Globalisierung und demokratische Legitimation1 (Otmar Höll) Inhalt 1. Einleitung: Von Staats- zu Wirtschaftsräumen 2. Die engere Verschränkung von Wirtschaftsräumen 3. Globalisierung als verallgemeinerte Interdependenzproblematik 4. (Welt-)Demokratie und (Welt-)Bürger? 5. Schlußfolgerungen und Perspektiven 1 Veröffentlicht in: Bundesministerium für Wirtschaft und Arbeit (Hg.): Österreichs Außenwirtschaft – Das Jahrbuch 1999/2000, Wien 2000, S. 207-221. 2 Globalisierung und demokratische Legitimation Otmar Höll Summary Staatliche Souveränität wird zunehmend brüchig Am Ende des 20. Jahrhunderts scheint von der Souveränität der Nationalstaaten, wie sie sich nach dem westfälischen Frieden von 1648 langsam herausgebildet hatte, nicht viel übrig geblieben zu sein. Nachdem im Systemwettbewerb zwischen Kommunismus/Planwirtschaft und Demokratie/Marktwirtschaft der Westen gesiegt hatte, wird der gesellschaftliche Diskurs von einer verallgemeinerten „De-Nationalisierungs- und Standortdebatte“ bestimmt, die unter dem Begriff der „Globalisierung“ Furore machte. „Globalisierung“ als Tendenz, nicht als Realität Während sich im Bereich des interna- tionalen Finanzsystems „Globalisierung“ tatsächlich empirisch beobachten läßt, werden reale ökonomische Prozesse (noch immer) zum überwiegenden Teil im „nördlichen Triangel“ zwischen den Großwirtschaftsräumen Nordamerika, der Europäischen Union und dem südostasiatischen Raum mit dem Zentrum Japan getätigt. „Globalisierung“ eignet sich aber auch als Waffe in dem nach dem Ende der Bipolarität neu aufgeflammten Verteilungskampf zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern, in den soziale Errungenschaften und demokratische Rechte unter dem Druck tendenziell globalisierter Märkte geraten sind. Doch sind für die Phänomene der Sockelarbeitslosigkeit, für neue Formen sozialer Armut sowie für die Leistungs- und Finanzierungsdefizite der nationalen Haushalte und Sozialversicherungssysteme nicht allein die Globalisierungstendenzen oder die Strategien transnationaler Unternehmen verantwortlich. Diese Phänomene sind auch Konsequenz der jüngsten technologischen Revolution, die bereits in den siebziger Jahren ihren Ausgangspunkt genommen hat. Andere globale Problembereiche Zudem sind Phänomene der weltweiten Verflech- tung und Interdependenz aber auch in nicht ökonomischen Bereichen zu beobachten, wie vor allem globale Umweltprobleme, die organisierte Kriminalität, Migration, etc. Zukunft der Demokratie – Effizienz transnationaler Entscheidungen Im Beitrag wird der Frage nachgegangen, wie es in Zukunft mit der Demokratie, d.h. der Mitentscheidung und Mitgestaltung der Bürger an der Politik, bestellt sein wird. Während die Frage nach der Effizienz zukünftiger politischer transnationaler Entscheidungen eher positiv eingeschätzt wird, kann nicht endgültig gesagt werden, ob zu erwartende strukturelle Probleme der demokratischen Gestaltung grenzüberschreitender politischer Prozesse durch neue Formen der demokratischen Willensbildung im transnationalen Bereich sowohl theoretisch als auch praktisch überwunden werden können. 3 Summary Souvereignty or illusion At the end of the twentieth century, the sovereignty of states, as developed after the Westphalian Peace of 1648, seems to “wither away”. While the West without any doubt won the competition between communism/planned economy and democracy/market economy, the social discourse was constructed around the notion of “Globalization” and its consequences. The hidden agenda of this debate, however, has been about “de-nationalization” and the best “site for production plants” (Standortdebatte). Globalization only partially realized The article argues that so far “globalization” can only be empirically proven in the context of the world financial system, while the majority of “real economy”-processes are still carried out between the large economic spaces of North America, the European Union and the South-Pacific Rim with Japan in its center. Obviously, the “Globalization”-discussion has also been used as an instrument in the recent fight for the division of profits between employers and employees. Social security systems and democratic structures have come under rising pressure from the globalized markets. High rates of structural unemployment and the appearance of social poverty remain, however, not solely a consequence of globalization or transnational corporations strategies. These new phenomena are also due to the “third industrial revolution” (computerization), which had already begun in the 1970s. Other global problems areas In addition to increasing economic involvement and interdependence of states globalization can also be found in the context of noneconomic areas, such as global environmental problems, organized crime, migration, etc. Future of political decision-making unclear The theses elaborated in the article offers some food for thought in dealing with the functions and constraints of political regulation of societies. The question whether new solutions in transnational forms of democratic political decision-making can be found in the future also deals with the future of democracy in general, democratic decision-making and participation of citizens in the political processes. Even if future political decision-making should prove efficient and provide positive results, no final judgement can be made on democratic decision-making of transnational processes. So far it is impossible to predict whether they can be successfully constructed in theoretical as well as in practical terms. 4 1. Einleitung: Von Staats- zu Wirtschaftsräumen Der Leiter der renommierten London School of Economics, der Soziologe Anthony Giddens, hatte wohl recht, als er 1994 schrieb „World (...) has taken us by surprise. The world of the late twentieth century has not turned out in the way, the thinkers of the Enlightment anticipated when they sought to give direction to history by overcoming the influence of tradition and dogma.2. Kontrollerwartung der Aufklärung nicht erfüllt Seiner Meinung nach ist die Welt des 20. Jahrhunderts nämlich nicht zu dem geworden, was sich die Denker der Aufklärung erwartet hätten. Diese hatten geglaubt, je mehr Information über die soziale und materielle Wirklichkeit der Menschheit in Hinkunft zur Verfügung stünde, desto besser wäre sie in der Lage, Abläufe in ihrem eigenen Interesse zu lenken und zu kontrollieren. Die Menschen würden so nicht nur zu den „Berichterstattern“, sondern zu den „Meistern“ ihres Schicksals werden. Von dieser Vision, so Giddens, sei in der Welt, in der wir heute leben, nur wenig übrig geblieben. Im Gegenteil: Je mehr Wissen angehäuft wurde, desto mehr sind wir mit Ungewißheit und Unsicherheit konfrontiert. Daher gelte die viel gepriesene traditionelle Gleichung der Moderne, mehr Wissen bedeute auch mehr Kontrolle, heute nicht mehr. Mehr Wissen – mehr Unsicherheit Tendenz zur „Globalisierung” hat die allgemeine Weltsicht verändert Daß dem so ist, sei auf zunehmende, von Menschen produzierte Probleme und Unsicherheiten zurückzuführen. Diese seien teils gezielte durch individuelle oder kollektive Maßnahmen, aber auch durch nicht beabsichtigtes Handeln ausgelöst worden, die unter anderem das Ergebnis von Veränderungen der Gesellschaft und der Natur im Verlauf der gesamten Moderne gewesen seien. Was besonders schwer wiegt 2 Vgl. Giddens 1994. 5 ist, daß gerade während der vergangenen vier bis fünf Jahrzehnte ein Großteil dieser Veränderungsprozesse stattgefunden hat.3 Die Tendenz zur Globalisierung (nicht nur im wirtschaftlichen Bereich, sondern – im Sinne von Giddens verstanden – als verallgemeinerter Prozeß der beschleunigten „Transformation von Raum und Zeit“) ist eine dieser großen Veränderungen. Globalisierung in diesem weiteren Sinn verstanden habe die Kontexte sozialer Erfahrung für die gesamte Menschheit nachhaltig und tiefgreifend verändert. Sie sei nicht nur ein Phänomen der (gesellschaftlichen) Außen- sondern auch der (individuellen) Innenwelt, indem sie nicht nur die Sicht der materiellen Welt verändert habe, sondern auch die Intimsphäre der Menschen als Individuen und als Kollektiv berühre. Weit davon entfernt ein Einzelprozeß zu sein, sei Globalisierung eine komplexe Mischung verschiedener Prozesse, die oft scheinbar oder tatsächlich widersprüchlich verlaufen und bislang sowohl kaum beachtete Konflikte als auch neue, teils überraschende Strukturen produzieren. Tendenz zur wirtschaftlich-globalen Verflechtung schon im 19.Jahrhundert Ohne Zweifel war es der rasante Prozeß der transnationalen wirtschaftlichen Verflechtung, durch den entscheidende Wegmarkierungen dieser komplexen Entwicklung in einem tendenziell globalen Ausmaß gesetzt und neue Rahmenbedingungen vorstrukturiert wurden. Zweifellos auch, daß die rasche Zunahme der Reichweite grenzüberschreitender wirtschaftlicher Austauschverhältnisse, die schon bald nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges zuerst zwischen den USA und Westeuropa eingesetzt und später auch Japan mit eingeschlossen hatten, am Ende des 20. Jahrhunderts von der Souveränität und Autonomie der Nationalstaaten nur Souveränität der „Nationalstaaten” ist brüchig geworden noch wenig übrig gelassen hat.4. Während unter dem Druck ständig steigender Produktivitätsfortschritte (durch technologisch rasante Entwicklungen) und rasch steigender Kosten von 3 Diese Veränderungen betreffen neben einer explosiven quantitativen und qualitativen Entwicklung im Bereich von Wissen und Information vor allem auch ökologierelevante Faktoren. Seit Beginn des 20. Jahrhunderts hat sich der weltweite Verbrauch fossiler Energieträger um den Faktor 30, die gesamte industrielle Produktion um den Faktor 50 vervielfacht und die Bevölkerungszahl hat sich mehr als verdreifacht. Allein in der etwa 50jährigen Phase seit Ende des Zweiten Weltkrieges haben vier Fünftel aller dieser Wachstumsprozesse stattgefunden. 4 Dazu vgl. auch die Analyse des Doyen der deutschen Internationalen Politikwissenschaft, Karl Kaiser 1998, S. 3–11. 6 Forschung und Entwicklung (zur Implementation neuer Produkte und Verfahren) der Zwang zur Eroberung immer größerer Märkte, Unternehmen und Staaten in einen an Intensität zunehmenden Konkurrenzkampf geführt hat, scheinen zunehmend alle jene kostenrelevanten Bereiche, die in diesem Kampf eine „Belastung“ darstellen, in Frage gestellt zu werden. Dazu zählen neben den allgemeinen Infrastruktur- v.a. auch die Lohnnebenkosten, die Sparquoten, Kapitalzinsen, Arbeitszeiten, aber auch jedes „Übermaß an Demokratie“, das die Konkurrenzfähigkeit einer Wirtschaft potentiell beeinträchtigen könnte.5 Nationalstaatliches Dilemma Die Nationalstaaten sehen sich daher vor ein schwer auflösbares Dilemma gestellt, weil sie auf der einen Seite als „Hauptinstanz der Anti-Krisenpolitik“ gehalten sind, deren gesellschaftlich negative Auswirkungen nach den vorhandenen Möglichkeiten zu kompensieren und andererseits dafür sorgen sollen, daß die Gesellschaften bis in all ihre Verästelungen hinein für die Weltmarktkonkurrenz „fit getrimmt“ werden. Die Handlungsfähigkeit des Staates wird so einerseits von außen durch den verstärkten Wettbewerb (aber auch durch immer mehr verlorengegangene direkte Einflußnahme auf zunehmend außerhalb der Staatsgrenzen stattfindende Prozesse), andererseits im inneren durch gesellschaftlich aufwendige Integrationsprozesse zunehmend beschränkt. Damit wird gleichzeitig auch die politisch demokratische Gestaltungsfreiheit von Gesellschaften insgesamt verkürzt.6 Denn während die Bereiche der Wirtschaft, der wissenschaftlich-technologischen Entwicklung, des Informationstransports und der Datenverarbeitung scheinbar spielerisch die Grenzen von Nationalstaaten „perforieren“ – und sich damit tendenziell territorial unabhängig machten – , sind politische Systeme und vornehmlich Demokratien (bislang) auf ein bestimmtes Staatsgebiet beschränkt.7 Demokratie (bislang) auf Staaten beschränkt Andere globale „Interdependenzprobleme” Es geht daher zunehmend auch um die Diskrepanz zwischen dem geographischen und rechtlichen Raum, in dem Prob5 Eine skeptische Haltung gegenüber den Entwicklungschancen demokratischer Strukturen im internationalen Rahmen nimmt u.a. auch Curt Gasteyger in seinem Artikel in der Zeitschrift Internationale Politik 8/1999 ein. 6 Dazu vgl. u.a. Paul G. Cerny 1999, S. 1–26. 7 Kritisch dazu bereits 1994 Wolf-Dieter Narr/Alexander Schubert. 7 leme „lokal“ oder „regional“ entstehen und jenem Raum, in dem Probleme gelöst oder bearbeitet werden können. Nicht selten sind diese Probleme über die Möglichkeiten der Problemlösungskapazität von einzelnen Staaten hinausgewachsen. Zudem kommt noch eine steigende Zahl von sogenannten Interdependenzproblemen (wie die Probleme der globalen Umweltverschmutzung, der Migration, der Bekämpfung des organisierten Verbrechens etc.), die bereits ihrem Wesen nach grenzüberschreitend sind und daher nur mehr im internationalen Zusammenwirken mehrerer Staaten gelöst werden können. Wir haben es daher mit zwei großen Entwicklungssträngen im weltpolitischen Ausmaß zu tun, die einerseits die Konkurrenz und damit auch die Distanz – aufgrund gegenläufiger Interessen – zwischen den Einzelstaaten erhöhen und potentiell Konflikte schaffen, andererseits, aufgrund zunehmender „Interdependenzproblematik“ (deren friedliche und effiziente Lösung im Interesse vieler oder aller Staaten liegt), die objektive Notwendigkeit für verstärktes gemeinsames und interessenbezogenes Vorgehen und daher Kooperation und Nähe erforderlich machen. Globalisierung untergräbt nationale Rechtsordnungen Auch nationale Verfassungen bzw. Rechtsordnungssysteme blieben in den letzten Jahrzehnten von diesen Tendenzen nicht verschont. Globalisierung untergräbt die Wirksamkeit nationaler Rechtsordnungen ebenso wie territorial organisierter demokratischer Entscheidungs- und Kontrollmechanismen; oder, wie Klaus Kinkel 1998 einfach aber treffend meinte: „Die Globalisierung bricht Staatsräume auf und schafft Wirtschaftsräume“. Immer häufiger geben nationale Parlamente wichtige gestalterische Kompetenzen entweder an supranationale Einheiten (wie etwa die EU) oder internationale Rechtsinstanzen (z.B. Schiedsgerichte im Bereich von internationalem „soft law“) ab. Ist es im Fall der Europäischen Union supranationales Recht, das für alle Mitgliedstaaten verbindlich geschaffen wird, so betrifft dies andererseits die Bildung von neuartigen, den wirtschaftlichen globalen Rahmenbedingungen angepaßten internationalen Rechtssystemen außerhalb nationaler Gerichtszuständigkeit, die sich neben den nationalen Rechtsordnungen etablieren. 8 Dies betrifft insbesondere Regelungen im Bereich der internationalen Finanzmärkte.8 Herausbildung internationalen „soft laws” Nationalstaatlich verfaßte Politik am Ende? In diesem Beitrag soll der Frage nachge- gangen werden, ob angesichts der oben dargestellten Problematik die einzelstaatliche „nationale“ Politik im 21. Jahrhundert vielleicht ihrem Ende zugeht und bereits eine neue Ära von Transformation und Instabilität der Weltpolitik eingeläutet wurde. Tatsache ist, daß von einem klar trennbaren Bereich der (nationalstaatlich verfaßten) Innen- und Außenpolitik längst nicht mehr gesprochen werden kann. Das ändert freilich nichts an der Tatsache, daß staatlich konstituierte Einheiten auch weiterhin einer, wenn auch veränderten, aktiven Politik im inneren bedürfen, um den Herausforderungen einer sich zunehmend entgrenzenden Welt tatsächlich gewachsen zu sein. 2. Die zunehmend engere Verschränkung von Wirtschaftsräumen Herausbildung von Weltmärkten bereits im 19. Jahrhundert Die Herausbildung globaler Weltmärkte ist keine Entwicklung der neuesten Geschichte. Bereits in den letzten Dekaden des zu Ende gehenden 19. Jahrhunderts war die Entwicklung des Außenhandels zunehmend interkontinental und dynamisch verlaufen, jedoch durch den Ausbruch des Ersten Weltkrieges jäh unterbrochen worden.9 Bereits damals hatte sich in Ansätzen eine arbeitsteilige Weltwirtschaft herauskristallisiert, die noch im wesentlichen von nationalen Volkswirtschaften getragen war und in der die Staaten über hinlängliche Instrumente verfügten, die Rahmenbedingungen dieses Prozesses aktiv zu gestalten. Auch waren die technologischen Voraussetzungen für die Überwindung großer geographischer Entfernungen und die Informations- und Datenübermittlung bei weitem nicht in einem Maße ausgereift, wie dies heute selbstverständlich geworden ist. Globaler sozio-ökonomischer Grundkonsens nach 1945 Als Lehre aus den sozialen und 8 Über die zunehmende Trennung internationaler Real- und Finanzwirtschaft siehe Wilfried Stadler 1997, S. 5– 10. 9 Zur Dynamik der Weltwirtschaft vor dem Ersten Weltkrieg vgl. Charles P. Kindleberger 1964. 9 humanitären Katastrophen der weltwirtschaftlichen Entwicklung der Zwischenkriegszeit galt als sozio-ökonomischer Grundkonsens der Staatengemeinschaft nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges einerseits den Welthandel weitgehend zu liberalisieren und gleichzeitig im nationalen Rahmen nach Möglichkeit Vollbeschäftigung zu erreichen. Nachdem die Phase des Wiederaufbaus in Europa gegen etwa Mitte der 50er Jahre weitgehend abgeschlossen war, ging das 1944 ausverhandelte Konzept der „Bretton-Woods-Institute“ (IBRD, IWF und später das GATT) tatsächlich auf: Die westlichen Industriestaaten erzielten bereits in den 60er Jahren Wachstumsraten ihres Außenhandels, die regelmäßig erheblich über den Wachstumsraten der Bruttoinlandsprodukte lagen und damit zu einer zunehmend engeren Verflechtung – damals als „wirtschaftliche Internationalisierung“ begrifflich unscharf bezeichnet – der nationalen Wirtschaften führten.10 Bretton-Woods-Institutionen Ökonomische Dimensionen der Globalisierung Die ökonomische Dimension der Glo- balisierung11 umfaßt neben dem Außenhandel aber auch die Direktinvestitionen, die internationalen Finanzmärkte wie auch ihre wichtigsten Träger und Akteure, die transnational agierenden Konzerne (TNK). Nach der zweiten großen Weltwirtschaftskrise dieses Jahrhunderts von 1973/74 bis zu Beginn der 80er Jahre, verbunden mit stagnierenden bis rückläufigen Welthandelsdaten, wuchs der Welthandel wieder stärker als die Weltproduktion. Investitionen werden im internationalisierten Segment der Wirtschaft zumeist auf weltweiten Absatz und optimale Marktbetreuung ausgerichtet, und eine weiterhin steigende Zahl von multinationalen Konzernen agieren als Träger dieses Prozesses. Überdies hat sich das weltweite Exportvolumen in etwa verzehnfacht, während sich die weltweite Produktion insgesamt „nur“ verfünffacht hat. Seit Ende der 70er Jahre wurde der Anteil des weltweiten Warenexports an der Weltgüter-Produktion von etwa 10 auf 20 Prozent verdoppelt. Verhältnis Nord-Süd 10 Vgl. Otmar Höll 1985, S. 26–63. 11 Obwohl Diskussionen in aller Welt um Fragen der ökonomischen Globalisierung kreisen, ist die Kontroverse zwischen Ökonomen und Wirtschaftshistorikern noch nicht beendet, ob und wenn ja, in welchem Sinn von „wirtschaftlicher Globalisierung“ überhaupt (bereits gegenwärtig) gesprochen werden kann. Vgl. dazu die kontroversiellen Positionen von Jonathan Perraton u.a. einerseits und Paul Hirst/Grahame Thompson andererseits, 1998. 10 Produkte und Dienstleistungen werden zumindest potentiell für einen weltweiten Bedarf hergestellt, Kapital kann auf den internationalen Finanzmärkten auf der Suche nach günstigsten Anlagebedingungen nahezu frei über alle Grenzen hinweg fließen. Die degressive Entwicklung der Transportkosten und die technologische Revolution („dritte Industrialisierung“) der 70er Jahre im Bereich von Informations- und Datenverarbeitung haben die Tiefe und Geschwindigkeit dieses Prozesses wesentlich mitbestimmt.12 Dimensionen und Akteure der Globalisierung „Ökonomische Globalisierung“ auf Industriestaaten konzentriert Betrachtet man die Di- mension der Außenhandelsverflechtung, die genetisch am Beginn des Prozesses der wirtschaftlichen Internationalisierung stand, so zeigt sich, daß die Reichweite der internationalen Verflechtung zwar ständig zugenommen hat, aber auch gegenwärtig keinesfalls global ist. Etwa 20 Prozent der global produzierten Güter und Dienstleistungen werden international gehandelt, nicht mehr als 30 Prozent der Weltbevölkerung sind von der tatsächlichen Integration in die Weltwirtschaft aktuell betroffen.13 So konzentrierte sich gegen Mitte der 90er Jahre der Welthandel zu fast 85 Prozent auf die industriell am meisten fortgeschrittenen wirtschaftlichen Großräume in Nordamerika, Westeuropa und dem Pacific Rim. Qualität und Tiefe dieses Prozesses haben sich allerdings in den vergangenen 40 Jahren ganz erheblich gesteigert Verhältnis große und kleine Staaten Weiterhin wird jedoch der weit überwiegende Teil des weltweiten Sozialprodukts auf den jeweiligen nationalen Märkten produziert und nachgefragt. Allerdings ist ein erheblicher quantitativer Unterschied zwischen großen und kleinen Ländern festzustellen. Während die Exportquoten großer Wirtschaftsräume wie der Vereinigten Staaten oder aber auch der Europäischen Union bei etwa 9 Prozent am Bruttoinlandsprodukt liegen, beträgt dieser Wert für kleinere Staaten zwischen 30 bzw. 40 und mehr Prozent. Ihre Abhängigkeit und daher auch Verwundbarkeit durch Entwicklungen am Weltmarkt sind folglich wesentlich höher. 12 Die fundamentale Bedeutung der „dritten industriellen Revolution“ im Bereich der elektronischen Informationsund Datenverarbeitung wird überzeugend dargestellt bei W.M. Blumenthal 1987/88, S. 529–550. 13 Vgl. dazu kritisch und überzeugend unter vielen anderen Elmar Altvater/Birgit Mahnkopf 1996. 11 Entwicklung der Direktinvestitionen Ein weiterer gewichtiger Beleg für die zuneh- mende Tendenz zur Globalisierung der Wirtschaft ist die rasante Entwicklung der grenzüberschreitenden Direktinvestitionen. Aber auch hier muß eingeschränkt werden: Denn insgesamt beschränken sich diese Investitionsströme auf wenige Länder und sind im übrigen zu einem überwiegenden Teil auf die Mitgliedstaaten der OECD konzentriert. So entfielen 1995 auf die 10 wichtigsten Anlageländer zwei Drittel aller weltweiten Auslandsinvestitionen, während auf die rund 100 der armen bzw. ärmsten Staaten im Süden nur weniger als ein Prozent der im Ausland getätigten Direktinvestitionen entfallen. Generell gesehen kann jedoch seit der zweiten Hälfte der 80er Jahre ein Trend zur Erhöhung der Direktinvestitionen in nahezu alle Wirtschaftsregionen der Erde festgestellt werden. So stieg auch der Anteil der Entwicklungsländer als Empfänger von Direktinvestitionen seit dieser Zeit rasch an: Der Anteil an den Gesamtinvestitionen nahm im Zeitraum von 1990 bis 1995 um 30 Prozent zu. Jedoch ist auch in dieser Gruppe eine Konzentration auf einige wenige Länder festzustellen; mehr als zwei Drittel dieser Investitionen entfielen auf südostasiatische Staaten und insbesondere auf China. Auf Afrika hingegen entfielen nur 4 Prozent, auf die zentral- und osteuropäischen Staaten und die GUS weniger als 3 Prozent.14 Anteil von Direktinvestitionen in die Entwicklungsländer und MOE-Staaten Globalisierung des internationalen Finanzsystems sehr weitgehend Am weitesten ist die Globalisierung sicherlich im Bereich des internationalen Finanzsystems entwickelt. Sie ist als einzige Form des Kapitalverkehrs wirklich weitestgehend global organisiert und ist unter den gegebenen technischen und organisatorischen Rahmenbedingungen auch kaum mehr zu kontrollieren. Während der Welthandel in den letzten 20 Jahren schneller als die Weltproduktion gewachsen ist, wächst das Volumen der internationalen Finanztransfers noch um ein Vielfaches schneller. Daraus folgt, daß sich die Finanzmärkte zunehmend von den realwirtschaftlichen 14 Als Quelle der hier verwendeten Daten vgl. UN-Yearbook of International Statistics 1998. Aufgrund der genannten Daten und aufgrund qualitativer Studien ist auch davon auszugehen, daß eine direkte Konkurrenz sowohl um Produkte als auch um Produktstandorte zwischen den nördlichen Staaten und den Entwicklungsländern nur in Ausnahmefällen gegeben ist. Diese Ausnahmefälle betreffen die Produkte, die in den sogenannten Newly Industrializing Countries hergestellt werden, vor allem im Verhältnis zu den ehemaligen osteuropäischen Staaten. 12 Entwicklungen entkoppelt haben. Von den weltweit täglich rund 1400 Mrd. USDollar, die auf den internationalen Finanzmärkten bewegt werden, beziehen sich weniger als 15 Prozent auf konkrete Waren- bzw. Dienstleistungsgeschäfte. Die jährlich an den Börsen weltweit bewegten Summen sind annähernd doppelt so hoch wie die Weltwährungsreserven aller Zentralbanken der Welt zusammen. Den Hauptanteil an den Finanzströmen machen dabei kurzfristige Anlagen aus. Die rasante Entwicklung auf der Dimension der Weltfinanzmärkte ist sicherlich nicht zuletzt ein Ergebnis der weltweit vernetzten Computer- und Telekommunikationstechnologien, die eine effiziente Organisation von Weltmärkten erst ermöglichten. Anzahl der transnationalen Konzerne vervielfacht Neben den Staaten sind in den letz- ten 2-3 Jahrzehnten multi- bzw. transnationale Konzerne zu wichtigen Akteuren des internationalen Systems geworden. Ihre Zahl hat sich seit Mitte der 70er Jahre mehr als verfünffacht, wobei etwa die Hälfte aus den fünf größten Wirtschaftsmächten, den USA, Japan, Großbritannien, Frankreich und Deutschland, stammen. Gegenwärtig werden mit und über transnationale Konzerne etwa zwei Drittel des Welthandels abgewickelt, die größten Konzerne haben einen höheren Jahresumsatz, als die 80 ärmsten Staaten zusammengenommen an Sozialprodukten erwirtschaften. Konzerne wie etwa General Motors (Umsatz 1996: 168 Mrd. US-Dollar), Mitsui (145 Mrd. US-Dollar) oder Itochu (136 Mrd. US-Dollar) übersteigen mit ihrem jährlichen Umsatz das Bruttosozialprodukt von mittelgroßen OECD-Staaten. Die Standortkonkurrenz auf den Weltmärkten wird gegenwärtig sowohl von den nationalstaatlichen wie auch den transnationalen Akteuren, die zunehmend die Staaten in einen Wettbewerb um die besten Standorte drängen, betrieben. Transnationale Konzerne, die mehr als ein Drittel der Welthandelsströme innerhalb ihrer Unternehmensstruktur (als Intra-Konzernhandel) bewegen, konnten ihre Position zudem gegenüber den staatlichen Akteuren dadurch verbessern, daß sie Gewinne zunehmend dort veranlagen, wo die niedrigsten Steuersätze eingehoben werden. Standortkonkurrenz erfaßt auch Staaten 13 Gewinn- und Lastenverteilung am deutschen Beispiel Dies hat zu einer allgemeinen Senkung der unternehmensbezogenen Steuern geführt. So wuchsen die Gewinne der Unternehmen in Deutschland seit 1979 um 90 Prozent, die Löhne hingegen im Durchschnitt nur um 6 Prozent. Gleichzeitig hat sich das LohnsteuerAufkommen in Deutschland im Laufe der letzten zehn Jahre verdoppelt, das Körperschaftssteuer-Aufkommen hat sich im gleichen Zeitraum halbiert.15 Als strukturelles Moment kommt dazu, daß eine säkulare Verschiebung vom industriellen zum tertiären Sektor erfolgte, so daß etwa Fluggesellschaften, Versicherungen oder Banken ganze Arbeitsbereiche mit Hilfe umfangreicher Informations- und Datenvernetzungen in andere Weltregionen verlagern können, ohne daß sie ihren nationalen Standort aufgeben müssen. Solange internationale Transaktionen in erster Linie materieller Natur waren, waren sie an den Grenzen staatlicher Kontrolle unterworfen. Da aber zunehmend Daten oder immaterielle Dienstleistungen anstelle von Gütern nationale Grenzen überschreiten, verlieren die Staaten auch auf dieser Ebene weiter an Regulierungskapazität. „Globalisierung“ als „Wirklichkeit der Möglichkeit“ existent Auch wenn sich der „Voll- zug“ ökonomischer Globalisierung im Zeitvergleich und mittels makroökonomischer Globaldaten nicht nachweisen läßt, so ist wohl kaum zu leugnen, daß wir, wie Ulrich Beck dies zutreffend formuliert, mit der „Wirklichkeit der Möglichkeit wirtschaftlicher Globalisierung konfrontiert sind.“16 Es ist eben die tendenzielle globale Unberechenbarkeit der Weltrisikogesellschaft, die als neue Geschäftsgrundlage zunehmend alle sozialen und politische Handlungsfelder umfaßt. Und daher stellt das „Globalisierungs-Szenario“ gewaltige Herausforderungen für die Flexibilität und Veränderungsbereitschaft von Staaten und Gesellschaften generell dar. Herausforderungen und Chancen für Österreich Diese Herausforderungen können aber sowohl Bedrohungen als auch Chancen beinhalten. Aus der Sicht eines klei15 Vgl. Peter Glotz 1999, S. 12–26 (zit. S. 17). 16 Siehe Ulrich Beck 1998, S. 3–11 (zit. S. 4). 14 nen nördlichen Industriestaates wie Österreich besteht die Bedrohung im wirtschaftlichen Bereich wohl insbesondere in der tendenziellen Einbindung von zentral- und osteuropäischen Staaten und von Schwellen- bzw. Entwicklungsländern in die Weltwirtschaft. Das in diesen Staaten verfügbare Angebot an qualifizierter Arbeitskraft könnte einerseits sowie das niedrige Lohnniveau andererseits stärker zur Produktion genutzt werden und dadurch würde wohl die Nachfrage vor allem nach niedrig-qualifizierter Arbeit in den Industrieländern nachhaltig sinken und ihre Produkte auf den internationalen Märkten einer stärkeren Konkurrenz ausgesetzt werden.17 Chancen wiederum ergeben sich daraus, daß für die Industriestaaten durch den Prozeß der Globalisierung bessere Absatz- und Wachstumsaussichten für technologisch höherwertige und humankapitalintensive Produkte (mehr Fertigwaren, qualifizierte Dienstleistungen und Hightech-Produkte) zu erwarten sind. Die hohen Überschüsse Österreichs im Handel mit Entwicklungsländern und Staaten Zentral- und Osteuropas weisen darauf hin, daß Österreich diesbezüglich von der Globalisierung bislang profitiert hat. 18 Allerdings hat dieser makroökonomische Erfolg auf die Beschäftigung moderate Wirkung gezeitigt, dennoch liegen die österreichischen Vergleichsdaten im Verhältnis zu den anderen Mitgliedstaaten der EU relativ günstig. Allerdings trifft die noch immer hohe Sockelarbeitslosigkeit und letztlich auch das Stagnieren oder Schrumpfen der Staatseinnahmen den überwiegenden Teil der weniger qualifizierten Bevölkerung in den Industriestaaten besonders („GlobalisierungsVerlierer“) und könnte auf Dauer die Legitimationsgrundlage der Staaten wohl auch gefährden. Verbesserte Absatzmöglichkeiten für höherwertige Produkte und Dienstleistungen 3. Globalisierung als verallgemeinerte Interdependenzproblematik Nicht-wirtschaftliche Dimensionen der „Globalisierung“ Bei den innenpolitisch bedeut- samen Be- und Einschränkungen der Handlungskapazität der nationalen Staaten 17 Vgl. dazu Wilfried Stadler, a.a.O. 1997, S. 5 und 6 (Fußnote 7). 18 Ähnliches gilt im übrigen für die EU insgesamt; vgl. dazu für Österreich Karl Pickelmann 1998; für die EU siehe Jörg Huffschmid 3/1995, S. 13–27. 15 geht es aber nicht ausschließlich nur um die Dimension der Verflechtung der Ökonomie. Vielmehr haben auch Umweltkatastrophen, der global auftretende Verlust der biologischen Vielfalt, weltweite Migrationsbewegungen, die organisierte Kriminalität und Bürgerkriege ebenfalls zum Teil erhebliche Auswirkungen auf die Manövrierfähigkeit der Innenpolitik der (Industrie-)Staaten. Die große und zunehmende Zahl von Problemen, die mehrere oder alle Staaten gemeinsam betreffen und daher auch nur gemeinsam gelöst werden können, erhöhen gleichzeitig die Verwundbarkeit und Interdepenzen zwischen den Staaten. Interdependenzprobleme müssen gemeinsam gelöst werden Folgen für Kulturen, Identität etc. Der steigende Integrationsgrad der Wirtschaften und der Bedeutungsverlust von Raum und Zeit durch elektronischen Datentransport haben auch erhebliche Folgen für die Kulturen, kollektiven Identitäten und Lebensziele einzelner und ganzer Gesellschaften. Erhöhte Mobilität und unmittelbar abrufbare Information, die globale Standardisierung von Produkten und Entwicklungszielen – so argumentieren einige Autoren – bewirkten das steigende Gewahrwerden eines „Zusammenwachsens der Welt“.19 Gleichzeitig scheint sich eine kulturelle und gesellschaftliche Globalisierung nicht als Universalisierung bzw. Nivellierung von kulturellen Standards und Werten zu etablieren. Es kann allenfalls von einer Relativierung, nicht aber eindimensional von einer „Konvergenz der Kulturen“, einer Vereinheitlichung unter dem Banner von Coca Cola und McDonald, gesprochen werden. Zwar ist der vor Jahrhunderten von Europa ausgegangene Modernisierungsprozeß zumindest in Teilen seiner Konsequenzen – Erhöhung des Wohlstandes und des Freiraums für Einzelne und Gruppen, seine höhere Effizienz, Robustheit und Flexibilität – nahezu weltweit als Gesellschaftsmodell attraktiv und hat sicherlich im Verlauf des letzten Jahrhunderts zu vermehrten Gemeinsamkeiten und gemeinsam akzeptierten Werten im weltweiten Maßstab beigetragen. Kulturelle Nivellierung und Universalisierung nicht erkennbar Tendenz zur Globalisierung mit tendenzieller Fragmentierung verbunden Doch löste diese Entwicklung auch immer wieder Prozesse der Fragmentierung, politischer Ab- 16 spaltung und gesellschaftlicher Gegenbewegungen aus, die bis zum Zusammenbruch und Neukonstruktion gesellschaftlicher und politischer Strukturen führte. Der Zerfall Jugoslawiens ist ein starkes Beispiel; Regionalisierungs-tendenzen in Spanien, Frankreich und Großbritannien sind, wenn auch auf einer sehr viel bescheideneren Dimension, gleichfalls Entwicklungen, die die obige These stützen.20 Es scheint, daß die von der tendenziellen Globalisierung bedrohten historisch gewachsenen territorialen und ethnischen Identitäten zu partikularistischen, die Besonderheit des „Eigenen“ betonenden Ausprägungen neigen. An den Polen dieser Bewegungen finden sich dann auch tatsächlich radikale Tendenzen in Richtung Fundamentalismus und Ethno-Nationalismus.21 Auftreten „partikulärer“ Identitäten Interdependenz nicht auf high-politics Bereiche beschränkt Daß grenzüberschreitende Abhängigkeiten gegenwärtig und vermutlich verstärkt auch zukünftig über die klassischen „high-politics-Bereiche“ Außen- und Sicherheits- sowie Wirtschaftspolitik hinausreichen und daher der politisch-kooperativen Gestaltung bedürfen, zeigt sich besonders deutlich im Bereich der Ökologie. Nicht alleine die hinreichend bekannte Tatsache, daß Umweltverschmutzung an nationalen Grenzen nicht Halt macht, sondern vor allem auch das Wissen um die begrenzte Belastbarkeit von Ökosystemen im lokalen, regionalen und darüber hinaus auch globalen Rahmen kennzeichnen die Bedeutung dieses klassischen grenzüberschreitenden Politikfeldes. Zwar ist das Wissen um die Risken industrieller Entwicklung so alt wie diese selbst, doch hat Umweltverschmutzung ein Ausmaß angenommen, das eine neue Qualität der Riskoübernahme für die gesamte Menschheit bedeutet. Die Orte der „Risikoproduktion“ sind nicht mehr identisch mit den zufälligen Orten der Betroffenheit. Risikoproduktion und –folgen territorial nicht ident Relation von Umweltverschmutzung zwischen Industrie- und Entwicklungsländern Dies 19 Vgl. Roland Robertson 1992. 20 Insbesondere das schottische Beispiel zeigt, daß die supranationale Perspektive der Europäischen Union partikulare bzw. regionale Entwicklungen erst ermöglicht. Für Schottland, das der EU-Integration näher steht als die zentralistische Londoner Bürokratie wurde der Schritt zu einer eigenen parlamentarischen Vertretung erst durch die Existenz verstärkter Einbindung im EU-Raum möglich. 21 Vgl. dazu anti-modernistische Reaktionsmuster fundamentalistischer Bewegungen im Buch von Thomas Mayer 1989; abgeschwächt auch bei Józef Niewiadomski 1988. 17 wird im globalen Maßstab deutlich, wenn man sich vor Augen hält, daß im Bereich der für das Weltklima relevanten Treibhausgas-Emissionen 80 Prozent der Verschmutzung auf das Konto knapp eines Viertels der Weltgesellschaft (in den nördlichen Industriestaaten) geht.22 Ähnliche Relationen gelten auch für den ProKopf-Energieverbrauch und ganz allgemein für den Verbrauch von Rohstoffen sowie den erheblich höheren Beitrag des Nordens zur schwindenden globalen biologischen Vielfalt. Konflikt-Szenarien um immer knapper werdende Wasserreserven vor allem im Süden, die noch immer rasant wachsenden Bevölkerungszahl in vielen der armen und ärmsten Entwicklungsländer u.a.m. eröffnen Zukunftsperspektiven, in denen diesen Staaten zunehmend Chaosmacht zuwächst, die von den restlichen Staaten nicht (mehr) als unerheblich abgetan werden kann.23 Bedeutung von Chaosmacht wächst Inter-nationales Interesse an gemeinsamer Problemlösung Ähnliches gilt aber auch hin- sichtlich der zunehmenden Risken neuer Technologien, des Terrorismus, der organisierten internationalen Kriminalität, aber auch der Migration, die durch Bürgerkriege, Armut oder ökologische Devastierung massenhaft ausgelöst werden und intra-, sogar interkontinentale Wanderbewegungen auslösen könnten. Aber aus eben der potentiellen Begründung grenzüberschreitender Gefahren ergibt sich auch ein steigendes gemeinsames Interesse der Staaten an Sicherheit, wirtschaftlicher und sozialer Entwicklung und somit auch an verstärkter und verbesserter Kooperation. Diese Bereiche geteilten Risikos heben die gewohnten Kategorien und Grenzen nationalstaatlich fokusierter Politik zunehmend auf. In der – strictu sensu gemeinten – Staaten-„Gemeinschaft“, zu der die nicht mehr vereinzelbaren Staaten im wohlverstandenen Eigeninteresse gleichsam gezwungen werden, eröffnen sich sowohl Felder der (freiwilligen wie auch notwendigen) Kooperation; aber auch der möglichen neuen Konfliktquellen und damit die begründete Hoffnung auf langfristige Erosion von gewaltsam ausgetragenen Kon- 22 Zum Ausmaß der globalen Umweltproblematik siehe den auf Deutsch von Volker Hauff herausgegebenen Report der UN-Weltkommission für Umwelt und Entwicklung 1987. 23 Chaosmacht muß nicht einmal bewußt als „Waffe” oder als Verhandlungschip eingesetzt werden; Chaosmacht (des Südens) wird vermutlich in Zukunft, bedingt durch verstärkte wechselseitige Abhängigkeit, direkte Bedeutung für das Gemeinwohl im Norden bekommen. 18 flikten, weil den Beteiligten klar sein muß, daß sie im unaufhebbaren Wettstreit um Wohlfahrt, demokratischer Legitimation und Effizienz heillos zurückgeworfen würden, wenn sie sich des Mittels gewaltsamer Konfliktaustragung bedienten. Hier öffnen sich potentiell neue Räume der Absprache und der internationalen Ordnung, die nötig sind, um potentielle und tatsächliche Konflikte und Krisen im internationalen Verbund einzugrenzen und zu zähmen. Möglicher Rückfall als Motivation für erhöhte Kooperationsbereitschaft 4. (Welt-)Demokratie und (Welt-)Bürger ? Entscheidungsmacht und –wirkung nicht immer gültig Die zunehmende Transnationa- lisierung der oben genannten Interdependenzbereiche – und damit die Etablierung grenzüberschreitender Politikfelder – darf die Frage nach (neuen) Formen internationaler Politik nicht unberücksichtigt lassen. Da infolge der Erosion nationalstaatlicher Souveränität die für (national-) staatlich verfaßte politische Systeme üblicherweise gegebene konstruktive Voraussetzung der Kongruenz von Entscheidungsmacht und Entscheidungswirkung nur mehr beschränkt gültig ist, steigt die Bedeutung internationalisierter Formen der Zusammenarbeit in den transnationalen Politikfeldern von Sicherheits-, Umwelt-, Wirtschafts-, Verkehrsund Finanzpolitik etc. Diese Kooperation kann sowohl im supranationalen (wie etwa in der Europäischen Union) oder aber auch im multilateralen Rahmen (Umweltregime, Wirtschafts- und Verkehrsabkommen, etc.) erfolgen. Als Konsequenz dieser grenzüberschreitenden Regulierungszusammenarbeit wird wiederum die politische Steuerungsfähigkeit einzelner Staaten beschränkt. Dies bedeutet aber nicht gleichzeitig seine „Entmachtung“ oder Rückfall in eine „IrrelevanzFalle“. Jürgen Neyer24 argumentiert, daß gerade aus dem Grund der rückläufigen Autonomie und der politischen Kapazität der Staaten diese „eher noch an Relevanz gewinnen. Noch immer (stellen sie) die einzig existierenden Einheiten dar, die (...) an der Schnittstelle zwischen Weltmarkt und einzelgesellschaftlicher Wohlfahrt vermitteln können und zumindest vorgeben (können), im Interesse der 24 Vgl. Jürgen Neyer 2/1995, S. 287–315 (zit. S. 309). 19 territorialen Gemeinschaft zu agieren und die Marginalisierten zu beschützen“ (Neyer 1995, S. 309). Dies bringt den Staat und seine Repräsentanten in einen zweifachen Druck von innen und von außen und fördert zudem den Wettbewerb unterschiedlicher politischer Systeme. Noch ist offen, ob das „anglo-sächsische“ oder das „rheinländische“ Wirtschafts- und Gesellschaftsmodell über die langfristig besseren Karten verfügt.25 Staaten dennoch weiterhin wichtige Akteure an der Schnittstelle zwischen Weltmacht und (nationaler) Gesellschaft Transnationale Abhängigkeit macht transnationale Regulierung nötig Einen wesentlichen Teil der gegenwärtigen kontroversen Debatte um Globalisierung und Verflechtung der Gesellschaften macht die vielschichtige Frage aus, ob über intergouvernmentale Politik hinaus „verbindliche Regelungen geschaffen werden können oder wahrscheinlich sogar müssen, die die nationale Souveränität im globalen Interesse relativieren und gleichzeitig die Fähigkeit zur Steuerung grenzüberschreitender Probleme zurückzugewinnen“ (vgl. Varwick 1998, S. 55).26 Diese Frage wird in der Disziplin Internationale Beziehungen kontroversiell diskutiert. Sicht der „realistischen“ Schule Vertreter der „realistischen Schule“ sehen keinen Handlungsbedarf, da in ihrer Sichtweise Globalisierung zwar das wirtschaftliche, soziale und kulturelle Gefüge des internationalen Systems wesentlich verändert, die zentrale Stellung der Staaten als wichtigste Akteure im „anarchischen“ Internationalen System im wesentlichen jedoch unangetastet bleibt. Vertreter der neoinstitutionalistischen Schule wieder verstehen die Globalisierung gleichfalls als grundlegende Veränderung des internationalen Systems. Im Gegensatz zu den Realisten sehen sie die Staaten aber als zunehmend geschwächt und nicht länger befähigt, autonome Maßnahmen auf ihren Territorien zu setzen. Eine derartige Perspektive ist bemüht, internationale Organisationen, transnational wirkende NGOs und andere Akteure in ein grenzüberschreitendes Steuerungskonzept mit 25 Das „anglo-sächsische Modell“ steht für besondere Arbeitsmobilität und geringe soziale Absicherungen, das „rheinländische Modell“ für sozialpartnerschaftliche Absprache, geringere Arbeitskraftflexibilität und gute soziale Sicherungssysteme. 26 Vgl. Johannes Varwick 1/1998, S. 47–59. 20 einzubinden, weil zur Lösung der zunehmenden Interdependezprobleme ein hoher Regelungsbedarf besteht, das durch staatliche Zusammenarbeit allein nicht zufriedenstellend funktionieren könnte.27 Sicht der „neo-institutionalistischen“ Schule Debatte um „Global Governance“ wirft wichtige Fragen eines politischen „MehrebenenSystems“ auf Dieser Versuch zur Bewältigung globaler Herausforderungen wird unter dem Schlagwort „Global Governance“ diskutiert. Kern dieser Global Governance-Debatte ist das Verständnis, daß angesichts der tendenziellen Globalisierung auch politische Artikulation auf potentielle Globalisierung hin orientiert sein muß. Dies bezieht sich nicht nur auf die Zusammenarbeit zwischen den Staaten, um vielleicht die verschiedenen Formen des Dumpings zu verhindern, sondern hat die generelle Entwicklung eines neuen Politikmodells zum Ziel, bei dem staatliche und nichtstaatliche Akteure auf verschiedenen Ebenen möglichst problemnah und effizient miteinander kooperieren. Die von der Generalversammlung der Vereinten Nationen bestellte Commission on Global Governance (1995, S. 4) versteht unter diesem Begriff die Gesamtheit sowohl formaler Implikationen und Herrschaftssysteme als auch zusätzlich eine Reihe informeller Regelungen. In den zwischenstaatlichen Beziehungen operieren seit vielen Jahren neben den Staaten zunehmend auch Nicht-Regierungsorganisationen, transnational organisierte Bewegungen von Bürgern und Parteien, die schon öfter erwähnten multinationalen Konzerne und globale Finanzmärkte. Der Begriff Global Governance kann also am besten mit „Weltordnungspolitik“ in der Form eines politischen „Mehrebenen-Systems“ verstanden werden.28 Dieses System muß als komplexe Architektur von Institutionen und Beziehungen verstanden werden, die zudem auch um neue Mechanismen der politischen Absprache und Entscheidung zu ergänzen sind. Diese stellen gleichsam Knotenpunkte dar, wo Interessen artikuliert, Machtauseinandersetzungen ausgetragen und Kompromißlösungen gemeinsam erarbeitet werden. Das Konzept sieht eine Verdichtung und Verrechtlichung internationaler Beziehungen einschließlich internationaler Regime und 27 Daniele Archibugi, David Held u.a. entwickelten von diesem Verständnis hergeleitet die Forderung, die zwischenstaatlichen Beziehungen und die internationale Ordnung nach demokratisch analogen Prinzipien zu strukturieren. Zum Konzept der „cosmopolitan democracy“ vgl. Daniele Archibugi/David Held (Hrsg.) 1995. 28 Vgl. zum Begriff des “Mehrebenen-Systems” Alex Demirović 4/1998, S. 26–34 (Zitat S. 31). 21 internationaler Organisationen vor sowie darüberhinaus die Zusammenarbeit zwischen staatlichen und nichtstaatlichen Akteuren. Neue Akteure transnationaler Politik Suche nach der Ebene politisch optimaler Entscheidung James Rosenau und Ernst-Otto Czempiel29 haben diese Form der internationalen Zusammenarbeit mit dem Begriff „Governance without Government“ bezeichnet. Als Stärke dieser Konzeption gelten die hohe demokratische Legitimität sowie Flexibilität und Einbindung der gesellschaftlichen Basis, nach Möglichkeit der lokal oder regional Betroffenen, die ein besonders hohes Eigeninteresse an der Problemlösung haben. Als entscheidende Schwäche derartiger Regime werden die unzureichenden Kontrollund Implementationsmechanismen gesehen. So gibt es beispielsweise in der globalen Umweltpolitik durchaus eine Reihe erfolgreicher Regimeansätze, deren praktisch nachvollziehbare Ergebnisse jedoch weitgehend unbefriedigend sind.30 Im Bereich der globalen Finanzpolitik wiederum hat der internationale Währungsfonds zwar gewisse Rechte, kann jedoch auf die internationalen Finanzmärkte keinen konkreten Einfluß nehmen. Dies setzt allerdings ein Verständnis von Außenpolitik voraus, bei der ein normatives, am Gemeinwohl eines möglichst großen Teils der Weltgesellschaft orientiertes Verständnis vorherrscht, und bei dem das gemeinsame Interesse des Überlebens und friedlicher Zusammenarbeit im Vordergrund steht. Kein Plädoyer für Globalisierung Was wie ein „idealistisches Plädoyer für den Glo- balismus“ klingen mag, ist eine realistische Neudefinition von (nationalen oder regionalen) Eigeninteressen, die notwendige Folgerungen aus den Globalisierungstendenzen zieht.31 Realitätsfern sind demnach nicht jene, die auf mehr internationale Kooperation und eine Überwindung nationalstaatlich verengter Politik drängen, sondern jene, die dem nationalstaatlichen System verhaftet bleiben wollen. 29 James Rosenau/Ernst-Otto Czempiel (Hrsg.) 1992. 30 Zu den Umsetzungsschwächen internationaler Regime im Bereich grenzüberschreitender Umweltprobleme vgl. u.a. Martin Kaspar 1997. 31 Vgl. Dirk Messner/Franz Nuscheler 1997, S.337–361. 22 Grundzüge für eine Global Governance-Struktur Für eine lediglich in den Grundzügen angedachte Global Governance-Struktur können vier Säulen als maßgeblich angesehen werden, die möglichst gleichzeitig im Verlauf der nächsten Dekaden entwickelt werden sollten: – eine Welthandelsordnung, die verbindliche Standards für den Welthandel setzt und um eine internationale Wettbewerbsordnung sowie eine Weltwährungs- und Finanzordnung ergänzt wird; – eine Weltsozialordnung, die durch internationalen Lastenausgleich und Neuorientierung der Entwicklungspolitik das globale Wohlstandsgefälle verringern soll; – eine Weltökologieordnung, die auf nachhaltige ökologische Verträglichkeit der Wirtschaft ausgerichtet ist und globale Umweltpolitik koordiniert und – eine Weltfriedensordnung, bei der das – anarchische – „internationale System“ durch eine wirksame (d.h. sanktionsfähige) Rechtsordnung Zug um Zug abgelöst werden soll. Mehrebenen-System erfordert geteilte Verantwortung und Souveränität Die Frage allein der theoretischen Umsetzung dieses Global Governance-Ansatzes macht im Konkreten deutlich, daß die Ansatzebenen je nach Problemfeldern unterschiedlich sind. In einem Mehrebenen-System von geteilten Souveränitäten gibt es jedenfalls immer weniger Politikfelder, innerhalb derer ein einziges politisches Handlungszentrum in der Lage wäre, Probleme im Alleingang zu lösen. Eine diesbezügliche Struktur kann nur trag- und funktionsfähig sein, wenn das Prinzip des „Top down“ mit dem Prinzip des „Bottom up“ und der Dezentralisierung von Entscheidungen ergänzt wird.32 So können etwa globale Umweltregime kaum etwas bewirken, wenn sie nicht auf der lokalen Ebene wirksam implementiert werden. Im Bereich der Finanzpolitik wiederum ist die lokale oder nationale Ebene kaum ausreichend, hier ist auf einer globalen Ebene anzusetzen. Topdown 32 Zu diesen, im Bereich internationaler Umweltpolitik entwickelten Ansätzen vgl. Martin Jänicke 1995, und Volker von Prittwitz 1993, S. 328–355. 23 und Bottom-up notwendige Ergänzung Offene Fragen Allerdings leiden diese theoretisch durchdachten und einsichtigen Konzepte an der zentralen Frage ihrer konkreten Umsetzbarkeit. Wie soll freiwillige Selbstkoordination in einem System höchst unterschiedlicher Interessen und politischer Gewichtung tatsächlich erfolgen? Oder sind, wenn Freiwilligkeit nicht unabdingbar vorausgesetzt werden kann, demokratische Entscheidungsverfahren denkbar, die eine wirkungsvolle Koordination auch bei Interessendivergenzen gewährleisten können? Und schließlich, ist mit einer Verlagerung auf die internationale Ebene eine bereits im nationalen Rahmen feststellbare tendenzielle Überregulierung quasi vorprogrammiert und kann sowohl die erforderliche Qualität als auch das Ausmaß des gewünschten Wandels überhaupt adäquat sichergestellt werden? 5. Schlußfolgerungen und Perspektiven Globalisierung und die freie nationalstaatliche Politik Im Zuge der Globalisierungsde- batte wird häufig von „Souveränitätsverlust“, einer „Entgrenzung nationalstaatlicher Politik“ sowie einer „Zunahme globaler Probleme“ gesprochen. Damit steht implizit das Projekt des Sozialstaates zur Disposition, das in den meisten OECDStaaten nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges bis in die 70er Jahre aufgebaut worden war und sozial unerwünschte Folgen des hoch produktiven Wirtschaftssystems weitgehend kompensiert hatte. Der Aufbau des Sozialstaates in Europa war in allen politischen Parteien von einem dynamischen Verständnis hinsichtlich seiner demokratischen Gestaltung getragen. Im Zuge der gegenwärtigen Debatte muß daran erinnert werden, daß demokratische gesellschaftliche Verfassung bislang nur im Rahmen von Nationalstaaten verwirklicht wurden. Da die Nationalstaaten aber im veränderten Rahmen von Globalisierung an die Grenze ihrer Leistungsfähigkeit stoßen, steht sowohl die Aufrechterhaltung bisheriger Sozialpolitik wie auch die demokratische Verfassung dieser Staaten auf dem Spiel. Erosion des Sozialstaates und demokratischer Entscheidung? 24 Zukünftige Rolle (national-)staatlicher Politik Ist mit dieser weitgehend unbestrittenen Entwicklung die einzelstaatliche Innenpolitik an ihrem Ende angelangt? Diese Frage ist wohl ohne Zögern zu verneinen. Weder die These des Primats der Außenpolitik noch die vom Primat der Innenpolitik können in Zukunft uneingeschränkt Geltung beanspruchen, obwohl sich für beide Sphären Argumente, die für eine künftige Dominanz im Einzelfall sprechen, durchaus finden ließen. Hingegen ist davon auszugehen, daß genügend Evidenz vorliegt, die für eine topographische Verschränkung und Interdependenz von Problemfeldern und Lösungsstrategien beider Ebenen sprechen. Um so mehr muß heute von einer wechselseitigen – historisch und von Fall zu Fall unterschiedlichen – Beeinflussung und Wechselwirkung zwischen Innen- und Außenpolitik ausgegangen werden, wenn mittel- bis längerfristig Kompetenzen und Problemlösungskapazität weiter von der nationalstaatlichen in die inter- bzw. supranationale Ebene abwandern. Globalisierung bedeutet sicherlich auch „De-Nationalisierung“33. Staaten und ihre Regierungen haben bereits und werden auch zukünftig an Handlungs- und Gestaltungsmacht verlieren. Zur Kompensation wird aber einerseits der supranationalen, andererseits der lokalen, subnationalen Ebene (vor allem wegen ihrer Problemnähe und Implementationsinteresse) verstärkt Beachtung zu schenken sein. Neue Verteilung politischer Handlungs- und Gestaltungsmacht? „Weltinnenpolitik“ und „Weltgesellschaft“ noch lange nicht realisiert Diese bifokale Entwicklung in Richtung auf grenzüberschreitende Entscheidungsformen und lokale Implementierung ändert freilich nichts an der Tatsache, daß auch die nördlichen Industriestaaten in Hinkunft eine offensive Innenpolitik brauchen, um sich den Herausforderungen der Zeit in angemessener Weise stellen zu können. Auf eine formalisierte „Weltinnenpolitik“, die transnationale Entscheidungen legitimieren könnte, wird man hingegen noch lange warten müssen. Es fehlt der, die Nationen übergreifende Raum einer Weltgesellschaft, in dem die (Welt-) Bürger über Werte und Ziele diskutieren und das gesellschaftliche Weltgesamtinteresse 33 Vgl. Michael Zürn 1998. Was oft als Problem mit Gefahren verbunden gesehen wird, versteht Michael Zürn aber auch als Möglichkeit des Gegenteils: Manche Regierungsziele würden heute besser erfüllt als zuvor und zwischenstaatliche Kriege und menschliches Verhalten totalitärer Staaten werde dadurch zumindest weniger wahrscheinlich. 25 formulieren können, auch wenn erste Ansätze einer sich formierenden „internationalen Zivilgesellschaft“ vorzufinden sind. Der Grund liegt darin, daß sich bislang autonome demokratische Willensbildung nur auf der nationalen, regionalen oder lokalen Ebene institutionalisieren konnte. Auch auf der europäischen Ebene der EU steht eine Verfassungskonstruktion – nicht zufällig – noch aus. „Internationale Zivilgesellschaft“ steht erst am Beginn Innenpolitik muß Verständnis für Globalisierungstendenzen stärken Neben der ökonomi- schen Dimension muß sich die Innenpolitik in Zukunft sowohl mit den politischen als auch den mentalen Aspekten der Globalisierung auseinandersetzen. Das immer engmaschiger werdende Netz aus Interaktionszusammenhängen, wechselseitigen Abhängigkeiten und erdumspannenden Aktivitäten, denen der Einzelne schutzlos ausgeliefert zu sein scheint, erzeugt in vielen Menschen diffuse Ängste und Realitätsabwehr.34 Die globale Komplexität steht im krassen Widerspruch zu den Erfordernissen der Überschaubarkeit, die Identifikation und politische Beteiligung sowie Bürgerengagement erst ermöglicht. Die Interdependenz des Weltsystems könnte eine, für die Demokratien gefährliche Erosion an einzelstaatlicher Entscheidungskapazität und demokratischer Partizipation bringen, ohne demokratische Legitimation transnational zu generieren. Erosion einzelstaatlicher Kapazität könnte demokratische Legitimation gefährden Gegenläufige politische Tendenzen zur Globalisierung Andererseits entstehen an vielen Stellen unübersehbare Signale einer Territorialisierung und Ethnisierung von Politik. Dazu zählt auch die Tendenz zur Regionalisierung, der Individualisierung bei Problemzusammenhängen und eine wieder stärker werdende Betonung der nationalen, der ethnischen und kulturell-religiösen Eigenarten. Neben der Globalisierung hat die politische Analyse auch deren Gegentendenzen verstärkt zu beachten Frage der demokratischen Verfassung und Gestaltung transnationaler Politik Die Ent- wicklung eines globalen Interdependenzsystems, das bereits im Kalten Krieg seinen Anfang nahm, wirft die Frage auf, wie dieses durch demokratisch legitimier- 26 te Verfahren kontrolliert werden könnte. Die Frage der Demokratisierung ist erst nach dem Ende des unter der Bedrohung der wechselseitigen Vernichtung stehenden Systems der ideologischen und militärischen Bipolarität aufgeworfen worden. Sicherlich wird der Nationalstaat noch auf lange Zeit zentrale Kraft im internationalen System bleiben, es scheint aber sehr wahrscheinlich, daß im einzelnen Funktionen und die Ausprägung von Politikfeldern einer tiefgreifenden Veränderung unterworfen sein werden. 34 Vgl. Wolfgang Bonß 1995. 27 Literatur Elmar Altvater/Birgit Mahnkopf, Grenzen der Globalisierung. Ökonomie, Ökologie und Politik in der Weltgesellschaft, Münster 1996 Daniele Archibugi/David Held (Hrsg.), Cosmopolitan Democracy. An Agenda for a New World Order, Cambridge 1995 Ulrich Beck, „Das Demokratie-Dilemma im Zeitalter der Globalisierung”, in: Aus Politik und Zeitgeschichte B 38/1998, S. 3–11 W.M. Blumenthal, „The World Economy and Technological Change“, in: Foreign Affairs 1987/88, S. 529–550 Commission on Global Governance (Hrsg.), Our Global Neighbourhood, Oxford u.a. 1995 Wolfgang Bonß, Von Risiko, Unsicherheit und Ungewißheit, Hamburg 1995 Paul G. 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(Hrsg.), Successful Environmental Policy, Berlin 1995 Karl Kaiser, „Globalisierung als Problem der Demokratie“, in: Internationale Politik 4/1998, S. 3–11 Martin Kaspar, Erfolgsfaktoren regionaler Umweltprobleme, Diss., Wien, Dezember 1997 28 Charles P. Kindleberger, Economic Growth in France and Britain, 1851–1950, Cambridge 1964 Thomas Mayer, Fundamentalismus. Aufstand gegen die Moderne, Reinbek bei Hamburg 1989 Dirk Messner/Franz Nuscheler, „Global Governance. Herausforderungen an der Schwelle zum 21. Jahrhundert”, in: Dieter Senghaas (Hrsg.), Kriege machen, Frankfurt 1997, S.337–361 Wolf-Dieter Narr/Alexander Schubert, Weltökonomie. Die Misere der Politik, Frankfurt 1994 Jürgen Neyer, „Globaler Markt und territorialer Staat. Konturen eines wachsenden Antagonismus“, in: Zeitschrift für Internationale Beziehungen 2/1995, S. 287–315 Józef Niewiadomski (Hrsg.), Eindeutige Antworten? 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Gesellschaft, Staat, Erziehung 1/1998, S. 47–59 Michael Zürn, Politik jenseits des Nationalstaates, Frankfurt 1998. 29 Index Anglosächisches Gesellschaftsmodell Bretton-Woods- Institute Chaosmacht Demokratie Demokratische Legitimation De-Nationalisierung Finanzmärkte (internationale) Fragmentierung Global Governance Globalisierung Interdependenz(-Probleme) Mehrebenen-System (politisches) Nationalstaat Nicht-Regierungsorganisationen (NGOs) Organisierte Kriminalität Pacific Rim Regime Rheinländisches Gesellscahftsmodell Risikogesellschaft Schwellenländer (Newly Industrialzing Countries) Souveränität Steuerungsfähigkeit (politische) Transnationale Konzerne Umwelt-Ökologie Weltmarkt/-wirtschaft Weltpolitik (-innenpolitik) Zivilgesellschaft (internationale)