-1- Michael Dähler, alt Synodalrat Diskussions-Anstoss Gemeindebau und Gemeindeleitung: Zur Rolle des Pfarramtes und des Kirchgemeinderates Einleitung Blockierte Situation Die Vorschläge zur Revision der Bernischen Kirchenordnung haben zu verhärteten Fronten zwischen Pfarrerschaft und Kirchgemeinderäten geführt. Einerseits sollen die Kirchgemeinderäte ohne geistliches Amt die Kirchgemeinden wie politische Gemeinden führen, anderseits die Pfarrerinnen und Pfarrer in ihrem Arbeitnehmer-Status von der Leitungsverantwortung ausgeschlossen werden. Beides ist nicht nur falsch, sondern führt in die Sackgasse einer rein verwalteten Kirche. Das wollen weder die Heilige Schrift, noch unsere Kirchenverfassung, noch unsere Kirchenordnung. I. Vier Entwicklungen seit den Achtzigerjahren des 20. Jahrhunderts Seit den Achtzigerjahren haben vor allem vier Entwicklungen das Kirchliche Leben wesentlich beeinflusst und geprägt: Erstens die theologische Reflexion der Gemeindearbeit unter dem Begriff „Gemeindeaufbau“, zweitens der Frauenaufbruch und drittens die rasante Zunahme von Teilzeit-Pfarrstellen und viertens der Stellenausbau und in der Folge grössere Mitarbeiter-Teams. 1. Zum Gemeindeaufbau: Begonnen hat es schon etwas früher mit der freikirchlichen Bewegung „Mut zur Gemeinde“, dann mit den Büchern von Fritz und Christian Schwarz (Theologie des Gemeindeaufbaus, 1984) und Reiner Strunk (Vertrauen. Grundlage einer Theologie des Gemeindeaufbaus, 1985), gefolgt vom volkskirchlich reflektierten Gemeindeaufbau durch Christian Möller (Lehre vom Gemeindeaufbau, 2 Bände, 1987 und 1990) und Michael Herbst (Missionarischer Gemeindeaufbau in der Volkskirche, 1987). Im selben Jahr erschienenen die Schlussdokumente der ‚Schweizerischen Evangelischen Synode’ u.a. mit dem Kapitel „Lebendige Gemeinden/Gottesdienst“, wo der Einbezug der Gemeindeglieder unter dem reformatorischen „Priestertum aller Gläubigen“ reflektiert und postuliert wird. Bis heute erscheinen Publikationen, die den Begriff „Gemeindeaufbau“ im Titel tragen. Diese Bewegung hat ihren Niederschlag auch in der Kirchenordnung aus dem Jahr 1990 im Artikel 100 gefunden. 2. Zum Frauenaufbruch: Die Delegiertenversammlung der Schweizerischen Evangelischen Synode (1983-87) war das erste reformierte ‚Organ’ mit bewusst paritätischer Besetzung. Von jetzt an wurden immer mehr Kirchgemeinderäte paritätisch oder sogar mit Frauenmehrheiten gewählt. Neben der Befreiungstheologie setzte die feministische Theologie die wichtigsten Akzente über das Ende des 20. Jahrhunderts hinaus. Mehr und mehr Frauen ergreifen den Pfarrerinnenberuf. 3. Zu den Teilzeitstellen: Mit dem Aufkommen der Teilzeit-Pfarrstellen kamen die Stellenbeschriebe. Plötzlich musste die bisher durch vollzeitlich tätige Pfarrer anfallende Arbeit seziert, chronometrisch erfasst, aufgeteilt und im Raster der 42Stunden-Woche festgeschrieben werden. Kirchgemeinderäte bekamen neu grosse Pfarrkollegien mit zwischen 30 bis 100 Prozent-Anstellungen zum Gegenüber, die sich gar nicht oder nur mühsam zu einer gemeinsamen Stimme durchzuringen vermögen. -2- 4. Zum Stellenausbau und grösseren Mitarbeiter-Teams: Kollegien, die einst durch zwei, drei hauptamtliche Pfarrer gebildet waren, bestehen plötzlich aus sechs, acht oder zehn Mitarbeiter/innen. Mit dem Neuaufbau der KUW kamen Katechetinnen und KUW-Mitarbeiter in die Kirchgemeinden. Hier und dort stellten Kirchgemeinden Sozialdiakoninnen an. Wer leitet diese hochkarätige Profi-Gruppe, wo jedes - ob mit Voll- oder Teilzeitstelle - sein volles, gleichberechtigtes Mitspracherecht in Anspruch nimmt? Wer hat das nötige Leitungs-Rüstzeug dazu? Wie soll man da zu allseits getragenen Konsens-Beschlüssen kommen? Der Ruf nach der starken Leitung wuchs und wuchs. Die Lösung suchte man aber nicht bei den Mitarbeiter-Teams, sondern in der alleinigen Leitungs-Kompetenz des Kirchgemeinderates. Anstatt vom Neuen Testament liess man sich vom Bernischen Gemeindegesetz leiten: „schliesslich liegt doch die Parallele zum politischen Gemeinderat auf der Hand.“ – Für die äusseren Angelegenheiten : ja, für die inneren: nein! Diese falsche Weichenstellung führte uns in die oben skizzierte blockierte Situation. II. Der Schlüssel zur Lösung: Der Gemeindebau Wir müssen uns auf Dreierlei besinnen: 1. den geistlichen Auftrag der Gemeinde: den Gemeindebau, 2. die Hauptverantwortung für den Gemeindebau und 3. die Leitungskompetenz für den geistlichen Auftrag. Zuerst jedoch noch etwas zum Begriff ‚Gemeindebau’. Er ist der Bezeichnung ‚Gemeindeaufbau’ aus folgenden Gründen vorzuziehen: a) ‚Gemeindebau’ signalisiert, dass schon immer etwas gebaut worden ist. ‚Aufbau’ suggeriert, dass erst jetzt etwas Neues aufgebaut werden müsse. b) ‚Gemeindebau’ ist eine immer währende Aufgabe. c) Der Begriff ‚Gemeindebau’ lässt offen, ob eher in die Tiefe, die Breite und Länge oder Höhe gebaut wird. Das ist gut so. Jede Gemeinde hat andere Bedürfnisse und Gaben. Innere Angelegenheiten im Kirchengesetz, Gemeindebau in Kirchenverfassung und Kirchenordnung Was das Gesetz über die bernischen Landeskirchen in Art. 17 als innere kirchliche Angelegenheiten bezeichnet, umschreibt nichts anderes als die Aufgaben des Gemeindebaus: „..Den Kirchgemeinden kommen Obliegenheiten und Befugnisse zu, welche zur Wahrung und Förderung des kirchlichen und sittlichen Lebens durch die kirchlichen Ordnungen der betreffenden Landeskirche und durch die gestützt hierauf erlassenen Verfügungen ihrer Organe übertragen werden. Sie haben diese Aufgaben mit der gleichen Sorgfalt zu erfüllen wie ihre gesetzlichen Obliegenheiten und unterstehen hiefür auch der gleichen Verantwortlichkeit.“ Mit den inneren Angelegenheiten peilt das Kirchengesetz den geistlichen Auftrag, eben den Gemeindebau, an. Genau darin liegt das Besondere, das eine Kirchgemeinde von einer politischen Gemeinde unterscheidet. Unsere Kirchenverfassung nimmt den Ball in Art. 2 folgendermassen auf: „Die Kirche versteht diesen Dienst zum Aufbau der Gemeinde durch Predigt, Taufe und Abendmahl, Lehre, Unterweisung der Kinder und Jugendlichen, Seelsorge, Liebestätigkeit, innere und äussere Mission und jedes andere ihr zur Verfügung stehende Mittel. Sie ruft ihre Glieder ohne Ansehen der Person zur Busse, zum Glauben und zur Heiligung und ermahnt sie zu tätiger Teilnahme am Leben der Kirche. Sie bezeugt, dass das Wort Gottes für alle Bereiche des öffentlichen Lebens, wie Staat und Gesellschaft, Wirtschaft und Kultur gilt. Sie bekämpft daher alles Unrecht sowie jede leibliche und geistige Not und ihre Ursachen.“ (Kursiv vom Autor). Was hier in Art. 2 KV umschrieben wird, ist der Auftrag zum Gemeindebau im Horizont der Kirche und der ganzen Welt. -3- Folgerichtig nimmt die Kirchenordnung diesen Faden im Art. 100 auf: „Der Kirchgemeinderat und die Ämter sind berufen, zusammen mit allen Gliedern der Kirche mitzuwirken am Aufbau einer in Verkündigung, Gemeinschaft und solidarischem Dienst lebendigen Gemeinde.“ (Kursiv vom Autor). In der KO aus dem Jahr 1990 haben die theologischen Reflexionen der Achtzigerjahre zum Gemeindebau ihren Niederschlag gefunden! Leider taucht aber der diesbezügliche Begriff „Gemeindebau“ in der KO nirgends mehr auf: Die Zuständigkeiten und die Hauptverantwortung für den Gemeindebau sind nirgends festgeschrieben. Das gilt es bei der Revision nachzuholen. Biblischer Auftrag Das eindrückliche Bild vom Leib und den vielen Gliedern verwendet Paulus gleich zweimal: Röm 12,3-87 und 1. Kor 12,12-31. Es bleibt das Leitbild für eine Kirchgemeinde. Im Epheserbrief 4,11-16 finden wir zur Verantwortung für den Gemeindebau hilfreiche Äusserungen. Die Ämter (Apostel, Propheten, Evangelisten, Hirten, Lehrer) werden mit einem klaren Auftrag versehen: „...um die Heiligen (Gemeindeglieder) für das Werk des Dienstes auszurüsten, für die Auferbauung des Leibes Christi....Wir sollen nicht mehr Unmündige sein, wie auf Wellen hin und her geworfen.....Wir sollen viel mehr ...in allen Stücken hinanwachsen zu ihm, der das Haupt ist, Christus.“ Hier finden sich die beiden Begriffe ‚Auferbauung’ und ‚Hinanwachsen’ nebeneinander, sich ergänzend! Gott schenkt das Wachsen, wir sind zum Bauen aufgerufen. Wem dieser Auftrag im Epheserbrief zugewiesen wird, sind in der heutigen Kirchgemeinde die Ämter: Kirchgemeinderat, Pfarramt, Katecheten- und Sozialdiakonenamt, und in der Kirche Synode und Synodalrat. Sie erhalten den klaren Auftrag des Gemeindebaus und tun ihre Arbeit in, für und mit der Gemeinde. So sind sie auf Freiwillige angewiesen, die sie in ihren Projekten, Diensten und Aufgaben unterstützen. Hauptverantwortlich für den Gemeindebau: das Pfarramt Aufgrund seiner Ausbildung in Theologie, Ekklesiologie, Schriftauslegung, Lehre und Seelsorge/Diakonie ist das Pfarramt prädestiniert, unter den vier Ämtern für den Gemeindebau die Hauptverantwortung zu tragen. Das bedeutet folgendes: 1. Entweder ist das Pfarramt durch eine Person besetzt, dann ist der Fall klar: Diese Pfarrperson trägt die Hauptverantwortung für den Gemeindebau. Ist das Pfarramt durch zwei oder mehr Personen besetzt, dann muss der Kirchgemeinderat jene Pfarrperson bezeichnen, welche für den Gemeindebau die Hauptverantwortung trägt. Anders ist ein laufend reflektierter und koordinierter Gemeindebau zusammen mit den Teilzeitstellen und den weiteren Ämtern Sozialdiakonie, Katechetik und Kirchgemeinderat nicht zu gewährleisten. Wir haben heute in den Gemeinden Pfarrstellen mit 30, 50, 60, 80 oder 100 Prozentanstellungen. Viele Pfarrpersonen wohnen nicht in „ihrer“ Kirchgemeinde. Deshalb müssen wir in der Berner Kirche Abschied nehmen vom 160 jährigen Ideal, wonach alle Pfarrer gleich seien. 2. Das Pfarramt, resp. die hauptverantwortliche Pfarrperson, hat den Auftrag, stets das ganze Gemeindeleben im Auge zu behalten, d.h. auch die Arbeitsgebiete des Sozialdiakonen- und des Katechetenamtes, sowie der ganzen Pfarrerschaft. Sie nimmt Impulse und Beobachtungen aus der Gemeinde, aus dem Kollegium und vom Kirchgemeinderat auf, stellt spirituelle, seelische und existentielle Nöte und Anliegen sowie infrastrukturelle und andere Mängel fest, die aus Sicht des Gemeindebaus anzugehen sind. 3. Das Pfarramt, resp. die hauptverantwortliche Pfarrperson, ist dafür zuständig, dass einerseits Anträge des ganzen Kollegiums aufgrund eines Konsenses oder -4- Mehrheitsentscheides in den Kirchgemeinderat gelangen, anderseits Aufträge des Kirchgemeinderats durch das Kollegium umgesetzt werden. 4. Die hauptverantwortliche Pfarrperson bekleidet einen hohen Anstellungsgrad und hat selbstverständlich Residenzpflicht. 5. Die Befugnisse und Kompetenzen der hauptverantwortlichen Pfarrperson müssen im Detail festgehalten werden. Offen bleibt die Frage, ob ihre Leitungs-Verantwortung in grösseren Gemeinden lohnrelevant wird. 6. Die Aus- und Weiterbildung für das Pfarramt muss den Gemeindebau endlich thematisieren. Gemeindebau und Förderung der Freiwilligen Zum Schluss das Wichtigste: In den Freiwilligen spiegelt sich die Vielfalt an Gaben (Charismen), die einer Gemeinde geschenkt sind. Sie sind im Gottesdienst, in der KUW, in der Jugend-, Senioren- und Gemeindearbeit (Anlässe, Bazare etc.), sowie in der Pastoration (Besuchsdienste u.a.), in der Administration und im Kirchgemeinderat zu finden. Nirgends taucht in der KO der Begriff „Freiwillige“ auf! Nirgends! Dabei haben wir in der Sozialbilanz der Ref. Kirchen BE-JU-SO aus dem Jahr 2000 ihre Wichtigkeit nachgewiesen! Zudem gab es bereits 2001 ein UNO-Jahr der Freiwilligen! Es gehört zu den wichtigsten Aufgaben des Sozialdiakonen-, Katecheten- und Pfarramtes, Freiwillige zu gewinnen, in ihrer Tätigkeit zu begleiten, zur Weiterbildung zu ermutigen und würdig zu verdanken. Die Freiwilligen stehen in keinem Arbeitsverhältnis mit der Kirchgemeinde. Umso mehr ist die Förderung der Freiwilligen mit ihren Gaben, die der Gemeinschaft zugute kommen wollen, eine der wichtigsten Aufgaben des Gemeindebaus und liegt in der Hauptverantwortung des Pfarramts. Hauptverantwortung heisst nicht, dass der Pfarrer alles alleine tut, sondern den Einbezug der Freiwilligen auch durch die andern Ämter im Auge behält. Wer im Pfarramt seine Arbeit als Soloproduktion versteht, missversteht sein Amt. Immer wieder ist das Lied zu hören: „Ich mache lieber alles alleine, das geht viel schneller, als mich mit Laien in einer Gruppe abzurackern.“ Das ist eben nur die halbe Wahrheit: wer sich die Mühe nimmt, Gemeindeglieder einzubeziehen, investiert vorerst viel Zeit, das stimmt; aber dann kommt der Moment, wo diese Gemeindeglieder zur Entlastung werden, weil sie unterdessen Kompetenzen erworben haben, und vor allem: sie geben mir zu spüren, dass ich nicht allein, sondern getragen bin! Ein kirchliches Amt ist immer ein Auftrag, „..um die Heiligen für das Werk des Dienstes auszurüsten.“ Und das geschieht mit viel Liebe, Gespür, Hingabe und Geduld! Diese Ausrüstung in geistiger und sachkompetenter Hinsicht ist die Kernaufgabe der Ämter! Was gibt es schöneres als eine Gemeinde, die ihre Vielfalt in begeisterten, für Schwache, Kranke, Bedürftige aber auch Gottesdienste, Bazare, Gemeindeanlässe engagierten Gemeindegliedern lebt! Eine Gemeinde ohne Freiwillige ist tot, selbst wenn alle Ämter besetzt sind. Und wie gewinne ich Freiwillige? Indem ich die Menschen liebe, sie in ihrem Umfeld kennen lerne, beobachte, in Freud und Leid begleite und ihre Fähigkeiten und Gaben entdecke. Und damit ich das als Amtsträger kann, muss ich mit der Gemeinde zusammenleben. Nicht nur zwei, drei, sondern mehr Jahre! Kirchliche Amtsträger/In sein ist kein Job, sondern Berufung zur Verkündigung, Gemeinschaft und zum solidarischen Dienst (KO Art. 100). -5- III. Das geistliche Amt des Kirchgemeinderates Aus dem oben Dargelegten ergibt sich logischerweise, dass die hauptverantwortliche Pfarrperson zur Gemeindeleitung (nach wie vor ohne Stimmrecht) gehört: sie bringt die Impulse und Anträge für den Gemeindebau ein. Diese sind für das Leben der Gemeinde entscheidend. Und der Kirchgemeinderat, gleichermassen für die äusseren wie die innerkirchlichen Angelegenheiten verantwortlich, steht auch für den Gemeindebau in der Pflicht: das ist sein geistliches Amt, das ihn von einer politischen Gemeindebehörde unterscheidet. Deshalb – und das ist reformatorische Theologie – nimmt der Kirchgemeinderat zusammen mit dem Pfarramt das Amt der Ältesten wahr. Die Reformation – in Bern erst das Kirchengesetz von 1852 - hat das in der katholischen Kirche allein dem Priester übertragene Ältestenamt auf Theologen und Laien aufgeteilt. In äussern Angelegenheiten ist klar: der Kirchgemeinderat entscheidet. Und in innern Angelegenheiten nur, wenn Konsens besteht: Wenn sich Pfarramt, resp. hauptverantwortliche Pfarrperson, und Kirchgemeinderat in einer Frage des Gemeindebaus nicht einigen können, ist der Synodalrat anzurufen: hier hat er seinen Leitungsauftrag mit Befugnissen, wo es um die geistliche Auferbauung der Kirche geht! Die Synode lehnt es ab, die Rolle des Kirchgemeinderates als Amt zu bezeichnen; d.h. er wird gar nicht erwähnt. Immerhin bezeichnet die bestehende Kirchenordnung (Art. 107,3 und 108) Kirchgemeinderäte als Amts-Trägerinnen. Es kommt noch unbiblischer: Mit den Beschlüssen im Winter 2008 schwächt die Synode den Grundsatz 3) dahingehend ab, dass Pfarrpersonen und Mitarbeitende nicht mehr zur Beratung des Kirchgemeinderates verpflichtet sind, sondern nur noch ein Anhörungsrecht haben. Das Kirchengesetz unterscheidet klar zwischen inneren und äusseren kirchlichen Angelegenheiten. Für die äusseren sind das Kirchengesetz und das Gemeindegesetz massgebend. Es sind in etwa dieselben Leitungsaufgaben, die einem politischen Gemeinderat zustehen. Hier ist in erster Linie auf kantonaler Ebene die Kirchendirektion zuständig. Für die inneren kirchlichen Angelegenheiten hingegen sind die Kirchenverfassung, die Kirchenordnung und die Erlasse von Synode und Synodalrat massgebend. Es handelt sich vor allem um den geistlichen Auftrag des Gemeindebaus. In diesen Fragen leiten die vier Ämter gemeinsam, wobei das Pfarramt die Hauptverantwortung trägt. D.h. alle Ämter müssen aufgrund der Aufträge, welche die KO der Kirchgemeinde überträgt (art. 18 bis 99), gemeinsam beraten und zu einer Entscheidung kommen, die schliesslich der Kirchgemeinderat fällt. Und da hat der Kirchgemeinderat als letztes Entscheidungsorgan auch einen geistlichen Auftrag, eben ein Amt. Dazu gehört zum Beispiel, was die KO festschreibt: z. B. die Ansetzung der Gottesdienste, Erhebung und Zweck der Kollekten, ist verantwortlich für den Unterweisungsplan und deren Aufsicht, macht auf Gelegenheiten seelsorgerlicher und diakonischer Hilfe aufmerksam. Ein Kirchgemeinderat kennt für seine Sitzung auch das Gebet, das Kirchenlied oder biblische Lesungen. Das sind Funktionen des geistlichen Amtes des Kirchgemeinderates! Nun aber soll eine KO auch dienlich sein, wenn man sich nicht einig wird, oder wenn es Konflikte gibt. Findet man in einer innerkirchlichen Frage unter den Ämtern den Konsens nicht, kann der Synodalrat als die vorgesetzte und für den Gemeindebau zuständige Behörde (Art. 9 KV) angerufen werden: er soll Hilfe zur Entscheidfindung -6- bieten. Genau hier sind der Gemeindeautonomie Grenzen gesetzt, weil die Kirchgemeinden Teil der Gesamtkirche sind. Der Vorschlag der Synode degradiert den Kirchgemeinderat zur Behörde und signalisiert damit, dass sie in Zukunft nur noch eine verwaltete Kirche wünscht! Und wer hat die geistliche Leitung inne? Wer den Kirchgemeinderat in allen seinen Belangen als weltliche Behörde bezeichnet und ihm das geistliche Amt abspricht, entzieht ihm vor dem Hintergrund des Neuen Testaments den Anspruch, innerkirchliche Angelegenheiten zu entscheiden. In der (letzten) Berner Liturgie von 1912 stossen wir auf das Formular: „Einführung des neu gewählten Kirchgemeinderates in sein Amt: ...Wir freuen uns, die neu gewählten Kirchgemeinderäte heute vor versammelter Gemeinde begrüssen zu dürfen und sie feierlich in ihr Amt einzuführen, durch das sie zur Leitung des kirchlichen Lebens in der Gemeinde mitberufen sind. (mitberufen!, die Red.) Das Amt des Kirchgemeinderates hat biblischen Grund. Schon in den ersten Christengemeinden finden wir Leute, welche das Amt von Vorstehern versahen. Sie werden in der Heiligen Schrift Presbyter oder Älteste genannt. Diese Ältesten waren Männer, die...durch die Reife ihres christlichen Glaubens hervorragten und die durch einen gottesfürchtigen Wandel in der Gemeinde Ansehen und Vertrauen genossen. Sie befassten sich mit der Beaufsichtigung und äusseren Leitung der Gemeinde. ...Nun ist in unserer evangelischreformierten Kirche die geistliche Versorgung der Gemeinde in Predigt, Unterricht und Sakramentsverwaltung dem Pfarrer anvertraut. Doch soll die Verantwortung für die Leitung der Gemeinde nicht auf ihm allein ruhen. Darum wird auch bei uns eine Anzahl Männer und Frauen....zum Amt des Kirchgemeinderats berufen.“ Oder werfen wir einen Blick in das erste Bernische Kirchengesetz von 1852, das den Kirchgemeinderat neu einführt: „Die Kirchgemeindeversammlung wählt die Kirchenältesten ‚aus der Zahl ihrer ehrbarsten und gottesdienstlichsten Männer’, vier bis zwölf an der Zahl auf je vier Jahre. Die Gewählten geloben, die kirchlichen Gesetze und Ordnungen zu beachten, christliche Zucht und Sitte, Frieden und Eintracht in der Gemeinde zu handhaben und durch ihren Dienst das Wohl der Landeskirche, ihre Erbauung auf dem Grunde des göttlichen Wortes und im Glauben an Christus nach bestem Wissen und Gewissen zu wahren und zu fördern.“ (Guggisberg, Bernische Kirchengeschichte, S. 649). Wenn das kein geistlicher Auftrag, also ein kirchliches Amt ist! Übrigens: bis 1852 oblag dieser Auftrag allein der Pfarrerschaft. Von der Reformation weg bis 1852 gab es für die innerkirchlichen Angelegenheiten die Pfarrersynode, das Äussere regelte die Regierung. Fazit: Ein reformierter Kirchgemeinderat ist mehr als ein politischer Gemeinderat: Ihm obliegen nicht nur die im Gemeindegesetz festgelegten verwalterischen Pflichten, sondern er hat zudem das geistliche Amt, den Bau einer lebendigen Gemeinde mitzufördern. -7- Schluss Wenn die Revision der Kirchenordnung den vorgezeichneten Weg gehen wird, haben wir eine riesengrosse Chance verpasst. Nein, das ist zu gelinde gesagt! Wir verniedlichen eine heilig-ernste Sache zu einem Problem, das man mit Kniffen neuzeitlicher Verwaltungstheorien zu lösen vermeint. Ohne Rück-Sicht auf das Evangelium, unsere eigene Geschichte, und auf die Tatsache neuer Gegebenheiten seit den Achtzigerjahren. Verändert haben sich die Kollegien, die grösser und grösser und leitungslos geworden sind, und nicht die Kirchgemeinderäte. Man hat es unterlassen, den Hebel bei der Leitung der Mitarbeiter-Teams anzusetzen. Dabei bietet sich die Verantwortlichkeit für die inneren Angelegenheiten – sprich Gemeindebau – geradezu an: Alle Ämter stehen in der Pflicht; die Hauptverantwortung aber liegt beim Pfarramt. Somit ist auch klar, dass das Pfarramt in inneren kirchlichen Angelegenheiten sehr wohl in die Leitung integriert sein muss. Schliesslich wird der Kirchgemeinderat entscheiden, aber nur dann, wenn man sich einig ist. Andernfalls muss der Synodalrat als Mittler und Wegweiser beigezogen werden. Thun, 10. Februar 2010