Geltung1 (Wilhelm Vossenkuhl) Geltung ist ein normatives Konzept, das sich auf unterschiedliche Arten von Tatsachen bezieht, die meist als solche anerkannt und wirksam sind. Es gibt zwei Typen von Geltung, die unabgeleitete und die abgeleitete. Was unabgeleitet gilt, gilt bedingungslos, was abgeleitet gilt, gilt nur bedingt. Im ersten Fall bedarf das, was gilt, zu seiner Erfüllung keiner weiteren Bedingung und hat auch keine.2 In dem Bereich, in dem es gilt, gilt es selbst dann unabhängig, wenn es mit anderen Geltungen in einem Netzwerk von Geltungen verknüpft ist. Dies ist mit ‚bedingungslos’ gemeint. Unabgeleitete Geltungen liegen explizit oder implizit allen argumentativen Rechtfertigungen zugrunde.3 Im zweiten Fall, der bedingten Geltung, ist das, was gilt, Ergebnis einer Rechtfertigung und strikt mit diesem Ergebnis verbunden; wenn sich die Rechtfertigung als falsch oder zweifelhaft erweist, trifft dies auch auf die mit ihr verbundene Geltung zu. Unabgeleitete und abgeleitete Geltungen sind häufig miteinander verbunden und bilden zusammenhängende Ketten von Geltungen. Jeder Geltungskette liegt aber mindestens eine unabgeleitete Geltung zugrunde, und zwar unabhängig davon, welchen Wert und welche Beständigkeit die abgeleiteten Geltungen haben. Während die unabgeleiteten Geltungen lediglich anerkannt sein müssen, aber keiner Rechtfertigung bedürfen, um wirksam zu sein, sind Rechtfertigungen immer von Geltungen oder Geltungsgründen abhängig. Rechtfertigungen auch anerkannt und wirksam Dabei ist es offen, ob werden. Die unabgeleitete, bedingungslose Geltung hat im logischen, argumentativen und genetischen Sinn Vorrang vor der Rechtfertigung; dementsprechend ist das Verhältnis zwischen bedingungsloser Geltung und Rechtfertigung asymmetrisch. Dagegen sind bedingte Geltungen symmetrisch mit den Rechtfertigungen verbunden, von denen sie abhängig 1 Für wertvolle Hinweise und Ratschläge danke ich Erasmus Mayr. In der Rechtsphilosophie ist anstelle des Ausdrucks‚unabgeleitete Geltung’ von ‚Grundnormen’ die Rede (vgl. Robert Alexy, Begriff und Geltung des Rechts, Freiburg/München 42005, 154ff. 3 Die Grundfigur der unabgeleiteten Geltung, die Bedingung, für die es in einem bestimmten Kontext keine weitere gibt, ist nicht ungewöhnlich. Sie ist ihrer Struktur nach in jedem Sprechakt präsent. Jeder Sprecher ist seiner Rolle nach eine solche Bedingung für jeden Sprechakt. Selbst bei Äußerungen, in denen er sich auf sich selbst bezieht, er ist nicht Teil dessen, was er sagt, sondern eine unverzichtbare und nicht weiter bedingte Voraussetzung. Das schließt natürlich nicht aus, dass der Sprecher selbst und das, was er sagt, viele Voraussetzungen haben. Ähnlich verhält es sich mit unabgeleiteten Geltungen. 2 sind. Bedingte Geltungen sind häufig daran erkennbar, dass sie sich auch sprachlich nicht vom Ergebnis von Rechtfertigungen unterscheiden lassen. Der logische und genetische Übergang von unabgeleiteten Geltungen zu den abgeleiteten ist asymmetrisch und transitiv, unabhängig davon, wie umfangreich die Kette von Geltungen ist. Das Verhältnis zwischen unabgeleiteten Geltungen und Rechtfertigungen oder abgeleiteten Geltungen ist in doppelter Hinsicht dynamisch. Zum einen können sich die Rechtfertigungsverfahren und die Ansprüche, die sie erfüllen sollen, verändern; dann kann die Geltung dessen, was den Verfahren bisher zugrunde lag, relativiert werden. Zum anderen kann das, was aufgrund von unabgeleiteten Geltungsgründen lange als gerechtfertigt erschien, seine Anerkennung einbüßen. Dann stehen auch die unabgeleiteten Geltungsgründe in Frage oder sind bereits obsolet geworden. Zu den Unterschieden zwischen unabgeleiteten und abgeleiteten Geltungen gehört auch, dass erstere aufgrund ihrer Wirksamkeit einen intrinsischen Tatsachenbezug haben, abgeleitete dagegen nicht. Da die beiden Konzepte häufig vermischt werden, obwohl sie sich in unterschiedlicher Weise auf Tatsachen beziehen, sollen ihre normative Asymmetrie und ihr Tatsachenbezug geklärt werden. Normative Tatsachen ‚Gelten’ bedeutet gewöhnlich ‚in Kraft sein’, ‚wirksam sein’ oder ‚anerkannt werden’.4 ‚Rechtfertigen’ bedeutet ‚begründen’. Rechtfertigungen setzen Gründe voraus, die ihnen Geltung verleihen, aber die Geltungsgründe selbst müssen zumindest bei unabgeleiteten Geltungen ihrerseits weder gerechtfertigt noch rechtfertigbar sein. Die eben erwähnte Asymmetrie besteht darin, dass alle Rechtfertigungen von Geltungsgründen abhängig sind, aber nicht umgekehrt; dies gilt auch für abgeleitete Geltungsgründe. Selbst dann, wenn bedingte Geltungen symmetrisch mit Rechtfertigungen verknüpft sind, benötigt der Rechtfertigungsprozess Geltungsgründe, die ihm zugrunde liegen. Wenn etwas gilt, ist es wirksam, unabhängig davon, ob es gerechtfertigt ist oder nicht. Wenn etwas gerechtfertigt ist, ist es begründet. Die erwähnte Asymmetrie zeigt sich auch im Blick auf das, was gilt. Die Tatsachen, um dies es geht, sind in dem Sinn kultureller Natur, dass sie, wie etwa 4 Max Weber sprach von Geltung in Bezug auf Ordnungen, die das Handeln anleiten und orientieren. (Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriss einer verstehenden Soziologie, 5. Aufl., hrsg. v. J. Winckelmann, Tübingen: Mohr (Siebeck) 1976, 16). Von ‚Geltung’ ist aber nicht nur in sozialen, sondern auch in wissenschaftlichen Kontexten die Rede. Auch Naturgesetze oder mathematische Beweise gelten. Naturgesetze, von Menschen entdeckt oder wie mathematische Axiome von ihnen erdacht oder wie sittliche Normen von ihnen erkannt und anerkannt wurden. Die Kontexte solcher Tatsachen sind entsprechend vielfältig. Sie können sozialer, rechtlicher oder wissenschaftlicher Natur sein und sich in Praktiken, Feststellungen, Behauptungen, Gesetzmäßigkeiten, Schlüsse, Entscheidungen, Verpflichtungen, Normen und Regeln zeigen. Alle unabgeleiteten Geltungen sind als Tatsachen oder Gegebenheiten zu verstehen. Abgeleitete Geltungen verdanken ihre Geltung diesen Tatsachen. Auch abgeleitete Geltungen können Tatsachen sein. Feststellungen oder Äußerungen gelten etwa tatsächlich, weil ihre Sprecher autorisiert sind, oder weil ihre Adressaten sie tatsächlich anerkennen oder einfach den Sprechern glauben. Dies alles kann gleichzeitig zutreffen. Der Spruch einer Kammer oder die Entscheidung eines Gerichts gelten z.B. im Rahmen einer Rechtsordnung. Ein logischer Schluss oder ein mathematischer Beweis gelten im Rahmen eines Systems von Axiomen und Regeln. Normative Forderungen oder ein Sollensansprüche gelten aufgrund der Prinzipien oder Regeln, auf die sie zurückgeführt werden können, die aber ihrerseits nicht abgeleitet sind. ‚Gelten’ ist zwar ein normatives Konzept, aber nicht gleichbedeutend mit ‚Sollen’. Was immer unabgeleitet und bedingungslos gilt, ist damit auch als geltend realisiert; was gesollt ist, gilt zwar in einem abgeleiteten Sinn, wenn es gerechtfertigt ist, muss aber erst noch realisiert werden. Diese grundlegende faktische Differenz zwischen Gelten und Sollen ist der Grund dafür, dass die häufig bemühte Unterscheidung zwischen Sein und Sollen und die mit ihr verbundene Trennung zwischen Normativität und Faktizität keine Bedeutung für die Geltungsanalyse haben kann. Faktizität und Normativität sind in der Geltungsanalyse intrinsisch verknüpft. Gerechtfertigte Sollensforderungen etwa in Gestalt von Pflichten setzen z.B. unabgeleitete Geltungsgründe voraus, die den Charakter von Tatsachen haben. Wir können diese als ‚normative Tatsachen’ bezeichnen. Auch alltägliche Praktiken wie die Namensgebung oder das Grüßen sind normative Tatsachen, die jenseits und unabhängig von möglichen Rechtfertigungen ihre Grundlage in Geltungen haben, die unabgeleitet und in einem kulturellen Raum von Geltungen beheimatet sind. Der kulturelle Raum normativer Tatsachen muss nicht nur in einem engen historischen, ethnischen oder sprachlichen Sinn verstanden werden. Auch wissenschaftliche Gesetzmäßigkeiten oder Ergebnisse gelten, weil sie theoretischen Annahmen oder Messergebnissen entsprechen, die ihrerseits unabgeleitete Geltungsgrundlagen haben. Auch deren Geltung ist in der Gemeinschaft der Wissenschaftler als normative Tatsache anerkannt. Unbegründete Wirksamkeit Dass Normen oder Regeln unabgeleitet gelten, bedeutet, dass sie im Regelfall, in dem sie befolgt werden, ohne Begründung als wirksam akzeptiert werden. ‚Ohne Begründung’ bedeutet nicht ‚grundlos’. Gerichtliche Entscheidungen sind z.B. nicht wirksam, wenn allgemein geltende Verfahrensregeln nicht eingehalten wurden; und diese Regeln sind denjenigen, die entscheiden, meistens bewusst, ohne dass ihnen gleichzeitig die Gründe ihrer Geltung bewusst sein müssen. Viele Regeln sind wirksam und werden ähnlich wie die Regeln einer Grammatik befolgt, ohne dass die Gründe ihrer Geltung den Sprechern oder Hörern bewusst wären. Meistens steht hinter der Wirksamkeit geltender Regeln deren allgemeine Anerkennung, eine Autorität oder eine lange praktizierte Gewohnheit. Entscheidend ist, dass diese Wirksamkeit nicht häufig oder dauernd in Frage gestellt wird und zuvor nicht begründet werden muss. Eine Entscheidung gilt, weil sie anerkannt, und eine Regel gilt, weil sie befolgt wird. Der Geltung einer Äußerung, einer Festlegung oder einer Regel muss man nicht unmittelbar ansehen, ob es sich um eine unabgeleitete oder abgeleitete Geltung handelt. Auch die Tatsache, dass es für ihre Wirksamkeit rechtfertigende Gründe gibt, entscheidet nicht über den Charakter der Geltung.5 Bei genauerer Analyse wird aber erkennbar, ob die beanspruchten Gründe plausibel erscheinende Rationalisierungen ihrer Funktion und Wirksamkeit sind oder ihrerseits unabgeleitete Geltungsgründe voraussetzen. Abgeleitete Geltungsgründe können relativ zu den Regeln, die sie begründen, als ‚gut’ und ‚vernünftig’ oder als ‚schlecht’ und ‚unvernünftig’ beurteilt werden. Diesen Bewertungen entsprechend werden die abgeleiteten Geltungsgründe und die mit ihnen verbundenen Regeln anerkannt oder verworfen. Auf unabgeleitete Geltungsgründe können jene Bewertungen nicht sinnvoll angewandt werden. Entweder gelten sie oder sie gelten nicht. Wenn sie gelten, sind sie als Begründungen – vernetzt mit anderen Geltungsgründen6 - wirksam, wie immer die Regeln, die sie im Einzelnen begründen selbst beurteilt werden. Die Wirksamkeit der Regeln selbst muss auch dann, wenn ihnen unabgeleiteten Geltungsgründen zugrunde liegen, nicht notwendig gut oder vernünftig sein. 5 Es lassen sich auch, abstrakt gesehen, für unabgeleitete Geltungen Gründe anführen, die aber keine Relevanz für deren tatsächliche Geltung haben. 6 Auf den holistischen Charakter der Begründungen gehe ich später ein. Autorität kann etwa eine unabgeleitete oder eine abgeleitete Geltung beanspruchen. In beiden Fällen kann sie, zumindest dann, wenn es sich um Autorität im institutionellen Sinn handelt, Begründungen für ihre Wirksamkeit ersetzen. Unabhängig davon können die Regeln, die sie begründet, in bestimmter Hinsicht vernünftig und gut sein, in anderer Hinsicht nicht. Wenn die Regeln schlecht sind oder ungerecht gehandhabt werden, wird die Autorität, die sie repräsentieren, auf Dauer in Frage gestellt werden. Autorität kann aber auch unabhängig von institutionellen Kontexten als unabgeleitete Geltung wirksam sein und Regeln oder Überzeugungen rechtfertigen. Die Geltung der Zehn Gebote ist z.B. durch die religiöse Autorität der Heiligen Schrift und der anerkannten Überlieferung gerechtfertigt. Deren Autorität kann als unabgeleitet im Sinne von ‚geoffenbart’ gelten. Ihre Wirksamkeit mag als gut oder schlecht beurteilt werden, auf deren Geltungsgrundlage wirkt sich diese Beurteilung nicht aus. Es gibt entsprechend auch keine Gründe, welche die Autorität dieser Offenbarung, ihre Anerkennung oder Missachtung rechtfertigen könnten oder müssten. Die von ihr abgeleiteten religiösen Satzungen können allerdings von den Gläubigen anerkannt und von den Ungläubigen missachtet werden. Autorität kann aber im Sinne einer abgeleiteten Geltung auch gerechtfertigt im Sinne von ‚gut begründet’ und dann auch vernünftig sein. Die Entscheidung eines Gerichts gilt z.B. als gerechtfertigt genau deswegen, weil das Verfahren mit einer entsprechenden rechtlichen Autorität ausgestattet ist. Allerdings ist damit noch nicht klar, auf welche Tatsachen sich die Begründung bezieht. Sie kann sich auf zweierlei beziehen, auf die Autorität des Gerichts oder auf dessen Entscheidung. Die Rechtfertigung der tatsächlichen Autorität – mit ihrer abgeleiteten Geltung - reicht nicht aus für die Rechtfertigung der tatsächlichen Entscheidung. Deren Rechtfertigung ist nur durch die relevanten Gesetze möglich, und diese müssen ihrerseits auf einer unabgeleiteten Grundlage gelten. Geltung, Anerkennung und Rechtfertigung Diese Überlegungen zum Zusammenhang zwischen unabgeleiteten und abgeleiteten Geltungen einerseits und Anerkennung und Rechtfertigungen andererseits lassen sich in einer Geltungstafel systematisieren. Sie veranschaulicht, wie Geltung mit Anerkennung und wie beides mit Rechtfertigung verbunden sein kann. Wir nehmen einen engen Zusammenhang zwischen Geltung und Anerkennung an, weil Geltungen – seien sie unabgeleitet oder abgeleitet – häufig unmittelbar daran erkennbar sind, dass sie anerkannt und damit auch wirksam werden. Geltungen können immer dann bezweifelt werden, wenn sie nicht mehr anerkannt werden und unwirksam geworden sind. Was immer gilt und wirksam ist, ist damit auch anerkannt, und was immer anerkannt ist, ist damit auch wirksam. Allerdings gibt es, wie wir später sehen, auch Geltungen, die weder wirksam noch anerkannt sind. Wenn abstrakt betrachtet jeweils zwei mögliche Werte (W/F z.B. für ‚es ist wahr, dass X gilt’ bzw. ‚es ist falsch, dass X gilt’) analog für jede der drei Propositionen (‚X gilt’; ‚X ist anerkannt’; ‚Y ist gerechtfertigt’)7 angenommen werden und wir die Propositionen bzw. die von ihnen repräsentierten Konzepte der Geltung, der Anerkennung und der Rechtfertigung miteinander kombinieren, ergeben sich folgende acht Wertverteilungen: X gilt und X ist anerkannt und Y ist gerechtfertigt (a) W W W (b) W W F (c) W F F (d) F F F (e) F F W (f) F W W (g) W F W (h) F W F Wir können davon ausgehen, dass unter diesen möglichen Beziehungen zwischen Geltung, Anerkennung und Rechtfertigung einige, aber nicht alle auf Anhieb relevant und verständlich erscheinen. Aus formalen Gründen unmittelbar zu verstehen ist z.B. die Wertverteilung (d). Wenn der Wert der Geltung nämlich F ist und für unabgeleitete Geltungen im Verhältnis zu Anerkennung und Rechtfertigung Transitivität8 herrscht, sind die übrigen Werte trivialerweise ebenfalls F. Die Wertverteilung kann auf den ersten Blick auch unsinnig erscheinen wie bei (e) oder irrtümlich wie bei (h). Einige dieser Eindrücke trügen. Deswegen empfiehlt es sich, die Geltungstafel konkreter zu machen, in Fallgruppen aufzuteilen und anhand von 7 In der Regel beziehen sich die Rechtfertigungen auf andere propositionale Gehalte als die Geltungen oder Anerkennungen, daher werden sie durch ‚Y’ repräsentiert. 8 ‚Transitivität’ bedeutet hier, dass das Begründungsverhältnis zwischen unabgeleiteter Geltung auf der einen und Anerkennung und Rechtfertigung auf der anderen Seite asymmetrisch wirksam und nicht umkehrbar ist. Beispielen zu prüfen. Dies ist auch deswegen unerlässlich, weil sich unabgeleitete Geltungen anders verhalten als abgeleitete. Das Verhältnis zwischen abgeleiteter Geltung, Anerkennung und Rechtfertigung hat, wie gleich an bestimmten Fällen 9 erkennbar ist, einen konditionalen Charakter, der Wertverteilungen wie in (e), (f) und (h) ermöglicht. Unter einer konditionalen Perspektive10 sind dann Wertverteilungen, bei denen für abgeleitete Geltung der Wert F steht, nicht mehr unsinnig oder trivial, da die Wertverteilung symmetrisch ist. Grundsätzlich beziehen sich Rechtfertigungen reflexiv immer auf abgeleitete, nicht aber auf unabgeleitete Geltungen. Rechtfertigungen, die auf unabgeleitete Geltungen zurückgreifen können, beziehen sich immer auf Ansprüche, die jenseits dieser Geltungen liegen, also auf Anerkennungen oder auf abgeleitete Geltungen. Rechtfertigungen können auch als wahr oder erfolgreich gelten und Anerkennungen können wirksam sein, obwohl es dafür keine unabgeleitete Geltungsgrundlage gibt. Einer kritischen Prüfung werden solche Rechtfertigungen und Anerkennungen aber nicht standhalten. Unabgeleitete Geltung wird durch ein hochgestelltes ‚u’, abgeleitete durch ein Tiefgestelltes ‚a’ gekennzeichnet; ungekennzeichnet bleibt das Wort ‚Geltung’, wenn es sich entweder um unabgeleitete oder abgeleitete Geltung handeln kann. Folgende Fallgruppen sind denkbar: 1. Geltungu mit Anerkennung und mit (a)11 oder ohne (b) Rechtfertigung 2. Geltungu ohne Anerkennung und ohne (c) oder mit (g) Rechtfertigung 3. Geltungu ohne Rechtfertigung und mit (b) oder ohne (c) Anerkennung 4. Geltunga nur durch Rechtfertigung (konditional) und ohne (e) oder mit (f) Anerkennung 5. Scheinbare Geltung mit Anerkennung und ohne Rechtfertigung (h) 6. Scheinbare Rechtfertigung ohne Geltung und mit Anerkennung (h) 7. Rechtfertigung ohne Geltung und ohne (e) und mit Anerkennung (f) 8. Geltunga nur durch Anerkennung (konditional) und mit (f) und ohne Rechtfertigung (h) 9 Es geht hier um die Fälle 4. und 8. Im Sinne von: ‚wenn X (nicht) gilt, dann ist X (nicht) anerkannt und (nicht) gerechtfertigt.’ 11 Die Klammern verweisen jeweils auf die oben aufgelisteten Werteverteilungen. 10 Für alle diese Fallgruppen lassen sich praktische Fälle oder Beispiele denken, für 1. mit (a) z.B. mathematische oder logische Beweise, ethische Argumente, aber auch beglaubigte Verträge. Bei Beweisverfahren werden in Gestalt von Axiomen unabgeleitete Geltungsgrundlagen angenommen, die ihrerseits nicht zu rechtfertigen sind. Ähnliches gilt für die Prinzipien und Prämissen ethischer Argumente, deren Ziel es ist, Verpflichtungen oder Regeln zu rechtfertigen. Ethische Argumente werden meist in Form von Geltungsketten präsentiert, in denen abgeleitete Geltungen auf unabgeleitete zurückgeführt werden. Wenn dieser Begründungzusammenhang tatsächlich gegeben ist und die Argumente kohärent und richtig sind, sind deren Resultate insgesamt gerechtfertigt. Auch bei Verträgen werden ähnliche, unabgeleitete Voraussetzungen ihrer Geltung, Anerkennung und Rechtmäßigkeit angenommen. Aus den unabgeleiteten Voraussetzungen und den allgemein akzeptierten Begründungsverfahren entsteht dann die den Beweisen, Argumentationen oder Verträgen eigene Verbindlichkeit. Als Beispiele für die Fallgruppe 1. mit (b) dienen Versprechen und andere öffentlich geäußerte und rechtfertigbare Verpflichtungen, aber auch Regeln wie das Rechts- oder Linksfahren im Straßenverkehr. Solche Verpflichtungen oder Regeln gelten und werden auch ohne Rechtfertigung anerkannt. Wenn deren Geltungsgrundlagen anerkannt sind, lassen sich daraus weitere Verpflichtungen oder Vorschriften ableiten, wie z.B. Verkehrsordnungen. Für das Rechts- oder Linksfahren selbst gibt es aber keine Rechtfertigung, die jeweils zwingend für das eine oder andere wäre. So verhält es sich mit vielen anderen sozialen Konventionen und Praktiken, aber auch mit so grundlegenden Ansprüchen wie dem Lebensschutz. Dass das menschliche Leben uneingeschränkten Schutz genießt, ist nicht eigens zu begründen, aber anders als das Rechts- oder Linksfahren auch keine bloße Konvention. Vielmehr muss die Geltung dieses Anspruchs so anerkannt werden, als wäre sie begründet. Wenn ein so grundlegender Anspruch wie der Lebensschutz dann und nur dann gelten und anerkannt würde, wenn es für den Schutzanspruch eine Rechtfertigung gäbe (Fall 4. mit (f)), wäre der Anspruch selbst nicht unabgeleitet gültig; er hätte dann nur eine abgeleitete Geltung. Dies ist aber nicht denkbar, weil die Frage, wovon sich die Geltung des Lebensschutzes dann ableiten ließe, nicht beantwortet werden könnte. Abgeleitete Ansprüche lassen sich je nach Interessenlage in Frage stellen; ihre Geltung mag theoretisch gesichert erscheinen, ist aber praktisch ungesichert. Dies ist die praktische Konsequenz, wenn die Kriterien der Transitivität und Unabgeleitetheit für primäre Geltungsansprüche nicht angewandt werden können. Wenn für bestimmte Forderungen allein mit theoretischen, praktischen oder juristischen Rechtfertigungen Geltung beansprucht wird, ohne dass es eine unabgeleitete Geltungsgrundlage gibt, die Anerkennung einschließt, kann nicht sinnvoll von einer Geltung dieser Forderungen gesprochen werden. Lediglich stipulierte Geltungen sind genau genommen nur scheinbare Geltungen und können nicht als Grundlage von Rechtfertigungen dienen. Ähnliches würde z.B. schon im Rahmen einer an Kant orientierten ethischen Theorie auf Kategorische Imperative zutreffen, wenn die Geltung der Selbstzwecklichkeit des Menschen und das Gesetz (der Vermeidung) des Widerspruchs beim allgemein gültigen Wollen einer Maxime nicht vorausgesetzt werden könnten. Ähnlich wäre es unsinnig von der Geltung z.B. des Rauchverbots zu sprechen, wenn es nicht anerkannt würde und es für das Verbot lediglich eine von niemandem ernst genommene, wissenschaftliche Rechtfertigung gäbe (4. mit (e)). Für die 2. und 4. Fallgruppen können wir an die Steuergesetzgebung denken. Die Pflicht, Steuern zu bezahlen, ist unpopulär, gilt aber, auch wenn sie nicht von allen anerkannt wird, in einer rechtlich verbindlichen und parlamentarisch festgelegten und gerechtfertigten Höhe (2. mit (g)). Die genaue Höhe der Steuern hat keine unabgeleitete Geltungsgrundlage; sie kann unterschiedlich begründet und gerechtfertigt werden. Für die Steuergesetzgebung und deren Verbindlichkeit, gibt es dagegen in Gestalt des Parlaments und seiner Entscheidungen eine unabhängige Geltungsgrundlage. Kaum jemand würde die normative Tatsache der Verbindlichkeit des Steuerzahlens anerkennen, wenn kein legitim erlassenes Gesetz dazu nötigen würde. Die Verbindlichkeit des Steuerzahlens hat in der Gesetzgebung eine unabgeleitete Geltungsgrundlage. Bei der Höhe der Steuern handelt sich also um eine konditionale Geltung im Sinn der Fallgruppe 4. mit (f), bei der Steuergesetzgebung selbst um Geltung im Sinn der Fallgruppen 1. mit (a) oder 2. mit (g). Das Verhältnis der Menschen zum Steuernzahlen zeigt, dass Anerkennung zwar freiwillig, aber nicht notwendig ohne Zwang sein muss. Steuerhinterziehung ist in diesem Sinn nicht ausgeschlossen, wird aber bestraft. Viele Fälle lassen sich auch mehreren Gruppen zuordnen. Das Rauchverbot kann neben 4. mit (e) oder 4. mit (f) auch unter 8. mit (h) fallen. Es kommt darauf an, ob und unter welchen Bedingungen Anerkennung vorausgesetzt werden kann. Für die 3. und 8. Fallgruppen gibt es verwandte Beispiele. Es sind jeweils Regeln, Normen, Konventionen oder Praktiken, die nur deswegen gelten, weil sie auch tatsächlich anerkannt werden (3. mit (b)). Ein Beispiel dafür ist die Goldene Regel12, die jedermann einleuchtet, ein anderes die religiös oder areligiös geübte Praxis, Tote zu bestatten. Natürlich können beide Regeln auch missachtet und nicht anerkannt oder unterschiedlich befolgt werden. Dann gibt es, den Fallgruppen 6. und 7. entsprechend, auch die Möglichkeit, dass etwas nur scheinbar gilt, aber anerkannt und nicht gerechtfertigt ist, z.B. gefälschte Dokumente oder Banknoten oder der Erbanspruch einer Person, der scheinbar gerechtfertigt und faktisch anerkannt ist, obwohl er nicht wirklich gilt, weil er erschlichen ist. Für die Fallgruppe 7. mit (e), also Rechtfertigung ohne unabgeleitete Geltung und ohne Anerkennung kommen Argumentationen in Frage, die logisch und begrifflich kohärent, aber irrelevant sind. Sie können sich lediglich auf abgeleitete Geltungen berufen, die ihrerseits einer genaueren Prüfung nicht standhalten. Als Beispiele für solche Zusammenhänge können Argumentationen dienen, die davon ausgehen, dass der ethische Status von Personen nur Lebewesen zugesprochen wird, die zu rationalen geistigen Leistungen fähig sind. Geistig Behinderte, für die der Würdeschutz ohne Zweifel in einem unabgeleiteten Sinn gilt, würden nach solchen Argumentationen diesen Schutz nicht genießen. Da es keine unabgeleitete Geltungsgrundlage für Argumente jener Art gibt, sind die auch nicht einschlägig und können nicht anerkannt werden, selbst wenn sie in einem formalen argumentativen Sinn richtig sind. Offen ist bisher, welche Beispiele wir für die Fallgruppe 2. mit (c), unabgeleitete Geltung ohne Anerkennung und ohne Rechtfertigung nennen können. Dieser Fallgruppe sind beispielsweise alle die Kräfte zuzurechnen, die den Gesetzen der Natur zugrunde liegen, unabhängig davon, ob die Gesetze entdeckt sind oder nicht. Die Kräfte sind auf verstandene oder unverstandene Weise wirksam, aber als solche in ihrer Geltung unabgeleitet. Fallgruppe 2. mit (c) bezieht sich vor allem auf noch unentdeckte Gesetze, auch noch nicht Teil von wissenschaftlichen Rechtfertigungen sein können. Wir können uns auch Beispiele für abgeleitete Geltung ohne Anerkennung und Rechtfertigung vorstellen. Die Zerstörung des Ozongürtels der Erde durch FCKWs ist dafür zumindest bis vor einiger Zeit ein Beispiel gewesen. Die Tatsache, dass diese Gase den Ozongürtel zerstören können, lässt sich chemisch analysieren. Die Geltung dieser Analysen ist abgeleitet, deren naturwissenschaftliche Grundlagen allerdings nicht. In einer Version, die bereits Schulkinder lernen, lautet die Goldene Regel: ‚was du nicht willst, das man dir tu, das füg auch keinem anderen zu’. 12 Die eben erwähnten Beispiele können nicht den Anspruch erheben, für alle denkbaren Fälle zu stehen bzw. alle Fallgruppen erschöpfend zu repräsentieren. Sie sind aber doch hinreichend für ein Bild der komplexen Struktur von Geltungszusammenhängen. Selbst für eine trivial erscheinende Wertverteilung wie (d) gibt es Beispiele wie Doping oder jede andere verwerfliche Handlungsweise, deren Wirkung generell widerrechtlich und illegitim ist. Erhellend ist, dass der Wert F der Geltung in (e), (f) und (h) sinnvoll nur konditional angenommen werden kann. Die abgeleitete Geltung wird dabei nur in Abhängigkeit von Anerkennung oder Rechtfertigung angenommen und bleibt hypothetisch. Die Beispiele zeigen, dass die Substitution der Geltung durch Anerkennung oder Rechtfertigung nicht tragfähig ist und lediglich von einer abgeleiteten Geltung ohne wirkliche Geltungsgrundlage gesprochen werden kann. Einige Beispiele zeigen, dass es soziale Normen oder Praktiken gibt, die gelten, ohne dass sie von allen anerkannt oder durch irgendeine Institution begründet wären. Es ist wichtig, dies zu erkennen, weil damit klar wird, dass unabgeleitete Geltung weder notwendig breite oder allgemeine Anerkennung noch explizite Rechtfertigung einschließt. Die Transitivität und Asymmetrie der Beziehung zwischen unabgeleiteter Geltung auf der einen und Anerkennung und Rechtfertigung auf der anderen Seite ist nicht kausal zu verstehen. Die unabgeleitete Geltung von Kräften der Natur und der mit ihnen verbundenen Gesetzmäßigkeiten kann – wie eben schon als Beispiel für die Fallgruppe 2. mit (c) erwähnt - verborgen sein. Es wäre nicht plausibel davon zu sprechen, dass sie erst seit ihrer Entdeckung gelten, da sie schon davor wirksam waren, ohne dass dies bekannt oder anerkannt gewesen wäre. Der Geltung von Axiomen, Prinzipien, grundlegenden Regeln und Normen, aus denen sich abhängige oder abgeleitete Geltungen und Ansprüche ableiten lassen, liegen keine rationalen Begründungs- und Rechtfertigungsprozesse zugrunde. In ihrer einfachsten Form beruht die Geltung wie bei Axiomen oder Prinzipien auf vernünftiger Einsicht oder wie bei Versprechen auf bloßen Äußerungen oder wie bei Absprachen oder rein verbalen Verträgen auf Handlungen wie einem Handschlag. Implizite Verträge, wie sie von Kontraktualisten zwischen den Bürgern eines Staates und seinen Institutionen angenommen werden oder die Verpflichtung von Ärzten, ihren Patienten nicht zu schaden, gelten auch ohne ausdrückliche Absprachen. Schriftlichkeit ist für viele Geltungen keine Voraussetzung wie das englische Common Law zeigt. Beispiele für unausdrückliche Geltungen sind Konventionen13 wie das Rechts- oder Linksfahren, an die sich Menschen aus Gewohnheit und zum wechselseitigen Vorteil halten. Netze von Gründen Diese Überlegungen zeigen, wie verschränkt die Beziehungen zwischen Geltung, Anerkennung und Rechtfertigung sind. Sie bestätigen die anfangs gemachten Annahmen, dass das Verhältnis zwischen unabgeleiteter Geltung und Rechtfertigung asymmetrisch und transitiv ist. Rechtfertigungen sind von unabgeleiteten Geltungen abhängig, aber nicht umgekehrt. Unabgeleitete Geltungen setzen nichts anderes voraus und sind in diesem Sinn einfach und nicht reflexiv. Rechtfertigungen sind in dem Sinn reflexiv, dass sie immer etwas voraussetzen, was gilt und seinerseits implizit grundlegend (unabgeleitete Geltungen) oder explizit begründet (abgeleitete Geltungen) ist. Insofern ruht jede Rechtfertigung auf der Geltung der Gründe, die sie in Anspruch nimmt. Es ist wichtig in diesem Zusammenhang den Plural ‚Gründe’ zu beachten. Selbst in Fällen, in denen ein einziger Grund eine Anerkennung und Rechtfertigung trägt, darf dieser Grund nicht atomistisch verstanden werden. Jeder Geltungsgrund, unabhängig davon, ob er auf einer unabgeleiteten oder abgeleiten Geltung beruht, ist mit anderen verbunden, und nur im Rahmen des Verbundes von Gründen kann von der Geltung dieser Gründe gesprochen werden. Wenn etwas gilt, dann immer auch etwas anderes. Dieser holistische Charakter der Gründe setzt unabgeleitete Geltungen voraus; jedes Netz von Gründen wäre sonst zirkulär, irrelevant und tautologisch. Die argumentative Belastbarkeit eines Netzes von Gründen hängt von der Kraft unabgeleiteter Geltungen ab. Auf deren Anzahl kommt es dabei nicht an. In einem System logischer Gründe kann die unabgeleitete Geltung des Prinzips des Widerspruchs für die Rechtfertigung des ganzen Systems genügen. In einem Netzwerk ethischer Gründe, die zu gegensätzlichen Zwecken wie der Erhaltung oder der Nichterhaltung menschlichen Lebens etwa im Rahmen der Sterbehilfe herangezogen werden können, wird die unabgeleitete Geltung der Menschenwürde als alleiniges Prinzip nicht genügen. Die Gründe, die z.B. für die Sterbehilfe sprechen, werden den 13 Was Konventionen sind, beschrieb David Lewis (Konventionen. Eine sprachphilosophische Abhandlung, Berlin/New York: de Gruyter 1975). autonomen Willen des Patienten in Anspruch nehmen und ihn argumentativ mit den Ansprüchen der Menschenwürde verbinden.14 Die Vernetzung der Gründe und die Kette von unabgeleiteten und abgeleiteten Geltungen entstehen außer in logischen Kontexten nicht durch strikte Folgerungsbeziehungen. Die unabgeleiteten Geltungen sind in allen Kontexten, auch in der Logik, logisch unabhängig von einander. Dies trifft auch auf die von ihnen generierten Gründe zu. Ein anschauliches Beispiel für diese logisch unabhängige, aber dennoch verbundene Menge von unabgeleiteten Geltungen sind einige Ansprüche im Katalog der Menschenrechte. Der Anspruch auf Freiheit und der auf Gleichheit sind z.B. logisch unabhängig voneinander. Sie bilden aber nur in ihrer Verbindung die Grundlage aller wesentlichen Ansprüche der Menschenrechte insgesamt. Auch logisch voneinander unabhängige Geltungsgründe bilden nur im Verbund ein festes Netz von Geltungen, die sich auf holistische Weise wechselseitig stützen. Manches, aber nicht jedes Netz von Gründen ist seinerseits zu rechtfertigen. Die Verbindung zwischen Freiheits- und Gleichheitsansprüchen kann, um im Beispiel zu bleiben, aus der Perspektive des Würdeanspruchs gerechtfertigt werden. Dessen Geltung und die von ihm getragene Verbindung von Geltungsansprüchen sind ihrerseits aber nicht begründbar. Dies ist einer der inzwischen hinreichend bekannten Grundgedanken dieses Beitrags, dass jede Rechtfertigung Geltungen oder Geltungsgründe voraussetzt, die nicht zu rechtfertigen sind.15 Sie gelten ähnlich unbegründet wie das Widerspruchsprinzip. Die asymmetrische Verbindung von unabgeleiteter Geltung mit Rechtfertigungen und die Abhängigkeit aller Rechtfertigungen von Geltungen und Geltungsgründen erlauben es nur, dass abgeleitete Geltungen durch Rechtfertigungen kontrollierbar sind. Die Wirksamkeit dessen, was unabgeleitet gilt, ist am Ende nicht zu rechtfertigen. Dies bedeutet aber nicht, dass am Ende aller Rechtfertigungen die kritiklos zu akzeptierende, grundlose Autorität erster Gründe oder Prinzipien steht. Es können Praktiken wie die Frauenbeschneidung (Fallgruppe 8. mit (h)) gelten, die in Ethnien gelten und anerkannt sind, deren Geltung aber im Widerspruch zu den Menschenrechten steht und durch kein Netz von Geltungsgründen gestützt wird. Die Siehe dazu im Einzelnen meinen Beitrag „Ethische Grundlagen ärztlichen Handelns“ in: Roxin/Schroth (Hrsg.), Medizinstrafrecht, 3. Aufl., Stuttgart u.a. 2007. 15 Ludwig Wittgenstein hat in Über Gewißheit (in: Werkausgabe, Bd. 8, Frankfurt: Suhrkamp 1989, 113-257) diesen Gedanken vielfach variiert: „166. Die Schwierigkeit ist, die Grundlosigkeit unseres Glaubens einzusehen.“ „192. Es gibt freilich Rechtfertigung; aber die Rechtfertigung hat ein Ende.“ „253. Am Grunde des begründeten Glaubens liegt der unbegründete Glaube“. 14 Verstümmelung der Genitalien von Frauen, die im Kindesalter und daher auch nicht einwilligungsfähig sind, verletzt Menschenrechte wie den Anspruch auf körperliche Unversehrtheit und den Anspruch auf Lebensschutz. Praktiken dieser Art gelten häufig in Ethnien, wenn ihre Geltungsbedingungen so wie korrekt entstandene Satzungen anerkannt sind, letztlich aber keine unabgeleitete Geltung zur Grundlage haben.16 Geltungsgründe, d.h. Gründe dafür, dass etwas gilt, also abgeleitete Geltungen, stehen immer – zumindest potentiell - unter Rechtfertigungsdruck. Wo es aber keine Rechtfertigungen mehr geben kann, herrscht nicht etwa die Macht einer unbegründbaren Autorität. Erste Prinzipien wirken wie Autoritäten, werden gewöhnlich anerkannt und sollten auch im holistischen Netz von Geltungsgründen anerkennbar sein. Wenn sie in keinem Netz von Geltungsgründen wie etwa den Menschenrechten oder einer Menge logischer Axiome oder wissenschaftlicher Gesetzmäßigkeiten anerkennbar sind, haben sie entweder keine Geltung oder sie sind wie die Gesetzmäßigkeiten der Relativitätstheorie unmittelbar nach ihrer Entdeckung durch Einstein noch nicht in einen Kontext von Geltungsgründen eingebettet. Geltungsgründe fordern Anerkennung, aber Anerkennung ist, wie die Beispiele der Frauenbeschneidung oder der Relativitätstheorie zeigen, weder ein notwendiges noch ein hinreichendes Kriterium für Geltung. Anerkennung mag sich in schweigender oder lautstarker Zustimmung ausdrücken, ist aber deswegen nicht schon zuverlässig. Als Stufe der Rechtfertigung erscheint sie dann zuverlässig zu sein, wenn sie sich im Handeln zeigt.17 Da Anerkennung aber nicht gegen Irrtum gefeit ist, lässt sich aus ihr auch keine Geltung ableiten. Tatsächlich fanden zu viele Autoritäten Anerkennung, die sie bei kritischer Betrachtung ihrer Wirkungsweisen nicht verdient hätten. Das Verhältnis zwischen Geltung und Rechtfertigung ist aus diesem Grund nicht frei von möglichen Gegensätzen, Spannungen und Widersprüchen. Auch zwischen unabgeleiteten Geltungen sind, wie das Beispiel der Frauenbeschneidung zeigt, Konflikte möglich. Unabgeleitete Geltungen sind untereinander nicht notwendig kohärent. Es wäre übrigens zu einfach, Konflikte zwischen unabgeleiteten Geltungen auf Verhältnisse zwischen der unabgeleiteten Geltung ethnischer Sitten wie der Frauenbeschneidung auf der einen und Max Weber benutzte für Geltungen dieser Art den Ausdruck „Legalitätsglaube“ (a.a.O., 19). Das Beispiel der Frauenbeschneidung diskutiere ich in Die Möglichkeit des Guten (München 2006, 90-94). 17 Wittgenstein drückte diesen Gedanken so aus: „204. Die Begründung aber, die Rechtfertigung der Evidenz kommt zu einem Ende; - das Ende aber ist nicht, daß uns gewisse Sätze unmittelbar als wahr einleuchten, also eine Art Sehen unsererseits, sondern unser Handeln, welches am Grunde des Sprachspiels liegt.“ Über Gewissheit, a.a.O.) 16 Geltungsgrundlagen des Rechts wie den Menschenrechten zu beschränken. Solche Konflikte sind offensichtlich, aber in der Regel auch über die Delegitimierung einer unabgeleiteten Geltung zu lösen. Weniger offensichtlich sind Konflikte zwischen der unabgeleiteten Geltung ethischer Prinzipien innerhalb eines Netzwerks von Gründen. Zwischen allgemein anerkannten und unabgeleitet geltenden Prinzipien wie dem Schadensverbot und der Patientenautonomie können innerhalb des Netzwerks ethischen Begründungen unter bestimmten Bedingungen Konflikte entstehen.18 Aber auch zwischen Netzwerken von Geltungen und den Gründen, die sich aus ihnen ableiten lassen, können Konflikte auftreten.19 Diese Konflikte können im Rahmen eines bestimmten Netzwerks von Gründen unlösbar sein.20 Sittliche und ethische Geltung Netzwerke von Geltungen, aus denen immer wieder Konflikte entstehen, sind kultureller, ethischer, religiöser und rechtlicher Natur. Spannungen zeigen sich etwa im Verhältnis zwischen kulturell oder religiös bedingten Sitten auf der einen und ethisch oder rechtlich begründeten Forderungen auf der anderen Seite. Die oben geforderte Transitivität im Verhältnis zwischen Geltung und Rechtfertigung kann nicht ohne weiteres auf das Verhältnis zwischen Sitte, Ethik und Recht übertragen werden. Dennoch gibt es, was die Geltung ethischer und rechtlicher Forderungen angeht, deutliche Abhängigkeiten von sittlicher Geltung. Was ‚sittliche Geltung’ bzw. Geltung in der Sitte21 bedeutet, zeigen etwa die Zehn Gebote. Sie gelten in der jüdischen und christlichen Tradition, ohne gerechtfertigt oder rechtfertigbar zu sein. Ihre Forderungen bilden zusammen mit vielen anderen ein Netz von Geltungsgründen. Diese lassen sich aber nicht einfach in ethische oder rechtliche Geltungen übertragen. Die sittliche Geltung unterscheidet sich in einigen Aspekten von ethischer oder rechtlicher Geltung. Für letztere muss nicht notwendig das Kriterium der Anerkennung erfüllt sein. Anerkennung ist aber ein wesentlicher und unverzichtbarer Bestandteil sittlicher Geltung. Dass etwas sittlich gilt, zeigt sich im Verhalten der Menschen. Was im menschlichen Verhalten an normativen Ansprüchen nicht wirksam 18 Die Möglichkeit dieses Konflikts untersuche ich in dem in Anmerkung 14 erwähnten Aufsatz. Robert Alexy geht auf Konflikte zwischen Geltungen ein (Begriff und Geltung des Rechts, Freiburg/München 4 2005, 144-153. 20 Unlösbare Konflikte im Rahmen ethischer Argumentationen behandle ich im zweiten Kapitel meines Buches Die Möglichkeit des Guten. 21 „Sitte“ bedeutet, wie Max Weber sie erklärte, ein „eingelebte Gewöhnung“ (a.a.O., 16) an Ordnungen, die „kraft Heilighaltung der Tradition“ gelten (a.a.O., 19). Das Wort kann stellvertretend für alle Verhaltens- und Umgangsformen, aber auch für Bewertungsweisen, die in einer Gesellschaft gelten, gebraucht werden. 19 wird und sich nicht von allein durchsetzt, gehört nicht zur Sitte. In den durch kulturelle Vielfalt geprägten Netzwerken von Sitten, lassen sich normative Ansprüche der Lebensführung und des Verhaltens finden, die weder eine ethische noch eine rechtliche Geltung beanspruchen können. Außerdem sind die Netzwerke von Sitten, häufig aufgrund ihrer religiösen Prägung, weder wechselseitig kompatibel noch gar kohärent. Andererseits können bestimmte Forderungen ethisch oder rechtlich gelten, ohne dass sie allgemein anerkannt sind und zu einem Netzwerk von Sitten gehören. Die Menschenrechte gelten z.B. auch dann, wenn sie in einer Ethnie nicht durchsetzbar oder allgemein anerkannt sind.22 Was jenseits der Sitte gültig ist und in einem eigenen Netz von Gründen auch als gerechtfertigt erscheint, kann im sittlichen Sinn nicht ohne den Nachdruck einer Autorität gelten. Sittliche Geltung wirkt wie eine natürliche Autorität, ist aber nicht über alle Zweifel erhaben, weil sie auf fragwürdigen Anerkennungsverhältnissen beruhen kann. Ethik und Recht haben im Unterschied zur Sitte keine natürliche, aber eine wissenschaftliche und begriffliche und – was die Forderungen des Rechts angeht – auch eine staatliche und politische Autorität.23 Ethische und rechtliche Ansprüche können ihre Autorität nur über die Kriterien der Objektivität von Regelungen, Argumenten und Verfahren behaupten. Es ist eine der Aufgaben der Ethik, Verfahren, Urteile und Handlungen mit Gründen zu rechtfertigen. Sie fördert die Einsicht in diese Gründe, stellt sie aber nicht bereit und kann auch – ähnlich wie das Recht – keine sittlichen, sozialen, oder politischen Bedingungen ihrer Geltung schaffen. Aus eigener Kraft leistet die Ethik nur Rechtfertigungen, aber keine Geltungen. Wenn diese Rechtfertigungen in geltendes Recht integriert werden, kann die Ethik indirekt Geltungsgründen Gehör verschaffen. Im Übrigen sind die Geltungsgründe, welche die Ethik argumentativ gebrauchen, dabei stützen und bewusst machen kann, was ihre praktische Geltung angeht, von der Einsichtsfähigkeit der Menschen und ihrer Bereitschaft, sie anzuerkennen, abhängig. Die wissenschaftliche Autorität der Ethik muss sich immer wieder aufs Neue bewähren, wenn Geltungsgründe verändert, entkräftet oder durch andere ersetzt werden. Normative Veränderungen sind Ausdruck sittlichen Wandels. Ein Beispiel ist 22 Noch weitreichender ist die Unabhängigkeit von kulturellen Geltungen in den Bereichen von Logik und Mathematik. 23 Joseph Raz hat eine Theorie der Autorität entwickelt, die zeigt, dass Autorität per se Geltungsgründe repräsentieren und Geltungen ersetzen kann (Pratical Reasons and Norms, Oxford 1975, Kap.2; The Authority of Law, Oxford 1979; „Authority, Law, and Morality“, in: Ethics in the Public Domain, Oxford 1994). die Veränderung der grundlegenden Ansprüche des Lebensschutzes, die in jüngerer Zeit in einigen Staaten zur rechtlichen Verankerung der passiven, der indirekten und – etwa in Holland und Belgien - sogar der aktiven Sterbehilfe geführt haben. Ethische Überlegungen können Veränderungen dieser Art durchaus nahe legen oder gar fordern. Tatsächlich zu erreichen sind sie aber nur, wenn sich die sittlichen Geltungsgrundlagen verändert haben und der soziale und politische Willensbildungsprozess dazu geführt hat, dass zumindest der Gesetzgeber Ansprüche der Sterbehilfe in einem bestimmten Rahmen für vereinbar mit denen des Lebensschutzes hält. Diese Veränderungen der Geltungsgrundlagen des Lebensschutzes waren immer wieder in ethischen Debatten gefordert worden. Ebenso hörbar waren aber auch die ethischen Einwände gegen diese Veränderung. Der Ethik fällt es aufgrund ihrer natürlichen, sittlich begründeten Vielstimmigkeit nicht leicht, ihre wissenschaftliche Autorität zu behaupten. Das Vertrauen in ihre Fähigkeit, objektiv für das, was gut und gegen das, was schlecht ist, zu argumentieren, wird von ihr selbst immer wieder in Frage gestellt. Dieses Erscheinungsbild zeigt aber nur, dass die Ethik selbst nicht jenseits der Sitte steht und immer eingebettet in einen kulturellen Rahmen argumentiert. Nur innerhalb dieses Rahmens kann sie ihren Anspruch, objektiv zu argumentieren, vertreten. Ihre argumentativen Leistungen werden deshalb nie frei von weltanschaulichen und sittlichen Prägungen sein, die in die wissenschaftliche Urteilsbildung einfließen. Die sittlichen Einstellungen dürfen nur nicht die Stelle von ethischen Argumenten einnehmen. Wenn sich ein ethisches Argument direkt oder indirekt auf sittliche Geltungsgründe wie z.B. das Tötungsverbot beruft, wird offensichtlich, dass auch ethische Geltungsgründe in sittlichen verankert sind. Das Verhältnis zwischen sittlicher und ethischer Geltung ist keineswegs konfliktfrei. Einerseits kann die Ethik nur wissenschaftliche Autorität haben, wenn ihre Begründungsverfahren und deren unterschiedliche Typen unabhängig von der Sitte sind. Andererseits hätte die wissenschaftliche Autorität der Ethik keine Basis und ginge ins Leere, wenn sich ihre Begründungsverfahren nicht auf unabgeleitete Geltungsgründe wie das Tötungsverbot, den Lebensschutz oder die Menschenwürde berufen könnte, die in der Sitte verwurzelt sind. Diese sittlichen Wurzeln der ethischen Geltungsgründe wirft die Frage auf, ob der Anspruch auf objektive und wissenschaftliche Begründungen in der Ethik überhaupt, angesichts der Bindung an das Netz sittlicher Geltungsgründe, sinnvoll vertreten werden kann. Dementsprechend gibt es Befürworter und Gegner des wissenschaftlichen Anspruchs der Ethik, objektiv argumentieren zu können.24 Ethik ließe sich nicht wirklich von der Sitte und von kulturellen oder religiösen Einstellungen oder von bloßem Geschmack und ästhetischen Haltungen unterscheiden, wenn ihre Begründungen nicht den Kriterien der Objektivität genügen würden. Objektive Geltung Nicht nur im Zusammenhang mit dem ethischen Anspruch auf objektive Begründungen, stellt sich die Frage, was ‚objektive Geltung’ bedeutet. Im Anschluss an die Geltungstafel repräsentiert die Fallgruppe 1. (a) bereits, was damit in unterschiedlichen theoretischen und praktischen Kontexten gemeint ist. Der Anspruch auf Objektivität wird gewöhnlich mit dem Ergebnis und nicht mit den Voraussetzungen eines Rechtfertigungsprozesses in Verbindung gebracht. Dies ist eine ungerechtfertigte Verkürzung. Schon die Geltung eines Beweisergebnisses verdankt seine Objektivität nicht allein dem Beweisverfahren, sondern auch dessen axiomatischen Grundlagen, die nicht nur am Anfang stehen, sondern im gesamten Verfahren beachtet werden müssen. Die logische Einfachheit und Unabgeleitetheit, die Transitivität, Nichtreflexivität und Vernetztheit von Geltungsgrundlagen qualifizieren nicht nur den Ausgangspunkt von Geltungsansprüchen, sondern auch deren Verwendung und Einlösung in argumentativen Prozessen. Neben den eben wiederholten Kriterien, denen Geltungsgründe genügen sollten, stehen auch die Kriterien, welche ihre Objektivität ausmachen. Es sind im Einzelnen die Kriterien der Wahrheit, der Verständlichkeit, der Nachprüfbarkeit, der Einschlägigkeit und der potentiellen Revidierbarkeit. Diese Kriterien beziehen sich sowohl auf die Geltungsgründe als auch auf die Argumente oder Verfahren, in denen sie gebraucht werden. Es mag künstlich erscheinen, Axiome oder sittliche Geltungsgründe im Unterschied zu Beweisverfahren oder Argumentationsprozessen mit jedem dieser fünf Kriterien in Verbindung. Wenn man die Geltungsgründe oder Axiome aber als Tatsachen ansieht, fällt es nicht weiter schwer, sie als wahr anzusehen und von ihnen zu erwarten, dass sie verständlich und einschlägig sind. Selbst nachprüfbar und revidierbar sollten die Geltungsgründe sein, schließlich sollten wir uns versichern 24 Argumente für den ethischen Objektivismus bzw. Realismus aus einer humeanischen Perspektive entwickelte u.a. Michael Smith (The Moral Problem, Oxford 1994), nachdem aus einer verwandten Perspektive J.L. Mackie fast zwei Jahrzehnte früher den Objektivitätsanspruch der Ethik verworfen hatte (Ethics. Inventing Richt and Wrong, Harmondsworth 1977). Kritik an Mackies Argumenten übt sehr überzeugend David Wiggins (Ethics. Twelve Lectures on the Philosophy of Morality, Cambridge (Mass.) 2006, Kap.III. können, dass wir es nicht nur mit scheinbaren Gründen zu tun haben, außerdem sollte es möglich sein, selbst in formalen Argumentationsprozessen bestimmte axiomatische Voraussetzungen im Lichte veränderter Überlegungen zu revidieren. Im Rahmen ethischer Argumentationen fällt es leichter, eine analoge Revision im Blick auf veränderte sittliche Geltungsgründe zu akzeptieren. Im Rahmen des Sprachgebrauchs deutlich natürlicher erscheint die Anwendung der fünf Kriterien der Objektivität auf argumentative Verfahren und deren Ergebnisse. Kehren wir noch einmal zur Frage der Objektivität in der Ethik zurück. Die fünf Kriterien sind offensichtlich nicht gegen sittliche Geltungsgrundlagen als solche gerichtet. Denn sofern sie gelten, handelt es sich um Tatsachen, für die nichts anderes zutrifft als für Axiome oder andere Geltungsgründe. Außerdem lassen sie sich ohne weiteres auf ethische Begründungen beziehen, unabhängig davon, ob sie direkt auf sittliche Geltungen Bezug nehmen oder nicht. Die Abhängigkeit der Ethik von sittlichen Geltungsgründen hat zwar einen inhaltlichen Einfluss auf die Resultate, aber keinen direkten Einfluss auf die Regeln, nach denen argumentiert wird. Ähnlich unabhängig von den Axiomen sind auch die Regeln eines Beweisverfahrens, letztere können variieren, erstere nicht. Ohne die praktische Anerkennung des sittlichen Netzwerks an Geltungsgründen durch die Sprecher und Adressaten ethischer Argumentations- und Begründungsverfahren steht deren Anspruch auf Objektivität auf tönernen Füßen. Wollte die Ethik auf die sittlichen Geltungsgründe ihrer Argumente direkt Einfluss nehmen, würde sie ihre eigenen Voraussetzungen in Frage stellen. Die Kriterien der Objektivität sind in vielen Kontexten anwendbar, aber nirgends unabhängig von bestimmten Geltungsgründen oder axiomatischen Annahmen. Augenfällig ist dies z.B. in Kants Urteilslehre in der Kritik der reinen Vernunft, einem der Lehrstücke objektiver Geltung. Kant behauptet etwa, dass die logische Form aller Urteile „in der objektiven Einheit der Apperzeption“ (B140), im „Ich denke“ gegeben sei. Die allgemeine, logische Form des „Ich denke“ hat eine Reihe von Eigenschaften. Entscheidend ist aber ihr axiomatischer, unabgeleiteter Charakter als Einheit, die – für Kant - nicht nur die grundlegende Einheit des Bewusstseins ist, sondern gleichzeitig allen Bewusstseinsgehalten ihre Form gibt. Typisch für Kants transzendentale Auffassung von Objektivität ist allerdings, dass diese Grundlage der Bildung von Urteilen nicht revidierbar ist. Alle übrigen Kriterien der Objektivität sind auf seine Überlegungen aber anwendbar. Typisch für das „Ich denke“ als axiomatische Voraussetzung ist, dass Kant für sie nicht eigens argumentiert, sondern sie wie eine Selbstverständlichkeit, die jeder Vernünftige anerkennen und verstehen muss, annimmt. Dass das „Ich denke“ als logische Grundform in ihrer Funktionsweise nachprüfbar und einschlägig ist, bezweifelt der Theoretiker der Subjektivität nicht. Die transzendentale Deduktion der Kategorien ist im Anschluss an die Erläuterung der logischen Grundform aller Urteile wie eine transitive Übertragung des Geltungsanspruchs dieser Form auf die Form der Kategorien und die Objektivität der Urteile, die sich dieser Grundbegriffe der Erkenntnis bedienen. Fraglich ist, ob Kant das in seinen Augen wohl primär ontologische und nicht transzendentale Kriterium der Wahrheit auf das „Ich denke“ angewandt hätte. In seiner Nachfolge haben Neukantianer wie Windelband, Rickert, Lask und Bauch an der Differenz zwischen Ontologie und Transzendentalphilosophie festgehalten und aus ihr methodisch dualistische Gegensätze wie die zwischen ‚Wert’ und ‚Sein’, ‚Werten’ und ‚Tatsachen’ und schließlich ‚Kultur’ und ‚Natur’ abgeleitet.25 Der Begriff ‚Geltung’ wurde dem Wertbereich in Stellvertreterfunktion zur Wahrheit zugeordnet. Der Anspruch auf objektive Geltung wurde für den Bereich der Werttheorie auf nicht näher ausgewiesene Weise aus einer „objektiven Logik“ abgeleitet. Genau genommen zerfällt dieser Anspruch in zwei miteinander unverbundene Ansprüche, einen empirischen und einen nicht-empirischen, von denen der eine als Sache der Natur-, der andere als Sache der Kulturwissenschaften erklärt wird. Der neukantianische Dualismus ist noch im Titel Faktizität und Geltung von Jürgen Habermas erkennbar.26 Tatsächlich folgt Habermas dem neukantianischen Dualismus nicht wirklich, sondern sieht lediglich eine „Spannung zwischen Faktizität und Geltung“ (a.a.O., 22, 35, 39), die er in seine Diskurstheorie integrieren und dort auflösen will. Mit seinem Konzept der „kommunikativen Vernunft“ rekonstruiert er sprechakt- und handlungstheoretisch zentrale Geltungsansprüche wie Wahrheit, Wahrhaftigkeit und Richtigkeit als vernünftige soziale Tatsachen der menschlichen Lebenswelt. In einer idealen Lebenswelt sollten diese Tatsachen mit der „Kraft des Faktischen“ gelten. Der Anspruch, dass die Geltungsansprüche objektiv gelten, wird von Habermas zumindest idealiter und theoretisch vertreten. Damit zerfällt dieser Anspruch in seinem Ansatz in der Theoriebildung nicht in zwei wissenschaftlich 25 Eine Übersicht über diese Entwicklung bietet die Arbeit von L. Herrschaft: Theoretische Geltung. Zur Geschichte eines philosophischen Paradigmas, Würzburg 1995. 26 Habermas, J., Faktizität und Geltung. Beiträge zur Diskurstheorie des Rechts und des demokratischen Rechtsstaats, Frankfurt 1992, 4. durchges. u. erw. Aufl. 1994. unverbundene heterogene Teile. Die oben beschriebenen Kriterien der Transitivität und Asymmetrie gelten im Übrigen auch für den von Habermas entwickelten Zusammenhang zwischen den Geltungsansprüchen und den Rechtfertigungsprozessen seiner Diskurstheorie. Entsprechendes gilt auch für andere diskurstheoretische Ansätze. Mit Ausnahme der Revidierbarkeit finden sich in diesen Ansätzen auch alle hier vertretenen Kriterien der Objektivität. Im Unterschied zu den in ihrer Bedeutung und Funktion leicht einsehbaren Kriterien der Wahrheit, Verständlichkeit, Einschlägigkeit und Nachprüfbarkeit scheint das Kriterium der Revidierbarkeit problematisch zu sein. Es scheint so, als bestünde zwischen diesem Kriterium und dem der Wahrheit ein Widerspruch. ‚Revidierbarkeit’ bedeutet, dass bisherige Urteile relativ zum Stand des Wissens und der Erkenntnis nicht mehr einschlägig oder tatsächlich falsch sind. Es liegt nahe, die Bedeutung dieses Kriteriums erneut am Beispiel objektiv geltender Ansprüche in der Ethik zu erläutern. Wenn es z.B. Erkenntnisse über die Entwicklungsstufen menschlichen Lebens gibt, die dazu beitragen, dass sich die Urteile über den Beginn des Lebensschutzes verändern, können sich frühere Festlegungen als unhaltbar erweisen. Damit wird nicht die Geltung des Anspruchs auf Lebensschutz selbst revidiert, sondern bisherige Urteile über dessen Beginn. Dagegen ließe sich einwenden, dass sich das eine nicht vom anderen trennen lasse und die Geltung des Lebensschutzes untrennbar mit seinem Beginn verbunden sei. Dieser Einwand würde nur dann zutreffen, wenn der Beginn menschlichen Lebens eine unbezweifelbare wissenschaftliche Tatsache wäre und nicht eigens festgelegt werden müsste. Da die Tatsache des Lebensbeginns aber Ergebnis einer Festlegung ist, trifft der Einwand nicht zu. ‚Revidierbarkeit’ als Kriterium objektiver Geltung bedeutet, dass ethische Urteile bei aller Entschiedenheit keinen absoluten, von neuen wissenschaftlichen Erkenntnissen unabhängigen Status haben. Im Lichte neuer Einsichten sollten ethische Urteile nicht nur überprüfbar, sondern auch veränderbar sein. Dies muss nicht heißen, dass sich die Urteile in ihr Gegenteil verkehren. Modifikationen der Wertung bestimmter Ansprüche und des Geltungsbereichs bestimmter Forderungen werden sich aber in Modifikationen der Urteile niederschlagen. Für ethische oder andere normative Urteile Objektivität und damit auch Wahrheit zu fordern, ist nicht selbstverständlich. Es ist nämlich zum einen nicht klar, in welchem Sinn normative Urteile überhaupt wahr sein können, zum andern hat die Annahme, dass sie wahr sind, weitreichende Folgen. Wenn davon die Rede ist, dass ein normatives Urteil wahr ist, geht es zunächst darum, ob das Urteil etwas behauptet, was tatsächlich so ist. Urteile können nur wahr sein, wenn sich das, was sie behaupten, auf Tatsachen bezieht. Es gibt, wie die Übersicht zu Beginn dieses Beitrags und eine von E. Anscombe27 eingeführte Diskussion zeigt, unterschiedliche Arten von Tatsachen und unterschiedliche Weisen, sie zu erklären und ihre Wahrheit zu bestätigen. Tatsachen sind, wenn wir Wittgensteins schlichter Feststellung im Satz 2 seines Tractatus folgen wollen, „bestehende Sachverhalte“.28 Die Gravitation ist in diesem Sinn z.B. ebenso eine Tatsache wie die Farbe eines Apfels. Beides sind bestehende und nicht bloß mögliche Sachverhalte, und es ist typisch für bestehende Sachverhalte, dass sie sich beschreiben und häufig auch erklären lassen. Es ist Sache der Physik zu erklären, was ‚Gravitation’ für ein Sachverhalt ist; außerdem können wir ihre Wirkung, wenn auch ungenau, wahrnehmen. Die Farbe eines Apfels können wir ebenfalls wahrnehmen, beschreiben und wissenschaftlich erklären. Alle Urteile, welche Sachverhalte dieser Art behaupten, sind wahr, weil sie sich auf Tatsachen beziehen und diese Tatsachen selbst wahr sind.29 Wenn ethische Urteile wahr sein sollen, müssen sie sich in ähnlicher Weise auf wahre Tatsachen beziehen. Nehmen wir als Beispiel das Urteil ‚Oskar handelt verwerflich, weil er seinen Hund quält’. Wenn dieses Urteil wahr sein soll, muss es sich auf eine wahre Tatsache beziehen, aber auf welche? Wir können uns den gesuchten Bezug auf eine Tatsache als Schluss vorstellen: Aus der Tatsache (1), dass es verwerflich ist, Menschen und Tiere zu quälen und der weiteren Tatsache (2), dass Oskar seinen Hund Raudi quält, schließen wir (3), dass Oskar verwerflich handelt, weil er seinen Hund Raudi quält. Es mag ungewohnt sein, sittliche Grundnormen der Art, wie sie Satz (1) formuliert, als ‚wahr’ und als ‚Tatsachen’ zu bezeichnen. Dennoch handelt es sich um Tatsachen. Sie können nicht natur-, dafür aber sozial- und kulturwissenschaftlich als Tatsachen der sozialen und kulturellen Welt erklärt werden. Da sie auf ernst zu nehmende Weise erklärt werden können, sollten wir sie auch als Tatsachen begreifen. Es ließe sich nun einwenden, Tatsachen, die sozial- oder kulturwissenschaftlich erklärt werden, seien lediglich Glaubenstatsachen und weniger zuverlässig als physikalische. Dies ist ein Vorurteil. Letztlich müssen wir alle Tatsachen glauben; wir 27 Elizabeth Anscombe wies z.B. auf den Unterschied zwischen einfachen (brute) und institutionellen (institutional) Tatsachen (facts) hin („On Brute Facts“, in: Analysis 18 (1957/58), 69-72). 28 Ludwig Wittgenstein, Tractatus logico-philosophicus, in: Werkausgabe Bd. 1, Frankfurt: Suhrkamp 1989, 11. 29 Peter Geach wies darauf hin, dass Wahres nur aus Wahrem folgen kann („Ascriptivism“, in: Philosophical Review 69 (1960), 221-225 u. „Assertion“, in: Philosophical Review 74 (1965), 449-465). Diese logische Forderung gilt für alle Folgerungsbeziehungen. Gerhard Ernst geht ausführlich auf dieses sog. Frege-GeachArgument ein (Die Natur der Moral, a.a.O., Kap. 2.2.). tun es allerdings den jeweiligen Erklärungen entsprechend mit unterschiedlichen Gründen. Es erscheint uns nur weniger problematisch zu sein, zu glauben, dass es die Gravitation gibt oder dass der Apfel grün ist, als zu glauben, dass es verwerflich ist, Menschen und Tiere zu quälen. Auch dies ist ein Vorurteil. Es mag daher rühren, dass wir uns bei physikalischen Tatsachen und wahrnehmbaren Objekten mit Erklärungen zufrieden geben, die zeigen, dass es sie gibt, und wie sie uns erscheinen. Bei sittlichen Tatsachen wie der Verwerflichkeit des Quälens von Menschen und Tieren, wollen wir aber gerne wissen, warum sie so sind, wie sie uns erscheinen.30 Wir sind bei solchen Tatsachen eher geneigt, an ihrer Existenz zu zweifeln, weil wir nicht wirklich erklären können, warum es sie gibt. Außerdem können wir ihren Tatsachencharakter nur indirekt über das menschliche Handeln und Argumentieren wahrnehmen. Dagegen nehmen wir Tatsachen wie die Farbe der Äpfel direkt wahr. Den Nachteil der indirekten Wahrnehmung müssen wir bei sittlichen Tatsachen ebenso in Kauf nehmen wie bei der Gravitation. Bei vielen Tatsachen kennen wir keine Antwort auf die Frage, warum etwas so ist, wie es ist. Wir wissen z.B. nicht, welche Kraft hinter der Gravitation steckt, also warum es sie überhaupt gibt, und ebenso wenig wissen wir, warum es Äpfel gibt. Es ist aber dennoch möglich zu erklären, was beides ist. Wir sind uns außerdem sicher, dass beides, Äpfel und die Gravitation, Tatsachen sind. Einer ähnlichen Gewissheit steht die Skepsis31 im Weg, dass es uns vielleicht nur so erscheint, als ob es tatsächlich verwerflich wäre, Menschen und Tieren zu quälen. Dabei ist diese subjektive Skepsis auch bei allen anderen Tatsachen nicht restlos aus der Welt zu räumen. Bei sittlichen Tatsachen fällt uns dies nur eher auf als bei anderen. Die Gewissheit, dass es sittliche Tatsachen gibt, ist nicht unsicherer als jede andere. Es ist ein Merkmal aller Tatsachen, dass sie so hinzunehmen sind, wie wir sie auf der Grundlage der verfügbaren Erklärungen kennen. Für diese Gewissheit gibt es keine zusätzlichen begründenden Argumente. Die Gewissheit gehört im Sinne Wittgensteins zum Sprachspiel, obwohl es für sie keine Begründung gibt. Wittgenstein trug in Über Gewissheit sehr viel dazu bei, dass wir grundlegende Überzeugungen wie etwa die Verwerflichkeit des Quälens von Menschen und Tieren als wahre Tatsachen verstehen können. Er wies nicht nur darauf hin, dass „am Grund 30 John Locke meint deswegen, dass moralische Regeln nicht zur angeborenen Ausstattung des Menschen gehören und eines Beweises bedürften (An Essay Concerning Human Understanding, hg.v. A.S. PringlePattison, Oxford 1969, 29; Versuch über den menschlichen Verstand Bd.1, Hamburg 1981, 55). 31 J. L. Mackie hat mit seiner sog. Irrtumstheorie (error theory) und den Argumenten der Relativität und der Sonderbarkeit (queerness) versucht, diese Skepsis zu untermauern (Ethics. Inventing Right and Wrong, Harmondsworth 1977, bes. 36-42. des begründeten Glaubens“ der unbegründete liege32, sondern fragte auch in seiner unnachahmlichen Weise: „Warum soll es möglich sein, einen Grund zum glauben zu haben, wenn es nicht möglich ist, sicher zu sein?“33 Die Sicherheit, dass etwas eine „unwankende Grundlage“ eines Sprachspiels ist, macht diese Grundlage zu einer Wahrheit in genau dieser Hinsicht.34 Nur weil uns der Glaube an die sittliche Tatsache, dass es verwerflich ist, Menschen und Tiere zu quälen, Sicherheit gibt, können die Urteile, die sich auf jene Tatsache beziehen, wahr sein. Der Objektivität normativer, in diesem Fall ethischer Urteile liegen wahre Tatsachen zugrunde, die unseren Urteilen in der von Wittgenstein beschrieben Weise Sicherheit geben. Auf dieser Basis können selbst kontrafaktische Sätze, wie z.B. ‚wenn Oskar seinen Hund Raudi quälen würde, wäre dies verwerflich’, den Anspruch erheben, wahr zu sein. Häufig nehmen ethische Urteile z.B. auf die Verfassung, das Recht und die höchstrichterliche Rechtsprechung Bezug. Auch für verfassungsrechtliche Regelungen oder Entscheidungen gilt, dass wir sie als wahr anerkennen können, weil sie tatsächlich gelten. Es sind sittliche Tatsachen oder sittliche Grundnormen, auf die sich ethische Urteile so beziehen können, dass sie selbst wahr sind. Auf diese Weise trägt z.B. auch die Verfassung durch ihre Geltung zur Objektivität ethischer Urteile bei. Das Verfassungsrecht, insbesondere die in ihm enthaltenen Grundrechte und die präzisierende höchstrichterliche Rechtsprechung sind klare, greifbare, allgemeine und sicher auch stabile Manifestationen sittlicher Geltung.35 Sie entsprechen mehrheitlich dem, was in einer Gesellschaft ungefragt und wie selbstverständlich als gültig anerkannt wird. Damit gehören wesentliche Teile des Rechts zu den Voraussetzungen und Geltungsbedingungen ethischer Urteile. Welche Teile des Rechts in ethischen Urteilen vorausgesetzt werden, können wir nur von Fall zu Fall sagen. Schließlich können ethische Urteile auf gut begründete Weise geltendes Recht kritisieren und ihm sogar widersprechen. Selbst das Verfassungsrecht und das 32 Ludwig Wittgenstein, Über Gewißheit, a.a.O., §253. A.a.O., §373. 34 A.a.O., §403. 35 Ähnliches gilt für das Kernstrafrecht (bes. §228 STGB) und die Bestimmungen des BGB zu dem, was ‚gute Sitten’ und ‚objektive Wertordnung’ bedeuten (§242 BGB). Die historisch geprägten Abhängigkeiten des Rechts von der jeweiligen menschlichen Lebenswelt, Kultur und Sittlichkeit beschrieb Ernst-Wolfgang Böckenförde in seiner eindrucksvollen Geschichte der Recht- und Staatsphilosophie (Tübingen: Mohr Siebeck 2002; auch in: Staat, Nation, Europa. Studien zur Staatslehre, Verfassungstheorie und Rechtsphilosophie, Frankfurt: Suhrkamp 1999, 208ff.). In analoger Weise stellte er fest, dass die „Lebensfähigkeit der Demokratie als Staats- und Regierungsform“ vom „demokratischen Ethos bei Bürgern und politischen Amtsträgern“ abhänge (Staat, Verfassung, Demokratie. Studien zur Verfassungstheorie und zum Verfassungsrecht, Frankfurt: Suhrkamp 1991, 359). 33 Kernstrafrecht, die im rechtlichen Sinn objektiv gelten, sind nicht immun gegen ethische Kritik. Wenn wir an das Hume-Prinzip36 denken und damit die Überzeugung verbinden, dass aus Tatsachen keine Normen ableitbar sind, nimmt es sich wie ein Trick aus, von ‚sittlichen Tatsachen’ zu sprechen, ihnen Wahrheit zuzuschreiben und dann auch noch die Wahrheit normativer Urteile auf sie zurückzuführen. Tatsächlich ignorieren wir mit dieser Argumentationsweise jenes Prinzip keineswegs. Es wird ja kein Sollen aus einem Ist abgeleitet, sondern Faktisches aus Faktischem, nur dass dieses Faktische gleichzeitig normativer Natur ist. Es wird also, ganz in Humes Sinn, keine neue, unbegründete Beziehung hergestellt. Die von ihm unterstellte und nicht weiter begründete Differenz zwischen Ought und Is wird angesichts des Tatsachencharakters der Geltungsgrundlagen allerdings aufgehoben. Aus der sittlichen, normativen Natur des Faktischen wird ein Urteil gebildet, das eine entsprechende Verbindlichkeit zum Ausdruck bringt.37 ‚Sittlich’ und ‚normativ’ sind Ausdrücke, welche die begründende Kraft einer Tatsache bezeichnen, der Tatsache nämlich, dass etwas gewiss ist, was nicht weiter begründet werden kann. In gewisser Weise haben alle Tatsachen eine ähnliche Kraft, sie wirkt sich nur meistens nicht nur normativ, sondern auch empirisch und kognitiv aus. Die Verbindlichkeiten, die mit Tatsachen verbunden sind, können dementsprechend verschieden sein. Es können, wenn sie normativer Natur sind, Entscheidungen und Handlungen, wenn sie empirischer oder kognitiver Natur sind, wahre Überzeugungen sein, zu denen sie verpflichten. Nach diesen Überlegungen dürfen wir normative Urteile dann als wahr behaupten, wenn die ihnen zugrunde liegenden sittlichen Tatsachen oder Grundnormen ebenfalls wahr sind. Die Einschlägigkeit, das fünfte Kriterium der Objektivität, besagt, dass solche Urteile einen klaren und direkten Bezug zu den tatsächlichen Problemen haben und nicht konstruiert sind. Trotz ihres spannungsreichen wechselseitigen Verhältnisses enthält die Sitte Geltungsgrundlagen für die Ethik. Zu diesen Grundlagen gehören neben dem Recht ohne Zweifel auch religiöse Überzeugungen und die ethnischen Merkmale von 36 David Hume, A Treatise of Human Nature, ed. by L.A. Selby-Bigge, Oxford: Clarendon (1888) 1975, (book III) 469f. 37 Aus demselben Grund erübrigt sich auch der Vorwurf eines naturalistischen Fehlschlusses. Argumente gegen die Sein-Sollen-Differenz entwickelten u.a. Hilary Putnam (The Collapse of the Fact/Value Dichotomy, Cambridge (Mass.) 2002) und David Wiggins (a.a.O., 330ff.). Kulturen. Sie schaffen ihrerseits Geltungsbedingungen, die teilweise dem geltenden Verfassungsrecht zugrunde liegen. Wenn nur das Recht und die Rechtsprechung, nicht aber Religionen oder ethnische Charakteristika einer Kultur, als Bedingungen der Objektivität ethischer Urteile gelten sollen, gibt es dafür drei Gründe. Zum einen schließt die staatliche Rechtsordnung die religiösen Ansprüche, die wie die Religionsfreiheit in einer säkularisierten Gesellschaft allgemein akzeptiert werden, bereits ein. Zum anderen verbietet es die religiöse Neutralitätspflicht des Staates einer bestimmten Religion einen Vorrang vor den anderen einzuräumen; es sei denn, es sprechen übergeordnete Interessen wie z.B. der Schutz der Jugend vor sog. Jugendsekten dagegen. Das Christentum hat zweifellos nicht nur wesentliche verfassungsrechtliche Grundsätze wie den der Gleichheit und der Menschenwürde geprägt. Über deren Interpretation im Zusammenhang mit konkreten Problemen haben christliche Überzeugungen Einfluss auf die höchstrichterliche Rechtsprechung. Insofern kann man diese Rechtsprechung auch als Ausdruck der sittlichen Verallgemeinerung religiöser Überzeugungen in unserer Gesellschaft betrachten. Der dritte Grund ist, dass die Ethik zwar niemals sittlich neutral sein kann, aber zu Urteilen verpflichtet ist, deren Begründung und Rechtfertigung argumentativen, wissenschaftlichen Standards genügen sollten. Ethische Rechtfertigungen, die wissenschaftliche Argumente durch einen Appell an sittliche Grundüberzeugungen ersetzen, können keinen Anspruch auf Objektivität erheben. Es genügt z.B. nicht, auf die Verwerflichkeit des Quälens von Tieren zu verweisen, wenn es darum geht, über Tierversuche zu urteilen, die in der medizinischen Forschung als unersetzliche Voraussetzung zur Entwicklung lebensrettender Therapien gelten. Es kommt darauf an, ob sie tatsächlich unersetzlich sind. Wenn dies so ist, dann sind die Gründe, die dafür sprechen, Teil der Begründung einer besonderen Erlaubnis von Tierversuchen. Schluss Im Konzept der ‚Geltung’ sind theoretische und praktische Ansprüche für Grundlegungen aller Art noch ungetrennt. Es scheint so, als würden diese Ansprüche in dem Konzept bei geeigneter Beleuchtung erst nachträglich zusammenlaufen. Dies ist aber eine Vorher-Nachher-Verwechslung, denn das Konzept ist mit seinen ungetrennt theoretisch-praktischen Ansprüchen logisch früher als diese Ansprüche in ihren herkömmlichen, getrennten Ausprägungen. Sichtbar wird dies an dem Charakter normativer Tatsachen, die der unabgeleiteten Geltung in allen ihren Ausprägungen zugrunde liegen. Ebenso evident ist dies daran, dass die klassische Unterscheidung zwischen Sein und Sollen zumindest bei unabgeleiteten Geltungen gegenstandslos ist. Auf der Grundlage dieser Einsichten ist der Anspruch auf Objektivität normativer Argumentationen im Bereich der Ethik und des Rechts durch die bekannten skeptischen Einwände nicht mehr gefährdet. Weiter auszuarbeiten und klärungsbedürftig ist der holistische Charakter der unabgeleiteten und der abgeleiteten Geltungen, und zwar gerade im Blick auf den Zusammenhang und die wechselseitige Stützung theoretisch-praktischer Geltungen. Besonders geeignet für Klärungen dieser Art sind die Sprachphilosophie und allgemein die Untersuchung des normativen Charakters von Begriffen.38 Literatur Alexy, R., Begriff und Geltung des Rechts, Freiburg/München 42005 Barth, C., Conceptual Beings, Diss. München 2005. Böckenförde, E.-W., Staat, Verfassung, Demokratie. Studien zur Verfassungstheorie und zum Verfassungsrecht, Frankfurt 1991. Ders., Geschichte der Recht- und Staatsphilosophie, Tübingen 2002. Ernst, G., Die Objektivität der Moral, Paderborn 2007. Habermas, J., Faktizität und Geltung. Beiträge zur Diskurstheorie des Rechts und des demokratischen Rechtsstaats, Frankfurt 1992, 4. durchges. u. erw. Aufl. 1994. Herrschaft, L., Theoretische Geltung. 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Wright, in: Werkausgabe Bd. 8, Frankfurt 1989. 38 Eine Untersuchung dieser Art, u.a. im Rekurs auf die Arbeiten von R. Brandom, hat C. Barth vorgelegt (Conceptual Beings, Diss. München 2005).