagt nichts unmittelbar vom höchsten Wesen aus, sondern bestimmt es nur "respektiv auf die Welt", vermeidet also den dogmatischen Anthropomorphismus, der der Kritik nicht standhält. (Prolegomena 57 f.) 6. Zum Schluß Nach Ciceros Absicht sollten die Schriften "De divinatione" Verstehen, Intuition und historischer Erfahrung und bedürfe des Fundaments der Religion. Echtes Wissen könne nur Glaubensgewißheit sein. 195 und "De fato" die Schrift "De natura deorum" ergänzen und somit den die "Theologie" betreffenden Fragenkomplex abrunden. Darauf brauchen wir nicht näher einzugehen, denn für unsere Zwecke ist Vollständigkeit nicht erforderlich. Ciceros religionsphilosophische Hauptschrift "De natura deorum" ist für uns ein Demonstrationsobjekt für das Kennenlernen religionsphilosophischer Gedankengänge. Wenn im Lauf der Lektüre mehr als ein Kennenlernen daraus geworden sein sollte, nämlich ein Gespräch über viele Jahrhunderte hinweg, um so besser. Vielleicht gibt es dann und wann ein Wiedersehen mit einem alten Bekannten. Cicero spricht nie explizit von der theologia tripertita (der "dreigeteilten Theologie"), wie sie der Pontifex maximus Q.Mucius Scaevola (82 v.Chr. ermordet) in Rom vielleicht bekannt gemacht (Augustin, Civ.Dei 4,27), Varro in seinen "Antiquitates rerum divinarum" der Nachwelt vermittelt hat. (Theologia fabulosa der Dichter, theologia naturalis der Philosophen und theologia civilis der Staatsmänner.) Trotzdem dürfte er mit ihr vertraut gewesen sein. Jedenfalls ist er deutlich darauf bedacht, allen philosophischen Vorbehalten zum Trotz die das staatliche Leben festigende und regelnde theologia civilis zu retten. Mit der theologia fabulosa und der naturalis mochte es letztlich jeder halten, wie er wollte. Was hingegen den religiösen Rückhalt des Staates anbelangt, so war Cicero auch im Jahr 44 v.Chr. zu keinen Kompromissen bereit: er konnte sich die Dinge nur so vorstellen, wie er sie zu sehen gewohnt war. Reinigung der ererbten Religion von dunklem, lastendem Aberglauben - ja; von ihm muß man sich befreien, um einer geläuterten, auf Naturerkenntnis beruhenden Religiosität willen. Jedenfalls aber darf aus Gründen der Opportunität die theologia civilis nicht preisgegeben werden. Bis zu diesem Punkt vermag seine "Aufklärung" offenbar gedanklich vorzudringen. Gut nachvollziehbar ist das Bekenntnis zur akademischen Skepsis, deren Tugend es sei, zum einen die Argumente beider Seiten anzuhören und zu prüfen, zum andern nicht Urteile zu fällen, sondern nach der Wahrscheinlichkeit zu fragen und somit dem Urteilsvermögen der Hörer oder Leser keinen Zwang anzutun.186 Seine eigene Auffassung bleibt in ein gewisses Dunkel gehüllt. Sein Philosophieren scheint uns zuweilen dadurch gekennzeichnet, daß ein "erwünschter Glaube" und "rationale Gewißheit" nicht völlig zum Ausgleich gelangen. Nach den brillanten Vorträgen des Akademikers Cotta, zumal nach demjenigen gegen die Stoiker im 3.Buch, meint man, es sei nun wirklich skeptische Zurückhaltung im Urteilen geboten. Trotzdem billigt Cicero am Ende (3,95) der stoischen Götterlehre - im Grunde also einer bestimmten Ausprägung der Auch Origenes, De principiis I 6,1 leitet den Abschnitt über das Ende der Welt und ihre Vollendung als Gottes Schöpfung mit der Bemerkung ein, zu diskutieren biete einen besseren Zugang zum Thema als zu definieren. 186 196 philosophischen theologia naturalis - hohe Wahrscheinlichkeit zu. Ciceros Schriften haben einen bedeutenden Beitrag zur europäischen Aufklärung geleistet. Sie können vielleicht auch einen Beitrag leisten zur Selbstkritik der Aufklärung. Der Dialog zwischen Philosophie und Religion, der im Gange ist, seit die Philosophie entstand, und der bei Cicero in so vorbildlicher, respektvoller Weise geführt wird, der bei Augustinus so dramatisch, ja explosiv wird, hat in der Neuzeit eine ungeheure Verschärfung, aber auch eine große Variationsbreite gegenseitiger Beeinflussung erfahren. Zuletzt sei beispielhaft auf zwei Akteure der Gegenwart hingewiesen: Jürgen Habermas und Johann Baptist Metz. Jürgen Habermas. In den theologischen Diskussionen der Gegenwart nimmt der 1994 emeritierte Frankfurter Sozialphilosoph Jürgen Habermas seit langem einen festen Platz ein. Jüngere und systematische Studien greifen mit schöner Regelmäßigkeit auf Kategorien seiner Kommunikationstheorie zurück, so daß Habermas, der sich selbst als methodischer Atheist bezeichnet, allmählich in den Rang eines anonymen Kirchenvaters aufzurücken scheint.187 Der frühe Habermas zeigte sich noch evolutionstheoretisch davon überzeugt, daß das Phänomen der Religion prinzipiell einer historisch überholten Entwicklungsstufe der Menschheit angehört, so daß von den religiös-metaphysischen Weltbildern in den universalgeschichtlichen Modernisierungsprozessen letztlich "nicht viel mehr als der Kernbestand einer universalistischen Moral"188 übrigbleiben werde. Diese These vom Obsoletwerden der Religion schwächt er in seinen jüngeren Arbeiten jedoch deutlich ab. Heute fragt er eher vorsichtig, "ob denn von den religiösen Wahrheiten, nachdem die religiösen Weltbilder zerfallen sind, nicht mehr und nicht anderes als nur die profanen Grundsätze einer universalistischen Verantwortungs-ethik gerettet - und d.h.: mit guten Gründen, aus Einsicht, übernommen werden können".189 Im Unterschied zu seinem älteren Anspruch, ein in religiöse Hermeneutik eingebettetes Ethos in eine von seiner "erlösungsreligiösen Grundlage entkoppelte kommunikative Ethik"190 aufzulösen und diskursethisch zu beerben, hält Habermas es heute nicht mehr für ausgeschlossen, "daß die monotheistischen Traditionen über Hermann-Josef Große Kracht, Konkurrenz oder Komplementarität? Habermas und die Religion. Orientierung 61 (1997), S.111-113. 188 J.Habermas, Zur Rekonstruktion des Historischen Materialismus (1976), Frankfurt 5.Aufl. 1990, S.101. 189 Ders., Die neue Unübersichtlichkeit. Kleine politische Schriften V (1985), Frankfurt 1986, S.52. 190 Ders., Theorie des kommunikativen Handelns I (1981), 3., durchges. Aufl., Frankfurt 1985, S.331. 187 197 eine Sprache mit einem noch unabgegoltenen semantischen Potential verfügen, das sich in weltaufschließender und identitätsbildender Kraft, in Erneuerungsfähigkeit, Differenzierung und Reichweite als überlegen erweist".191 Deshalb schlägt er heute statt philosophischer Überwindungsund Beerbungsversuche eher eine friedliche Koexistenz von religiöser Rede und philosophischer Reflexion vor und konstatiert: "Solange die religiöse Sprache inspirierende, ja unaufgebbare semantische Gehalte mit sich führt, die sich der Ausdruckskraft in einer philosophischen Sprache (vorerst?) entziehen und der Übersetzung in begründende Diskurse noch harren, wird Philosophie auch in ihrer nachmetaphysischen Gestalt Religion weder ersetzen noch verdrängen können."192 Für Habermas kann gegenwärtig eine nachidealistische Philosophie, die nicht in Literatur und metaphorischer Rede aufgehen, sondern sich im Modus rationaler Begründung nach wie vor "frontal an Wahrheitsansprüchen"193 orientieren will, jedenfalls nicht ohne weiteres "jene in der Sprache der jüdisch-christlichen Heilsgeschichte artikulierten Erfahrungen von Erlösung, universaler Bundesgenossenschaft, unvertretbarer Individualität unverstümmelt, ohne Abstriche an der Fülle ihrer spezifischen Bedeutungen rational einholen".194 Deshalb können und sollen kommunikative Vernunft, "solange sie im Medium begründender Rede für das, was Religion sagen kann, keine besseren Worte findet, ... mit dieser, ohne sie zu stützen oder zu bekämpfen, enthaltsam koexistieren".195 Johann Baptist Metz Sein Name ist verbunden mit einer neuen Konzeption und Phase der sog. Politischen Theologie; mit beachtlichen Auswirkungen auf die Politik in der Dritten Welt, insbesondere in Lateinamerika; mit erheblichen innerkirchlichen Turbulenzen als Begleiterscheinung. Im Vorwort zur 5.Auflage von: „Glaube in Geschichte und Gesellschaft. Studien zu einer praktischen Fundamentaltheologie“ (Mainz 1992) gibt Metz Rechenschaft davon. Worum geht es der neuen Politischen Theologie? Sie will letztlich nichts anderes sein als dies: Theologie, Rede von Gott in dieser Zeit. Sie hat eingesetzt als eine Art Korrektiv, als Korrektiv gegenüber einer situationsfreien Theologie, gegenüber allen idealistisch geschlossenen oder immer wieder sich schließenden theologischen Systemen. Sie betrachtet sich in diesem Sinn als „nachidealistisch“. Sie nährt sich aus einer gewissen Beunruhigung, ja aus einem Ders., Texte und Kontexte. Frankfurt 1991, S.131. Ebd., S.141f. 193 Ebd., S.136. 194 Ebd., S.135. 195 Ders., Nachmetaphysisches Denken. Philosoph. Aufsätze. S.185. 191 192 Frankfurt 1988, 198 von gewissen Erschrecken, aus einer Erfahrung „Nichtidentität“. Die „Situation“, die in den Logos der Theologie eingehen soll, läßt sich durch eine Triade kennzeichnen: einmal die unabgegoltene Auseinandersetzung mit den Prozessen der Aufklärung, dann die Erfahrung der Katastrophe von Auschwitz und schließlich die Vergegenwärtigung der nichteuropäischen, der Dritten Welt in der „Welt der Theologie“. Metz gibt zu bedenken: „Wo die Theologie in ihren Aussagen nicht nur eine postmoderne Religion der psychologischästhetischen Seelenverzauberung vertreten will, wo sie Religion nicht nur als Kompensation für verlorene Transzendenz anbieten will, wo sie vielmehr immer noch auf der Rede von Gott beharrt, wie sie ihr die biblische Tradition auferlegt, gerät sie wissens- und wissenschaftstheoretisch allemal in eine prekäre Situation. In dieser Situation habe ich versucht, auf die Kategorie des (von anamnetischer Vernunft gestützten) Vermissungswissens aufmerksam zu machen. Dieses Vermissungswissen ist theologisch vor allem in den Traditionen negativer Theologie beheimatet. Für mich ist es aus jenem Erschrecken genährt, von dem eingangs die Rede war, dem Erschrecken darüber, daß man der christlichen Gottesrede üblicherweise die himmelschreiende Leidensgeschichte der Schöpfung so wenig ansieht und anhört. Kein Hauch von Unversöhntheit liegt über der Theologie! Keine Erfahrung von Nichtidentität, in der die ach so gewisse Rede über Gott in die ratlose Rede zu Gott umschlägt! Ich weiß, solche negative Theologie widerstrebt dem verbreiteten Postmodernismus unserer Herzen mit seinem Hang zur unmittelbaren Affirmation und mit seiner Provinzialisierung der Problemwelten. Aber ohne dieses Erschrecken, ohne den Schmerz über die Widersprüche in der Schöpfung läßt sich der Grundimpuls der hier vorgelegten Theologie schwerlich nachvollziehen. Sie ist von einer besonderen Theodizee-Empfindlichkeit geprägt.196 Und sie weiß sich in allen Aussagen über Gott, seinen Christus und die Welt einer Eschatologie verpflichtet, der die Vision von der befristeten Zeit noch nicht abhanden gekommen ist – weder durch einen wissenschaftlich-zivilisatorisch gespeisten Evolutionismus noch durch die Inthronisierung der unbefristeten Zeit als Majestät des Seins wie bei Friedrich Nietzsche.“ Metz verlangt von den Theologen eine Art „metaphysischer Zivilcourage“197, „ihre sperrigen Vermissungen am Heute 198 ressentimentfrei zu formulieren“, und von uns allen eine Theodizee ist hier nicht verstanden im Sinn einer rationalen Rechtfertigung Gottes, sondern im Sinn der Frage, wie überhaupt von Gott zu reden sei angesichts der Leidensgeschichte der Welt, „seiner“ Welt. 197 Ausdruck von G.Anders geprägt. Vgl. Johannes Paul II., Fides et ratio. 198 J.B.Metz, Gotteskrise. Versuch zur ‚geistigen Situation der Zeit’. In: Diagnosen zur Zeit. Mit Beiträgen von J.B.Metz, G.B.Ginzel, P.Glotz, J.Habermas, D.Sölle. Düsseldorf 1994. 92. 196 199 „anamnetische Kultur“.199 Inhalt Vorbemerkung 1. 1.1 Religionsphilosophie - was ist das? Vielfalt der Zugänge. Sichtung ausgewählter Einführungen in die Religionsphilosophie 1.2 Begriff der Religion 1.3 Zur Geschichte der Religionsphilosophie 20 1.3.1 Religionsphilosophie der griechischen und jüdischen Aufklärung am Beginn der europäischen Geschichte 1.3.2 Statt eines vollständigen Abrisses der Geschichte der Religionsphilosophie: eine Leseliste der Primärliteratur 1.3.3 Einige Beispiele (Anselm v.Canterbury, Nikolaus von Kues, Spinoza, Lessing, Wittgenstein) 30 1.4 Zur gegenwärtigen Situation der Religionsphilosophie 1.5 Wozu treibt man heute Religionsphilosophie? 1.6 Nachbardisziplinen 1) Religionsgeschichte 2) Religionssoziologie 3) Religionspsychologie 4) Religionsphänomenologie 5) Historisch-philologische Wissenschaften (zu Cicero: Klass.Altertumswiss., Judaistik, Orientalistik, Gnosis- u. Qumranforschung) 1.7 Unser Paradigma für Religionsphilosophie: Gr. anámnesis = Erinnerung. Gemeint ist jenes „Leidensgedächtnis“, in dem der Name Gottes als rettender Name, als anstehendes Ende der Zeit erzählt und bezeugt wird. Vgl. J.B.Metz, Gott und Zeit. Theologie und Metaphysik an den Grenzen der Moderne. In: K.Dethloff, L.Nagl, F.Wolfram (Hrsg.), Religion, Moderne, Postmoderne. Philosophisch-theologische Erkundungen. Berlin 2002. 63-78. 199 1 14 20 28 38 44 47 49 50 51 52 54 Warum gerade Cicero? 2. 200 57 58 2.1 Cicero: Mensch - Politiker Schriftsteller - Philosoph Der Mensch Cicero - Grundzüge seines Wesens. 2.2 2.3 2.4 2.5 2.6 2.7 Ciceros Gedankenwelt als exemplum humanitatis Anspruch und Anerkennung des Geistes in Rom Beredsamkeit und Weisheit bei Cicero Ciceros Freude an der Philosophie Ist bei Ciceros Philosophie Neues zu erkennen? Bemerkungen zur Philosophie der Römer Cicero - Mittel zum Zweck 58 71 73 79 86 89 91 Ciceros philosophisches Schrifttum im Überblick Consolatio und Hortensius Akademische Untersuchungen De finibus bonorum et malorum Tusculanae disputationes De natura deorum De divinatione und De fato Die kleinen ethischen Schriften Cato maior und Laelius De officiis 94 94 95 96 99 99 100 103 103 103 106 108 114 114 4.2.4 De natura deorum Einleitung Zur Religion und Religiosität des Volkes der Römer Philologisches zum Werk De natura deorum Der philosophiegeschichtliche Hintergrund Kommentar Zur Einleitung Darstellung der epikureischen Theologie durch Velleius Epikur - Christentum Die Glückseligkeit der Götter - u.d.Menschen Kritik der epikureischen Theologie Darstellung der stoischen Theologie durch Balbus Existenz Gottes Gotteserkenntnis - Sein (Wesen) Gottes "Gottesbeweis", Gewißheit, Glauben a) Vorsokratik b) Sophistik c) Plato Auswirkungen philosophischer Theologie auf das Christentum Göttliche Vorsehung (Kausalität, Freiheit) Zum Schluß des Buches 5. Zum Nachwirken der Schrift De natura deorum 3. 3.1 3.2 3.3 3.4 3.5 3.6 3.7 3.8 4. 4.1 4.1.1 4.1.2 4.1.3 4.2 4.2.1 4.2.2 4.2.3 101 102 117 130 130 142 142 143 146 148 149 150 152 154 164 177 178 6. Augustinus David Hume 201 179 188 Zum Schluß J.Habermas J.B.Metz 191 192 194