3 Definition von Erziehung

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Karl Garnitschnig (2003) Einführung in die Erziehungswissenschaft
Einführung in die Erziehungswissenschaft
Leider ist der Text noch immer nicht formal in Ordnung. Bitte sehen Sie mir dies nach.
1
EINLEITUNG ............................................................................................................................................... 2
1.1
1.2
ÜBER ETWAS SPRECHEN VS. ETWAS ZUM AUSDRUCK KOMMEN LASSEN ..................................................... 2
SICH SELBST VERSTEHEN VS. IDEOLOGIE .................................................................................................... 3
2
HANDELN ALS ORT DER SUBJEKT-OBJEKTIVITÄT ...................................................................... 4
3
EINHEIT VON SAGEN UND HANDELN ................................................................................................ 4
3.1
4
DIALEKTIK .................................................................................................................................................. 9
DEFINITION VON ERZIEHUNG ............................................................................................................. 9
4.1
4.2
4.3
4.4
4.5
4.6
4.6.1
4.7
METATHEORIE UND OBJEKTTHEORIE ........................................................................................................ 10
TYPEN VON DEFINITIONEN ....................................................................................................................... 12
ENTSCHEIDUNG FÜR EINE PROGRAMMATISCHE DEFINITION ...................................................................... 12
DER PROZESS DES DEFINIERENS ............................................................................................................... 13
WELCHE BEDEUTUNG HAT EINE DEFINITION FÜR DIE THEORIE UND FÜR DIE PRAXIS? .............................. 14
DEFINITION VON ERZIEHUNG .................................................................................................................... 14
Ziel der Erziehung ist der Mensch, der in allen Lebensbereichen verantwortlich handelt ................. 15
ÜBERPRÜFUNG, OB DIE DEFINITION DEN STAND DER ERZIEHUNGSWISSENSCHAFTLICHEN REFLEXION
HÄLT ODER VIELLEICHT ÜBERBIETET....................................................................................................................... 16
5
PERSPEKTIVEN/ASPEKTE BEI DER GESTALTUNG/PLANUNG/ANALYSE
PÄDAGOGISCHER SITUATIONEN ............................................................................................................... 20
6
DENKEN ALS KOMMUNIKATIVER PROZESS ................................................................................. 21
6.1
6.2
7
ERZIEHUNG.........................................................................................ERROR! BOOKMARK NOT DEFINED.
BEWUSSTSEINS- UND DEUTUNGSEBENEN VON WELT ............................................................................... 22
ANTHROPOLOGIE .................................................................................................................................. 24
7.1
7.2
7.3
8
DER MENSCH ALS EINHEIT VON KÖRPER, SEELE UND GEIST .................................................................... 27
IST DER MENSCH GUT? ............................................................................................................................. 28
ERZIEHUNG BRAUCHT PERSPEKTIVEN ................................................ERROR! BOOKMARK NOT DEFINED.
THEMENZENTRIERTE INTERAKTION (TZI) .................................................................................. 32
8.1
8.2
8.3
8.4
8.4.1
9
DER UMGANG MIT STÖRUNGEN ................................................................................................................ 37
INTERAKTIONISTISCHER ASPEKT .............................................................................................................. 37
GEGENSEITIGE ACHTUNG UND ANEREKNNUNG ........................................................................................ 30
DIE GRUNDANNAHMEN DES NEUROLINGUISTISCHEN PROGRAMMIERENS................................................. 30
Interaktionsanalyse – Neurolinguistisches Programmieren (= NLP) ................................................. 31
WERTE ....................................................................................................................................................... 32
9.1
9.2
ALLES HANDELN IST WERTGEBUNDEN ...................................................................................................... 40
DIE STRUKTUR VON ENTSCHEIDUNGEN .................................................................................................... 40
10
ENTWICKLUNG ALS STRUKTURGENESE ....................................................................................... 40
10.1
ENTWICKLUNGSBEGRIFF ........................................................................................................................... 41
11
ZIELE .......................................................................................................................................................... 43
12
LITERATUR .............................................................................................................................................. 46
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Karl Garnitschnig (2003) Einführung in die Erziehungswissenschaft
1 Einleitung
Wenn in Erziehungswissenschaft eingeführt werden soll, bewegen wir uns zunächst auf
einer metatheoretischen oder auf einer philosophischen Ebene. Wir werden zunächst
nicht Theorien entwickeln, sondern über die Entwicklung von Theorien reflektieren. Wir
werden also nicht von bestimmten Aussagen, die Erziehungswissenschafter und Pädagogen machen, sondern wir werden über die Aussagen als Aussagensysteme sprechen. Diese Art und Weise nicht von Theorien, sondern über Theorien zu sprechen, nennt man Metatheorie (Theorie über Theorien). Das heißt, wir werden über Erziehung sprechen und
zugleich dieses Sprechen reflektieren. Dadurch entwickeln wir zugleich eine Methode
wissenschaftlichen Nachdenkens über Erziehung.
Es werden zugleich Formen des Sprechens über Erziehung dargestellt, die als bestimmte
Positionen der Erziehungswissenschaft mit bestimmter Methodologie in sie Eingang gefunden haben. Es sind nicht bestimmte Standpunkte grundsätzlich abzulehnen. Dabei
machte man es sich zu einfach, sondern es ist zu fragen, welche Aussagen über diese Ansätze zu gewinnen sind und welchen Wert diese Aussagen unter den Bedingungen der
eigenen Voraussetzungen haben, nachdem sie in sich auch nach den motivlichen Hintergründen geprüft worden sind. Dies impliziert, dass hinter jedem Ansatz mit seinen
Grundannahmen bestimmte Motive stecken. Dahinter stehen Menschen, die bestimmte
Vorstellungen haben, was sie über bestimmte Grundannahmen in den Griff bekommen
möchten. Es ist jeweils ihre Reichweite und ihre Relationalität zu anderen Positionen zu
erörtern, vor allem zu jener Position, die als die alle anderen Positionen umfassende Position in dieser Einführung vertreten wird.
Es wird keiner dieser Positionen bekämpft, außer sie schottet sich kämpferisch, bzw. paradigmatisch, ideologisch schulbildend gegenüber anderen Positionen ab. Allerdings ist
auch klar zu zeigen, welche Form des Sprechens in dieser Position gepflogen wird und
was sie dadurch auszusagen vermag und was nicht. Die Aufklärungskapazität einer Position bezeichnen wir als ihre Reichweite.
Im Sinne einer prozessgeleiteten Analyse der Wissenschafts- bzw. Inhaltsstrukturen eines
Faches sind zunächst die Methoden der Wissensproduktion, einschließlich der kreativen
Entdeckung von Theorien, Modellen, Einsichten zu erfassen. Wenn wir das für die Pädagogik versuchen, so soll dies beispielhaft für andere praktische Wissenschaften gelten. Es
sind dabei nicht nur die Wissensstrukturen eines Faches zu erfassen, sondern es ist vom
wesentlichen Sinn des Faches (vgl. Fischer 1995) auszugehen, welcher Ausschnitt der
Wirklichkeit in welcher Intention innerhalb einer Wissenschaft erfasst werden soll. Daher
wäre zunächst die von einer Wissenschaft zu erfassende Wirklichkeit zu definieren.
Durch die Definition wird der Wirklichkeitsbereich der Wissenschaft abgesteckt, von
dem anderer Wissenschaften abgegrenzt.
1.1 Über etwas sprechen vs. etwas zum Ausdruck kommen lassen
Das Sprechen über vollzieht eine Trennung zwischen Subjekt und Objekt. Lässt man dagegen etwas zum Ausdruck kommen, setzt dies eine Einheit von Subjekt und Objekt.
Bedingung ist, dass das Subjekt es erlebt, erfahren, handelnd vollzogen hat, selbst im
Prozess anwesend war. Wenn es nun dies zum Ausdruck, zur Sprache kommen lässt,
bringt es seine momentane Wirklichkeit zum Ausdruck. Es wird also zu der Sprache und
zu dem Bestimmen, Definieren von z. B. „Erziehung“ kommen, wie es momentan erzieht
und dieses anschaut und rekonstruiert. Natürlich hat bei diesem Prozess das Subjekt eine
Deutungsleistung zu vollbringen, aber wenn es im Prozess ist und in diesem eins mit sich
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Karl Garnitschnig (2003) Einführung in die Erziehungswissenschaft
selbst ist, dann kann es sein Handeln immer wieder von innen anschauen, intuieren und
immer wieder vergleichen, wieweit Tun und Sagen übereinstimmen.
1.2 Sich selbst verstehen vs. Ideologie
Da das Leben in der Regel im Prozess ist, Leben einen dauernden Lernprozess darstellt,
außer eine Person fixiert sich auf einem erreichten Bewusstseinszustand, wird sich auch
unser Sprechen über einen Gegenstand dauernd verändern. Wir dürfen aber auch annehmen, dass dieser Veränderungsprozess – wenn auch nicht sehr häufig – dramatisch in der
Weise vor sich geht, dass eine Person ihr gesamtes Wissen oder Bewusstsein neu strukturieren muss, weil sie eine neue Einsicht erlangt hat, die dies notwendig macht. Der normale Vorgang wird es sein, dass eine Weiterstrukturierung innerhalb einer bestimmten
Einsicht in den Gesamtzusammenhang des Lebens ausreichend ist. Wir sollten aber die
Möglichkeit des Einfalls einer neuen Einsicht selbst zur Methode machen, indem wir uns
unserer Kreativität, Intuition öffnen.1
In dieser Offenheit haben wir die Möglichkeit, uns selbst zu verstehen, d. h. uns selbst in
frei schwebender Aufmerksamkeit anzuschauen und auf uns bei unserer Selbstkonstruktion zu achten. Dieses Achten auf sich selbst ist nach Johann G. Fichte (1762 - 1814), einem Vertreter transzendentalphilosophischer Reflexion, jene philosophische Haltung,
über die wir von Ideologien weg zur Nachkonstruktion unseres tatsächlichen eigenen Bewusstseins kommen.
Ein derartiger pädagogischer Ansatz geht von einer Selbstkonstruktion des Ich in Auseinandersetzung mit anderen aus. Das Ich muss sich selbst konstruieren und damit sich
selbst konstituieren, ohne das es kein Ich wäre sondern abhängig von Konstruktionen
anderer. In der Auseinandersetzung mit anderen konstruiert es sich aber nicht beliebig,
sondern bezieht die Selbstkonstruktionen anderer ein. Stimmen diese mit der eigenen
Konstruktion überein, ergibt sich ein unmittelbares Einverständnis zwischen Personen.
Erst bei Nichtübereinstimmung sind interpretative Leistungen notwendig. Diese enthalten
die Suche nach Anschlussmöglichkeiten in der Kommunikation/Interaktion, die über Assimilations- und Akkomodationsprozesse laufen. Diese Suche nach Anschlussmöglichkeiten erfolgt - im interpretativen Modus ausgedrückt - über Generalisierungen aus dem
eigenen Verständnis, das angesichts möglicher notwendiger Änderungen der aus dem
eigenen Verständnis vorgenommenen Generalisierung umformuliert werden muss, um zu
prüfen, ob durch eine neue Generalisierung, eine neue Hypothese das Material stimmiger
im Sinne dessen, was der andere meinen könnte, getroffen wird.
In direkten Kommunikationen kann nachgefragt werden, und aus der Antwort gesehen
werden, ob man das Verständnis des anderen getroffen hat oder nicht. Im täglichen Umgang lautet die Formulierung in der Regel: „Meinst Du/ meinen Sie das so....“ Die Dynamik von Bewusstseinsprozessen, sei sie individueller, sei sie vergesellschafteter Form,
erlaubt keine lineare Deutung, sondern ist immer auf Rückkoppelungsprozesse angewiesen. Es ist immer die Frage, wie weit generalisierte Annahmen über Aussagen oder das
Handeln von anderen mit dem eigenen Verständnis übereinstimmen. Unter Umständen
sind mehrere Hypothesen oder sogar Hypothesenfolgen nötig. In diesen Prozessen wird
der Mensch als Subjekt aktiv, sein Sein konstituierend und eingebunden in Vergesellschaftungsprozesse gedacht. Dieser Ausdruck bezeichnet besser als „gesellschaftliche
1
Den Einfall zur Methode erheben – Kapitel oder Aufsatz
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Karl Garnitschnig (2003) Einführung in die Erziehungswissenschaft
Prozesse“ die sich selbst in gesellschaftlichen Zusammenhängen konstituierende Aktivität
des Subjekts, weil dieses auch immer schon in gesellschaftliche Prozesse eingebunden
ist. Wird sich das Subjekt dessen bewusst, wird es erkennen, ob es für die Realisierung
seines Sinns andere als die vorhandenen Vergesellschaftungsformen braucht. In solchen
Vergesellschaftungsprozessen werden Rollen durch Reflexion des eigenen Rollenverhaltens und der Rollenerwartungen von anderen aktiv distanziert und entwerfend neu repräsentiert, dabei zugleich Normen nach ihrem Sinn befragt und darauf geachtet, ob sie den
eigenen Wertvorstellungen entsprechen und zugleich danach untersucht, wie weit diese
konsensfähig sind. Auf vollständigen Konsens in einer wertpluralen Gesellschaft zu hoffen, ist wohl müßig.
2 Handeln als Ort der Subjekt-Objektivität
Dieses Vorgehen hat auch einen wissenschaftstheoretischen Sinn. Es ist klar, dass wir uns
mit diesen Überlegungen auf einer metatheoretischen Ebene bewegen. Da Denken seinen
Ausgang in einem Tun, in einer Lebenspraxis hat, ist der Beginn immer ein zunächst methodisch noch nicht abgesicherter und somit vager Reflex von dieser. Hermeneutisch gesprochen gehen wir von einem Vorverständnis aus, das im Prozess des Deutens und seiner methodischen Arbeit aufgeklärt, spezifiziert, bestimmt wird. Bei all unseren metatheoretischen Überlegungen sind wir auf unser gesellschaftlich und lebensgeschichtlich gewordenes Bewusstsein verwiesen. Repräsentiert ist dieses in der und durch die natürliche
Sprache. Gerade daran zeigt sich, dass unser Bewusstsein ein offenes System ist. Daraus
leitet sich als Forderung an unser Denken ab, dass wir uns für das reale Leben offen halten.
Ausgangspunkt ist das Handeln. In ihm ist Subjekt-Objektivität gegeben. In ihm erfahren
wir die Auswirkungen dessen, was wir tun. Da ich immer schon Handelnder bin, können
auch viele Folgen gedanklich vorweggenommen werden. Im Handeln gibt es immer auch
einen Vorgriff auf die Welt außer mir und dessen, was mein Sein ausmacht. Aber es gibt
auch unterschiedliches Weltverstehen. Möglicherweise sieht eine Person die Welt nur aus
einer Perspektive, aber aufrecht bleibt, dass der handelnde Umgang mit Welt der Ort von
Subjekt-Objektivität ist. Daher kann mit Recht das Handeln als Ausgangspunkt gewählt
werden, weil sich in ihm zeigt, was jeweils bei einem bestimmten Umgang mit Welt wahr
oder falsch ist.
Wenn wir das eben Gesagte auf erzieherisches Handeln anwenden, ergibt sich: Indem
jemand in der Position ist, Erzieher zu sein, hat er schon einen ganz bestimmten Begriff
von dem, was Erziehung ist, erziehen heißt. Er hat eine bestimmte Alltagstheorie von
dem, was er tut oder meint tun zu sollen. Das, was er tut, wird er reflektiert tun, wenn er
gefragt wird und sich dann auch selbst fragen, warum er als Erzieher so handelt, gerade
diese Beziehung zum anderen pflegt. Er wird dann versuchen, seine impliziten Alltagstheorien auch auszusprechen, in eine Ordnung zu bringen und seine Einzelhandlungen in
einen begründeten Zusammenhang setzen.
2.1 Einheit von Sagen und Handeln
Philosophieren ist Handeln, wie Denken ein Handeln ist. Philosophie ist nicht bloß beobachten, sondern setzt ein Achten auf sich selbst voraus, um sein Handeln, im weitesten
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Karl Garnitschnig (2003) Einführung in die Erziehungswissenschaft
Sinn sein Leben nachkonstruieren zu können. Was soll Philosophie anderes analysieren
als das Leben selbst, wie es sich im Denken niederschlägt. Wer ein reicheres Leben hat,
hat eine reichere Philosophie, umspannend nicht nur die Erde, sondern auch den Kosmos
und auch ein „göttliches“ Bewusstsein. Warum soll man der Wissenschaft wegen, weil im
Wissenschaftsbetrieb durch manche ihrer Vertreter Regeln aufgestellt werden, was gedacht werden kann – und das wird dann bald zu einem gedacht werden darf – nicht an den
Reichtum des Lebens halten und alle Fragen zulassen, auch die vom Sinn überhaupt. Die
Philosophie oder das Denken ist für alle Phänomene des Lebens offen zu halten, auch für
die, die es eigentlich nicht geben „dürfte“.
Ein Philosoph, der nicht seine Voraussetzungen formuliert und einfach zu reden beginnt,
ist unredlich. Denn Philosophieren kann nur sich selbst Deutung der eigenen Welt sein.
Kriterium von Wahrheit kann demnach letztlich nur sein, wenn das, was jemand sagt, mit
dem übereinstimmt, was er tut. Jeder Erkenntnisprozess beruht auf einem bewussten
Handeln, d.h., einem Handeln, dessen Ausgang vorweggenommen wird. Wir bilden so
gesehen dauernd Annahmen (Hypothesen) über die Wirklichkeit, die sich im Handeln
bestätigen oder nicht. Dadurch baut sich uns unsere Welt auf.
Was ist aber dieses reale Leben? Wo können wir es fassen? Unsere eigentliche Realität
ist, dass wir mit anderen handelnde Individuen sind. Die Grundlage unseres Denkens liegt
also in dieser vorausgesetzten Wirklichkeit als Handelnde, auf die wir uns beziehen müssen, sollen unsere Konstruktionen über die Wirklichkeit eine Nachkonstruktion dieser
sein. Nochmals, die vorausgesetzte Wirklichkeit erschließt sich in unserem Handeln.
Es sollte klar sein, dass der Denkprozess selbst ein Handeln ist. Es wird etwas behauptet,
verglichen, bewertet, entschieden. Was wir jeweils tun, sollte klar vermittelt sein, damit
ein anderer den Gedankengang in gleicher Weise nachvollziehen kann. Bewertungen sollten offen gelegt, Entscheidungen begründet werden. Da wir uns auf einer metatheoretischen Ebene bewegen, kann das nicht anders erfolgen, als dass wir verschiedene Behauptungen einander gegenüberstellen und uns fragen, welche Konsequenzen sich aus der einen und welche sich aus der anderen Behauptung ergeben, und welche der Konsequenzen
wir wollen, wir unter dem Gesichtspunkt unserer Bewertungen, die ihren letzten Grund in
einer uns gewünschten, uns glücklich machenden Lebenspraxis haben, wollen können.
Die Frage ist also, können unsere Annahmen und die sich daraus ergebenden Konsequenzen zu einem guten Leben – und wir fügen hinzu – für alle führen. Es ist also nicht von
einem partikularen Glück, sondern von einem für uns alle die Rede.
Kann ich wissen, was für den Anderen Glück ist? Die Antwort ist eindeutig "Nein". Aber
was zu tun möglich ist, dass wir uns das, was uns Glück bedeutet, einander mitteilen,
bewusst den anderen oder die anderen in unsere Überlegungen einbeziehend. Im Diskurs
kann sich zeigen, was jeweils dem Einzelnen Glück bedeutet und ob und wie, unter welchen Bedingungen dies allgemein werden kann. Bewahrheiten wird sich das wiederum
nur im Handeln.
Daher muss Wissenschaft an der Erfahrung entwickelt werden und nahe genug am Handeln bleiben, dass das Wissen konkret ist und für sich Handlungsrelevanz besitzt. Eine
solche Wissenschaft bindet sich bewusst an durchführbare Handlungspläne, die auch für
andere mitteilbar sind. Teils hat sich der Wissenschaftsbetrieb schon so sehr von Handlungen, vom Handeln losgelöst, dass die Aussagen nicht mehr im eigentlichen Sinn verstanden werden. Daher brauchen wir wieder eine Wissenschaftsmethodik, die zugleich
Wissenschaftsdidaktik ist. Die Wissenschaftsmethodik muss allgemein gelten, weil sonst
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die Gefahr besteht, dass sich Wissenschaft so weit verselbständigt und in abstrakte Modelle davon triftet, dass wir uns möglicherweise von der Basis der Wissenschaft loskoppeln und wir nicht mehr zur Basis zurückfinden, wodurch es auch zu einem Verlust des
Verstehens der abstrakten Modelle kommen kann, wodurch wir in eine allgemeine Barbarei zurück gerieten. Ortega y Gasset (1883 - 1955), der spanische Sozialphilosoph, hat ein
solches Gedankenexperiment in seinem Hauptwerk „Der Aufstand der Massen“ (1931)
durchgespielt.
Wir brauchen also eine Wissenschaft, die voll auf Erfahrung bis in jede Einzelheit aufgebaut ist. Denn bei unserem heutigen Wissen gibt es viele Ansatzpunkte, an denen das
Wissen linear weitergedacht zur Katastrophe führt. Das an Handlungspläne gekoppelte
Denken ist immer auch ein vernetztes Denken. Denn wenn umgekehrt die Regel gilt, dass
nichts getan wird, was nicht nachvollzogen werden kann, dann ist das die beste Gewähr
für ein Denken in Regelkreisen, denn im Handeln bekommen wir unmittelbar Rückmeldung für unser Tun. Dies ist dann zugleich eine humane Wissenschaft, die das Maß des
Menschlichen beachtet, das mit dem Leben arbeitet und sich nicht zum Herrn über das
Leben aufspielt.
1. Axiom dieser Wissenschaft ist also: Nur darüber kann ich etwas wissen, was ich
erfahrbar nachvollzogen habe. "Erfahrbar" soll nun nicht heißen oder gleichgesetzt
werden mit "beobachtbar" und „quantifizierbar". Es heißt vielmehr direkt auf Handeln
bezogen und damit auch nachvollziehbar. Zu beachten ist, dass dies wiederum nicht wiederholbar heißt. Wenn der Satz gilt, dass "alles fließt" und man niemals in denselben
Strom steigen kann – und dieses Wissenschaftskonzept folgt eher einem solchen Paradigma –, dann kann Wiederholbarkeit sich nur auf eine abstrakte, reduzierte Wirklichkeit
beziehen. Das Kriterium der Nachvollziehbarkeit meint, dass die Handlung so gedanklich
durchdrungen ist, dass ein vollständiger Handlungsplan vorliegt, der die Handlung bis in
Einzelheiten so präzise beschreibt, dass bei veränderten Bedingungen diese jeweils mitbedacht werden können. Es geht also um Handlungsabläufe, die in unterschiedlichen
Kontexten vorkommen, Handlungen in und mit der natürlichen Umwelt bis hin zu metatheoretischen oder philosophischen Erörterungen. Immer geht es um Handeln mit Wirklichkeiten. Auch das Denken ist eine Wirklichkeit und sofern kann man auch mit dem
Denken handelnd verfahren.
2. Erst gedanklich durchdrungene Erfahrung ist wirkliche Erfahrung. Sie ist erst
dann aufgeklärte, bewusste Erfahrung, die systematisch Erfahrung ermöglicht. Wahrnehmung oder Erfahrung ohne den Begriff ist blind (Kant 1956, S. 95). Erst dann wird Erfahrung mitteilbar und von einem anderen nachvollziehbar. Schritt für Schritt muss dem anderen gezeig werden, wie man zu einem bestimmten Wissen gekommen ist. Auch wenn
das Handeln an soziale Interaktionen angebunden ist oder gar an Handlungen, deren Akteur ich alleine bin. Natürlich gibt es da letzte Einheiten, die vorauszusetzen sind. Es gibt
undefinierte Prädikate. Empfindungen oder Sinneseindrücke, z. B. die Empfindung von
Schmerz oder der Sinneseindruck "rot" sind solche letzte Einheiten. Vielleicht kann ich
meinen Schmerz überhaupt niemanden mitteilen und gibt es eine „Privatsprache“ (Wittgenstein) oder besser einen Bereich, den ich anderen nicht mitteilen kann. Und doch fragt
der Arzt danach, ob der Schmerz dumpf, ziehend, stechend usw. ist, um diagnostizieren
zu können oder besser, um Anhaltspunkte für die Diagnose bekommen zu können. Wir
werden uns auch nur über Vergleiche einigen können, ob wir unter einem bestimmten
Sinneseindruck das Gleiche meinen. Wir müssen also entweder ähnliche Erfahrungen
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Karl Garnitschnig (2003) Einführung in die Erziehungswissenschaft
schon gemacht haben oder erst machen, wenn wir uns einigen wollen bzw. wenn wir sie
mitteilbar machen wollen.
Dieser Erfahrungen, Empfindungen, Sinneseindrücke und damit verbundenen symbolischen und gedanklichen Repräsentationen muss ich mir also bewusst sein oder sie mir
bewusst machen. "Höre auf dich selbst, symbolisiere es und bringe es in einen Zusammenhang der Beschreibung." Das muss jeder leisten, wenn er sich mitteilbar machen will.
3. Erfahrung ist handlungsgebunden. Handlungen sind die Analyseeinheiten, Handlungen verschiedenster Art. Handlung ist das genus der Definition, die verschiedenen
Handlungsarten die differentia specifica. Handlungen können einfach und sehr komplex
sein. Es fragt sich, was jeweils als Handlungseinheit gefasst wird. Es ist sinnvoll, komplexe Einheiten in kleine zu zerlegen. Vom Grundsatz der Mitteilbarkeit her ergibt sich,
dass komplexe Handlungen so weit in Elemente aufgelöst werden, dass sie eindeutig
werden. Es sollte aber klar bleiben, dass nur die Handlung eine Einheit ist, die gewährleistet, dass der Sinn der Handlung erhalten bleibt.
4. Erfahrungen sind nur als nachvollziehbar verwertbar. Wirklich nachvollziehbar
sind aber nur Handlungen, für die es Anweisungen gibt. Wenn ich jemand eine Anweisung gebe und er befolgt sie in dem von mir gemeinten Sinn, d. h. er führt sie nach meiner Vorstellung aus, dann weiß ich am besten, dass er sie verstanden hat.
5. Was selbst entdeckt wurde, wird am besten verstanden. Um etwas selbst zu entdecken, muss eine Person selbst in die Materie eintauchen. Mitteilen wird also Situationen
des Selbst-Entdeckens herstellen und wird sich mit Bereitstellung von Material begnügen,
das gebraucht wird, um den Entdeckungsvorgang zu ermöglichen. Der Historiker Leopold
von Ranke (1795 - 1886) hat den Satz geprägt: Die Wissenschaft ist die Geschichte ihrer
Entdeckungen. Daher sollte man nie Resultate vorlegen, sondern veranlassen, dass der
Prozess der Entdeckung nachvollzogen wird. Das gilt für alle Wissenschaften, nur dass
die Gegenstände spezifisch sind und mit ihnen auch die Methoden. Für den didaktischen
Prozess ist auch noch bedeutsam, dass die Lernenden mit Lebensvorgängen nur konfrontiert werden, was sie damit tun, ist ihre Sache. Es hilft nicht, sie auf die Bedeutsamkeit
eines Gegenstandes hinzuweisen, wenn es nicht für sie wichtige Lebenszusammenhänge
gibt, in denen sie es brauchen. Ist dieser Zusammenhang klar oder offensichtlich, dann
bedarf es auch keiner zusätzlichen Motivation.
Motivation hat mit urmenschlichen Bedürfnissen zu tun. Wenn nicht sie Pate stehen, wird
Lernen und Lehren bald abstrakt. Die Lernenden verlieren die Freude, die sie haben können, die Freude am Entdecken, am Erkunden von Welt, am Wunsch sich auszukennen,
sich in der Welt zurechtzufinden. Lernen macht Freude. Wenn das nicht geschieht, dann
in der Regel deshalb, weil Lernen erzwungen wird oder personfremde Dinge verlangt
werden bzw. überhaupt nicht personorientiert vorgegangen wird. Der Gegenstand wird
wichtiger als die Person. Man spricht dann von lernzielorientiert und gibt sich gesellschaftsorientiert in dem Sinn, dass damit den Menschen geholfen werde, ist dabei aber
rein gesellschaftserhaltend und nicht gesellschaftskritisch. Letzteres verlangt, dass Personen zu sich selbst gekommen, sich und ihre Wünsche, Bedürfnisse, Wertungen artikulieren können. Das kann nicht gelernt werden, wenn sie fremdbestimmt werden. Daher muss
ich Menschen Entscheidungen selbst treffen lassen. Daraus folgt das
5. Axiom: Wissenschaft ist frei, nur gebunden an die Wahrheit des Gegenstandes,
seine Sachgemäßheit und das eigene Ich, das wir handelnd werden und sind. Das
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Karl Garnitschnig (2003) Einführung in die Erziehungswissenschaft
Aufstellen von Kriterien für Wissenschaftlichkeit ist in der Regel mehr an Übereinstimmung orientiert, an abstrakten Regeln der Nachprüfbarkeit. Streng genommen hat jeder
Gegenstand sein eigenes Bestätigungsverfahren. Es gibt keine zwei gleichen Dinge Prinzipium individuationis (Leibniz 1960, S. 12). Es gibt keine zwei Blätter, die gleich
sind. Im allgemeinen genügt es nach Arten zu unterscheiden. Es kommt darauf an, was
ich mit den Dingen oder mit Sachverhalten handelnd tun möchte. Was darf ich noch tun
und was darf ich nicht mehr tun, um einen Sachverhalt nicht zu verändern und dann ein
Konstrukt zu untersuchen. Durch die Regeln der Wissenschaftlichkeit werden Sachverhalte in der Regel zu Konstrukten gemacht und diese werden dann untersucht. Es gehört
zumindest zur wissenschaftlichen Redlichkeit, dies zu beachten und in die Interpretation
der Ergebnisse einzubeziehen. Es kommt auch immer auf den Standpunkt des Beobachters an.
Wird die Frage nach dem Beobachter als dem Konstrukteur der Wirklichkeit zugelassen,
dann ist immer auch die Frage nach der Güte des Instruments der Beobachtung selbst zu
stellen (vgl. Maturana 1996). Die andere Voreinstellung ist die, so offen als möglich die
Dinge anzuschauen, ihnen so offen als möglich zu begegnen, sich auf sie einzulassen. Der
Streit zwischen "harten" und "weichen" Daten ist ein Streit der Wissenschafter an den
Dingen vorbei. Dies gilt im Besonderen für die Sozialwissenschaften, auf die man die
Regeln, die einer anderen Wissenschaft angehörten und Gegenstände anderen Typs untersucht, der Physik übertrug. Man muss sagen angehörten", denn seit Einstein hat sich die
Methodologie der Physik bedeutend verändert. Der Standpunkt und die Manipulationen
des Beobachters werden einbezogen. So müssten alle abstrakten und abstrahierenden Regeln aufgegeben werden, um die Dinge sprechen zu lassen. Alles hängt an der Wahrhaftigkeit und Redlichkeit des Wissenschafters. Regeln können frei aber auch unfrei machen.
Sie machen nur frei, solange man noch keinen Überblick hat. Ist dieser gegeben, binden
Regeln. Wesentlich kommt es wieder darauf an, das, was ich tue, um einen Gegenstand
zu erfassen, gedanklich so zu durchdringen, einen so klaren Plan meines Handelns zur
Erfassung des Gegenstandes zu machen, dass es für andere mitteilbar ist.
6. Lernen gibt es nur im ununterbrochenen Zusammenhang von Erfahrungen. Das
schulische zerstückelnde Lernen macht interesselos, ist lebensfeindlich. Der Zusammenhang von Erfahrung hat zwei Aspekte: 1. Der Zusammenhang muss im Lernenden stattfinden. Der Lehrer kann versuchen, entsprechende Materialien und Situationen bereitzustellen, an denen der Lernende diese Erfahrung machen kann. 2. braucht es eine Kontinuität des Lebens, dessen Ort die Schule ist, eine Kontinuität von Beziehungen zu Dingen,
sozialen Situationen und Personen, damit die Lernenden auch ausreichend Zeit haben,
ihre Erfahrungen machen zu können. Ein nach Jahren gegliederter Lehrplan wirkt dem
entgegen. Das heißt aber auch, dass Schule kein künstlicher Ort sein darf, sondern wo
echte Beziehungen herrschen und wo auch die Lehrer echt sind, und nicht von einem
Lehrplan und der hierarchischen, bedürfnisfeindlichen Struktur der Schule aufgezwungene oder zumindest angemutete Rollen spielen.
Das was man oft gemeinhin als Lernprobleme bezeichnet, sind eigentlich Probleme der
Institution, der Schulverwaltung, denn sie lässt weder Schüler noch Lehrer noch Eltern so
sein, wie das Leben es fordert. Beispiele dafür gibt es täglich. Wenn der eine oder andere
Lehrer doch etwas Lebensförderliches tut und tun kann, dann geschieht es gegen Widerstand.
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Karl Garnitschnig (2003) Einführung in die Erziehungswissenschaft
Es sollte klar sein, dass das nachahmende Lernen des Kindes ein Tun ist. Das Kind muss
dafür Zeit haben können, soll es dabei auch spielerisch aktiv sein können. Bloße Nachahmung wäre ein mechanischer Vorgang. Das Kind muss die Möglichkeit haben, eine
Atmosphäre vorfinden, in der es mit den Dingen in Beziehung treten kann, frei nach der
Vorlage seine Erfahrungen machen kann. Da darf es auch "Fehler" geben, besser Abweichungen von der Vorlage, weil dies den spielerischen Aneignungsprozess fördert, die
Kontinuität zwischen der eigenen Erfahrung, der Körperrückmeldung und dem Gegenstand. Der Umgang mit dem Gegenstand muss als Austauschprozess zwischen Körper,
Empfindungen, Wahrnehmungen, Verstandesprozessen und den Dingen erlebbar sein
können.
2.2 Dialektik
Es ist zwischen einer Gegenstands- oder Realdialektik und einer Bewusstseinsdialektik zu
unterscheiden. Erstere meint, die Realität, die Geschichte wiesen Widersprüche auf und
bewegten sich in der Aufhebung der Widersprüche und je neuer Entstehung von Widersprüchen fort.
Für die Bewusstseinsdialektik ist die Realität, über die gesprochen wird, die Einheit von
Subjekt-Objektivität, also die von Menschen nachkonstruierte Wirklichkeit. Der Mensch
mit seiner Ausstattung an psychischen Funktionen und seinen Kategorien der Weltbeschreibung erfasst die Welt in spezifischer Weise. Wir erfassen nicht die Welt an sich –
das ist eine bloße Denkkategorie – sondern die Welt ist die über unsere Lebensgeschichte
erfahrene, gedeutete, reflektierte Welt. Dies ist unsere Realität, die letzte tragende Einheit, hinter die wir nicht zurückblicken können. Jenseits ihrer mag es einen Angelpunkt
geben, durch den unsrer jetziges Bewusstsein aus den Angeln gehoben werden mag, aber
zum gegenwärtigen Zeitpunkt ist es eben dieses durch unsere Lebensgeschichte, die die
Gattungsgeschichte mehr oder weniger in sich enthält, so und so gewordene Bewusstsein.
Entsprechend ist ihre Dialektik der Versuch der Vereinigung von Gegensätzen, die wir im
Handeln und bei dem Versuch, unser Handeln zu erfassen, erfahren.
Wir erfahren uns als frei und bestimmt. Wir erleben erzieherisches Handeln in der Spannung von „Führen und Wachsenlassen“, von „Wir wollen etwas für die jungen Menschen
tun“ und „Wir dürfen sie dabei nicht überformen“, um sie nicht in ihrer Entwicklung einzuschränken. Am Ende dessen, der Vermittlung dieser Gegensätze kann nicht ein leerer
Begriff stehen, sondern eine klare Vorstellung, wie wir Handeln können, sollen, müssen,
wollen wir frei sein, wollen wir erzieherisch tätig sein...
3 Definition von Erziehung
Definitionen sind metatheoretischer Art. Sie werden gemacht, um festzulegen oder festzustellen, was man unter einem bestimmen Gegenstandsbereich wie Erziehung versteht,
bzw. wie man diesen Begriff von anderen Gegenstandsbereichen wie sie in anderen Wissenschaften erforscht werden, unterscheidet. Definitionen differieren, weil sie jeweils
unterschiedliche Akzente im Begriffsraum setzen und weil sie von unterschiedlichen Voraussetzungen ausgehen. Um also eine Definition von Erziehung aufstellen zu können, ist
es notwendig, die eigenen Voraussetzungen anzugeben, zu entfalten und die Aspekte des
Begriffsfeldes „Pädagogik“ nach und nach einzuführen, die als notwendige und hinreichende Merkmale des Begriffs „Pädagogik“ weiterhin gelten sollen.
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Karl Garnitschnig (2003) Einführung in die Erziehungswissenschaft
Bevor wir an diese Aufgabe herangehen, sind noch einige Bemerkungen darüber nötig,
von woher diese Voraussetzungen und Merkmale gewonnen werden können. Der Beginn
allen Argumentierens ist das geschichtlich/lebensgeschichtlich so und so gewordene Bewusstsein der Person, die sich auf diesen Prozess einlässt. Hermeneutisch ausgedrückt gilt
es das Vorverständnis aufzuklären, in dem die einzelnen Merkmale nicht bloß aufgegriffen werden, sondern danach geprüft werden, wie weit diese Merkmale notwendig und
schließlich hinreichend den zu definierenden Begriff bestimmen. Diese Prüfung erfolgt
zunächst über das Auffinden von Beispielen und Gegenbeispielen (vgl. Scheffler 1971,
Soltis 1971, Hirst/Peters 1972), die zu zeigen vermögen, welche Phänomene unter einen
mit diesen Merkmalen bestimmten Begriff fallen. Lassen sich noch Phänomene finden,
die nach unserem Vorverständnis und intuitiven Begriff vom Definiendum dieses nicht
treffen, muss ein weiteres Merkmal gefunden werden, bis der Begriff nach seinen Merkmalen so bestimmt ist, dass nur noch Beispiele gefunden werden, die mit dem intuitiv
gefassten Begriff übereinstimmen bzw. die Beispiele durch die aufgestellten Merkmale
gedeckt sind. Dann erst ist explizit bestimmt, was vorher nur intuitiv implizit vorgestellt
war.
Die Intuition selbst ist gespeist vom realen Handeln. Wer nicht handelt, im weitesten Sinne lebt, hat auch keine Vorstellung vom zu definierenden Phänomen und wird daher auch
nicht seine Merkmale auffinden können. Diese sind bedingungsanalytisch gesprochen die
notwendigen und hinreichenden Bedingungen zur Bestimmung eines Begriffs. Im Weiteren werden wir also den Begriff nur so verwenden, dass er den Bedingungen genügt. Nur
die aufgefundenen Merkmale der Bestimmung des Begriffs erfüllen die Bedingung, dass
er richtig verwendet wird. Dies gilt zumindest so lange, bis man selbst eines Besseren
belehrt wird, sei es, dass man im Experiment des Lebens selbst entdeckt, dass man eine
Bedingung noch nicht erkannt hat, sei es, dass man im Dialog mit anderen eine weitere
Bedingung erkennt.
So verläuft das Definieren eines Phänomens über drei Schritte:
1. das intuitive Erfassen des Phänomens im Gesamtkontext des (eigenen) Lebens
2. im Bestimmen der notwendigen und schließlich hinreichenden Merkmale als Bedingungen des Erfassens des zu definierenden Phänomens und seiner durch diese
Merkmale bestimmten Verwendung als Begriff. Das lebenspraktische Phänomen
wird durch diesen Prozess des Hervorhebens seiner Merkmale zum Begriff, der
im Weiteren so verwendet wird.
3. Beispiele und Gegenbeispiele: Die Prüfung, ob ein aufgenommenes Merkmal
auch unserer intuitiven Vorstellung entspricht, erfolgt über Beispiele und Gegenbeispiele und über ein konsequentes zu Ende Denken der Folgen, die sich ergeben,
würden wir ein bestimmtes Merkmal beibehalten. Dass der Begriff hinreichend
bestimmt ist, können wir dann annehmen, wenn wir keine Gegenbeispiele mehr
finden.
3.1 Metatheorie und Objekttheorie
Die Aussagen, die wir bisher getroffen haben, gehören dem Bereich der Metatheorie (Metawissenschaft) an. Sie trifft Aussagen darüber, wie die einzelnen Wissenschaften bei der
Gewinnung ihrer Aussagen über ihren Objektbereich vorgehen. Wir unterscheiden demnach drei Ebenen:
- 10 -
Karl Garnitschnig (2003) Einführung in die Erziehungswissenschaft
Tabelle 1: Theorieebenen
Objekt
Theorie – Objekt
Theorie – Theorie
1.Ebene
Objektbereich: Gegenstand einer Wissenschaft
2.Ebene
Objektwissenschaft: Aussagen: Theorien über den Objektbereich – Objekttheorie
3.Ebene
Metawissenschaft: Aussagen (Theoien) über die Metatheorie
Für die Forschung, aber auch für das Studium ist es wichtig zu wissen, welcher Theorieebene bestimmte Aussagen angehören. Aussagen der metatheoretischen Ebene weisen
andere Begründungsverfahren auf als Aussagen auf der objekttheoretischen Ebene. Metatheoretische Aussagen entspringen generellen Annahmen ideologisch weltanschaulicher
Art über einen Gegenstandsbereich. Sie enthalten Annahmen darüber, welche Aussagen
man als wissenschaftlich anerkennen will; dann gehören auch alle Definitionen z. B. dessen, was man als Pädagogik bezeichnen will, der Metatheorie an. Dies ist meist schon an
der Formulierung ersichtlich:
„Unter ‘Erziehung’ verstehen wir ...“ oder „Mit ‘Erziehung’ ist gemeint ...“
In wissenschaftliche Theorien gehen zweierlei Annahmen ein:
a)
Annahmen über die Realität
b)
Annahmen über das, was man als wissenschaftlich anerkennt
Diese Annahmen werden vom Wissenschafter bei der Datenverarbeitung getroffen und
gehen in die Frage, was als Methode der Untersuchung zugelassen oder verboten werden
soll, ein. Diese Annahmen bilden somit die Vorrausetzung oder den Hintergrund aller
Aussagen über Objekte (Objektsprache), die wir, wenn sie bestimmten Bedingungen genügen, als Theorie bezeichnen.
Wir erkennen also die Tatsachen niemals „an sich“, sondern immer nur über unsere Theorien. Auch Aussagen beschreibender Art (deskriptive Sätze) sind „immer Interpretationen
der beobachteten Tatsachen ... im Lichte der Theorien“ (Popper 1971, S. 72, Anm. 2).
Insofern nun die Wirklichkeit sich nur unseren Fragen erschließt, und diese wiederum
von unseren Annahmen abhängen, ist die Wirklichkeit eine „Konstruktion“, eine gedankliche Schöpfung des Menschen. Man spricht auch von wissenschaftlichen Begriffen als
Konstrukten.
3.2 Wissenschaft als Normbegriff
Aus diesen Überlegungen geht hervor, dass jede Wissenschaft eine bestimmte Wertbasis
hat, und somit ein „Normbegriff“ ist. Unter diesem Gesichtspunkt gilt die Aussage des
österreichischen Pädagogen Wolfgang Brezinka in seiner „Metatheorie der Erziehung“, in
der er die Frage nach der Wissenschaftlichkeit der Pädagogik stellt, dass wir, wenn wir
Erkenntnisse von Irrtümern unterscheiden wollen, „einen Maßstab, ein Unterscheidungsmittel oder Kriterium“ brauchen. „Dieser Maßstab kann nicht in der Welt der Tatsachen
empirisch aufgefunden, sondern nur als freie menschliche Festsetzung eingeführt werden.
Es hängt von uns ab, was wir als Erkenntnis gelten lassen wollen. Der Begriff der Erkenntnis ist ebenso wie der Begriff de Wissenschaft ein normativer oder Normbegriff. Es
werden durch ihn Normen festgesetzt, die als Maßstab dienen, um Aussagen beurteilen zu
können ... Je nach der Zielsetzung läßt sich die Norm der Erkenntnis verschieden definie- 11 -
Karl Garnitschnig (2003) Einführung in die Erziehungswissenschaft
ren. Dementsprechend gibt es verschiedene Arten der Erkenntnis (vorwissenschaftliche
Erkenntnis, ästhetische Welterfahrung, wertende Erkenntnis, wissenschaftliche Erkenntnis). Von diesen Erkenntnisarten leistet die wissenschaftliche Erkenntnis am meisten. Ihr
Ziel ist die Vermehrung unseres Wissens über die Welt.“ (Brezinka 1978, S. 34)
3.3 Typen von Definitionen
Definitionen sind metatheoretischer Art. Sie werden gemacht, um festzulegen oder festzustellen, was man unter einem bestimmten Gegenstandsbereich wie Erziehung verstehen
will. Aus ihnen ist auch schon erkennbar, welchem theoretischen Hintergrund sie entstammen. Nochmals: Jede Definition setzt schon bestimmte Entscheidungen darüber voraus, was ein Autor unter Erziehung verstehen will.
Tabelle 2: Arten von Definitionen
1. stipulative D.
2. deskriptive D.
3. programmatische D.
(nach I. Scheffler 1971)
1. Nominaldefinitionen
2. Realdefinitionen
3. analytische D.
4. Definition d. Reduktionssätze
5. Komplexe D.
6. operationale D.
(Savigny 1971)
Unter den vielen Typen von Definitionen (vgl. Savigny 1971) wollen wir mit den Londoner Philosophen der natürlichen Sprache (natural language philosophie) in Anschluss an
Ludwig Wittgenstein Israel Scheffler (1971) und Jonas F. Soltis (1971) drei Typen in
besonderer Weise hervorheben, um gut begründen zu können, warum wir einen bestimmten Typus bevorzugen. Scheffler sieht das Ziel der Wissenschaften darin, ein „theoretisches Netz“ zu flechten, in dem Aussagen über alle Tatsachen eines Gegenstandsbereichs
ihren spezifischen Ort haben. Definitionen kommt in diesem Netz eine ausgezeichnete
Rolle zu, sofern sie die Bedeutungen von Begriffen zumindest vorübergehend festlegen.
1. Eine stipulative (von lat. stipulor = abmachen) Definition legt die Bedeutung eines Begriffs für einen bestimmten Argumentationszusammenhang fest. Sie sagt,
dass man einen Begriff so und so verwenden werde. Solche Definitionen werden
nicht aufgestellt, um „den ursprünglichen Gebrauch der definierten Begriffe widerzuspiegeln. Sie regeln vielmehr Konventionen, die in der Diskussion mehr oder weniger hilfreich sein können.“ (Scheffler 1971, S. 28) Ob z. B. eine Notenskala von A bis E oder von 1 - 5 oder anders definiert wird, beruht auf Übereinkunft.
2. Dagegen beanspruchen deskriptive Definitionen, die Phänomene zu beschreiben,
die der Begriff meint.
3. Programmatische Definitionen enthalten Elemente, die sagen, wie man einen
Begriff verwenden möchte, so dass man auf seiner Basis sinnvoll praktisch tätig
werden kann.
3.3.1 Entscheidung für eine programmatische Definition
Von allen möglichen Formen von Definitionen wählen wir die programmatische Definition, weil wir, wenn wir erziehen, schon eine bestimmte Vorstellung im Auge haben, wohin der Prozess der Erziehung laufen soll. Eine beschreibende Definition etwa würde die- 12 -
Karl Garnitschnig (2003) Einführung in die Erziehungswissenschaft
ser Tatsache nicht gerecht werden und wäre daher nicht ausreichend, weil diese bloß beschreiben würde, wie Erziehung faktisch vollzogen wird. Dabei könnte man viele Weisen
sg. erzieherischen Handelns entdecken, die man unter programmatischen Gesichtspunkten
wohl kaum als Erziehung bezeichnen wird. So wird unter dem Titel von Erziehung bestraft, geohrfeigt, geschimpft, gedemütigt usw. Wir entscheiden uns also für eine Definition, die zugleich ein Programm formuliert, um gleich von Anfang an gewisse problematische Weisen zu erziehen ausschließen zu können. Wir können dann sagen, man möge
bestimmte Formen von Erziehung – z. B. solche, die eher mit Dressur beschrieben werden können – irgendwie anders bezeichnen, mit „Erziehung“ werden sie zu Unrecht umschrieben.
Real werden die Elemente einer programmatischen Definition aber erst, wenn sie tatsächlich im Handeln umgesetzt werden und dies passiert immer natürlich von Individuen mit
einer bestimmten Lebensgeschichte in einer historisch so und so gewordenen Gesellschaft. Unter diesem Gesichtspunkt ist Erziehung in mehrfacher Hinsicht eine „soziale
Angelegenheit“ (Durkheim, 1902, 1984).
3.3.2 Der Prozess des Definierens
Zunächst wird intuitiv erfasst, was das Besondere des Gegenstandes ausmacht. Worin
besteht nun der Prozess der Intuition, das Intuieren? Auf dieser Ebene sind die Prozesse
jeweils, d.h. von ihrer Handlungsstruktur her phänomenologisch bedingungsanalytisch zu
rekonstruieren. Die Rekonstruktion hat sich am realen Prozess zu orientieren, es ist das,
das man tut, was man also tut, wenn man definiert, zu analysieren. Es wird dabei auf einen ausgezeichneten Bereich von Wirklichkeit, nämlich auf ein selbst vollzogenes Handeln geachtet und dabei wird dieses bestimmt. Dieses gehört natürlich auch der Wirklichkeit an, einer Wirklichkeit, die sich dadurch auszeichnet, dass sie beliebig oft wiederholt
und damit reflektiert und analysiert werden kann. Da dieser Prozess beliebig wiederholt
werden kann, dürfte über ihn ein klares Wissen möglich sein. Vom Subjekt wird nur verlangt, dass es diesen Prozess leistet. Das Subjekt kreiert eine Objektivität und es kann
somit zu recht von einer Subjekt-Objektivität gesprochen werden. Bei diesem Prozess
bezieht man sich nicht auf ein dem Subjekt Vorgegebenes, sondern auf ein Handeln, welches das Subjekt im Handeln selbst entwirft.
Man kann rein entwickelnd vorgehen und jeweils ein Element nach dem anderen einführen, das als notwendige Bedingung der Bestimmung eines Begriffs nötig ist, und dabei
immer wieder die Frage stellen, ob mit diesen Bestimmungsmerkmalen ein Begriff nun
schon eindeutig von anderen verwandten Begriffen abgegrenzt ist.
Hier wird ein anderer Weg versucht. Es wird eine dem Autor gültig scheinende Begriffsbestimmung oder Definition hingestellt, damit der Leser den Prozess der Begriffsklärung
mitreflektieren kann. Aber doch werden auch die Definitionsmerkmale der Reihe nach
erörtert, warum sie notwendiges Bestimmungsmerkmal sind und warum die endgültige
Definition auch das hinreichende Merkmal enthält, das den Begriff von allen anderen
verwandten Begriffen klar unterscheiden lässt.
Um das Eigentümliche eines Phänomens zu definieren, muss jeweils von seiner Ganzheit
oder Gesamtheit ausgegangen werden. Wie Wörter nur im Kontext einer Sprache definiert werden können, und somit die Sprache die Ganzheit darstellt, von der ausgegangen
werden muss, um die Bedeutung der Wörter zu erfassen (Witttgenstein 1970), so muss
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Karl Garnitschnig (2003) Einführung in die Erziehungswissenschaft
der Mensch als leib-seelisch-geistige Einheit einschließlich seiner sozialen Realität, über
seine geistige Realität bestimmt werden. Diese ist durch den Sinn gekennzeichnet, über
den jedes Individuum sich seine Identität in Auseinandersetzung mit seiner sozialen Identität schafft.
3.4 Welche Bedeutung hat eine Definition für die Theorie und für die Praxis?
Wenn wir nicht wissen, was die in Frage stehende Wirklichkeit ist und wie wir sie verstehen wollen, werden wir nicht konsequent handeln können. Wenn wir eine Definition von
Pädagogik suchen, dann sind wir auf der Ebene der Metawissenschaft. Beim Aufstellen
von Definitionen bedarf es vor allem der Kreativität, nicht so sehr der Logik. Jede Wissenschaft geht von Axiomen aus (nicht mehr weiter beweisbaren Annahmen). Jede Wissenschaft gründet daher letztlich auf Metaphysik.
Wie Pädagogik intuitiv gefasst wurde, muss in alle anderen Aussagen über pädagogisches
Handeln einfließen, die aber logisch2 zusammenpassen müssen. Dies bedeutet, dass jede
Aussage innerhalb einer Wissenschaft aus der Definition abgeleitet sein muss. Dies geschieht dadurch, dass die intuitiv erfasste Bedeutung von Erziehung, auf die Phänomene
der Erziehung übertragen wird.
Je nach Paradigma gibt es verschiedene Definitionen. Umgekehrt: Die von uns verwendete Definition wird andere Definitionen ein- und manche ausschließen.
3.5 Definition von Erziehung
Mit dem Begriff „Erziehung“ sind unterschiedliche Begriffsfelder verbunden: am deutlichsten jene von Lernen, Unterrichten, Bilden. Fast allen Definitionen ist gemeinsam,
dass in der Erziehung etwas angestrebt wird, das als wertvoll erachtet wird. Aber nicht
alle Erziehungsziele, die im Laufe der Geschichte angestrebt wurden, muss ich als wertvoll ansehen. Z.B. muss man das Erziehungziel von Ernst Krieck, einem Pädagogen der
NS-Zeit, nicht als wertvoll ansehen, der nach Herwig Blankertz (1992, S. 278) Erziehung
„als Formung des Menschen durch Zucht und Kraft des völkischen Lebens“ definiert. Im
Gegensatz dazu, kann man den Widerstand gegen die gesellschaftliche Ordnung als Wert
ansetzen. Wohl aber wird man sagen dürfen, dass Krieck das Ziel der Angleichung als
wünschenswert und wertvoll angesehen hat.
Es gilt also: „Es existiert ein dominierender subjektiver kontextbedingter Gebrauch des
Ausdrucks ‘Bildung’, bei dem eine Annahme positiver Werte mitenthalten ist; außerdem
gibt es jedoch einen objektiven kontextbedingten Gebrauch, bei dem Neutralität gegenüber dem Wert der Bildung gewahrt bleibt.“ (Soltis 1971, S. 32) Dies impliziert allerdings nicht, dass ein Ziel nicht für wertvoll gehalten werden darf. Es ist damit aber die
Bereitschaft verbunden, das Ziel in Frage zu stellen. Außerdem hängt es auch noch davon
ab, ob in den Prozess der Zieldefinition alle Betroffenen einbezogen werden.
Wir werden hier zunächst kein System von Bildungszielen aufstellen, sondern vielmehr
fragen, ob die Erziehung ohne Erziehungsziele auskommt. Diese Frage werden wir ver2
Noch zur Zeit des Wiener Kreises versteifte man sich auf eine zweiwertige Logik, heute spricht man von
mehrwertigen Logiken, indem man z. B. auch den Wert „nicht entscheidbar“ zulässt.
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Karl Garnitschnig (2003) Einführung in die Erziehungswissenschaft
neinen. Jeder Pädagoge wird sagen, dass er bestimmte Ziele hat, und jeder wäre verwundert, wenn er zur Antwort bekäme, dass er zu gar nichts erziehen möchte. Kritisch wird
die Frage erst, wenn man nach bestimmten Erziehungszielen fragt. Zunächst wird man
eine weitere Einschränkung machen müssen: Erziehungsziele dürfen nicht so allgemein
formuliert sein, dass sich daraus keine Handlungskonsequenzen ableiten lassen. Bei der
Formulierung eines Zieles soll auch absehbar sein, wie man es erreichen kann. Zu einer
näheren Bestimmung der Zielproblematik ist die Frage zu stellen: Welche Art von Antwort kann man geben, wenn man nach einer Präzisierung der Zielproblematik fragt? P.A.
Hirst und R. S. Peters antworten darauf lakonisch: „Grob gesagt jede, die eine präzise
Formulierung dafür vorlegt, wen man als einen erzogenen Menschen betrachtet.“ (1972,
S. 55)
Führen wir nun nach und nach jene Merkmale von Erziehung ein, die wir intuitiv für
notwendig erachten, damit man von Erziehung sprechen kann. Grundsätzlich könnte man
bei der Klärung dieser Merkmale eine gesamte Phänomenologie der Erziehung schreiben.
Dies müssen wir uns aus Platzgründen verwehren. Erziehung ist definiert als:
 Beziehung/Interaktion zwischen Individuen
Damit treffen wir schon eine Entscheidung. Wir wollen nur jene Weisen der Erziehung
betrachten, die zwischen Personen stattfindet. Die Redeweise, auch ein gutes Buch oder ein Film oder das Leben in der Natur „erziehe“, also alles, was funktional auf die
Entwicklung einer Person wirkt, ist durch dieses Merkmal ausgeschlossen. Vielmehr
müsste alles, was auf eine Person wirkt, danach geprüft werden, wie es wirkt und danach gestaltet werden, wie es der Intention der Personen entspricht. Erziehung wird also von Sozialisation als „Prozeß der Eingliederung eines Individuums in die Gesellschaft oder in eine ihrer Gruppen über den Prozeß des Lernens der Werte und Normen
der jeweiligen Gruppe und Gesellschaft“ (Fend 1971, S. 113) abgehoben, weil dieser
Prozess weder nach seiner Form noch der Qualität des Lernens näher bestimmt ist und
in welchem Verhältnis Personen in diesem Prozess zueinander stehen. Genau die Bestimmung der Beziehung zwischen den Personen sollte weiterführen. Beziehungen
zwischen Personen gibt es viele, aber nicht jede dieser Beziehungen meint Erziehung.
 auf der Basis von Anerkennung und Wertschätzung
 mit dem Ziel autonomer, verantwortlicher, kompetenter Handlungsführung
 (in allen Bereichen von Bewusstsein und Erfahrung)
Alles was Ziel sein soll, muss potentiell schon da sein, sonst kann ich es nicht erreichen
(Comenius: Das Kind hat wenig Möglichkeiten, aber viele Kräfte).
3.5.1 Ziel der Erziehung ist der Mensch, der in allen Lebensbereichen verantwortlich handelt
Der erzogene Mensch zeichnet sich dadurch aus, dass er mit seinen Problemen selbst zurecht kommt. Das heißt nicht, dass er alles selbst erledigen kann, sondern bedeutet, dass
er bei Problemen Lösungsstrategien entwickeln kann. Das Ziel kann z. B. größere Handlungsfreiheit sein, mit der verantwortungsvoll umgegangen wird.
a) verantwortungsvoll
b) handlungsfähig
Müssen wir Verantwortungsfähigkeit als anthropologische Grundeigenschaft des Kindes
voraussetzen? Das ist vielleicht auch verbunden mit Wissen darüber, wie etwas läuft. Da
- 15 -
Karl Garnitschnig (2003) Einführung in die Erziehungswissenschaft
wir andererseits nur verantwortungsvolle Handlungen zulassen wollen, lassen wir es als
Attribut stehen.
Verantwortungsvoll bedeutet, dass die Normen der Gesellschaft reflektiert werden. Nach
Peters: „handlungsfähig in allen öffentlichen Formen von Bewußtsein und Erfahrung“.
c) in allen (öffentlichen) Bereichen von Bewußtsein und Erfahrung.
Zusammenfassend definieren wir
Erziehung als Beziehung der Anerkennung zwischen Individuen, in der bewusst das
Ziel freier Handlungsführung in allen Bereichen von Bewusstsein und Erfahrung
angestrebt wird.
Der Lernprozess ist zumindest von einer Seite bewusst gesteuert. Die Motivation im Hintergrund: Es ist schön, wenn das Kind das selbst auch will: Selbständiges und selbst bestimmtes Aneignen von Inhalten durch aus zu differenzierende Fähigkeiten und Fertigkeiten, was durch Prozesse des Aneignens geschieht. Pädagogen verfolgen vor allem das
Ziel, dass die Kinder Lernen lernen. Es kommt darauf an, Menschen nicht zum Lernen zu
zwingen, sondern Lernräume zu schaffen, in denen Lernen (lustvoll) möglich ist.
3.6 Überprüfung, ob die Definition den Stand der erziehungswissenschaftlichen Reflexion hält oder vielleicht überbietet
Die gefundene Definition muss zumindest dem Stand der Reflexion innerhalb der Erziehungswissenschaft entsprechen, soll sie relevant sein. Vielleicht vermag sie sogar den
Stand zumindest mancher Definitionen zu überbieten. Dazu werden wir einzelne Definitionen anerkannter Erziehungswissenschafter mit der eigenen Definition vergleichen.
Dabei werden wir weiter das Verständnis bezüglich der eigenen Definition schärfen und
auch für andere besser artikulieren können. Denn wie schon oben gesagt, beginnt der Prozess des Definierens bei einer intuitiven Einsicht, die wir methodisch reflexiv im Prozess
aufklären, um sie verständlich anbieten zu können.
Der US-amerikanische Organisationstheoretiker, der sich mit den Wandel in Organisationen in vielen Veröffentlichungen schon in den sechziger Jahren des vorigen Jahrhunderts
auseinander gesetzt hat, hat Formen der Beeinflussung nach den in der unten stehenden
Tabelle drei angegebenen Parametern definiert:
1. nach der Zielsetzung und wie weit sie wechselseitig oder einseitig vorgenommen
wird,
2. nach dem Prozess, wie weit er geplant wurde oder dem Zufall überlassen bleibt
und
3. nach der Beziehung, ob sie reziprok bzw. symmetrisch gestaltet ist oder ein Hierarchiegefälle vorherrscht.
Danach ergeben sich acht verschiedene Formen der Veränderung bzw. Beeinflussung.
Erziehung wäre nach diesem Modell wohl durch die Merkmale einer wechselseitigen
Zielsetzung, die geplant im Rahmen einer reziproken Beziehung herbeigeführt wird.
Tabelle 3: Arten der Veränderung und Beeinflussung (Bennis zit. nach Frese 1976,
S. 44 ff.)
a)
b)
Zielsetzung
wechselseitig
Prozess
geplant
nicht-wechselseitig
nicht geplant
geplant
nicht geplant
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Karl Garnitschnig (2003) Einführung in die Erziehungswissenschaft
c) Beziehung
reziprok
hierarchisch
1.
2.
geplant
interaktional
3.
4.
indoktrinär
sozialisatorisch
1. Planned change
2. Interactional change
3. Indoctrinational change
4. Socializational change
5.
6.
technokratisch
naturwüchsig
7.
8.
diktatorisch
nachahmend
5. Technocratic change
6. „Natural“ change
7. Coercive change
8. Emulative change
Im Weiteren werden einige von bekannten Philosophen und Pädagogen häufig zitierten
Definitionen nur kurz angeführt, welche der/die Leser/in selbst nach den oben genannten Kriterien für Definitionen interpretieren möge.
„Die Aufforderung zur freien Selbsttätigkeit ist das, was man Erziehung nennt.“ (Fichte 1962, S. 43)
„Die Erziehung ist eine Funktion der Gesellschaft ... Diese Erziehung ist nun als ein
Verhältnis zwischen Erwachsenen und Heranwachsenden in der Gesellschaft in folgenden Zusammenhang. Der soziale Erneuerungsprozess, vermöge dessen stets neue
Individuen als Elemente der Gesellschaft in sie eintreten, verlangt, dass diese Individuen zu dem Punkte entwickelt werden, an welchem sie die Personen der gegenwärtigen Gesellschaft ersetzen können ... Dies geschieht zunächst bis zu einem gewissen
Grade absichtslos durch die Familie und Gesellschaft sich herstellende Assimilation
der Jugend an die Alten, Annäherung des Zustandes der Jungen an die Alten vermittels
der Wirkung ihres Vorbildes, der Nachbildung ihrer Leistungen, der Benutzung bei ihren Leistungen usw. Aber dieser Vorgang bedarf der Ergänzung in seiner absichtlichen
und planvollen Tätigkeit, welche wir als Erziehung bezeichnen...“ (Dilthey 1964, S.21)
„Erziehung ist die Entwicklung er erwachsenen Generation auf diejenigen, die noch
nicht reif sind für das Leben in der Gesellschaft. Sie zielt darauf ab, beim Kinde eine
Reihe physischer, geistiger und sittlicher Kräfte zu wecken und zu fördern, die politische Gesellschaft in ihrer Gesamtheit und das jeweilige Milieu, für das es in besonderer Weise bestimmt ist, von ihm fordern.“ (Emil Durkheim : Education et socilogie. –
Paris 1923, S.- 50 ; zit. nach Klafki u. a. 1970, 1. Bd., S. 263)
„Erziehungsgeschehnisse sind soziale Interaktionen, welche auf Steuerung und Umsteuerung von Verhalten hinzielen. Wir dürfen demnach die Erziehungswissenschaft
ansehen als die Wissenschaft von den durch soziale Interaktionen bewirkten Steuerungs- und Umsteuerungsvorgängen menschlichen Verhaltens.“ (F. Winnefeld, Erziehungswissenschaft – Utopie oder Wirklichkeit? Zit. nach Ulich 1972, S. 155)
„Wir brauchen das Wort ’Erziehung’ im umfassendsten Sinne als Begriff für alle bewussten Einwirkungen von Menschen, die auf die Entwicklung oder die Veränderung
des Wissens und Könnens, dauerhafter Haltungen und Verhaltensformen anderer, insbesondere junger Menschen, gerichtet sind.“ (Klafki 1970, 2. Bd., S.17)
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Karl Garnitschnig (2003) Einführung in die Erziehungswissenschaft
„Mit ’Erziehung’ sind Handlungen gemeint, durch die Erwachsene ...versuchen in den
Prozess des Werdens heranwachsender Persönlichkeiten...einzugreifen, um Lernvorgänge zu unterstützen oder in Gang zu bringen, die zu Disposition und Verhaltensweisen führen, welche von den Erwachsenen als sein*** oder erwünscht angesehen werden.“ (Brezinka 1972, S. 26)
Unter Erziehung ist „ein Geschen zwischen zwei oder mehreren Personen zu verstehen, eine soziale Interaktion von Menschen, mit dem charakteristischen, fundamentalen Ziel, Änderungen des Verhaltens und Erlebens von Individuen zu bewirken.“
(Tausch/Tausch 1970, S. 15)
„Für die Erziehungswissenschaft konstitutiv ist das Prinzip, das besagt, dass Erziehung
und Bildung ihren Zweck in der Mündigkeit des Subjekts hat; dem korrespondiert,
dass das erkenntnisleitende Interesse der Erziehungswissenschaft das Interesse an
Emanzipation ist. ’Eine so verstandene Theorie gewinnt die Maßstäbe der Kritik durch
ihr Interesse an der Aufhebung von Verdinglichung und Selbstentfremdung des Menschen.’ (Blankertz 1966 S. 74)“ ( Mollenhauer 1970, S. 10)
Ausführlicher sei noch das Konzept des an der Humboldt-Universität in Berlin lehrenden Pädagogen Dietrich Benner angeführt.
Tabelle 4: Die Prinzipien pädagogischen Denkens und Handelns (Benner 2001, S.
128)
A Theorie der
Erziehung
(2) : (3)
B Theorie der
Bildung
(1) : (4)
Konstitutive Prinzipien der indi- Regulative Prinzipien der gesellviduellen Seite
schaftlichen Seite
(2) Aufforderung zur Selbsttä(3) Pädagogische Transformation
tigkeit
gesellschaftlicher Einflüsse
und Anforderungen
(1) Bildsamkeit als Bestimmtsein (4) Nicht-hierarchischer Orddes Menschen zu rezeptiver
nungszusammenhang der
und spontaner Leiblichkeit,
menschlichen Gesamtpraxis
Freiheit, Sprachlichkeit und
Geschichtlichkeit
C Theorie pädagogischer Institutionen und ihrer Reform
(1) / (2) : (3) / (4)
Praxisformen: Arbeit, Pädagogik, Ethik, Politik, Kunst, Religion
3.6.1 Intentionalität der Erziehung
Was Benner als „Pädagogische Transformation gesellschaftlicher Einflüsse und Anforderungen“ benennt, wurde traditionell unter dem Titel der Forderung: Was funktional wirkt
ist intentional zu gestalten. abgehandelt Dies erfordert die pädagogische Verantwortung
(Nohl, 1933, S. 18, Huber 1969, S. 20). Herman Nohl spricht von der „Auslese der wirkenden Welt“.
Daraus leitet sich das Postulat ab, alle bestimmenden Faktoren nach ihrer Wirkung, Stärke und Möglichkeit der Veränderung zu reflektieren. Dazu ist ein bestimmtes Handeln
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Karl Garnitschnig (2003) Einführung in die Erziehungswissenschaft
nötig, um zu erfassen, wie etwas verändert werden kann und wie es verändert werden
soll. Dabei taucht das Problem auf, dass sich die Komplexität von Welt nicht gänzlich
einfangen lässt. Wir können es immer wieder nur Stückweise versuchen. Je mehr wir uns
aber selbst bestimmen und aktiv, bewusst und reflektiert handeln, umso klarer werden uns
die Gegenkräfte und die Möglichkeiten zur Veränderung. Es ist nun die Einsicht zu gewinnen, dass wir mit den Gegebenheiten arbeiten oder mehr oder weniger gegen sie arbeiten können. Ein Beispiel dafür wäre in der Pädagogik und Therapie ressourcenorientiert vs. defizitorientiert vorzugehen. Ein weiterer Gegensatz wäre Allopathie vs. Homöopathie, Regelkreis vs. Kausalität, monokausales vs. multikausales Denken. Wenn wir
schlüssig argumentieren, müssten wir von jedem Punkt aus auf das Ganze kommen. Wir
müssen (teilweise) Argumentationslinien immer wieder unterbrechen, um uns nicht zu
verlieren.
Die Frage nach der Eigenständigkeit der Pädagogik als Wissenschaft beantwortet sich, ob
Erziehung sich als Theorie und Praxis von anderen benachbarten Theorien und Praxen
definitorisch abheben lässt. Dies wird unser erster Punkt sein. Einer der ersten, der eine
Theorie der Erziehung geschrieben hat, Friedrich Ernst Daniel Schleiermacher (17681834) beginnt seine Vorlesungen aus dem Jahre 1826 mit folgender Bemerkung: „Was
man im Allgemeinen unter Erziehung versteht, ist als bekannt vorauszusetzen.“ (1964, S.
36) Pädagogische Theorie schließt also pädagogische Praxis auf und macht ihren Sinn
transparent. „Die Praxis ... ist ... viel älter als die Theorie... Die Dignität ist unabhängig
von der Theorie: Die Praxis wird nur mit der Theorie eine bewußtere.“ (a.a.O., S. 40, zit.
nach Bast 2000, S. 55).
Diese Formulierung ist naiv, weil sie keine Orientierung an der Praxis verrät, denn nicht
jede pädagogische Praxis, wenn sie überhaupt als solche bezeichnet werden kann, ist akzeptabel. Schleiermacher setzt wohl eine gewünschte, wohl definierte Praxis schon voraus, die er dann als pädagogische Praxis bezeichnen kann. Er bestimmt Pädagogik über
das Generationenverhältnis: „Was will eigentlich die ältere Generation von der jüngeren?“ (a.a.O. S. 38)
3.7 Ableitung
Eine Definition enthält zwar die notwendigen und hinreichenden Merkmale, diese sind
aber zum Verständnis weiter zu differenzieren und zu bestimmen, indem sie zum Feld
gehörende Probleme aufnimmt. Sie werden also im weitern konkretisiert. Die definierenden Merkmale klären sich erst in den weiteren Ableitungen auf. Fernen sei beachtet, dass
auch diese Definition schon innerhalb des Kontextes eines bestimmten Menschenbildes
formuliert wurde, in welchem Konztext die Wörter für die Variablen/Merkmale ihren
Sinn bekommen.
Um diese in der möglichen Differenz zu anderen Sichtweisen zu erfassen, entwickeln wir
zunächst ein Konzept möglicher Sichtweisen über Objekte. Dieses Konzept wird nicht die
reale Vielfalt von Sichtweisen enthalten können, wohl aber eine systematisch erfassbare
Anzahl von prinzipiell unterschiedlichen Sichtweisen, die bei Personen, die nicht systematisch denken, real vermischt sind. Daraus entsteht die Vielfalt von Sichtweisen.
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Karl Garnitschnig (2003) Einführung in die Erziehungswissenschaft
4 Perspektiven/Aspekte bei der Gestaltung/Planung/Analyse pädagogischer Situationen
Bei der Gestaltung, Planung und Analyse pädagogischer Situationen ist all das zu beachten, was auf die pädagogischen Prozesse wirkt. Von der pädagogischen Theoriebildung
her gedacht muss jede Aussage in einem Kontext stehen, der die Förderung bzw. Erweiterung freier Handlungsführung von Individuen meint. Diese kann auf vielfältige Weise
eingeschränkt sein. Diese Kontexte sind systematisch für eine bestimmte Fragestellung
analytisch festzustellen. Grundsätzlich betrifft das das Individuum als Einheit von Körper-Seele-Geist und als soziales/gesellschaftliches Wesen
Tabelle 5: Aspekte der Analyse und Planung von pädagogischen Situationen
Körper
Seele
physische, neurophysische Basis des Handelns
Klarheit des Bewusstseins über
die psychischen
Funktionen, auf
denen das Handeln aufbaut:
Geist
Sozietät
Gesellschaft
Bewusstheit über
das eigene Handeln. Klarheit
über seine Einbettung in Wertvorstellungen,
Sinnkonzept Identität
Bewegung, Wahrnehmung, Fühlen, Wollen Denken,
Intuieren, Sprechen, Gedächtnis
Normen, Rollen,
Konsens über
Werte, Kommunikation, Kooperation, Solidarität
Institutionen,
Recht, Wirtschaft, Politik,
Kunst, Sprache
Religion
Entwicklung, Geschlecht
Anthropologie
Geschichte
Milieu, seine Einflüsse auf die individuelle Lebensgeschichte
Da pädagogisches Handeln durch alle diese Faktoren unterschiedlich konstelliert beeinflusst sind, müsste je und je gezeigt werden, wie diese Faktoren bestimmtes Handeln von
Individuen oder Gruppen in ihrer Entwicklung zu freier Handlungsführung oder bei ihrer
Zunahme zu mehr Selbstkompetenz fördern oder stören. Es ist zu fragen, was Menschen
tun/welche Methoden sie einsetzen, um die Hemmnisse durch diese Faktoren zu minimieren oder zu beseitigen.
Diese Faktoren lassen sich auch in Form einer einfachen Aufzählung zusammenstellen,
mit der die Intention verbunden ist, alle jene Aspekte zu finden, die auf einer höheren
Abstraktionsebene, die eine Taxonomie noch ermöglicht, steht. Wer weitere Aspekte dieser Abstraktionsebene findet, ist eingeladen, die Liste zu vervollständigen.





Anthropologischer Aspekt (Wer ist der Mensch?)
Biologischer Aspekt
Psychologischer Aspekt (Entwicklung, Motivation, Lernen ...)
Energetischer Aspekt
Geschlechtsspezifischer Aspekt (z. B. Mädchen bekommen derzeit bessere Noten als
Jungen3)
 Lebensgeschichtlicher Aspekt („Berücksichtigung der Individuallage“; Umstände die
die Entwicklung von Personen hemmen oder fördern können)
 Soziologischer Aspekt
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Karl Garnitschnig (2003) Einführung in die Erziehungswissenschaft





Interaktioneller Aspekt
Wertaspekt, Bildungsaspekt (was will man)
Institutioneller Aspekt
Ökonomischer Aspekt
Gesellschaftlicher/kultureller Aspekt (bei uns wird anders gelernt als bei den HopiIndianern)
5 Denken als kommunikativer Prozess
Denken ist ein kommunikativer Prozess. Literarisch vorgelegt am besten bei Plato, der
die Bewegung des Gedankens in Gespräche, Dialoge einkleidet. Auch als einer allein am
Schreibtisch Sitzender bezieht man andere in seine Gedankengänge ein: Können alle die
Konsequenzen wollen, die entstehen, wenn alle das tun, was ich will? Damit ist gesagt,
dass alle Aussagen zumindest im sozialen Bezug - und dies gilt auch für den Verwertungsbereich der Naturwissenschaften (siehe die Ökologie) - Bewertungen enthalten, also
letztlich moralisch/ethische Grundlagen haben.
In die Erziehung als ein bewusst geplanter, wechselseitig bestimmter interaktiver Prozess,
in dem das Ziel einer selbst bestimmten Handlungsführung auf allen für das gesellschaftliche Leben wichtigen Bereiche angestrebt wird, ist auch Diskursfähigkeit eingeschlossen.
Selbst bestimmte Handlungsführung entwickelt sich nur über freie Aktivität oder in einer
aktiven Umgebung. Entwicklung geschieht in Interaktion mit Menschen und Dingen.
Faktisch geschehen solche Interaktionen in Gruppen, Institutionen. Bedeutsam ist das
Klima, in dem sich die Interaktionen abspielen und dieses ist wiederum abhängig von der
Größe der Gruppe oder Institution.
Da ein Mensch unmöglich sich alles aneignen kann, konkretisiert sich dieses globale humane Ziel jeweils über die realen Handlungsfelder, in die jeder eingebunden ist. Einige
davon sind allerdings so universell, dass sie für alle relevant sind:
 Bezug zur Natur
 zur sozialen Umwelt (mindestens Nachbarschaft); dies schließt auch politisches Bewusstsein ein.
 zu sich selbst
 zur Transzendenz
Abbildung 1: Grundbedingungen für Entwicklung
Grundsätzlich müsste jeder zu diesen Handlungsfeldern Stellung beziehen können, wie
weit, wie intensiv, wie elaboriert, das hängt wieder von seinem konkreten Arbeits- bzw.
Betätigungsfeld ab. Und innerhalb dieser Bereiche lassen sich wieder global wichtige
Schwerpunkte unterscheiden: Ökologie, Frieden, Subjektivität des einzelnen im Ich-DuVerhältnis (vgl. KLAFKI Wolfgang: Vortrag gehalten in Wien, Glöcklsymposion 1984).
Wilhelm von Humboldt (1767-1835) formuliert das so: "Die letzte Aufgabe unseres Daseins, dem Begriff der Menschheit in unserer Person (...) einen so großen Inhalt als möglich zu verschaffen, diese Aufgabe löst sich allein durch die Verknüpfung unseres Ich mit
der Welt zu der allgemeinsten, regesten und freiesten Wechselwirkung." (Theorie der
Bildung, zit. nach Groot-Hoff, 1975, S. 197, vgl. auch Menze, 1970, S. 134 - 183)
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Karl Garnitschnig (2003) Einführung in die Erziehungswissenschaft
5.1 Bewusstseins- und Deutungsebenen von Welt
Auch im alltäglichen Leben gibt es die Unterscheidung von verschiedenen Bewusstseins-
FREIE AKTIVITÄT
INTERAKTION
einzelner
Gruppe
Institution
SELBSTWERTGEFÜHL
OFFENHEIT
GESCHLOSSENHEIT
SELBSTBILD/
FREMDBILD
KLIMA
und
Erlebnisebenen. Grundsätzlich kann jedes Phänomen nach vier Bewusstseinsebenen gedeutet werden. Demonstrieren wir dies einmal am Begriff „Zeit“.
1. Zeit kann als physikalische Einheit, messbar mit der Uhr, dem Sonnenstand etc. aufgefasst werden. Wie gesagt, kann jedes Phänomen, auch z.B. der Deutungsprozess selbst
von seiner physikalisch-chemischen Struktur her erfasst werden und es kann durchaus
von dieser rein phänomenalen Ebene aus Welt mit einer bestimmten Reichweite gedeutet werden. Problematisch ist es nur, wenn diese oder auch eine andere Weise der
Deutung absolut genommen wird, denn dann bewegen wir uns auf dem Feld der Ideologie. Bezogen auf den Begriff „Zeit“ ist klar, dass in seiner physikalischen Dimension
gewisse Erfahrungen von Zeit nicht mehr gedeutet werden können. So kann
2. Zeit als Erlebniseinheit, oder das Phänomen der psychischen Präsenzzeit nicht mehr
bloß physikalisch gedeutet werden. Die subjektive Erfassung von Dauer, in Sinne von
Langeweile oder dem Erleben, dass die Zeit wie im Flug vergehe, erschließt sich nur
dem Subjekt in seinem eigenen Erleben. Etwas Unangenehmes dauert bei gleicher
physikalischer Zeit subjektiv länger als etwas Angenehmes. Zeit ist da also nur vor
dem Hintergrund des Erlebens zu fassen.
3. Darüber hinaus kann Zeit auch als „zeitigen“ (Heidegger) gefasst werden, wobei die
Zeit unter dem Aspekt von Entwicklung gesehen wird, die auf ein bestimmtes entweder organismisches oder konzeptiv gefasstes, bewusst angestrebtes Ziel hinausläuft.
Alles braucht seine Zeit, bis es sich über Widerstände zu sich selbst entwickelt. So
braucht auch das Durchlaufen der eben abgehandelten Formen des Bewusstseins seine
Zeit.
4. Im Blick auf das Sein im Hier und Jetzt verschwindet diese im Handeln bewusster
Individuen entworfene Zeit. Angelus Silesius drückt das in den Versen aus:
„Du selbst machst die Zeit,
das Uhrwerk sind die Sinnen;
Hemmst du die Unruh nur,
so ist die Zeit von hinnen.“
Dies verweist auf einen weiteren Modus der Zeit. Überlasse ich mich dem Strom der
Zeit, dann verlieren angesichts des universellen Bewusstseins die Dimensionen von
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Karl Garnitschnig (2003) Einführung in die Erziehungswissenschaft
Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft ihre Bedeutung und es ist ein Erleben der
Gleichzeitigkeit von allem möglich. Ein Leben im Hier und Jetzt erfordert ein klares
Bewusstsein der eigenen Endlichkeit und ein Überschreiten der Grenze von Zeit in
conspectu aeternitatis. Dies meint der deutsche Mystiker Jakob Böhme (1575 - 1624),
wenn er schreibt:
„Wem Zeit ist wie Ewigkeit
Und Ewigkeit wie die Zeit,
Der ist befreit
Von allem Streit.“
Was hier mit dem Begriff Zeit zu demonstrieren versucht wurde, ließe sich grundsätzlich
mit jedem Begriff tun. Versuchen wir diese Deutung noch am Begriff des Raumes nachzuvollziehen.
1. Physikalischer Raum: Es ist der geometrische Raum als äußere Wirklichkeit gemeint,
der reale Raum mit seinen drei Dimensionen.
2. Der überschaubare Erlebnisraum: Es ist der Raum, den ich in meinem Handeln gestalte. Es ist damit die Erfahrung verbunden, dass eine Person, die weit weg ist, mir näher
sein kann, als eine, die neben mir sitzt. Das ich unterscheidet sich von seinem Erleben
als raum-zeitliches Geschehen. Der Raum ist die Hintergrundgewissheit für das alltägliche Leben, der Raum als Konkretes, als Empfindung.
3. Die bewusste Erfüllung und Gestaltung des Raumes: Jede Person braucht ihren Aktionsraum für ihre Selbstverwirklichung, nicht beliebig, sondern in der Anerkennung
des Raums, den andere brauchen. Raum gilt hier also als bergender Lebensraum.
Allgemein gilt für diese Bewusstseinsform, dass es bewusstes Leben ist, das Entwerfen
eines Lebenskonzepts. Ich bin, wozu ich mich im Handeln mache, Selbstbewusstsein.
4. Aufhebung des Raumes - Allgegenwärtigkeit: Allgemein gesprochen wird deutlich,
dass sich jede Person selbst in einem unendlichen Prozess des Werdens befindet.
Erich Heintel hat in der gleichen Absicht mehrere Formen von Innen unterschieden:
1. Ein räumliches Innen: Hut in der Schachtel, Hirn im Kopf
2. Komparative Innerlichkeit
3. Innerlichkeit des Begriffs
4. Innerlichkeit des Geistes (Vorlesungsmitschrift aus 1968).
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Karl Garnitschnig (2003) Einführung in die Erziehungswissenschaft
6 Anthropologie
Das Menschenbild, das wir haben, ist insofern fundamental, als es in all unsere Handlungen einfließt. Auch in die Art, wie wir zwischenmenschliche Beziehungen gestalten, therapeutisch tätig sind, Wissenschaft treiben. Anthropologie beschäftigt sich mit jenen Fähigkeiten des Menschen, die angenommen werden müssen, soll Menschsein als solches
begriffen werden und soll das Menschsein auch faktisch zu seiner höchsten Ausdrucksform kommen. Das Besondere des Menschseins ist es, dass der Mensch alle seine Fähigkeiten bewusst aktivieren und in der Reflexion auf seine Aktivitäten, diese nach seinen
Vorstellungen gestalten kann. Dies ist Ausdruck der menschlichen Freiheit im Gegensatz
zu einer mehr oder weniger starken Instinktgebundenheit.
Wenn allerdings der Mensch seine Freiheit nicht ergreift, er nicht selbst bestimmt handelt, kommt er nicht zu seiner Freiheit. Frei ist der Mensch nicht von sich selbst wie er
von Milieugegebenheiten beeinflusst ist, sondern nur, wenn er die ihn in seinem Handeln
beeinflussenden Faktoren reflektiert und seine Fähigkeiten entsprechend einsetzt, um diese Faktoren handelnd zu gestalten und so eine spezifische unverwechselbare Identität
ausbildet. Der Mensch hat Grenzen, aber er kann diese Grenzen erweitern (vgl. Cohn,
1980, S. 120). Indem er sein Handeln auf sich und die Welt bezogen kultiviert, erfährt er
sich als frei.
Für die pädagogische und therapeutische Arbeit ist ein Verhältnis von Theorie und Praxis
anzunehmen, aus dem heraus klar wird, dass auch der Wissenschafter Wertentscheidungen darüber fällen muss, was er in Zusammenarbeit mit dem Klienten erreichen möchte.
Pädagogik und Therapie sind Handlungswissenschaften. Sein wissenschaftlicher Anspruch kann nicht in Neutralität bestehen, sondern im entschiedenen Willen seine Prämissen aufzuklären bzw. klar zu formulieren, was er meint und wie er von seinen Prämissen
ausgehend zu seinen Aussagen kommt. Da die Prämissen immer nur intuitiv eingesehen
werden können, und sie sich erst über ihre Ableitungen, Begründungen, Argumentationen
klären, bleibt immer ein (Rest an) Erklärungsbedarf. Einen solchen gibt es nur für diese
Personen nicht, die sich auf ihre Prämissen und ihre Ableitungen einsichtig einigen können. Eine Einigung erfolgt auch bei Schulbildungen, bei denen der Erklärungsbedarf aber
in der Regel nicht über Einsicht, sondern über Konventionen oder gemeinsame (teils
unkontrollierte oder nicht überprüfte) Sprachregelungen abgelöst wird (vgl. den Paradigmenbegriff bei Thomas Kuhn).
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Karl Garnitschnig (2003) Einführung in die Erziehungswissenschaft
Abbildung 2: Dialektik der Freiheit
1
2
determiniert
indeterminiert
Angesichts der Determiniertheit bedeutet
Freiheit, dass all die bestimmenden Faktoren reflektiert und analysiert werden.
Reflexion
3 3
Kultur
44
4
Selbstbestimmung
5 2
Angesichts der Freiheit bedeutet Determiniertheit Gestaltung oder gestalterisches
Handeln nach selbstentworfenen Handlungszielen, bzw. Vorstellungen dessen,
wie die Welt sein soll.
Angesichts des Bestimmungsverhältnisses
zwischen Freiheit und Determination bedeutet Freiheit, dass alles Handeln zwar
bestimmt ist, aber Freiheit seine Bestimmung durch das Subjekt nicht aus Willkür, sondern nach selbst gesetzten Handlungszielen erhält.
Es ist mittlerweile schon ein allgemein bekannter Topos, dass der Mensch wie jeder Organismus als lebendes System durch Autopoiese und Selbstreferentialität gekennzeichnet
ist (Maturana/Varela 1996). Allerdings bekommen diese Begriffe beim Menschen als
besonderen Organismus eine besondere Bedeutung. Jeder Organismus grenzt sich einerseits von der Umwelt ab, um für sich selbst bestehen zu können. Andererseits kann er nur
im Austausch mit der Umwelt leben, aus der er sich das holt, was er spezifisch für sein
Leben braucht. Der Mensch als leib-seelisch-geistige Einheit holt sich spezifisch aus der
Umwelt, was er auf der jeweiligen Ebene braucht. Jeder Organismus ist auch über selbstreferentielle Prozesse gesteuert, die von linearen Kreisprozessen bis hin zu kybernetischen und komplexen reflexiven Prozessen reichen. Jeder Organismus ist durch eine bestimmte Struktur gekennzeichnet, die sich bis zu gewissen Grenzen verändern kann, ohne
dass ein System seine Identität verliert. Diese ist durch das System selbst und nicht durch
die Umwelt bestimmt. Seine Identität bleibt erhalten, solange die Organisation gleich
bleibt, die durch unterschiedliche Strukturen verwirklicht werden kann.
In Sinne der Selbstreferenz von Systemen gewinnen Austauschprozesse mit der Umwelt
erst Bedeutung für ein System, wenn sie im Organismus eine Resonanz finden. So sind
soziale Interaktionen für ein Individuum von Bedeutung, wenn sie in ihm personale Resonanz erfahren. In unserer Kultur mit ihrer Vielfalt sozialer Angebote ist das Individuum
in besonderer Weise beansprucht, diese in ihr System einzubauen, ansonsten es nur zu
leicht zu Identitätsdiffusionen kommen kann.
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Karl Garnitschnig (2003) Einführung in die Erziehungswissenschaft
Pädagogik und Therapie, sind, wenn sie nicht von dem Grundsatz ausgehen, dass jede
Person in ihrer Eigenart als „vollkommener Mensch“ zu sehen ist, der den Maßstab für
seine Entwicklung in sich trägt, zum Scheitern verurteilt, weil man nur mit den Kräften
der Person arbeiten kann. Pädagogische und therapeutische Prozesse sollen daher dahin
wirken, dass eine Person ihre Kräfte, ihre Fähigkeiten frei zum Ausdruck bringen kann,
um so zu ihrem Selbstausdruck zu kommen. Damit ist auch das Ziel des therapeutischen
Prozesses formuliert: der Klient soll Zugang zu seinen eigenen Ressourcen bekommen.
Daher ist darauf zu achten, dass die Entwicklung der Person aus ihr selbst heraus erfolgt.
Pädagogik und Therapie wären so gesehen „Lösen, Freilegen, Abbauen“, „damit die Seele selbst nach ihrem inneren Gesetz wieder tätig und lebendig wird, was sie ‘von Natur
her’ ist“ (Flitner 1924, 1987, S. 9).
Der Mensch ist von allem Anfang an Mensch, hat potentiell alle Möglichkeiten des
Menschseins in sich, die aber erst in sozialen Prozessen zu dem werden, zu dem sie werden können. Bei entsprechend anregender Umwelt baut der Organismus die gesamte
Handlungskomplexität durch Differenzierung einfacher Grundfunktionen und operationen auf. Er ist aktiv und wählt aus dieser Umwelt jene Informationen aus, die er
auf Grund seiner Dispositionen zu erfassen in der Lage ist. Der Organismus also kann
zwar nur – ausgedrückt im Reiz-Reaktionsschema – auf diese Reize reagieren, auf die er
zu reagieren in der Lage ist, aber der Organismus ist ein aktives Instrument der Reizselektion.
Die anfängliche Angewiesenheit des Kindes auf Bezugspersonen, die so geringe Festgelegtheit auf Instinktregulierungen ist der Preis und zugleich die Chance für die unwahrscheinlich große Plastizität und Lernfähigkeit des Kindes. Bekommt allerdings das Kleinkind die Zärtlichkeit, das Vertrauen, die Achtung und die Einfühlung in seine Bedürfnisse
nicht von allem Anfang an, bekommt es zu geringe Anregung aus seiner Umwelt oder
wird es in seinen Aktivitäten gebremst oder eingeschränkt, dann bleibt es hinter seinen
Möglichkeiten zurück. Die so versäumte Entwicklung seiner Fähigkeiten kann später nur
mit mehr Anstrengung und nicht mehr in der gleichen Perfektion erreicht werden (vgl.
Nikitin 1984). Wird ein Kind durch äußeren Druck gar daran gehindert, seine Gefühle
und in Übereinstimmung mit ihnen zu leben, wird es neurotisch. Es wird seine Gefühle
nach innen oder nach außen abspalten (Gruen 1990), bzw. beginnen, Abwehrmechanismen aufzubauen, um seine inner Welt gegen die Ansprüche und Bedrohungen von außen
einigermaßen aufrecht erhalten zu können. Dabei nimmt allerdings das Individuum in
Kauf, Teile der Realität verzerrt oder überhaupt nicht mehr wahrzunehmen.
Damit wir Erwachsenen die Kinder/Jugendlichen aktiv lernen lassen können, müssen wir
uns eine Vorstellung von ihnen aneignen, die davon ausgeht, dass sie ihre Welt selbständig erfahren wollen, dass sie wissen, was sie brauchen, dass sie ihre Bedürfnisse spüren
und erkennen, dass sie sich nach ihrem eigenen inneren „Bauplan“ entwickeln möchten
und dass sie durchaus in der Lage sind, selbst zu entscheiden, was für sie gut ist, dass sie
eine Selbstaktualisierungstendenz in sich tragen. Dies erfordert vom Erwachsenen eine
Haltung den Kindern/den Jugendlichen gegenüber, die ihm oft sehr schwer fällt, weil er
sich als der Experte fühlt und sich den Kindern/den Jugendlichen in jeder Hinsicht überlegen wähnt. Es ist eine Haltung, die die Kinder/die Jugendlichen und ihre Fähigkeiten
respektiert und anerkennt. Er sollte ihnen mit Achtung und Wertschätzung begegnen und
mehr beobachtend, denn nur beobachtend erkennt er, wo sie in ihrer Entwicklung stehen
und was sie daher für sich brauchen.
Die Entwicklung der Fähigkeiten der Kinder/der Jugendlichen wird leider nur zu oft
schon sehr früh gestört, weil es Erwachsenen sehr häufig nicht gelingt, schon das kleine
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Karl Garnitschnig (2003) Einführung in die Erziehungswissenschaft
Kind in seinen Äußerungen zu verstehen. Es wird als Eigensinn und Bockigkeit gedeutet,
wenn das Kind unbedingt allein, ohne die Hilfe von Erwachsenen etwas tun oder eine
Erfahrung machen möchte, weil dies in sich befriedigend ist.. Oder wie oft werden Kinder
gedrängt, etwas anzusehen und es noch dazu auf eine bestimmte Weise anzusehen. Kinder nehmen anders wahr als Erwachsene (vgl. dazu Montessori 1988, S. 74 - 79). Diese
äußerst subtilen Formen der Macht gegenüber dem Kind, die so subtil sind, dass sie der
Erwachsene meist nicht als solche wahrnimmt - und er meint es ja wirklich und in der
Regel nicht böse -, führen dazu, dass Kinder aufhören, sich auf ihre Wahrnehmungen und
auf ihre Gefühle zu verlassen und damit entfremden sie sich von sich selbst. Es wird damit eine wesentliche Grundlage der Realitätsprüfung, nämlich die Selbstwahrnehmung
oder zumindest das Vertrauen in sie zerstört (vgl. Gruen 1990a, 1990b). Sehr viele Kinder
haben solche negativen Erfahrungen schon gemacht. Daher muss umso fürsorglicher,
respektvoller und annehmender den Kindern und dann den Jugendlichen begegnet werden, damit sie wieder lernen, sich zu vertrauen.
6.1 Der Mensch als Einheit von Körper, Seele und Geist
Eine postulierte Einheit von nicht aufeinander rückführbaren Entitäten lässt sich als kybernetisches Modell mit Rückmeldeschleifen verstehen. Welchem dieser Entitäten die
Steuerung zugeschrieben wird, bzw. welche dieser Entitäten faktisch die Steuerung hat,
davon wird die Konstruktion des Konzepts bestimmt. Das Konzept mit der größeren
Reichweite, das also mehr erklärt und das in der Lage ist, andere Konzepte zu umfassen,
sollte das bestimmende Konzept sein, weil die anderen Konzepte gegenüber diesem Konzept reduktionistisch sind. Das bestimmende Konzept sollte aber in der Lage sein, die
anderen Konzepte in sich zu integrieren.
Anthropologisch ist nun interessant, dass der Mensch zwar nicht spezialisierte Organe
hat, dass er aber eine äußerst differenzierte Fähigkeit der Reizverarbeitung besitzt, und
dass die Verbindung zwischen Reizauslösung und Reaktion sehr lose ist. Man kann sich
eine Skala zwischen einer völligen Reizgebundenheit bis hin zu einem hohen Grad von
Reizlosgelöstheit vorstellen.
Der Mensch ist durch seine seelisch-geistige Struktur dazu in der Lage, auf seinen Organismus zu achten, so dass es ihm möglich ist, zwischen dem Reiz und der Auslösung der
Reaktion einen bewussten Verarbeitungsprozess dazwischen zu schalten, so dass er die
Reaktion auf einen Reiz selbst gestalten kann. Dieser Prozess muss aber von jedem Menschen selbst geleistet werden, soll er stattfinden. Sofern und soweit ein Mensch dies leistet und je differenzierter er das tut, schreiben wir ihm mehr oder weniger Personsein zu.
Der französische Psychologe Maurice Merleau-Ponty (* 1908), der in seinem Denken
Hegel, Husserl, Heidegger verpflichtet ist, hat sich wie kein anderer in scharfen Analysen
um die Einheit von - wie er es formuliert - Materie, Leben, Geist bemüht. Er fasst sie in
seiner transzendentalen Einstellung3 nicht als „drei Realitätsordnungen oder drei Seinsarten“ sondern als „drei Bedeutungsebenen oder drei Einheitsformen“. So ist der Leib „kein
in sich geschlossener Organismus“, sondern er „wird ausschließlich definiert durch seine
Tätigkeit, die alle möglichen Integrationsstufen aufweisen kann.“ (Merleau-Ponty 1976,
S. 235) Man müsse sich in diesem Bereich einer besonders sorgfältigen Diktion bemühen.
„Die Seele wirkt auf den Leib ein“ wäre besser zu formulieren als „das leibliche Geschehen [wird erst auf] einem höheren Niveau integriert.“ „Der Leib wirkt auf die Seele ein“
 das Verhalten lässt sich „in den Begriffen der vitalen Dialektik oder durch die bekannNach ihm ist die Transzendentalphilosophie jene, die jede nur denkbare Realität als „Bewußtseinsobjekt behandelt.“ (Merleau-Ponty 1976, S. 234)
3
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Karl Garnitschnig (2003) Einführung in die Erziehungswissenschaft
ten psychologischen Mechanismen“ verstehen. „Mit einem Wort, die angebliche Wechselwirkung reduziert sich auf ein Wechselspiel oder eine Substitution von Dialektiken.“
(ebd.)
Unter diesem Aspekt ist jedes leibliche Phänomen zugleich seelisch-geistig und umgekehrt. „Die Zufälle unserer leiblichen Konstitution können stets eine solche Entdeckerrolle übernehmen, vorausgesetzt, sie werden nicht erduldet als reine Tatsachen, die uns beherrschen, sondern sie entwickeln sich auf dem Wege der Bewußtmachung zu einem Mittel, unsere Erkenntnis zu erweitern.“ (ebd.) (Beispiel der angeblich visuellen Anomalie El
Grecos).
„Dieselbe sensorische oder konstitutionelle Schwäche kann eine Ursache der Unfreiheit
sein, wenn sie dem Menschen eine monotone Seh- und Handlungsweise aufzwingt, aus
der er nicht mehr herausfindet, wodurch ein Anlaß für die größere Freiheit, wenn der
Mensch sich ihr als eines Instrumentes bedient. Das setzt voraus, daß er selbst erkennt, an
statt immer bloß zu gehorchen. ... Für ein Wesen, das das Bewußtsein seiner selbst und
seines Leibes erworben hat, das zur Dialektik von Subjekt und Objekt gelangt ist, ist der
Leib nicht mehr Ursache der Bewußtseinsstruktur, er ist zu einem Bewußtseinsobjekt
gekommen.“ (ebd.)
Daher lässt sich auch das „Wahrnehmungsverhalten, wie die Wissenschaft es untersucht,
... nicht ... in der Terminologie von Nervenzellen und Synapsen [definieren], es ist nicht
im Gehirn und nicht einmal im Körper“ (ebd.), es ist als eine zu analysierende Größe für
sich zu sehen.
Unsere Welt ist die Welt, wie wir sie auf der Basis unserer Weltbeschreibung kennen.
Wann immer wir beginnen, über Welt nachzudenken oder über unsere Erkenntnis von
Welt, leben wir schon in einem bestimmten Bezugssystem. Das Bezugssystem ist am besten, das die Inhalte des Bewusstseins am differenziertesten wieder zu geben vermag. Warum eine Realität ausschließen
Individualität ist schon von Natur aus gegeben, sofern jedes Seiende individuell ist. Differenziertheit in der Reizverarbeitung ihrerseits hängt nun wieder von der Bewusstheit der
Wahrnehmung und Kreativität der Person ab, also über die Vorstellungskraft Information
so zu verarbeiten, dass völlig neue Zusammenhänge gesehen werden, so dass neue Ereignisse kreiert werden können, eine Realität des Bewusstseins.
6.2 Ist der Mensch gut?
„Der Mensch ist von Natur aus nicht böse: Was auch ein Mensch an Verfehlungen begangen haben mag, verführt durch seine irrtümliche Meinung zum Leben, es braucht ihn
nicht zu bedrücken; er kann sich ändern. Die Vergangenheit ist tot. Er ist frei, glücklich
zu sein und andere zu erfreuen.“ (Rattner 1994, S. 144) Darin kommt auch schon zum
Ausdruck, dass der Mensch ein soziales Wesen ist. Er kann sich zu dem, wer er ist, erst
im Austausch mit anderen entwickeln. So formuliert der Individualpsychologe Alfred
Adler: „Wir haben hiermit in unserem Bestreben, zum Verständnis des Menschen zu gelangen einen wichtigen Hilfspunkt gewonnen. Es ist das Verständnis für die Notwendigkeit, den Menschen als ein Gemeinschaftswesen zu betrachten.“ (Adler 1994, S. 51) Das
Macht- und Geltungsstreben steht im Gegensatz zu anderen Tendenzen des Seelenlebens,
z. B. dem Gemeinschaftsgefühl. Ersteres ist kein Trieb, sondern tritt als Sekundärphänomen in Folge des primären Minderwertigkeitsgefühls auf. In diesem Kontext werden alle
seelischen Krankheitsbilder durch das Geltungsstreben diktiert gedacht. „Charakter ist die
seelische Stellungnahme, die Art und Weise, wie ein Mensch seiner Umwelt gegenüber- 28 -
Karl Garnitschnig (2003) Einführung in die Erziehungswissenschaft
steht, eine Leitlinie, auf der sich sein Geltungsdrang in Verbindung mit seinem Gemeinschaftsgefühl durchsetzt.“ (a. a. O., S. 146) Am positiven Pol gilt: „In dem Maße, wie es
gelingt, dem Kinde Geborgenheit, Lebensmut und Sozialkontakt zu vermitteln, wird dieses später sein Leben aktiv und produktiv zu gestalten wissen.“ (Rattner 1994, S. 97)
Steuergröße ist der Geist. Dies kann er natürlich nur in dem Maße sein, als eine Person
einen klaren Lebensentwurf bzw. Vorstellungen von Sinn entwickelt hat, als die spezifischen Funktionen des Geistes. Dabei muss ihn die psychische Funktion der Bewusstheit
unterstützen, um die im Lebenssinn enthaltenen Werte im Handeln auch je und je umsetzen zu können. Dazu ist die Vorstellungskraft nötig, nämlich Klarheit über die im Lebenssinn formulierten Werte und der Wille sie im Handeln umzusetzen – Aufmerksamkeit, abhängig von der Bewusstheit der Aufmerksamkeitsspanne. Setzt der Geist aus,
übernehmen Bedürfnisse (Wünsche), Triebe, Normen, Gewohnheiten die Funktion der
Steuerung. Der Mensch ist nicht nur einer, der Leben hat, das haben auch die Pflanzen. Er
ist auch noch nicht Mensch, wenn er im Erleben aufgeht, das ist das Tier. Der Mensch ist
Mensch durch Selbstbewusstsein, durch Handeln in Freiheit. Wir als Menschen durchlaufen diese Stadien, aber wenn wir einander begegnen, müssen wir uns vom Ende her, von
der Freiheit her denken. Wir müssen uns freilassend begegnen und doch da sein, wenn
wir gebraucht werden. Wir entwickeln unser Bestes nur auf diese Weise. Für die Schule
bedeutet das, dass die Schulen Autonomie brauchen, damit die Direktoren die Lehrer frei
lassen können und damit die Lehrer die Kinder frei lassen können und jeder in der Kette
sollte zugleich immer auch sicher sein, dass er unterstützt wird, auch wenn etwas schief
läuft. Das fördert die besten Seiten, Kreativität bzw. Intuition, die sozial-emotionalen
Energien und Intelligenz. Das fördert das Gute, Wahre, das Schöne und das Einheitserleben im Menschen als das Religiöse, was das SchOG § 2 von der Schule fordert. Nur
wenn wir das Letzte oder Erste im Menschen ansprechen, werden wir das erreichen und
nicht wenn wir mit jedem Tag veralternde Lehrpläne exekutieren. Wir müssen unseren
Kindern und Jugendlichen ihr Leben finden lassen. Wir beklagen uns über die Jugend.
Aber wie soll sie anders sein, wenn sie wiederkäuen sollen, was sie nicht selbst aufgebaut
haben. Wie sollen sie eine gesättigte, fertige Welt schätzen. Wer eine Lebensperspektive
hat, wird sein Leben konstruktiv gestalten.
Wenn es uns nicht gelingt, große Perspektiven zu entwickeln, werden die Jugendlichen
nicht zu gewinnen sein. Die Nutzen- oder Geldperspektive ist nicht ausreichend. Anton
Simjonowitsch Makarenko (1972) kannte die gesellschaftliche und gemeinschaftliche
Perspektive und dies war der Motor seiner Pädagogik. Für eine „untergehende“ Gesellschaft, in der sich die Skandale in der Politik häufen und Parteien und Kirchen um Macht
bestrebt sind, kann man sich nicht engagieren.
„Bildung als Menschwerdung des Menschen“ (Herzog 1991, S. 26) ist eine falsche Metapher. Denn der Mensch ist von Anfang an Mensch. Erzieher könnten tun, was sie wollten,
sie brächten keinen Menschen hervor. Die andere Formulierung „die Befreiung des Menschen zu sich selbst“ (ebd.) dagegen meint den richtigen Prozess, dass der Mensch sich
seines Menschseins bewusst werden muss und dass dem Kind dabei geholfen wird. Dann
heißt dies aber, dass der Erzieher dem Kind als Mensch begegnet, als jemand, der sich
seiner bewusst ist, der bewusst handelt, also handelt und weiß, warum er so handelt. Autonom ist ein Mensch, der sich durch nichts beeinflussen lässt als durch das, was er selbst
will.
Dieses autonome Handeln beginnt schon sehr früh. Wie aus neueren Beobachtungen der
Augenbewegungen von Säuglingen und der Fixierung der Augen hervorgeht, beginnt
diese schon in den ersten Tagen. Dies kann durchaus im Gegensatz zu Vorstellungen, die
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Karl Garnitschnig (2003) Einführung in die Erziehungswissenschaft
das Neugeborene als „ein reines Reflex- und Triebwesen“ bezeichnen (Harnack 1980, S.
8), als autonome Regung verstanden werden. Dies streicht auch die Sonderpädagogin
Beate Lubbe, die mit J. Dudel (1977) zwischen einer objektiven und einer subjektiven
Sinnesphysiologie unterscheidet hervor: „Das Festhalten des Blickes bedeutet aber auch,
daß dieses Neugeborene bereits in der Lage ist, Sinnesreize selbst so zu steuern, daß es
geziehlt Wahrnehmung hervorrufen kann. Dafür muß es dann ein Subjekt mit eigenem
Bewußtsein sein. Die These vom reinen ,Reflex- und Triebwesen’ ist damit mit Sicherheit
zu revidieren.“ (Lubbe 1998, S. 20)
6.3 Gegenseitige Achtung und Anerkennung
Damit Personen tatsächlich selbstreflexiv und selbst bestimmt handeln, brauchen sie Achtung und Anerkennung von den für sie bedeutsamen Bezugspersonen. In einem Raum
von Achtung und Anerkennung können Individuen ihre eigenen Fähigkeiten erfahren und
aktivieren ihre psychischen Energien. Anderenfalls neigen sie zu Rückzug, erleiden eine
Verminderung/Einbußen in ihrem Selbstwertgefühl und sind dann nicht mehr in der Lage,
ihr Handeln bestmöglich nach ihren Möglichkeiten zu steuern.
Wenn wir den pädagogischen Prozess vom Ende her denken, nämlich dass der Mensch
dann als erzogen gelten kann, sofern er sein Handeln selbst bestimmen und gestalten
kann. Dies heißt für den pädagogischen Prozess, dass der Erzieher Selbstbestimmung und
Selbstgestaltung des Handelns ermöglicht. Von der Realität des Aufwachsens von Kindern und Jugendlichen her müsste man sogar formulieren, dass der Erzieher diese nicht
behindert, weil sehr viele Erwachsene als nicht erzogen im genanten Sinn gelten können.
Aber so wie der Erzogene sich selbst bestimmen will und sein Handeln gestaltet und darin impliziert die Selbstbestimmung und Selbstgestaltung des anderen achtend anerkennt,
weil er weiß, dass nur so die Kräfte jedes einzelnen optimal gefördert werden und auf
diese Weise ein differenzierteres Miteinander gestaltet und damit Kultur entwickelt werden kann, will er auch die Ermöglichung von differenzierter Selbstbestimmung des anderen. In diesem Zusammenhang wäre einmal genau zu prüfen, wie viele der großen Errungenschaften in unserer Kultur von Außenseitern entdeckt, erfunden, erforscht worden sind
und das gegen Widerstände der etablierten Wissenschafter, Kulturträger und Glaubenswächter.
6.4 Die Grundannahmen des Neurolinguistischen Programmierens
 Menschen reagieren auf ihre Abbildung der Realität, nicht auf die Realität selbst.
 Geist und Körper sind Teile des gleichen kybernetischen Systems - sie
beeinflussen sich gegenseitig.
 Die Bedeutung Deiner Kommunikation ist die Reaktion, die Du bekommst.
 „Widerstand“ ist eine Aussage über den Agogen, nicht über den Klienten.
 So etwas wie „Fehler“ oder „Versagen“ gibt es nicht - es gibt nur Feedback.
 Eine Vielfalt möglicher Verhaltensweisen ist wichtig, denn es wird dasjenige Element in einem System das kontrollierende Element sein, das
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Karl Garnitschnig (2003) Einführung in die Erziehungswissenschaft







über die meiste Flexibilität verfügt. Daher ist Wahlfreiheit besser als keine Wahlfreiheit.
Menschen funktionieren perfekt. Keiner ist nicht in Ordnung, hat einen
Defekt oder ist kaputt.
Menschen treffen immer die beste Wahl, die ihnen im jeweiligen Moment
und mit den jeweils vorhandenen Informationen möglich ist.
Hinter jedem Verhalten gibt es eine positive Absicht.
Jedes Verhalten ist nützlich. Es gibt jeweils zumindest einen Kontext, in
dem jedes Verhalten nützlich ist.
Wenn ein Mensch lernen kann, etwas Bestimmtes zu tun, können es prinzipiell alle.
Menschen verfügen über alle Ressourcen (Fähigkeiten, innerlich und im
Verhalten nach außen), die sie brauchen, um die von ihnen angestrebten
Veränderungen zu erreichen.
Als professioneller Kommunikator habe ich die Pflicht und Verantwortung, dafür zu sorgen, dass sich mein Kommunikationspartner (körperlich
und geistig) in dem Zustand befindet, in dem er sein muss, damit er das,
was ich von ihm verlange, auch tun kann (Stahl 1992)
6.4.1
Interaktionsanalyse – Neurolinguistisches Programmieren (= NLP)
NLP ist eine Methode zur Analyse von Kommunikation und dient der Verbesserung der Kommunikation mit anderen. Dies beruht auf
1. genauem Wahrnehmen:
2. kalibrieren
3. spiegeln: Konnte A sich auf B einstellen, konnte er sich ihm angleichen
(pace im NLP)? Welche Form hat er dabei benützt?
4. leiten: Welche Form der Leitung hat A übernommen“ Wie äußerte sich
dies?
5. dem Herstellen von Rapport: Konnte A mit B Rapport wodurch herstellen?
6. dem Wechsel in den Zuständen von assoziiert und dissoziiert sein
7. dem Augenmustermodell
8. dem Ankern
9. der Anwendung wechselnder Wahrnehmungspositionen
10.dem Einsatz von Metamodellen
11.dem Einsatz des Miltin-Modells
12.Kommunikation gelungen oder nicht gelungen: Gab es Verzerrungen,
Verallgemeinerungen, Tilgungen?
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Karl Garnitschnig (2003) Einführung in die Erziehungswissenschaft
7 THEMENZENTRIERTE INTERAKTION (TZI)
Das themenzentrierte interaktionelle System will therapeutische Elemente in die Arbeit
mit Gruppen einführen. Ruth Cohn versteht den Unterschied von Therapie und Pädagogik in der für die Pädagogik wertschätzenden Form, dass sie diese als „Kunst, Therapie antizipierend zu ersetzen“ definiert. Daraus kann abgeleitet werden, dass jede Situation pädagogisch und therapeutisch ist, um zugleich zu sich selbst und zum anderen
zu kommen.
Grundlegend für TZI sind nach Ruth Cohn drei Axiome, die sich einerseits auf die Autonomie der interagierenden Personen und andererseits auf ihre Interdependenz mit
sich und dem Universum beziehen:
„1. Der Mensch ist eine psycho-biologische Einheit. Er ist auch Teil des Universums.
Er ist darum autonom und interdependent. Autonomie (Eigenständigkeit) wächst mit
dem Bewußtsein der Interdependenz (Allverbundenheit). [...]
2. Ehrfurcht gebührt allem Lebendigen und seinem Wachstum...Das Humane ist wertvoll; Inhumanes ist wertbedrohend.
3. Freie Entscheidung geschieht innerhalb bedingender innerer und äußerer Grenzen.
Erweiterung dieser Grenzen ist möglich.“ (Cohn, 1980, S. 120)
Aus diesen Axiomen leitet Ruth Cohn zunächst zwei Postulate und aus ihnen Hilfsregeln ab. Die Postulate entspringen aus der Forderung autonomen Handelns „auf der
Basis des Paradox’ der Freiheit“ (ebd.). Die Postulate lauten nach ihren Worten:
„1. Sei dein eigener Chairman, ...
Das bedeutet:
a) Sei dir deiner inneren Gegebenheiten und deiner Umwelt bewusst.
b) Nimm jede Situation als Angebot für deine Entscheidungen. Nimm und gib wie du
es verantwortlich für dich selbst und andere willst.
2. Beachte Hindernisse auf deinem Weg, deine eigenen und die von anderen. Störungen haben Vorrang.“ (a .a. O., S. 120 f.)
a)
b)
c)
d)
e)
f)
g)
h)
i)
Die Hilfsregeln unterstützen die Verwirklichung der Postulate, sollen jedoch nicht verabsolutiert werden:
Vertrete Dich selbst in Deinen Aussagen - sprich per „Ich“, vermeide tunlichst „Man
oder „Wir“
Wenn Du eine Frage stellst, sage, warum Du fragst und was Deine Frage für Dich bedeutet - sage Dich selbst aus und vermeide Fragen ohne echtes Bedürfnis nach Information
Sei authentisch und selektiv in Deinen Kommunikationen - mache Dir bewusst, was
Du denkst und fühlst und wähle, was Du sagst und tust
Halte Dich mit Interpretationen von anderen solange wie möglich zurück und sprich
statt dessen Deine persönliche Reaktionen aus
Sei zurückhaltend mit Verallgemeinerungen
Bei Aussagen über ein anderes Gruppenmitglied sage auch, was es Dir bedeutet, dass
es so ist (d.h. wie DU es siehst)
Seitengespräche haben Vorrang. Sie stören und sind meist wichtig
Nur eine(r) zur gleichen Zeit
Wenn mehrere gleichzeitig sprechen wollen, verständigt Euch in Stichworten über
Eure beabsichtigten Beiträge.
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Karl Garnitschnig (2003) Einführung in die Erziehungswissenschaft
Abbildung 7-3: TZI-Modell
SIE
GLOBE
WIR
ICH
Die TZI nach Ruth Cohn ist eine Methode der Gruppenführung unter gleichwertiger Beachtung der Faktoren ICH/Person, WIR/Gruppe als Gesamtheit sowie ES/Thema als Aufgabe. Beeinflusst wird dieser Prozess durch das Umfeld, in dem dieser stattfindet. Nach
den drei Faktoren des Prozesses lassen sich folgende Differenzierungen vornehmen: Es
kann nicht nur das persönliche Wachstum einer Personengruppe gemeint sein, sondern
das aller Personen in einem sozialen Kontext. Dies hat in spezifischer Weise Rückwirkungen sowohl auf die interaktionelle als auch auf die inhaltliche wie auf die institutionelle Ebene. Letztere bezieht sich auf die Systemumwelt, die wiederum auf die individuelle, interaktionelle und die inhaltliche Ebene rückwirkt
Abbildung 7-4: Differenzierung auf der ICH-Ebene
Individuelle Ebene
Schüler
persönliches
Wachstum
ICH
Lehrer
persönliches
Wachstum
persönliches
Wachstum
Eltern
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Karl Garnitschnig (2003) Einführung in die Erziehungswissenschaft
In den einzelnen Gruppen bilden sich für jede Gruppe spezifische Normen heraus, über
die die Interaktionen innerhalb der Gruppe geregelt und auch wie die Beziehungen zu
den anderen Gruppen gestaltet werden. Diese Gruppenmoralen sind dadurch gekennzeichnet, dass sie einen Druck auf die Mitglieder ausüben, dem sich diese nur schwer
entziehen können. Daher muss immer wieder zwischen den Ebenen vermittelt werden.
Abbildung 7-5: Differenzierung auf der interaktionellen Ebene
Schüler –
Schüler
Lehrer –
Kollegium
WIR
Lehrer –
Schüler
Lehrer –
Eltern
Schüler –
Eltern
Die Differenzierung der inhaltlichen Ebene hängt mit dem zugrunde liegenden Menschenbild, der Bildungstheorie und mit dem Modell der Lernorganisation mit seiner
spezifischen Vorstellung über eine förderliche Beziehungsdynamik, die ebenso für die
Differenzierung auf der WIR-Ebene von Bedeutung ist, zusammen. So differenzieren
RIETZ/SCHAPER (1980), von denen die Idee dieser Graphiken entnommen ist, die
inhaltliche Ebene in Lehr- und Lerninhalte, Lernziele, obwohl erstere ein Aspekt letzterer sind, methodisch-didaktisches Handeln, Unterrichtsvorbereitung, Schulmitwirkung, Metakommunikation, Lernkontrolle, heimlicher Lehrplan und Schullaufbahnberatung. Der oben vorgeschlagenen Differenzierung liegt ein Didaktisches Modell zugrunde, dass das aktive Lernen von Schülern in offenen Lernformen und auf der Basis
der Aneignung von Inhalten über psychische Operationen in den Vordergrund stellt
(GARNITSCHNIG, 1997).
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Karl Garnitschnig (2003) Einführung in die Erziehungswissenschaft
Abbildung 7-6: Differenzierung auf der inhaltlichen Ebene
Inhaltliche Ebene
Lernziele
ES
Inhaltsstruktur
Lernvorau
setzungen
Entwicklung der
psychischen Operationen
Auswahl von LernInhalten auf der Basis
innerer Differenzierung
Lernsituationen und
-materialien
Schülermitbestimmung
Zur strukturellen Ebene zählt alles das, was die Schule als Institution der Gesellschaft
und als Organisation mit einem bestimmten Ziel, das durch viele gesellschaftliche
Kräfte bestimmt ist, kennzeichnet. Dazu gehört die Organisationsstruktur, wieweit sie
hierarchisch oder durch Kooperation zwischen allen Ebenen, sowohl der Schulverwaltung als auch der Schulaufsicht und der Schulleitung und im Lehrerkollegium geprägt
ist.
Im TZI wird eine Verbindung zwischen dem persönlich Bedeutsamen und dem Lernen
an der Sache hergestellt. Damit kann dem Entfremdungsprozess zwischen Menschsein
und Sachlichkeit entgegengewirkt werden. Wichtigstes Anliegen ist die Lebendigkeit
der Individuen im Austausch von Ich und Wir. Erkennt der einzelne Mensch seine
Möglichkeiten in der Abhängigkeit zwischen sich, der Umwelt und der Gemeinschaft,
je mehr er Verantwortung für das Zusammenleben übernimmt und je mehr er sich
sinnvoll, bedürfnisgerechten und selbst gewählten Aufgaben widmen kann, desto größer wird seine Lebendigkeit, sein Engagement und auch seine Freude am Leben.
Ruth Cohn fordert den Menschen auf, Achtung vor sich selbst, seinem Körper, seiner
Seele und seinem Geist zu haben. Der Mensch soll lernen, sich wahrzunehmen, um so
selbst bestimmt und aktiv handeln zu können. Da zugleich die Interdependenz des Individuums axiomatisch angesetzt wird, soll es auch seine natürliche Umwelt und seine
Mitmenschen achten und sie in seine Verantwortung einbeziehen. Letztlich wachsen
Menschen nur im Austausch mit ihrer Um- und Mitwelt, mit Themen und Aufgaben.
Menschen verwirklichen sich durch Arbeit in der produktiven Gestaltung ihrer natürli- 35 -
Karl Garnitschnig (2003) Einführung in die Erziehungswissenschaft
chen und menschlichen Umwelt. Daher ist für TZI der Themenbezug von so großer
Bedeutung. Dabei ist allerdings zu beachten, dass die Themen einen Subjektbezug haben und interaktionsfähig sind. Die Themen sollen auch in Beziehung zum Globe stehen insofern sie Praxisrelevanz haben sollten. Die Beschäftigung mit dem Thema ist
immer schon an kommunikativen Austausch gebunden, wird in der Beziehung zwischen Individuum, Mitmenschen und der Sache für alle bedeutsam, sofern sie sich gemeinsam um die Sache als ihre Aufgabe bemühen.
Abbildung 7-7: Differenzierung auf der institutionellen Ebene
Schulgeschichte
Bildungspolitik
Schulordnung
Erlässe
INSTITUTION
+
GLOBE
Schulverwaltung
historischer
Hintergrund
Wechselbziehungen
zw. Schule u. Gesellschaft
Interessensvertretungen
Schulhierarchie
Lehreraus- und Fortbildung
Schulforum
Schulgemeinschafts-
Rahmenbedingungen (zeitl., räuml.
Gegebenheiten, finanzielle Ressourcen)
Organisationsform
Es ist zu bedenken, dass jede Kommunikation sowohl einen Inhalts- auch den Beziehungsaspekt hat, was bedeutet, dass die Beziehungen offen gelegt werden müssen, die
die Auseinandersetzung mit dem Thema blockiert. Das bedeutet, dass in der TZI die
Sache sehr ernst genommen wird und daher muss darauf geachtet werden, dass sie
nicht durch unreflektierte Störungen vernebelt wird. Dadurch, dass in der TZI das Verständnis des Zusammenhangs von Mensch und Sache im Mittelpunkt steht, ist sie im
Kern pädagogisch. Würde aber eine Fokussierung auf die Sache allein erfolgen, wäre
es auf curriculare Überlegungen eingeengt.
Die Bedeutung der Sache für das Individuum wird auch dadurch unterstrichen, dass
auf die Themenfindung, die Themenformulierung und die Themeneinführung sehr
großer Wert gelegt wird. Themen bzw. Gegenstände werden immer in ihrer Bedeutung
für die Lerngruppe gesehen und daher sind sie niemals an sich von Interesse, sondern
unter einem bestimmten Aspekt, einer bestimmten Fragestellung, einem bestimmten
Interesse, das die Lernenden haben. Die Berücksichtigung des Interesses führt dazu,
dass die Lernenden motiviert sind und damit die Intensität an der Arbeit steigt und die
geistige Auseinandersetzung flexibler wird und an Kreativität zunimmt. Dabei ist es
im besonderen Aufgabe des Leiters der Gruppe den Aspektreichtum, der sowohl vom
Gegenstand oder Thema selbst als auch von den Interessen der einzelnen Gruppenmitglieder herrührt, im Auge zu behalten, wenn auch jener Aspekt für die Auseinandersetzung ausgewählt wird, der bei möglichst vielen einzelnen eine Saite zum Klingen
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Karl Garnitschnig (2003) Einführung in die Erziehungswissenschaft
bringt. Da nun die Problemstellung bzw. die Formulierung des Themas einen bestimmten Aspekt fokussiert, hat diese eine tragende Bedeutung für die Art und Weise
der Themenarbeit in der Gruppe. Daraus ist zu schließen, dass die Art der Themenformulierung den gesamten weiteren Prozess bestimmt.
TZI macht in besonderer Weise darauf aufmerksam, dass jedes Lernziel nach seiner
Bedeutsamkeit für die Praxis der Lernenden befragt werden muss. Es muss danach gefragt werden, wie weit bestimmte Inhalte bloß passiv gelernt zu werden brauchen oder
vielleicht gar nur in der Form, dass man motiviert ist, auf sie zu achten oder ob ein Inhalt aktiv gebraucht wird. Dies wird in der Regel von den Lernenden sehr schnell
durchschaut.
7.1 Der Umgang mit Störungen
Wer wirklich am Gegenstand interessiert ist, wird sich bemühen, in die Tiefe zu gehen.
Das heißt, er wird sich nicht konform verhalten, sondern zum Ausdruck bringen, wenn
er mit einer bestimmten Lösung noch nicht einverstanden ist. Als Leiter hat man die
Aufgabe sensibel auf solche Prozesse bei den einzelnen in der Gruppe zu achten. Damit erhalten Störungen eine neue Verortung. Störungen sind nicht unerwünscht, sondern sind ein Hinweis darauf, dass die Lernenden bei der Sache sind und in der Lage
sind, ihre Autonomie wahrzunehmen. Störungen können aber auch darauf hindeuten,
dass die Lernenden über- oder unterfordert sind und sie können sich auch auf die eigene Position im Gruppengefüge beziehen.
Der Lehrer braucht also eine gute Antenne auch für unausgesprochene Störungen.
Nach der TZI dürfen weder das Ich noch das Wir noch das Thema ein Übergewicht
bekommen, sondern müssen jeweils ausbalanciert werden.
Ist die Arbeit einmal im Gang, arbeitet die Gruppe weitgehend allein und übernimmt
Verantwortung für das eigene Lernen. Wird die Verantwortung des Lernenden wirklich ernst genommen, dann kann der Lehrer frei sein, für das, wofür er die Verantwortung zu tragen hat. Aber gerade dadurch, dass die Lernenden Verantwortung für ihr
Lernen übernehmen, lernen sie auf eine für sie und für den Gegenstand effektive Form.
7.2 Interaktionistischer Aspekt
Pädagogisches Handeln basiert auf Interaktionen von Individuen. Dies ist eine nicht
weiter begründbare Sachverhaltsbeschreibung. Aber nicht jede Form von Interaktion
ist pädagogisches Handeln, sondern wir wollen aus einem in der Tradition der Pädagogik aufbewahrten Wissen, bzw. immer wieder formulierten Prämissen das Ziel pädagogischen Handelns in einer Aufforderung zu selbstständigem Handeln sehen und damit Pädagogik in dieser programmatischen Weise definieren. Wie immer Pädagogik
sonst noch verstanden werden mag, wir gehen von dieser Bestimmung aus. – Wenn es
hier „Wir“ heißt, so ist damit gemeint, dass Sie als Leser aufgefordert sind zu prüfen,
ob Sie damit übereinstimmen. Wenn nicht, dann ist unsere gemeinsame Entfaltung des
Begriffs „Pädagogik“ zu Ende. Stimmen Sie überein, dann können wir ein weiteres
Stück gemeinsamen Weges gehen. Dies gilt für jeden neuen Schritt der Differenzierung der ursprünglich intuitiv gefassten Vorstellung von Pädagogik. Diese Aufforderung impliziert, dass pädagogisches Handeln dann nicht gegeben oder nicht nötig ist,
wenn Individuen ohnehin selbständig, eigentätig handeln. Dies ist schon bei Säuglingen auf ihre Weise der Fall und das Handeln wird im Laufe der Entwicklung immer
komplexer. Es kann Welt immer differenzierter verstanden werden.
Analysiert man der Begriff „Aufforderung“, so ist in ihm impliziert, dass jedes Individuum ein eigenständiges, lernfähiges Wesen – eine alte anthropologische Bestimmung,
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Karl Garnitschnig (2003) Einführung in die Erziehungswissenschaft
die auf einer nicht weiter begründungsbedürftigen allgemeinen Erfahrung beruht, ist.
Jeder Mensch ist durch eine unglaubliche Plastizität in seinem Handeln gekennzeichnet. Er ist in der Lage, sich ganz unterschiedlichen Umwelten nach seinen Vorstellungen anzupassen. In immer fortgesetzten Bewegungen der Aneignung von Welt in der
aktiven Auseinandersetzung mit seiner Umwelt, gewinnt das Individuum jenes Wissen, das es ihm ermöglicht, letztlich an der Gestaltung seiner Welt mit anderen teilzuhaben. Eine wesentliche Kompetenz, die ihm das ermöglicht, ist die Reflexion, die
Tatsache, dass der Mensch, was er tut noch einmal bedenken kann. Er ist in der Lage,
sich selbst nochmals zum Gegenstand seines Nachdenkens zu machen und damit jeweils sein Handeln neu zu beginnen.
8 Werte
1. Was Wert ist, wird faktisch gefasst. Wert ist ganz einfach das, was Menschen hochschätzen. Es wird nicht nach dem Warum, nach der Begründung dieser Werte im eigentlichen Sinn gefragt. Wenn danach gefragt wird, dann wieder nur unter dem Gesichtspunkt,
dass man wissen möchte, wie Menschen zu diesen Wertungen gekommen sind. Gewiss
eine interessante Frage, aber es wird nicht nach einer Definition von Wert gefragt, die
über die faktische Hochschätzung hinausgeht, die also nach der Legitimität von Wertungen fragt. Die Frage ist immer nur quid facti und nicht quid iuris.
Fasst man diesen Standpunkt absolut, dann behauptet man, der Mensch könne grundsätzlich nicht über Fragen des Wertens mehr aussagen, als was Menschen faktisch tun, was
man durch Beobachtung erkennen könne. Man müsse daher wertfrei vorgehen. Wertungen hätten in den Wissenschaften nichts zu suchen.
Alles wird also im Sinne der Prädikatenlogik definiert. Sich auf diesen Standpunkt zu
fixieren, würde bedeuten, auf der Ebene der Wahrnehmung in Sinne der klassischen englischen Positivisten zu verharren. Man würde nur anerkennen: nisi est in intellectu, quod
non ante fuerit in sensibus.
2. Verstehen basiert auf einer Übereinstimmung in der inneren Struktur von Menschen,
was es allererst möglich macht. Zu unterschiedlichen Zeiten bildet sich ein unterschiedlicher "Zeitgeist" als Basis und Hintergrund der Wertvorstellungen heraus. Zwischen den
gesellschaftlichen Kräften wird ausgetragen, was die geltenden Wertvorstellungen sind.
Diese aus dem Ganzen dessen, was „Zeitgeist" heißt, herauszufiltern, unterliegt einem
Vorgang des Deutens. Dieser geht von dem Vorverständnis des deutenden Individuums
oder der deutenden Individuen aus, um in wiederholten Versuchen zu erkennen, wie weit
das Ganze der in Frage stehenden Wirklichkeit vom zugrunde gelegten Vorverständnis
aus gedeutet werden kann. In diesem Prozess des Deutens wiederholt sich dieser Vorgang
des Bezugs des Ganzen auf ein Vorverständnis, sodass es auch zu einer Veränderung und
Erweiterung des Vorverständnisses kommt, das nun vielleicht besser geeignet ist, die in
Frage stehende Wirklichkeit - „Objektivation des Geistes“ (Dilthey) - zu fassen.
Es ist klar, dass der Prozess des Deutens Wahrnehmungen, Beobachtungen - in unserem
Fall von Wertungen - voraussetzt. Aber dabei bleibt es nicht. Es wird nicht nur nach Erklärungen nach dem Schema: Wenn a, dann b, gesucht, sondern - solche Erklärungen
vorausgesetzt - nach dem Gesamthintergrund, auf dem Wertungen geschehen, gefragt.
Eine solche Ganzheit menschlichen Handelns und Verstehens schließt der Standpunkt des
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Karl Garnitschnig (2003) Einführung in die Erziehungswissenschaft
Beobachtens aus. Denn, so wird argumentiert, die Genauigkeit der Beobachtung hängt
von der Möglichkeit der Isolierung eines zu beobachtenden Phänomens ab.
3. Werte sind durch das definiert, was Menschen bei sorgfältiger Überlegung der Konsequenzen frei wählen, das sie hochschätzen und nach dem sie ihr Handeln motivieren. Faktisch liegen dieser freien Wahl Werte schon vor (1) und fühlen sich Menschen WertAnmutungen von anderen immer schon ausgesetzt (2). Zeitweise können sie sich wegen
solcher Erwartungen stark unter Druck stehend fühlen. Sie nehmen zu ihnen aber trotzdem unter Bedenken von eigenen Vorstellungen eines guten individuellen und gesellschaftlichen Lebens Stellung.
Soll das und das sein, so muss .... Es ist hier eine Vorstellung von etwas gegeben, das
verwirklicht werden soll. Die Ebene der Fakten ist verlassen, es kommt die Ebene des
Begriffs, des Ziels, der Norm als solcher zu Bewusstsein. Sofern Normen faktisch gegeben sind, muss das Bewusstsein auf dieser Ebene noch nicht zu sich selbst, zur Autonomie, zu Selbstbestimmung gekommen sein. Es werden hier zwei Ebenen verknüpft, die
der Normen, Vorstellungen, des Begriffs und die Ebene der Fakten. Soll eine Vorstellung
real werden, dann muss auf der Faktenebene das und das gemacht werden. Im Sinne des
Moralischen wird das Bedenken der Konsequenzen jeder Handlung gefordert. Sie liegen
auf der Faktenebene, wenn sie auch psychisch sein kann, und zugleich werden die Konsequenzen von der Vorstellung des moralisch Guten bestimmt.
4. Ich lasse etwas mit mir geschehen, aber mit dem Bewusstsein davon und gewollt. Die
Fähigkeit auf der Personseite ist, dass die Person bereit ist, sich dem Strom des Lebens zu
öffnen. Es geschieht dauernd etwas, ob wir es wollen oder nicht. Wir sind dauernd verschiedensten Einflüssen unterworfen. Wir erleiden dauernd etwas. Das ist das Passiv und
nicht das Medium. Das Medium setzt voraus, dass Personen zu sich selbst gekommen
sind, ihre Identität gefunden haben. Die mediale Form meint ein Geschehen, bei dem die
Person selbst etwas bewirkt und das bewusst, nicht leidend. Die Person will: Es geschehe,
dass durch mich etwas bewirkt werde, wissend, dass ich unmöglich das Geschehen wirklich beeinflussen kann. Das Geschehen selbst mag dann für die Person ungewöhnlich
sein, nicht sofort verständlich. Es mag in ihr und bei anderen Erstaunen auslösen.
Dieses offene Geschehen ist der Kontrolle nicht voll unterworfen, wenn es auch bewusst
ist und im Sinn von (3) geprüft werden kann. Es kann immer etwas Erstaunliches passieren. Die Person ist offen für Entdeckungen, für Entwicklungen, für Transformation, d. h.
einen qualitativen Bewusstseinssprung, ein neues Niveau des Lernens, das eine völlige
Umstrukturierung des Bewusstseins und des Wissens mit sich bringen kann oder zu einer
solchen herausfordert.
Das was sein soll, will ich auch und daher muss das und das getan werden. Sollen und
Wollen werden über das Wollen verknüpft. Dies wird deutlich in der Frage: will ich das
überhaupt, was ich soll? Es erfolgt also eine Reflexion über das Sollen, die Frage nach
der Rechtfertigung von Handlungen. Dies erfordert die Selbstbestimmung des Individuums als Voraussetzung. Ich kann diese Prüfung nur über Prinzipien des Handelns leisten,
nach Prinzipien, die jeder bestimmten Handlung übergeordnet sind.
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Karl Garnitschnig (2003) Einführung in die Erziehungswissenschaft
8.1 Alles Handeln ist wertgebunden
Handeln ist immer mit Entscheidungen verbunden, diese wieder mit Wertpräferenzen.
Wir richten unser Handeln danach aus, was uns als gut erscheint. Stellen wir uns nun die
Frage, wie wir das begründen können, was Menschen als gut ansehen, können wir verschiedene Ansichten von Gut unterscheiden. Diese lassen sich auch als Formen fassen,
Welt zu deuten. So können wir annehmen, dass wir grundsätzlich jeden Gegenstand je
nach dem Weltverständnis von Menschen auf unterschiedliche Weise fassen können. Indem wir ihr Denken nachkonstruieren, kommen wir zu diesen Formen von Weltdeutungen. Sie drücken auch ein Verständnis des Verhältnisses von Subjekt und Objekt aus.
Wir können an die Welt 1. beobachtend, 2. verstehend, 3. konstruierend und 4. uns einfach offen dem Leben überlassend herangehen. Diese Formen von Weltverstehen können
für sich absolut oder aufeinander aufbauend gefasst werden. Versuchen wir das an einem
Begriff, dem Begriff "Wert" zu demonstrieren.
8.2 Die Struktur von Entscheidungen
Wir wollen von der Frage ausgehen, wie das Entscheidungsproblem der Willkür entrissen
werden kann. In der analytischen Wissenschaftstheorie fordert man Wertfreiheit. In der
Hermeneutik wird von der Historizität von Werten ausgegangen, die als solche für die
Deutung von Welt explizit gemacht werden müssen. Erst in einem bedingungsanalytischen Denken werden Werturteile bzw. Wertentscheidungen als solche reflektiert. Es
wird der Versuch unternommen, die Tatsachen so zu analysieren, dass das zugehörige
Sich-Verstehen analysiert wird. Es ist dies der methodische Leitgedanke der Bedingungsanalyse das Welt- und Seinsverständnis durch das zugrunde liegende Selbstverständnis
expliziert wird. Es wird davon ausgegangen, dass die unterschiedlichen Deutungen bzw.
Ansichten von Welt Spaltungen des Sich-Verstehens sind.
9 Entwicklung als Strukturgenese
Der Erzieher hat es im Wesentlichen damit zu tun zu helfen, dass Individuen von geringer
organisierten Denkformen und Handlungsweisen zu höher organisierten und stärker internalisierten Denkformen und Handlungsweisen gelangen. Dafür ist es äußerst hilfreich,
wenn nicht Bedingung, die verschiedenen Formen von Denk- und Bewusstseinsstrukturen
zu rekonstruieren, die Individuen in ihrer Entwicklung durchlaufen. Nach Piaget benutzen
kognitive Akte bestimmte Muster bzw. Strukturen von Denkoperationen. Das Konzept
der Struktur kennzeichnet den Entwicklungstand eines Menschen (vgl. Oser/Althof, 1992,
S. ...)
In der Pädagogik will man immer auch Verhalten, Handeln in Richtung auf einen SollZustand hin verändern. Daher ist es nötig, klare Vorstellungen über die Möglichkeiten
von Menschsein zu entwickeln. Dies gilt für jede praktische Theorie. Das Handeln und
jene Entfaltung von Menschsein, die von einem Menschen zu erreichen ist, ist grundsätzlich von allen zu erreichen. Wie sie zu erreichen ist, wird sich nur dem erschließen, der
sie erreicht hat und daher ist es für den Pädagogen so wichtig, sich immer weiter zu entwickeln und alle Möglichkeiten von Menschsein auszuloten.
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Karl Garnitschnig (2003) Einführung in die Erziehungswissenschaft
9.1 Entwicklungsbegriff
Ein nichttrivialer Entwicklungsbegriff, wie er von Theoretikern der kognitiven Psychologie entwickelt wurde, ist durch folgende Merkmale gekennzeichnet:
1. Eine solche Entwicklungstheorie geht von einer einheitlichen Grundgegebenheit, einer
gleichen Basisfunktion (z. B. Beziehung, Denken, Werten) aus, die Welt oder Teilwelten
jeweils anders strukturieren.
2. Die einzelnen Phasen bilden in sich klar voneinander unterscheidbare, qualitative
Strukturen, die sich auf die gleiche Basisfunktion beziehen.
3. "Diese differenten Strukturen bilden eine invariante Reihe, Ordnung oder Abfolge in
der individuellen Entwicklung. Kulturelle Faktoren können die Entwicklung beschleunigen, verlangsamen oder stoppen, aber nicht ihre Sequenz ändern." (KOHLBERG 1980, S.
227, 1974, S. 17)
4. Die aufeinander folgenden Formen bilden "ein strukturiertes Ganzes". Sie stellen jeweils ein strukturiertes Interpretationsmuster der Gesamtwirklichkeit dar, die eine Ordnung von zunehmender Differenziertheit und Integriertheit bilden. Die nächst höhere Stufe ist durch mindestens ein neues Element charakterisiert, das aber nicht nur additiv ist,
sondern mit den bereits vorhandenen, errungenen Elementen ein neues Niveau, eine neue
Struktur bildet (vgl. dazu die Lernniveaus beim strukturellen Lernen, bei dem ebenso ein
hierarchischer Aufbau von Lernprozessen angenommen wird (GAGNE 1969; vgl. auch
OLECHOWSKI 1978, S. 289); zum Entwicklungsbegriff siehe KOHLBERG 1980, S.
227, 247; HABERMAS 1976, S. 90, der FLAVELL 1972 zitiert; vgl. auch KÄRN 1978,
S. 82). Es handelt sich um hierarchisch geordnete Präferenzsysteme, die mit einer psychischen Disposition von Individuen verbunden sind, Problemlösungen oder Deutungen auf
dem höchsten ihnen zugänglichen Niveau zu bevorzugen (vgl. KOHLBERG 1980, ebd.,
1974, S. 18). Die neue Struktur ersetzt die alte Struktur. Die Elemente bleiben erhalten
oder es kommt es neues Element hinzu, die Relationen der Elemente ändern sich.
1. Reflexgebundenheit (sensumotorische Ebene)
2. Wahrnehmungsgebundenheit (voroperative Phase)
3. Gebundenheit an konkrete Operationen
4. Formale Operationen
Bewusstsein formt sich aus. Es entsteht nicht, sondern ist gegeben. Es könnte auch nicht
durch irgendwelche Maßnahmen entwickelt werden, wäre es nicht schon gegeben. Es
bedarf aber einiger Bedingungen, soll sich das Bewusstsein ausformen und zu sich selbst
kommen können. Dies geschieht im Austausch mit der Umwelt, der natürlichen wie der
sozialen Umwelt aber auch im Rückbezug auf sich selbst und im sich Öffnen geistigen
Intuitionen gegenüber. Der Austausch mit der natürlichen Umwelt erfolgt immer zugleich
in der und mit der sozialen Umwelt. Wir deuten die Welt von der erreichten Form des
Bewusstseins aus. Im Prozess des Deutens von Welt wird offenbar, was für uns jeweils
Realität ist. Daher ist es von Bedeutung, jeweils differenziertere Formen der Weltdeutung
anzustreben, in der jeweils Welt weiter ausdifferenziert erscheint, und eine je neue Form
des Subjekt- Welt-Bezugs - kognitiv gedacht-, auftaucht. Emotional wird eine je weitere
Sozialperspektive vom Egozentrismus über die Annahmen der Perspektiven anderer bis
hin zu universeller Liebe eingenommen, und die Welt unter sich überbietenden, nicht
ausschließenden Ideen des Guten gedeutet bis hin zu der Einsicht, dass das Wahre, Gute
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Karl Garnitschnig (2003) Einführung in die Erziehungswissenschaft
und Schöne in einer offenen, meditativen Sicht der Realität uns jeweils neu anmuten
kann.
Bildung soll zu je höheren Formen von Bewusstsein und Erfahrung hinführen bis zu einem autonomen und schließlich transpersonalen Bewusstsein. Der Mensch hat den Drang
über sich hinauszuwachsen.
Erziehung braucht eine Zukunftsperspektive, eine Utopie, ein Ideal oder einfach ein Ziel,
auf das hin der Prozess der Erziehung läuft. Sie braucht ein Ideal dessen, eine Vorstellung
davon, was der Mensch werden kann, woraufhin er sich entwickeln kann. Immer wieder
machen wir die Erfahrung, dass es zu genügen scheint, einfach zu interagieren, einfach
mit Menschen zu arbeiten, dass sie zu dem kommen, was sie momentan wollen oder
brauchen: z. B. zu lernen, wie man ein Vorstellungsgespräch führt, wie man mit Kindern
und mit sich umgehen soll, wenn sie einem auf die Nerven gehen, wie man mit einem
alkoholsüchtigen Partnerzurechtkommen könnte. Gewiss all das ist notwendig, aber all
das muss eine weitere Perspektive haben, sonst bleiben solche Bildungsprozesse im
Grunde unbefriedigend. Der Mensch braucht Sinnperspektiven, soll er glücklich sein.
Das Eingebettetsein in soziale Zusammenhänge und dieser wieder in gesellschaftliche
Zusammenhänge lässt Erziehung zu einer Reise ins Nichts werden, wenn der Erzieher
nicht eine gesellschaftliche Verantwortung sieht. Dies liegt heute in einer Zeit, in der sich
die gesellschaftlichen Probleme zuspitzen, mehr den je auf der Hand: allem voran die
Zerstörung der Umwelt und damit verbunden die Verantwortungslosigkeit für andere und
die nachkommenden Generationen. Solange Menschen ihr Eigentum, ihr Auto, ihre Sicherheit wichtiger nehmen und das Leid anderer, die Zerstörung der Lebensgrundlagen
nicht sehen, ist wohl jede andere Bildung Flickwerk.
"Das größte aber ist die Liebe." Vielleicht genügt es schon zu sagen: Respekt, Rücksicht,
Achtung, Wertschätzung, Ehrfurcht gegenüber der Natur und den Menschen. Der Mensch
und sein Glück sollen im Mittelpunkt stehen. Aber was ist Glück? Es gibt das vordergründige Glück der Befriedigung physischer und psychischer Bedürfnisse. Dieses Glück
kennt keine andere Zukunft als eine lineare Fortsetzung von Einkommen, Verbesserung
von Wohnung, Erholung, Arbeit. Sie ist eigentlich ohne Perspektive, weil der Mensch nur
sich sieht, seinen kleinen Kreis, nicht die anderen. Dieses Glück der eigenen Häuslichkeit
hat keine soziale Perspektive. Die Rede "Ich allein habe keine Wirkung", verrät nur die
egozentrische Perspektive. Ziel ist die Sicherung des eigenen Lebens in einem beschränkten Bereich.
Abb.: Typen von Glück
Befriedigung physischer und psychischer Bedürfnisse
Eigene Sicherheit
Zugehörigkeit, Anerkennung – gegenseitige Anerkennung
Ganzheitliches Allerleben
Die weitere Perspektive ist mit der Einsicht verbunden, andere anzuerkennen, weil mein
Glück vom Glück der anderen abhängig ist. Um diese Perspektive gegenüber der ersten
durchzuhalten, bedarf es allerdings der Anstrengung jeweils zu erkennen, daß dies und
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Karl Garnitschnig (2003) Einführung in die Erziehungswissenschaft
wie weit dies zutrifft, sofern es nicht ohnehin klar auf der Hand liegt. Auch einem Sklaven wird man zu essen geben, dass er die gewünschte Arbeit verrichten kann, außer das
Heer der Sklaven ist unabsehbar. Dann ist eine solche Person auch bereit, Arbeit oder
Anstrengungen für andere in Kauf zu nehmen. In die eigenen Entscheidungen wird also
die gesellschaftliche Perspektive einbezogen und es wird gefragt, was eine Handlung oder
Entscheidung im Kontext des Zusammenlebens aller für ihr Wohlergehen bedeutet.
Dauerndes Glück lebt in einem Menschen, der dem Zufälligen entwachsen konnte und
der weiß, dass er sich selbst immer wieder täuschen kann, der aber zugleich im Wunsch
nach Wahrheit und Klarheit konsequent sucht und erkennt, dass ihm in einer offenen
glaubenden, vertrauenden und liebenden Haltung die Erkenntnis und die Einsicht in das
Wahre, Gute und Schöne zufließt. Der so Rückgebundene (= Religiöse) erlebt Glück,
wenn es da ist, ganz, auch wenn es viele Gestalten hat, die in sich wieder einen Kosmos
bilden.
10 Ziele
Das Problem der Erziehungsziele stellt sich im Kontext der allgemein menschlichen, den
gesellschaftlichen Zusammenhang einbeziehenden Frage, wozu der Mensch sich bilden
bzw. bilden soll. Es geht grundsätzlich um die Entwicklung des Menschen und im Besonderen seines Verstandesgebrauchs, so dass der Lernende zu einem eigenständigen Beurteilen kommt. Dieses bezieht sich einerseits auf die Einheit des Wissens und andererseits auf die Forderung der methodischen Zurückführung des Wissens auf Voraussetzungen.
„Das Ergebnis einer weitgefaßten Form der Erziehung im Gegensatz zu einer enggefaßten
Spezialisierung ist, wenn man es richtig ins Auge faßt, sicherlich das Ergebnis, ob jemand
oder ob jemand nicht auf kennzeichnende Weise eingeführt wurde in jeden der grundsätzlich verschiedenen Typen von objektiver Erfahrung und Kenntnis, die dem Menschen
offenstehen.“ (Hirst/Peters, 1972, S. 110). Als diese Typen der Erfahrung, die nicht aufeinander rückführbar sind, nennen Hirst und Peters
1. Formale Logik und Mathematik: Sie sind durch die Ableitbarkeit eines axiomatischen
Systems gekennzeichnet.
2. Naturwissenschaft: Überprüfung von Aussagen durch Versuchsanordnungen, die eine
genaue Beobachtung zulassen.
3. Bewusstsein und Verstehen unserer selbst und von anderen Menschen
4. Moralisches Urteilen und moralisches Bewusstsein
5. Ästhetische Erfahrung: Formen des symbolischen Ausdrucks
6. Religiöses Bewusstsein
7. Philosophisches Verstehen: Begriffe 2. Ordnung (a. a. O., S. 114)
„Zugegeben: Was in irgendeinem Bereich erreicht werden kann, das ist eine Sache des
graduellen Unterschieds. Aber Erfahrung würde nahelegen, daß nur dann, wenn Aufmerksamkeit erreicht ist, für die relevanten Begriffe, für Muster des Vernunftgebrauchs
und für die Prüfverfahren für das Urteil, die je einem Bereich eigentümlich sind, diese
Elemente des Denkens ihre Funktionen auf spontane Weise erfüllen, auf einem klaren
und folgerichtigen Weg.“ (a. a. O., S. 114 f.)
Pädagogik ist durch jenes Handeln bestimmt, das sich mit der bewussten Veränderung
von Verhalten bei einer Gleichheit der Individuen beschäftigt. Ihr Ziel ist die Handlungsfähigkeit von Individuen und dass sie selbsttätig ihr Handeln steuern.
Gleichheit der Individuen bedeutet, dass die Individuen ihr zielgerichtetes Handeln wechselseitig bestimmen. In diesem Sinne folgen wir den personenzentrierten Ansatz, der da- 43 -
Karl Garnitschnig (2003) Einführung in die Erziehungswissenschaft
von ausgeht, dass die Individuen dazu geführt werden müssten ihrem Selbst zu vertrauen.
Die Person steht also im Mittelpunkt und nicht irgendwelche Ziele, Inhalte, Theorien oder
Ideologien.
Danach braucht der Erzieher eine Qualifikation, die ihn in die Lage versetzen diese
Wechelseitigkeit von Individuen zu ermöglichen: Empathie, Verstehen bzw. Einfühlungsvermögen, ehrlich sein.
Die Möglichkeit zur Selbststeuerung erfordert die Kenntnis von Qualifikationen in verschiedenen Handlungsbereichen. Die Aneignung dieser verschiedenen Qualifikationen
oder Kompetenzen legt als pädagogisches Handeln ein personenzentriertes Vorgehen nahe.
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Karl Garnitschnig (2003) Einführung in die Erziehungswissenschaft
Abbildung 8: Differenzierung in Handlungsfelder
Individuum

 
Physis Psyche Geist
  
Gene
Gesellschaft

Ökos
 
Phaime
Meme
Sehen wir alles noch einmal unter dem Begriff „Systembildung“ an (vgl. Treml 2000),
dann werfen wir einen Blick auf die Dynamik der Entwicklung dieser Differenzierungen.
Systeme haben die Eigenschaft sich Umweltgegebenheiten anzupassen und damit sich zu
verändern (Evolution). Dies hat auch die Funktion sich zu stabilisieren bzw. zu erhalten.
Dies wird am deutlichsten bei Organismen. Ohne eine Entelechie anzunehmen – die unter
bestimmten Voraussetzungen anzunehmen ist – stellen wir fest, dass sich Organismen zu
immer komplexeren auf einer höheren Ebene angepassteren Gebilden entwickelt haben.
Darüber hinaus haben Organismen einen sehr hohen Überschuss an Reproduktionsressourcen. In jedem unserer etwa 100 Billionen Körperzellen (außer den roten Blutkörperchen) ist im Zellkern das vollständige menschliche Genom in Form von etwa 3 Milliarden
Nukleobasen, den Bausteinen der DNA enthalten.
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Karl Garnitschnig (2003) Einführung in die Erziehungswissenschaft
11 Literatur
Adler, Alfred: Menschenkenntnis.- Frankfurt/M.: Fischer, 1994
Bast, Roland: Pädagogische Autonomie. Historisch systematische Hinführung zu einen
Grundbegriff der Geisteswissenschaftlichen Pädagogik. – Bochum: projekt verlag, 2000
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