Geltung, Anerkennung und Rechtfertigung

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Geltung1
(Wilhelm Vossenkuhl)
Geltung ist ein normatives Konzept, das sich auf unterschiedliche Arten von
Tatsachen bezieht, die meist als solche anerkannt und wirksam sind. Es gibt zwei
Typen von Geltung, die unabgeleitete und die abgeleitete. Was unabgeleitet gilt, gilt
bedingungslos, was abgeleitet gilt, gilt nur bedingt. Im ersten Fall bedarf das, was gilt,
zu seiner Erfüllung keiner weiteren Bedingung und hat auch keine.2 In dem Bereich, in
dem es gilt, gilt es selbst dann unabhängig, wenn es mit anderen Geltungen in einem
Netzwerk von Geltungen verknüpft ist. Dies ist mit ‚bedingungslos’ gemeint.
Unabgeleitete Geltungen liegen explizit oder implizit allen argumentativen
Rechtfertigungen zugrunde.3 Im zweiten Fall, der bedingten Geltung, ist das, was gilt,
Ergebnis einer Rechtfertigung und strikt mit diesem Ergebnis verbunden; wenn sich
die Rechtfertigung als falsch oder zweifelhaft erweist, trifft dies auch auf die mit ihr
verbundene Geltung zu. Unabgeleitete und abgeleitete Geltungen sind häufig
miteinander verbunden und bilden zusammenhängende Ketten von Geltungen. Jeder
Geltungskette liegt aber mindestens eine unabgeleitete Geltung zugrunde, und zwar
unabhängig davon, welchen Wert und welche Beständigkeit die abgeleiteten
Geltungen haben.
Während die unabgeleiteten Geltungen lediglich anerkannt sein müssen, aber
keiner Rechtfertigung bedürfen, um wirksam zu sein, sind Rechtfertigungen immer
von
Geltungen
oder
Geltungsgründen
abhängig.
Rechtfertigungen auch anerkannt und wirksam
Dabei
ist
es
offen,
ob
werden. Die unabgeleitete,
bedingungslose Geltung hat im logischen, argumentativen und genetischen Sinn
Vorrang vor der Rechtfertigung; dementsprechend ist das Verhältnis zwischen
bedingungsloser Geltung und Rechtfertigung asymmetrisch. Dagegen sind bedingte
Geltungen symmetrisch mit den Rechtfertigungen verbunden, von denen sie abhängig
1
Für wertvolle Hinweise und Ratschläge danke ich Erasmus Mayr.
In der Rechtsphilosophie ist anstelle des Ausdrucks‚unabgeleitete Geltung’ von ‚Grundnormen’ die Rede (vgl.
Robert Alexy, Begriff und Geltung des Rechts, Freiburg/München 42005, 154ff.
3
Die Grundfigur der unabgeleiteten Geltung, die Bedingung, für die es in einem bestimmten Kontext keine
weitere gibt, ist nicht ungewöhnlich. Sie ist ihrer Struktur nach in jedem Sprechakt präsent. Jeder Sprecher ist
seiner Rolle nach eine solche Bedingung für jeden Sprechakt. Selbst bei Äußerungen, in denen er sich auf sich
selbst bezieht, er ist nicht Teil dessen, was er sagt, sondern eine unverzichtbare und nicht weiter bedingte
Voraussetzung. Das schließt natürlich nicht aus, dass der Sprecher selbst und das, was er sagt, viele
Voraussetzungen haben. Ähnlich verhält es sich mit unabgeleiteten Geltungen.
2
sind. Bedingte Geltungen sind häufig daran erkennbar, dass sie sich auch sprachlich
nicht vom Ergebnis von Rechtfertigungen unterscheiden lassen. Der logische und
genetische Übergang von unabgeleiteten Geltungen zu den abgeleiteten ist
asymmetrisch und transitiv, unabhängig davon, wie umfangreich die Kette von
Geltungen
ist.
Das
Verhältnis
zwischen
unabgeleiteten
Geltungen
und
Rechtfertigungen oder abgeleiteten Geltungen ist in doppelter Hinsicht dynamisch.
Zum einen können sich die Rechtfertigungsverfahren und die Ansprüche, die sie
erfüllen sollen, verändern; dann kann die Geltung dessen, was den Verfahren bisher
zugrunde lag, relativiert werden. Zum anderen kann das, was aufgrund von
unabgeleiteten Geltungsgründen lange als gerechtfertigt erschien, seine Anerkennung
einbüßen. Dann stehen auch die unabgeleiteten Geltungsgründe in Frage oder sind
bereits obsolet geworden. Zu den Unterschieden zwischen unabgeleiteten und
abgeleiteten Geltungen gehört auch, dass erstere aufgrund ihrer Wirksamkeit einen
intrinsischen Tatsachenbezug haben, abgeleitete dagegen nicht. Da die beiden
Konzepte häufig vermischt werden, obwohl sie sich in unterschiedlicher Weise auf
Tatsachen beziehen, sollen ihre normative Asymmetrie und ihr Tatsachenbezug
geklärt werden.
Normative Tatsachen
‚Gelten’ bedeutet gewöhnlich ‚in Kraft sein’, ‚wirksam sein’ oder ‚anerkannt
werden’.4 ‚Rechtfertigen’ bedeutet ‚begründen’. Rechtfertigungen setzen Gründe
voraus, die ihnen Geltung verleihen, aber die Geltungsgründe selbst müssen zumindest
bei unabgeleiteten Geltungen ihrerseits weder gerechtfertigt noch rechtfertigbar sein.
Die eben erwähnte Asymmetrie besteht darin, dass alle Rechtfertigungen von
Geltungsgründen abhängig sind, aber nicht umgekehrt; dies gilt auch für abgeleitete
Geltungsgründe.
Selbst
dann,
wenn
bedingte
Geltungen
symmetrisch
mit
Rechtfertigungen verknüpft sind, benötigt der Rechtfertigungsprozess Geltungsgründe,
die ihm zugrunde liegen. Wenn etwas gilt, ist es wirksam, unabhängig davon, ob es
gerechtfertigt ist oder nicht. Wenn etwas gerechtfertigt ist, ist es begründet.
Die erwähnte Asymmetrie zeigt sich auch im Blick auf das, was gilt. Die
Tatsachen, um dies es geht, sind in dem Sinn kultureller Natur, dass sie, wie etwa
4
Max Weber sprach von Geltung in Bezug auf Ordnungen, die das Handeln anleiten und orientieren. (Wirtschaft
und Gesellschaft. Grundriss einer verstehenden Soziologie, 5. Aufl., hrsg. v. J. Winckelmann, Tübingen: Mohr
(Siebeck) 1976, 16). Von ‚Geltung’ ist aber nicht nur in sozialen, sondern auch in wissenschaftlichen Kontexten
die Rede. Auch Naturgesetze oder mathematische Beweise gelten.
Naturgesetze, von Menschen entdeckt oder wie mathematische Axiome von ihnen
erdacht oder wie sittliche Normen von ihnen erkannt und anerkannt wurden. Die
Kontexte solcher Tatsachen sind entsprechend vielfältig. Sie können sozialer,
rechtlicher oder wissenschaftlicher Natur sein und sich in Praktiken, Feststellungen,
Behauptungen, Gesetzmäßigkeiten, Schlüsse, Entscheidungen, Verpflichtungen,
Normen und Regeln zeigen. Alle unabgeleiteten Geltungen sind als Tatsachen oder
Gegebenheiten zu verstehen. Abgeleitete Geltungen verdanken ihre Geltung diesen
Tatsachen. Auch abgeleitete Geltungen können Tatsachen sein. Feststellungen oder
Äußerungen gelten etwa tatsächlich, weil ihre Sprecher autorisiert sind, oder weil ihre
Adressaten sie tatsächlich anerkennen oder einfach den Sprechern glauben. Dies alles
kann gleichzeitig zutreffen. Der Spruch einer Kammer oder die Entscheidung eines
Gerichts gelten z.B. im Rahmen einer Rechtsordnung. Ein logischer Schluss oder ein
mathematischer Beweis gelten im Rahmen eines Systems von Axiomen und Regeln.
Normative Forderungen oder ein Sollensansprüche gelten aufgrund der Prinzipien
oder Regeln, auf die sie zurückgeführt werden können, die aber ihrerseits nicht
abgeleitet sind.
‚Gelten’ ist zwar ein normatives Konzept, aber nicht gleichbedeutend mit
‚Sollen’. Was immer unabgeleitet und bedingungslos gilt, ist damit auch als geltend
realisiert; was gesollt ist, gilt zwar in einem abgeleiteten Sinn, wenn es gerechtfertigt
ist, muss aber erst noch realisiert werden. Diese grundlegende faktische Differenz
zwischen Gelten und Sollen ist der Grund dafür, dass die häufig bemühte
Unterscheidung zwischen Sein und Sollen und die mit ihr verbundene Trennung
zwischen Normativität und Faktizität keine Bedeutung für die Geltungsanalyse haben
kann. Faktizität und Normativität sind in der Geltungsanalyse intrinsisch verknüpft.
Gerechtfertigte Sollensforderungen etwa in Gestalt von Pflichten setzen z.B.
unabgeleitete Geltungsgründe voraus, die den Charakter von Tatsachen haben. Wir
können diese als ‚normative Tatsachen’ bezeichnen. Auch alltägliche Praktiken wie
die Namensgebung oder das Grüßen sind normative Tatsachen, die jenseits und
unabhängig von möglichen Rechtfertigungen ihre Grundlage in Geltungen haben, die
unabgeleitet und in einem kulturellen Raum von Geltungen beheimatet sind. Der
kulturelle Raum normativer Tatsachen muss nicht nur in einem engen historischen,
ethnischen oder sprachlichen Sinn verstanden werden. Auch wissenschaftliche
Gesetzmäßigkeiten oder Ergebnisse gelten, weil sie theoretischen Annahmen oder
Messergebnissen entsprechen, die ihrerseits unabgeleitete Geltungsgrundlagen haben.
Auch deren Geltung ist in der Gemeinschaft der Wissenschaftler als normative
Tatsache anerkannt.
Unbegründete Wirksamkeit
Dass Normen oder Regeln unabgeleitet gelten, bedeutet, dass sie im Regelfall,
in dem sie befolgt werden, ohne Begründung als wirksam akzeptiert werden. ‚Ohne
Begründung’ bedeutet nicht ‚grundlos’. Gerichtliche Entscheidungen sind z.B. nicht
wirksam, wenn allgemein geltende Verfahrensregeln nicht eingehalten wurden; und
diese Regeln sind denjenigen, die entscheiden, meistens bewusst, ohne dass ihnen
gleichzeitig die Gründe ihrer Geltung bewusst sein müssen. Viele Regeln sind
wirksam und werden ähnlich wie die Regeln einer Grammatik befolgt, ohne dass die
Gründe ihrer Geltung den Sprechern oder Hörern bewusst wären. Meistens steht hinter
der Wirksamkeit geltender Regeln deren allgemeine Anerkennung, eine Autorität oder
eine lange praktizierte Gewohnheit. Entscheidend ist, dass diese Wirksamkeit nicht
häufig oder dauernd in Frage gestellt wird und zuvor nicht begründet werden muss.
Eine Entscheidung gilt, weil sie anerkannt, und eine Regel gilt, weil sie befolgt wird.
Der Geltung einer Äußerung, einer Festlegung oder einer Regel muss man
nicht unmittelbar ansehen, ob es sich um eine unabgeleitete oder abgeleitete Geltung
handelt. Auch die Tatsache, dass es für ihre Wirksamkeit rechtfertigende Gründe gibt,
entscheidet nicht über den Charakter der Geltung.5 Bei genauerer Analyse wird aber
erkennbar, ob die beanspruchten Gründe plausibel erscheinende Rationalisierungen
ihrer Funktion und Wirksamkeit sind oder ihrerseits unabgeleitete Geltungsgründe
voraussetzen. Abgeleitete Geltungsgründe können relativ zu den Regeln, die sie
begründen, als ‚gut’ und ‚vernünftig’ oder als ‚schlecht’ und ‚unvernünftig’ beurteilt
werden. Diesen Bewertungen entsprechend werden die abgeleiteten Geltungsgründe
und die mit ihnen verbundenen Regeln anerkannt oder verworfen. Auf unabgeleitete
Geltungsgründe können jene Bewertungen nicht sinnvoll angewandt werden.
Entweder gelten sie oder sie gelten nicht. Wenn sie gelten, sind sie als Begründungen
– vernetzt mit anderen Geltungsgründen6 - wirksam, wie immer die Regeln, die sie im
Einzelnen begründen selbst beurteilt werden. Die Wirksamkeit der Regeln selbst muss
auch dann, wenn ihnen unabgeleiteten Geltungsgründen zugrunde liegen, nicht
notwendig gut oder vernünftig sein.
5
Es lassen sich auch, abstrakt gesehen, für unabgeleitete Geltungen Gründe anführen, die aber keine Relevanz
für deren tatsächliche Geltung haben.
6
Auf den holistischen Charakter der Begründungen gehe ich später ein.
Autorität kann etwa eine unabgeleitete oder eine abgeleitete Geltung
beanspruchen. In beiden Fällen kann sie, zumindest dann, wenn es sich um Autorität
im institutionellen Sinn handelt, Begründungen für ihre Wirksamkeit ersetzen.
Unabhängig davon können die Regeln, die sie begründet, in bestimmter Hinsicht
vernünftig und gut sein, in anderer Hinsicht nicht. Wenn die Regeln schlecht sind oder
ungerecht gehandhabt werden, wird die Autorität, die sie repräsentieren, auf Dauer in
Frage gestellt werden. Autorität kann aber auch unabhängig von institutionellen
Kontexten als unabgeleitete Geltung wirksam sein und Regeln oder Überzeugungen
rechtfertigen. Die Geltung der Zehn Gebote ist z.B. durch die religiöse Autorität der
Heiligen Schrift und der anerkannten Überlieferung gerechtfertigt. Deren Autorität
kann als unabgeleitet im Sinne von ‚geoffenbart’ gelten. Ihre Wirksamkeit mag als gut
oder schlecht beurteilt werden, auf deren Geltungsgrundlage wirkt sich diese
Beurteilung nicht aus. Es gibt entsprechend auch keine Gründe, welche die Autorität
dieser Offenbarung, ihre Anerkennung oder Missachtung rechtfertigen könnten oder
müssten. Die von ihr abgeleiteten religiösen Satzungen können allerdings von den
Gläubigen anerkannt und von den Ungläubigen missachtet werden.
Autorität kann aber im Sinne einer abgeleiteten Geltung auch gerechtfertigt im
Sinne von ‚gut begründet’ und dann auch vernünftig sein. Die Entscheidung eines
Gerichts gilt z.B. als gerechtfertigt genau deswegen, weil das Verfahren mit einer
entsprechenden rechtlichen Autorität ausgestattet ist. Allerdings ist damit noch nicht
klar, auf welche Tatsachen sich die Begründung bezieht. Sie kann sich auf zweierlei
beziehen, auf die Autorität des Gerichts oder auf dessen Entscheidung. Die
Rechtfertigung der tatsächlichen Autorität – mit ihrer abgeleiteten Geltung - reicht
nicht aus für die Rechtfertigung der tatsächlichen Entscheidung. Deren Rechtfertigung
ist nur durch die relevanten Gesetze möglich, und diese müssen ihrerseits auf einer
unabgeleiteten Grundlage gelten.
Geltung, Anerkennung und Rechtfertigung
Diese Überlegungen zum Zusammenhang zwischen unabgeleiteten und
abgeleiteten Geltungen einerseits und Anerkennung und Rechtfertigungen andererseits
lassen sich in einer Geltungstafel systematisieren. Sie veranschaulicht, wie Geltung
mit Anerkennung und wie beides mit Rechtfertigung verbunden sein kann. Wir
nehmen einen engen Zusammenhang zwischen Geltung und Anerkennung an, weil
Geltungen – seien sie unabgeleitet oder abgeleitet – häufig unmittelbar daran
erkennbar sind, dass sie anerkannt und damit auch wirksam werden. Geltungen
können immer dann bezweifelt werden, wenn sie nicht mehr anerkannt werden und
unwirksam geworden sind. Was immer gilt und wirksam ist, ist damit auch anerkannt,
und was immer anerkannt ist, ist damit auch wirksam. Allerdings gibt es, wie wir
später sehen, auch Geltungen, die weder wirksam noch anerkannt sind. Wenn abstrakt
betrachtet jeweils zwei mögliche Werte (W/F z.B. für ‚es ist wahr, dass X gilt’ bzw.
‚es ist falsch, dass X gilt’) analog für jede der drei Propositionen (‚X gilt’; ‚X ist
anerkannt’; ‚Y ist gerechtfertigt’)7 angenommen werden und wir die Propositionen
bzw. die von ihnen repräsentierten Konzepte der Geltung, der Anerkennung und der
Rechtfertigung
miteinander
kombinieren,
ergeben
sich
folgende
acht
Wertverteilungen:
X gilt
und X ist anerkannt und
Y ist gerechtfertigt
(a)
W
W
W
(b)
W
W
F
(c)
W
F
F
(d)
F
F
F
(e)
F
F
W
(f)
F
W
W
(g)
W
F
W
(h)
F
W
F
Wir können davon ausgehen, dass unter diesen möglichen Beziehungen
zwischen Geltung, Anerkennung und Rechtfertigung einige, aber nicht alle auf Anhieb
relevant und verständlich erscheinen. Aus formalen Gründen unmittelbar zu verstehen
ist z.B. die Wertverteilung (d). Wenn der Wert der Geltung nämlich F ist und für
unabgeleitete Geltungen im Verhältnis zu Anerkennung und Rechtfertigung
Transitivität8 herrscht, sind die übrigen Werte trivialerweise ebenfalls F. Die
Wertverteilung kann auf den ersten Blick auch unsinnig erscheinen wie bei (e) oder
irrtümlich wie bei (h). Einige dieser Eindrücke trügen. Deswegen empfiehlt es sich,
die Geltungstafel konkreter zu machen, in Fallgruppen aufzuteilen und anhand von
7
In der Regel beziehen sich die Rechtfertigungen auf andere propositionale Gehalte als die Geltungen oder
Anerkennungen, daher werden sie durch ‚Y’ repräsentiert.
8
‚Transitivität’ bedeutet hier, dass das Begründungsverhältnis zwischen unabgeleiteter Geltung auf der einen
und Anerkennung und Rechtfertigung auf der anderen Seite asymmetrisch wirksam und nicht umkehrbar ist.
Beispielen zu prüfen. Dies ist auch deswegen unerlässlich, weil sich unabgeleitete
Geltungen anders verhalten als abgeleitete. Das Verhältnis zwischen abgeleiteter
Geltung, Anerkennung und Rechtfertigung hat, wie gleich an bestimmten Fällen 9
erkennbar ist, einen konditionalen Charakter, der Wertverteilungen wie in (e), (f) und
(h) ermöglicht. Unter einer konditionalen Perspektive10 sind dann Wertverteilungen,
bei denen für abgeleitete Geltung der Wert F steht, nicht mehr unsinnig oder trivial, da
die Wertverteilung symmetrisch ist. Grundsätzlich beziehen sich Rechtfertigungen
reflexiv
immer
auf
abgeleitete,
nicht
aber
auf
unabgeleitete
Geltungen.
Rechtfertigungen, die auf unabgeleitete Geltungen zurückgreifen können, beziehen
sich immer auf Ansprüche, die jenseits dieser Geltungen liegen, also auf
Anerkennungen oder auf abgeleitete Geltungen. Rechtfertigungen können auch als
wahr oder erfolgreich gelten und Anerkennungen können wirksam sein, obwohl es
dafür keine unabgeleitete Geltungsgrundlage gibt. Einer kritischen Prüfung werden
solche Rechtfertigungen und Anerkennungen aber nicht standhalten. Unabgeleitete
Geltung wird durch ein hochgestelltes ‚u’, abgeleitete durch ein Tiefgestelltes ‚a’
gekennzeichnet; ungekennzeichnet bleibt das Wort ‚Geltung’, wenn es sich entweder
um unabgeleitete oder abgeleitete Geltung handeln kann. Folgende Fallgruppen sind
denkbar:
1. Geltungu mit Anerkennung und mit (a)11 oder ohne (b) Rechtfertigung
2. Geltungu ohne Anerkennung und ohne (c) oder mit (g) Rechtfertigung
3. Geltungu ohne Rechtfertigung und mit (b) oder ohne (c) Anerkennung
4. Geltunga nur durch Rechtfertigung (konditional) und ohne (e) oder mit (f)
Anerkennung
5. Scheinbare Geltung mit Anerkennung und ohne Rechtfertigung (h)
6. Scheinbare Rechtfertigung ohne Geltung und mit Anerkennung (h)
7. Rechtfertigung ohne Geltung und ohne (e) und mit Anerkennung (f)
8. Geltunga nur durch Anerkennung (konditional) und mit (f) und ohne
Rechtfertigung (h)
9
Es geht hier um die Fälle 4. und 8.
Im Sinne von: ‚wenn X (nicht) gilt, dann ist X (nicht) anerkannt und (nicht) gerechtfertigt.’
11
Die Klammern verweisen jeweils auf die oben aufgelisteten Werteverteilungen.
10
Für alle diese Fallgruppen lassen sich praktische Fälle oder Beispiele denken,
für 1. mit (a) z.B. mathematische oder logische Beweise, ethische Argumente, aber
auch beglaubigte Verträge. Bei Beweisverfahren werden in Gestalt von Axiomen
unabgeleitete Geltungsgrundlagen angenommen, die ihrerseits nicht zu rechtfertigen
sind. Ähnliches gilt für die Prinzipien und Prämissen ethischer Argumente, deren Ziel
es ist, Verpflichtungen oder Regeln zu rechtfertigen. Ethische Argumente werden
meist in Form von Geltungsketten präsentiert, in denen abgeleitete Geltungen auf
unabgeleitete zurückgeführt werden. Wenn dieser Begründungzusammenhang
tatsächlich gegeben ist und die Argumente kohärent und richtig sind, sind deren
Resultate insgesamt gerechtfertigt. Auch bei Verträgen werden ähnliche, unabgeleitete
Voraussetzungen ihrer Geltung, Anerkennung und Rechtmäßigkeit angenommen. Aus
den
unabgeleiteten
Voraussetzungen
und
den
allgemein
akzeptierten
Begründungsverfahren entsteht dann die den Beweisen, Argumentationen oder
Verträgen eigene Verbindlichkeit.
Als Beispiele für die Fallgruppe 1. mit (b) dienen Versprechen und andere
öffentlich geäußerte und rechtfertigbare Verpflichtungen, aber auch Regeln wie das
Rechts- oder Linksfahren im Straßenverkehr. Solche Verpflichtungen oder Regeln
gelten
und
werden
auch
ohne
Rechtfertigung
anerkannt.
Wenn
deren
Geltungsgrundlagen anerkannt sind, lassen sich daraus weitere Verpflichtungen oder
Vorschriften ableiten, wie z.B. Verkehrsordnungen. Für das Rechts- oder Linksfahren
selbst gibt es aber keine Rechtfertigung, die jeweils zwingend für das eine oder andere
wäre. So verhält es sich mit vielen anderen sozialen Konventionen und Praktiken, aber
auch mit so grundlegenden Ansprüchen wie dem Lebensschutz. Dass das menschliche
Leben uneingeschränkten Schutz genießt, ist nicht eigens zu begründen, aber anders
als das Rechts- oder Linksfahren auch keine bloße Konvention. Vielmehr muss die
Geltung dieses Anspruchs so anerkannt werden, als wäre sie begründet. Wenn ein so
grundlegender Anspruch wie der Lebensschutz dann und nur dann gelten und
anerkannt würde, wenn es für den Schutzanspruch eine Rechtfertigung gäbe (Fall 4.
mit (f)), wäre der Anspruch selbst nicht unabgeleitet gültig; er hätte dann nur eine
abgeleitete Geltung. Dies ist aber nicht denkbar, weil die Frage, wovon sich die
Geltung des Lebensschutzes dann ableiten ließe, nicht beantwortet werden könnte.
Abgeleitete Ansprüche lassen sich je nach Interessenlage in Frage stellen; ihre Geltung
mag theoretisch gesichert erscheinen, ist aber praktisch ungesichert. Dies ist die
praktische Konsequenz, wenn die Kriterien der Transitivität und Unabgeleitetheit für
primäre Geltungsansprüche nicht angewandt werden können. Wenn für bestimmte
Forderungen allein mit theoretischen, praktischen oder juristischen Rechtfertigungen
Geltung beansprucht wird, ohne dass es eine unabgeleitete Geltungsgrundlage gibt, die
Anerkennung einschließt, kann nicht sinnvoll von einer Geltung dieser Forderungen
gesprochen werden. Lediglich stipulierte Geltungen sind genau genommen nur
scheinbare Geltungen und können nicht als Grundlage von Rechtfertigungen dienen.
Ähnliches würde z.B. schon im Rahmen einer an Kant orientierten ethischen Theorie
auf Kategorische Imperative zutreffen, wenn die Geltung der Selbstzwecklichkeit des
Menschen und das Gesetz (der Vermeidung) des Widerspruchs beim allgemein
gültigen Wollen einer Maxime nicht vorausgesetzt werden könnten. Ähnlich wäre es
unsinnig von der Geltung z.B. des Rauchverbots zu sprechen, wenn es nicht anerkannt
würde und es für das Verbot lediglich eine von niemandem ernst genommene,
wissenschaftliche Rechtfertigung gäbe (4. mit (e)).
Für die 2. und 4. Fallgruppen können wir an die Steuergesetzgebung denken.
Die Pflicht, Steuern zu bezahlen, ist unpopulär, gilt aber, auch wenn sie nicht von allen
anerkannt wird, in einer rechtlich verbindlichen und parlamentarisch festgelegten und
gerechtfertigten Höhe (2. mit (g)). Die genaue Höhe der Steuern hat keine
unabgeleitete
Geltungsgrundlage;
sie
kann
unterschiedlich
begründet
und
gerechtfertigt werden. Für die Steuergesetzgebung und deren Verbindlichkeit, gibt es
dagegen in Gestalt des Parlaments und seiner Entscheidungen eine unabhängige
Geltungsgrundlage. Kaum jemand würde die normative Tatsache der Verbindlichkeit
des Steuerzahlens anerkennen, wenn kein legitim erlassenes Gesetz dazu nötigen
würde. Die Verbindlichkeit des Steuerzahlens hat in der Gesetzgebung eine
unabgeleitete Geltungsgrundlage. Bei der Höhe der Steuern handelt sich also um eine
konditionale Geltung im Sinn der Fallgruppe 4. mit (f), bei der Steuergesetzgebung
selbst um Geltung im Sinn der Fallgruppen 1. mit (a) oder 2. mit (g). Das Verhältnis
der Menschen zum Steuernzahlen zeigt, dass Anerkennung zwar freiwillig, aber nicht
notwendig ohne Zwang sein muss. Steuerhinterziehung ist in diesem Sinn nicht
ausgeschlossen, wird aber bestraft. Viele Fälle lassen sich auch mehreren Gruppen
zuordnen. Das Rauchverbot kann neben 4. mit (e) oder 4. mit (f) auch unter 8. mit (h)
fallen. Es kommt darauf an, ob und unter welchen Bedingungen Anerkennung
vorausgesetzt werden kann.
Für die 3. und 8. Fallgruppen gibt es verwandte Beispiele. Es sind jeweils
Regeln, Normen, Konventionen oder Praktiken, die nur deswegen gelten, weil sie auch
tatsächlich anerkannt werden (3. mit (b)). Ein Beispiel dafür ist die Goldene Regel12,
die jedermann einleuchtet, ein anderes die religiös oder areligiös geübte Praxis, Tote
zu bestatten. Natürlich können beide Regeln auch missachtet und nicht anerkannt oder
unterschiedlich befolgt werden. Dann gibt es, den Fallgruppen 6. und 7. entsprechend,
auch die Möglichkeit, dass etwas nur scheinbar gilt, aber anerkannt und nicht
gerechtfertigt ist, z.B. gefälschte Dokumente oder Banknoten oder der Erbanspruch
einer Person, der scheinbar gerechtfertigt und faktisch anerkannt ist, obwohl er nicht
wirklich gilt, weil er erschlichen ist. Für die Fallgruppe 7. mit (e), also Rechtfertigung
ohne unabgeleitete Geltung und ohne Anerkennung kommen Argumentationen in
Frage, die logisch und begrifflich kohärent, aber irrelevant sind. Sie können sich
lediglich auf abgeleitete Geltungen berufen, die ihrerseits einer genaueren Prüfung
nicht standhalten. Als Beispiele für solche Zusammenhänge können Argumentationen
dienen, die davon ausgehen, dass der ethische Status von Personen nur Lebewesen
zugesprochen wird, die zu rationalen geistigen Leistungen fähig sind. Geistig
Behinderte, für die der Würdeschutz ohne Zweifel in einem unabgeleiteten Sinn gilt,
würden nach solchen Argumentationen diesen Schutz nicht genießen. Da es keine
unabgeleitete Geltungsgrundlage für Argumente jener Art gibt, sind die auch nicht
einschlägig und können nicht anerkannt werden, selbst wenn sie in einem formalen
argumentativen Sinn richtig sind.
Offen ist bisher, welche Beispiele wir für die Fallgruppe 2. mit (c),
unabgeleitete Geltung ohne Anerkennung und ohne Rechtfertigung nennen können.
Dieser Fallgruppe sind beispielsweise alle die Kräfte zuzurechnen, die den Gesetzen
der Natur zugrunde liegen, unabhängig davon, ob die Gesetze entdeckt sind oder nicht.
Die Kräfte sind auf verstandene oder unverstandene Weise wirksam, aber als solche in
ihrer Geltung unabgeleitet. Fallgruppe 2. mit (c) bezieht sich vor allem auf noch
unentdeckte Gesetze, auch noch nicht Teil von wissenschaftlichen Rechtfertigungen
sein können. Wir können uns auch Beispiele für abgeleitete Geltung ohne
Anerkennung und Rechtfertigung vorstellen. Die Zerstörung des Ozongürtels der Erde
durch FCKWs ist dafür zumindest bis vor einiger Zeit ein Beispiel gewesen. Die
Tatsache, dass diese Gase den Ozongürtel zerstören können, lässt sich chemisch
analysieren. Die Geltung dieser Analysen ist abgeleitet, deren naturwissenschaftliche
Grundlagen allerdings nicht.
In einer Version, die bereits Schulkinder lernen, lautet die Goldene Regel: ‚was du nicht willst, das man dir tu,
das füg auch keinem anderen zu’.
12
Die eben erwähnten Beispiele können nicht den Anspruch erheben, für alle
denkbaren Fälle zu stehen bzw. alle Fallgruppen erschöpfend zu repräsentieren. Sie
sind
aber
doch
hinreichend
für
ein
Bild
der
komplexen
Struktur
von
Geltungszusammenhängen. Selbst für eine trivial erscheinende Wertverteilung wie (d)
gibt es Beispiele wie Doping oder jede andere verwerfliche Handlungsweise, deren
Wirkung generell widerrechtlich und illegitim ist. Erhellend ist, dass der Wert F der
Geltung in (e), (f) und (h) sinnvoll nur konditional angenommen werden kann. Die
abgeleitete Geltung wird dabei nur in Abhängigkeit von Anerkennung oder
Rechtfertigung angenommen und bleibt hypothetisch. Die Beispiele zeigen, dass die
Substitution der Geltung durch Anerkennung oder Rechtfertigung nicht tragfähig ist
und lediglich von einer abgeleiteten Geltung ohne wirkliche Geltungsgrundlage
gesprochen werden kann.
Einige Beispiele zeigen, dass es soziale Normen oder Praktiken gibt, die gelten,
ohne dass sie von allen anerkannt oder durch irgendeine Institution begründet wären.
Es ist wichtig, dies zu erkennen, weil damit klar wird, dass unabgeleitete Geltung
weder notwendig breite oder allgemeine Anerkennung noch explizite Rechtfertigung
einschließt. Die Transitivität und Asymmetrie der Beziehung zwischen unabgeleiteter
Geltung auf der einen und Anerkennung und Rechtfertigung auf der anderen Seite ist
nicht kausal zu verstehen. Die unabgeleitete Geltung von Kräften der Natur und der
mit ihnen verbundenen Gesetzmäßigkeiten kann – wie eben schon als Beispiel für die
Fallgruppe 2. mit (c) erwähnt - verborgen sein. Es wäre nicht plausibel davon zu
sprechen, dass sie erst seit ihrer Entdeckung gelten, da sie schon davor wirksam
waren, ohne dass dies bekannt oder anerkannt gewesen wäre.
Der Geltung von Axiomen, Prinzipien, grundlegenden Regeln und Normen,
aus denen sich abhängige oder abgeleitete Geltungen und Ansprüche ableiten lassen,
liegen keine rationalen Begründungs- und Rechtfertigungsprozesse zugrunde. In ihrer
einfachsten Form beruht die Geltung wie bei Axiomen oder Prinzipien auf
vernünftiger Einsicht oder wie bei Versprechen auf bloßen Äußerungen oder wie bei
Absprachen oder rein verbalen Verträgen auf Handlungen wie einem Handschlag.
Implizite Verträge, wie sie von Kontraktualisten zwischen den Bürgern eines Staates
und seinen Institutionen angenommen werden oder die Verpflichtung von Ärzten,
ihren Patienten nicht zu schaden, gelten auch ohne ausdrückliche Absprachen.
Schriftlichkeit ist für viele Geltungen keine Voraussetzung wie das englische Common
Law zeigt. Beispiele für unausdrückliche Geltungen sind Konventionen13 wie das
Rechts- oder Linksfahren, an die sich Menschen aus Gewohnheit und zum
wechselseitigen Vorteil halten.
Netze von Gründen
Diese Überlegungen zeigen, wie verschränkt die Beziehungen zwischen
Geltung, Anerkennung und Rechtfertigung sind. Sie bestätigen die anfangs gemachten
Annahmen, dass das Verhältnis zwischen unabgeleiteter Geltung und Rechtfertigung
asymmetrisch und transitiv ist. Rechtfertigungen sind von unabgeleiteten Geltungen
abhängig, aber nicht umgekehrt. Unabgeleitete Geltungen setzen nichts anderes voraus
und sind in diesem Sinn einfach und nicht reflexiv. Rechtfertigungen sind in dem Sinn
reflexiv, dass sie immer etwas voraussetzen, was gilt und seinerseits implizit
grundlegend
(unabgeleitete
Geltungen)
oder
explizit
begründet
(abgeleitete
Geltungen) ist. Insofern ruht jede Rechtfertigung auf der Geltung der Gründe, die sie
in Anspruch nimmt. Es ist wichtig in diesem Zusammenhang den Plural ‚Gründe’ zu
beachten. Selbst in Fällen, in denen ein einziger Grund eine Anerkennung und
Rechtfertigung trägt, darf dieser Grund nicht atomistisch verstanden werden. Jeder
Geltungsgrund, unabhängig davon, ob er auf einer unabgeleiteten oder abgeleiten
Geltung beruht, ist mit anderen verbunden, und nur im Rahmen des Verbundes von
Gründen kann von der Geltung dieser Gründe gesprochen werden. Wenn etwas gilt,
dann immer auch etwas anderes.
Dieser holistische Charakter der Gründe setzt unabgeleitete Geltungen voraus;
jedes Netz von Gründen wäre sonst zirkulär, irrelevant und tautologisch. Die
argumentative Belastbarkeit eines Netzes von Gründen hängt von der Kraft
unabgeleiteter Geltungen ab. Auf deren Anzahl kommt es dabei nicht an. In einem
System logischer Gründe kann die unabgeleitete Geltung des Prinzips des
Widerspruchs für die Rechtfertigung des ganzen Systems genügen. In einem Netzwerk
ethischer Gründe, die zu gegensätzlichen Zwecken wie der Erhaltung oder der
Nichterhaltung menschlichen Lebens etwa im Rahmen der Sterbehilfe herangezogen
werden können, wird die unabgeleitete Geltung der Menschenwürde als alleiniges
Prinzip nicht genügen. Die Gründe, die z.B. für die Sterbehilfe sprechen, werden den
13
Was Konventionen sind, beschrieb David Lewis (Konventionen. Eine sprachphilosophische Abhandlung,
Berlin/New York: de Gruyter 1975).
autonomen Willen des Patienten in Anspruch nehmen und ihn argumentativ mit den
Ansprüchen der Menschenwürde verbinden.14
Die Vernetzung der Gründe und die Kette von unabgeleiteten und abgeleiteten
Geltungen
entstehen
außer
in
logischen
Kontexten
nicht
durch
strikte
Folgerungsbeziehungen. Die unabgeleiteten Geltungen sind in allen Kontexten, auch
in der Logik, logisch unabhängig von einander. Dies trifft auch auf die von ihnen
generierten Gründe zu. Ein anschauliches Beispiel für diese logisch unabhängige, aber
dennoch verbundene Menge von unabgeleiteten Geltungen sind einige Ansprüche im
Katalog der Menschenrechte. Der Anspruch auf Freiheit und der auf Gleichheit sind
z.B. logisch unabhängig voneinander. Sie bilden aber nur in ihrer Verbindung die
Grundlage aller wesentlichen Ansprüche der Menschenrechte insgesamt. Auch logisch
voneinander unabhängige Geltungsgründe bilden nur im Verbund ein festes Netz von
Geltungen, die sich auf holistische Weise wechselseitig stützen. Manches, aber nicht
jedes Netz von Gründen ist seinerseits zu rechtfertigen. Die Verbindung zwischen
Freiheits- und Gleichheitsansprüchen kann, um im Beispiel zu bleiben, aus der
Perspektive des Würdeanspruchs gerechtfertigt werden. Dessen Geltung und die von
ihm getragene Verbindung von Geltungsansprüchen sind ihrerseits aber nicht
begründbar. Dies ist einer der inzwischen hinreichend bekannten Grundgedanken
dieses Beitrags, dass jede Rechtfertigung Geltungen oder Geltungsgründe voraussetzt,
die nicht zu rechtfertigen sind.15 Sie gelten ähnlich unbegründet wie das
Widerspruchsprinzip. Die asymmetrische Verbindung von unabgeleiteter Geltung mit
Rechtfertigungen und die Abhängigkeit aller Rechtfertigungen von Geltungen und
Geltungsgründen erlauben es nur, dass abgeleitete Geltungen durch Rechtfertigungen
kontrollierbar sind. Die Wirksamkeit dessen, was unabgeleitet gilt, ist am Ende nicht
zu rechtfertigen.
Dies bedeutet aber nicht, dass am Ende aller Rechtfertigungen die kritiklos zu
akzeptierende, grundlose Autorität erster Gründe oder Prinzipien steht. Es können
Praktiken wie die Frauenbeschneidung (Fallgruppe 8. mit (h)) gelten, die in Ethnien
gelten und anerkannt sind, deren Geltung aber im Widerspruch zu den
Menschenrechten steht und durch kein Netz von Geltungsgründen gestützt wird. Die
Siehe dazu im Einzelnen meinen Beitrag „Ethische Grundlagen ärztlichen Handelns“ in: Roxin/Schroth
(Hrsg.), Medizinstrafrecht, 3. Aufl., Stuttgart u.a. 2007.
15
Ludwig Wittgenstein hat in Über Gewißheit (in: Werkausgabe, Bd. 8, Frankfurt: Suhrkamp 1989, 113-257)
diesen Gedanken vielfach variiert: „166. Die Schwierigkeit ist, die Grundlosigkeit unseres Glaubens
einzusehen.“ „192. Es gibt freilich Rechtfertigung; aber die Rechtfertigung hat ein Ende.“ „253. Am Grunde des
begründeten Glaubens liegt der unbegründete Glaube“.
14
Verstümmelung der Genitalien von Frauen, die im Kindesalter und daher auch nicht
einwilligungsfähig sind, verletzt Menschenrechte wie den Anspruch auf körperliche
Unversehrtheit und den Anspruch auf Lebensschutz. Praktiken dieser Art gelten häufig
in Ethnien, wenn ihre Geltungsbedingungen so wie korrekt entstandene Satzungen
anerkannt sind, letztlich aber keine unabgeleitete Geltung zur Grundlage haben.16
Geltungsgründe, d.h. Gründe dafür, dass etwas gilt, also abgeleitete Geltungen,
stehen immer – zumindest potentiell - unter Rechtfertigungsdruck. Wo es aber keine
Rechtfertigungen mehr geben kann, herrscht nicht etwa die Macht einer
unbegründbaren Autorität. Erste Prinzipien wirken wie Autoritäten, werden
gewöhnlich anerkannt und sollten auch im holistischen Netz von Geltungsgründen
anerkennbar sein. Wenn sie in keinem Netz von Geltungsgründen wie etwa den
Menschenrechten oder einer Menge logischer Axiome oder wissenschaftlicher
Gesetzmäßigkeiten anerkennbar sind, haben sie entweder keine Geltung oder sie sind
wie die Gesetzmäßigkeiten der Relativitätstheorie unmittelbar nach ihrer Entdeckung
durch Einstein noch nicht in einen Kontext von Geltungsgründen eingebettet.
Geltungsgründe fordern Anerkennung, aber Anerkennung ist, wie die Beispiele der
Frauenbeschneidung oder der Relativitätstheorie zeigen, weder ein notwendiges noch
ein hinreichendes Kriterium für Geltung. Anerkennung mag sich in schweigender oder
lautstarker Zustimmung ausdrücken, ist aber deswegen nicht schon zuverlässig. Als
Stufe der Rechtfertigung erscheint sie dann zuverlässig zu sein, wenn sie sich im
Handeln zeigt.17 Da Anerkennung aber nicht gegen Irrtum gefeit ist, lässt sich aus ihr
auch keine Geltung ableiten. Tatsächlich fanden zu viele Autoritäten Anerkennung,
die sie bei kritischer Betrachtung ihrer Wirkungsweisen nicht verdient hätten. Das
Verhältnis zwischen Geltung und Rechtfertigung ist aus diesem Grund nicht frei von
möglichen Gegensätzen, Spannungen und Widersprüchen.
Auch zwischen unabgeleiteten Geltungen sind, wie das Beispiel der
Frauenbeschneidung zeigt, Konflikte möglich. Unabgeleitete Geltungen sind
untereinander nicht notwendig kohärent. Es wäre übrigens zu einfach, Konflikte
zwischen unabgeleiteten Geltungen auf Verhältnisse zwischen der unabgeleiteten
Geltung ethnischer Sitten wie der Frauenbeschneidung auf der einen und
Max Weber benutzte für Geltungen dieser Art den Ausdruck „Legalitätsglaube“ (a.a.O., 19). Das Beispiel der
Frauenbeschneidung diskutiere ich in Die Möglichkeit des Guten (München 2006, 90-94).
17
Wittgenstein drückte diesen Gedanken so aus: „204. Die Begründung aber, die Rechtfertigung der Evidenz
kommt zu einem Ende; - das Ende aber ist nicht, daß uns gewisse Sätze unmittelbar als wahr einleuchten, also
eine Art Sehen unsererseits, sondern unser Handeln, welches am Grunde des Sprachspiels liegt.“ Über
Gewissheit, a.a.O.)
16
Geltungsgrundlagen des Rechts wie den Menschenrechten zu beschränken. Solche
Konflikte sind offensichtlich, aber in der Regel auch über die Delegitimierung einer
unabgeleiteten Geltung zu lösen. Weniger offensichtlich sind Konflikte zwischen der
unabgeleiteten Geltung ethischer Prinzipien innerhalb eines Netzwerks von Gründen.
Zwischen allgemein anerkannten und unabgeleitet geltenden Prinzipien wie dem
Schadensverbot und der Patientenautonomie können innerhalb des Netzwerks
ethischen Begründungen unter bestimmten Bedingungen Konflikte entstehen.18 Aber
auch zwischen Netzwerken von Geltungen und den Gründen, die sich aus ihnen
ableiten lassen, können Konflikte auftreten.19 Diese Konflikte können im Rahmen
eines bestimmten Netzwerks von Gründen unlösbar sein.20
Sittliche und ethische Geltung
Netzwerke von Geltungen, aus denen immer wieder Konflikte entstehen, sind
kultureller, ethischer, religiöser und rechtlicher Natur. Spannungen zeigen sich etwa
im Verhältnis zwischen kulturell oder religiös bedingten Sitten auf der einen und
ethisch oder rechtlich begründeten Forderungen auf der anderen Seite. Die oben
geforderte Transitivität im Verhältnis zwischen Geltung und Rechtfertigung kann
nicht ohne weiteres auf das Verhältnis zwischen Sitte, Ethik und Recht übertragen
werden. Dennoch gibt es, was die Geltung ethischer und rechtlicher Forderungen
angeht, deutliche Abhängigkeiten von sittlicher Geltung. Was ‚sittliche Geltung’ bzw.
Geltung in der Sitte21 bedeutet, zeigen etwa die Zehn Gebote. Sie gelten in der
jüdischen und christlichen Tradition, ohne gerechtfertigt oder rechtfertigbar zu sein.
Ihre Forderungen bilden zusammen mit vielen anderen ein Netz von Geltungsgründen.
Diese lassen sich aber nicht einfach in ethische oder rechtliche Geltungen übertragen.
Die sittliche Geltung unterscheidet sich in einigen Aspekten von ethischer oder
rechtlicher Geltung. Für letztere muss nicht notwendig das Kriterium der
Anerkennung erfüllt sein. Anerkennung ist aber ein wesentlicher und unverzichtbarer
Bestandteil sittlicher Geltung. Dass etwas sittlich gilt, zeigt sich im Verhalten der
Menschen. Was im menschlichen Verhalten an normativen Ansprüchen nicht wirksam
18
Die Möglichkeit dieses Konflikts untersuche ich in dem in Anmerkung 14 erwähnten Aufsatz.
Robert Alexy geht auf Konflikte zwischen Geltungen ein (Begriff und Geltung des Rechts, Freiburg/München
4
2005, 144-153.
20
Unlösbare Konflikte im Rahmen ethischer Argumentationen behandle ich im zweiten Kapitel meines Buches
Die Möglichkeit des Guten.
21
„Sitte“ bedeutet, wie Max Weber sie erklärte, ein „eingelebte Gewöhnung“ (a.a.O., 16) an Ordnungen, die
„kraft Heilighaltung der Tradition“ gelten (a.a.O., 19). Das Wort kann stellvertretend für alle Verhaltens- und
Umgangsformen, aber auch für Bewertungsweisen, die in einer Gesellschaft gelten, gebraucht werden.
19
wird und sich nicht von allein durchsetzt, gehört nicht zur Sitte. In den durch kulturelle
Vielfalt geprägten Netzwerken von Sitten, lassen sich normative Ansprüche der
Lebensführung und des Verhaltens finden, die weder eine ethische noch eine
rechtliche Geltung beanspruchen können. Außerdem sind die Netzwerke von Sitten,
häufig aufgrund ihrer religiösen Prägung, weder wechselseitig kompatibel noch gar
kohärent. Andererseits können bestimmte Forderungen ethisch oder rechtlich gelten,
ohne dass sie allgemein anerkannt sind und zu einem Netzwerk von Sitten gehören.
Die Menschenrechte gelten z.B. auch dann, wenn sie in einer Ethnie nicht
durchsetzbar oder allgemein anerkannt sind.22 Was jenseits der Sitte gültig ist und in
einem eigenen Netz von Gründen auch als gerechtfertigt erscheint, kann im sittlichen
Sinn nicht ohne den Nachdruck einer Autorität gelten. Sittliche Geltung wirkt wie eine
natürliche Autorität, ist aber nicht über alle Zweifel erhaben, weil sie auf fragwürdigen
Anerkennungsverhältnissen beruhen kann.
Ethik und Recht haben im Unterschied zur Sitte keine natürliche, aber eine
wissenschaftliche und begriffliche und – was die Forderungen des Rechts angeht –
auch eine staatliche und politische Autorität.23 Ethische und rechtliche Ansprüche
können ihre Autorität nur über die Kriterien der Objektivität von Regelungen,
Argumenten und Verfahren behaupten. Es ist eine der Aufgaben der Ethik, Verfahren,
Urteile und Handlungen mit Gründen zu rechtfertigen. Sie fördert die Einsicht in diese
Gründe, stellt sie aber nicht bereit und kann auch – ähnlich wie das Recht – keine
sittlichen, sozialen, oder politischen Bedingungen ihrer Geltung schaffen. Aus eigener
Kraft leistet die Ethik nur Rechtfertigungen, aber keine Geltungen. Wenn diese
Rechtfertigungen in geltendes Recht integriert werden, kann die Ethik indirekt
Geltungsgründen Gehör verschaffen. Im Übrigen sind die Geltungsgründe, welche die
Ethik argumentativ gebrauchen, dabei stützen und bewusst machen kann, was ihre
praktische Geltung angeht, von der Einsichtsfähigkeit der Menschen und ihrer
Bereitschaft, sie anzuerkennen, abhängig.
Die wissenschaftliche Autorität der Ethik muss sich immer wieder aufs Neue
bewähren, wenn Geltungsgründe verändert, entkräftet oder durch andere ersetzt
werden. Normative Veränderungen sind Ausdruck sittlichen Wandels. Ein Beispiel ist
22
Noch weitreichender ist die Unabhängigkeit von kulturellen Geltungen in den Bereichen von Logik und
Mathematik.
23
Joseph Raz hat eine Theorie der Autorität entwickelt, die zeigt, dass Autorität per se Geltungsgründe
repräsentieren und Geltungen ersetzen kann (Pratical Reasons and Norms, Oxford 1975, Kap.2; The Authority of
Law, Oxford 1979; „Authority, Law, and Morality“, in: Ethics in the Public Domain, Oxford 1994).
die Veränderung der grundlegenden Ansprüche des Lebensschutzes, die in jüngerer
Zeit in einigen Staaten zur rechtlichen Verankerung der passiven, der indirekten und –
etwa in Holland und Belgien - sogar der aktiven Sterbehilfe geführt haben. Ethische
Überlegungen können Veränderungen dieser Art durchaus nahe legen oder gar
fordern. Tatsächlich zu erreichen sind sie aber nur, wenn sich die sittlichen
Geltungsgrundlagen
verändert
haben
und
der
soziale
und
politische
Willensbildungsprozess dazu geführt hat, dass zumindest der Gesetzgeber Ansprüche
der Sterbehilfe in einem bestimmten Rahmen für vereinbar mit denen des
Lebensschutzes
hält.
Diese
Veränderungen
der
Geltungsgrundlagen
des
Lebensschutzes waren immer wieder in ethischen Debatten gefordert worden. Ebenso
hörbar waren aber auch die ethischen Einwände gegen diese Veränderung. Der Ethik
fällt es aufgrund ihrer natürlichen, sittlich begründeten Vielstimmigkeit nicht leicht,
ihre wissenschaftliche Autorität zu behaupten. Das Vertrauen in ihre Fähigkeit,
objektiv für das, was gut und gegen das, was schlecht ist, zu argumentieren, wird von
ihr selbst immer wieder in Frage gestellt. Dieses Erscheinungsbild zeigt aber nur, dass
die Ethik selbst nicht jenseits der Sitte steht und immer eingebettet in einen kulturellen
Rahmen argumentiert. Nur innerhalb dieses Rahmens kann sie ihren Anspruch,
objektiv zu argumentieren, vertreten. Ihre argumentativen Leistungen werden deshalb
nie frei von weltanschaulichen und sittlichen Prägungen sein, die in die
wissenschaftliche Urteilsbildung einfließen. Die sittlichen Einstellungen dürfen nur
nicht die Stelle von ethischen Argumenten einnehmen. Wenn sich ein ethisches
Argument direkt oder indirekt auf sittliche Geltungsgründe wie z.B. das Tötungsverbot
beruft, wird offensichtlich, dass auch ethische Geltungsgründe in sittlichen verankert
sind.
Das Verhältnis zwischen sittlicher und ethischer Geltung ist keineswegs
konfliktfrei. Einerseits kann die Ethik nur wissenschaftliche Autorität haben, wenn
ihre Begründungsverfahren und deren unterschiedliche Typen unabhängig von der
Sitte sind. Andererseits hätte die wissenschaftliche Autorität der Ethik keine Basis und
ginge ins Leere, wenn sich ihre Begründungsverfahren nicht auf unabgeleitete
Geltungsgründe wie das Tötungsverbot, den Lebensschutz oder die Menschenwürde
berufen könnte, die in der Sitte verwurzelt sind. Diese sittlichen Wurzeln der ethischen
Geltungsgründe wirft die Frage auf, ob der Anspruch auf objektive und
wissenschaftliche Begründungen in der Ethik überhaupt, angesichts der Bindung an
das Netz sittlicher Geltungsgründe, sinnvoll vertreten werden kann. Dementsprechend
gibt es Befürworter und Gegner des wissenschaftlichen Anspruchs der Ethik, objektiv
argumentieren zu können.24 Ethik ließe sich nicht wirklich von der Sitte und von
kulturellen oder religiösen Einstellungen oder von bloßem Geschmack und
ästhetischen Haltungen unterscheiden, wenn ihre Begründungen nicht den Kriterien
der Objektivität genügen würden.
Objektive Geltung
Nicht nur im Zusammenhang mit dem ethischen Anspruch auf objektive
Begründungen, stellt sich die Frage, was ‚objektive Geltung’ bedeutet. Im Anschluss
an die Geltungstafel repräsentiert die Fallgruppe 1. (a) bereits, was damit in
unterschiedlichen theoretischen und praktischen Kontexten gemeint ist. Der Anspruch
auf Objektivität wird gewöhnlich mit dem Ergebnis und nicht mit den
Voraussetzungen eines Rechtfertigungsprozesses in Verbindung gebracht. Dies ist
eine ungerechtfertigte Verkürzung. Schon die Geltung eines Beweisergebnisses
verdankt seine Objektivität nicht allein dem Beweisverfahren, sondern auch dessen
axiomatischen Grundlagen, die nicht nur am Anfang stehen, sondern im gesamten
Verfahren beachtet werden müssen. Die logische Einfachheit und Unabgeleitetheit, die
Transitivität, Nichtreflexivität und Vernetztheit von Geltungsgrundlagen qualifizieren
nicht nur den Ausgangspunkt von Geltungsansprüchen, sondern auch deren
Verwendung und Einlösung in argumentativen Prozessen. Neben den eben
wiederholten Kriterien, denen Geltungsgründe genügen sollten, stehen auch die
Kriterien, welche ihre Objektivität ausmachen. Es sind im Einzelnen die Kriterien der
Wahrheit, der Verständlichkeit, der Nachprüfbarkeit, der Einschlägigkeit und der
potentiellen Revidierbarkeit. Diese Kriterien beziehen sich sowohl auf die
Geltungsgründe als auch auf die Argumente oder Verfahren, in denen sie gebraucht
werden. Es mag künstlich erscheinen, Axiome oder sittliche Geltungsgründe im
Unterschied zu Beweisverfahren oder Argumentationsprozessen mit jedem dieser fünf
Kriterien in Verbindung. Wenn man die Geltungsgründe oder Axiome aber als
Tatsachen ansieht, fällt es nicht weiter schwer, sie als wahr anzusehen und von ihnen
zu erwarten, dass sie verständlich und einschlägig sind. Selbst nachprüfbar und
revidierbar sollten die Geltungsgründe sein, schließlich sollten wir uns versichern
24
Argumente für den ethischen Objektivismus bzw. Realismus aus einer humeanischen Perspektive entwickelte
u.a. Michael Smith (The Moral Problem, Oxford 1994), nachdem aus einer verwandten Perspektive J.L. Mackie
fast zwei Jahrzehnte früher den Objektivitätsanspruch der Ethik verworfen hatte (Ethics. Inventing Richt and
Wrong, Harmondsworth 1977). Kritik an Mackies Argumenten übt sehr überzeugend David Wiggins (Ethics.
Twelve Lectures on the Philosophy of Morality, Cambridge (Mass.) 2006, Kap.III.
können, dass wir es nicht nur mit scheinbaren Gründen zu tun haben, außerdem sollte
es möglich sein, selbst in formalen Argumentationsprozessen bestimmte axiomatische
Voraussetzungen im Lichte veränderter Überlegungen zu revidieren. Im Rahmen
ethischer Argumentationen fällt es leichter, eine analoge Revision im Blick auf
veränderte sittliche Geltungsgründe zu akzeptieren. Im Rahmen des Sprachgebrauchs
deutlich natürlicher erscheint die Anwendung der fünf Kriterien der Objektivität auf
argumentative Verfahren und deren Ergebnisse.
Kehren wir noch einmal zur Frage der Objektivität in der Ethik zurück. Die
fünf Kriterien sind offensichtlich nicht gegen sittliche Geltungsgrundlagen als solche
gerichtet. Denn sofern sie gelten, handelt es sich um Tatsachen, für die nichts anderes
zutrifft als für Axiome oder andere Geltungsgründe. Außerdem lassen sie sich ohne
weiteres auf ethische Begründungen beziehen, unabhängig davon, ob sie direkt auf
sittliche Geltungen Bezug nehmen oder nicht. Die Abhängigkeit der Ethik von
sittlichen Geltungsgründen hat zwar einen inhaltlichen Einfluss auf die Resultate, aber
keinen direkten Einfluss auf die Regeln, nach denen argumentiert wird. Ähnlich
unabhängig von den Axiomen sind auch die Regeln eines Beweisverfahrens, letztere
können variieren, erstere nicht. Ohne die praktische Anerkennung des sittlichen
Netzwerks an Geltungsgründen durch die Sprecher und Adressaten ethischer
Argumentations- und Begründungsverfahren steht deren Anspruch auf Objektivität auf
tönernen Füßen. Wollte die Ethik auf die sittlichen Geltungsgründe ihrer Argumente
direkt Einfluss nehmen, würde sie ihre eigenen Voraussetzungen in Frage stellen.
Die Kriterien der Objektivität sind in vielen Kontexten anwendbar, aber
nirgends
unabhängig
von
bestimmten
Geltungsgründen
oder
axiomatischen
Annahmen. Augenfällig ist dies z.B. in Kants Urteilslehre in der Kritik der reinen
Vernunft, einem der Lehrstücke objektiver Geltung. Kant behauptet etwa, dass die
logische Form aller Urteile „in der objektiven Einheit der Apperzeption“ (B140), im
„Ich denke“ gegeben sei. Die allgemeine, logische Form des „Ich denke“ hat eine
Reihe von Eigenschaften. Entscheidend ist aber ihr axiomatischer, unabgeleiteter
Charakter als Einheit, die – für Kant - nicht nur die grundlegende Einheit des
Bewusstseins ist, sondern gleichzeitig allen Bewusstseinsgehalten ihre Form gibt.
Typisch für Kants transzendentale Auffassung von Objektivität ist allerdings, dass
diese Grundlage der Bildung von Urteilen nicht revidierbar ist. Alle übrigen Kriterien
der Objektivität sind auf seine Überlegungen aber anwendbar. Typisch für das „Ich
denke“ als axiomatische Voraussetzung ist, dass Kant für sie nicht eigens
argumentiert, sondern sie wie eine Selbstverständlichkeit, die jeder Vernünftige
anerkennen und verstehen muss, annimmt. Dass das „Ich denke“ als logische
Grundform in ihrer Funktionsweise nachprüfbar und einschlägig ist, bezweifelt der
Theoretiker der Subjektivität nicht. Die transzendentale Deduktion der Kategorien ist
im Anschluss an die Erläuterung der logischen Grundform aller Urteile wie eine
transitive Übertragung des Geltungsanspruchs dieser Form auf die Form der
Kategorien und die Objektivität der Urteile, die sich dieser Grundbegriffe der
Erkenntnis bedienen. Fraglich ist, ob Kant das in seinen Augen wohl primär
ontologische und nicht transzendentale Kriterium der Wahrheit auf das „Ich denke“
angewandt hätte.
In seiner Nachfolge haben Neukantianer wie Windelband, Rickert, Lask und
Bauch an der Differenz zwischen Ontologie und Transzendentalphilosophie
festgehalten und aus ihr methodisch dualistische Gegensätze wie die zwischen ‚Wert’
und ‚Sein’, ‚Werten’ und ‚Tatsachen’ und schließlich ‚Kultur’ und ‚Natur’
abgeleitet.25 Der Begriff ‚Geltung’ wurde dem Wertbereich in Stellvertreterfunktion
zur Wahrheit zugeordnet. Der Anspruch auf objektive Geltung wurde für den Bereich
der Werttheorie auf nicht näher ausgewiesene Weise aus einer „objektiven Logik“
abgeleitet. Genau genommen zerfällt dieser Anspruch in zwei miteinander
unverbundene Ansprüche, einen empirischen und einen nicht-empirischen, von denen
der eine als Sache der Natur-, der andere als Sache der Kulturwissenschaften erklärt
wird. Der neukantianische Dualismus ist noch im Titel Faktizität und Geltung von
Jürgen Habermas erkennbar.26 Tatsächlich folgt Habermas dem neukantianischen
Dualismus nicht wirklich, sondern sieht lediglich eine „Spannung zwischen Faktizität
und Geltung“ (a.a.O., 22, 35, 39), die er in seine Diskurstheorie integrieren und dort
auflösen will. Mit seinem Konzept der „kommunikativen Vernunft“ rekonstruiert er
sprechakt- und handlungstheoretisch zentrale Geltungsansprüche wie Wahrheit,
Wahrhaftigkeit und Richtigkeit als vernünftige soziale Tatsachen der menschlichen
Lebenswelt. In einer idealen Lebenswelt sollten diese Tatsachen mit der „Kraft des
Faktischen“ gelten. Der Anspruch, dass die Geltungsansprüche objektiv gelten, wird
von Habermas zumindest idealiter und theoretisch vertreten. Damit zerfällt dieser
Anspruch in seinem Ansatz in der Theoriebildung nicht in zwei wissenschaftlich
25
Eine Übersicht über diese Entwicklung bietet die Arbeit von L. Herrschaft: Theoretische Geltung. Zur
Geschichte eines philosophischen Paradigmas, Würzburg 1995.
26
Habermas, J., Faktizität und Geltung. Beiträge zur Diskurstheorie des Rechts und des demokratischen
Rechtsstaats, Frankfurt 1992, 4. durchges. u. erw. Aufl. 1994.
unverbundene heterogene Teile. Die oben beschriebenen Kriterien der Transitivität
und Asymmetrie gelten im Übrigen auch für den von Habermas entwickelten
Zusammenhang zwischen den Geltungsansprüchen und den Rechtfertigungsprozessen
seiner Diskurstheorie. Entsprechendes gilt auch für andere diskurstheoretische
Ansätze. Mit Ausnahme der Revidierbarkeit finden sich in diesen Ansätzen auch alle
hier vertretenen Kriterien der Objektivität.
Im Unterschied zu den in ihrer Bedeutung und Funktion leicht einsehbaren
Kriterien der Wahrheit, Verständlichkeit, Einschlägigkeit und Nachprüfbarkeit scheint
das Kriterium der Revidierbarkeit problematisch zu sein. Es scheint so, als bestünde
zwischen diesem Kriterium und dem der Wahrheit ein Widerspruch. ‚Revidierbarkeit’
bedeutet, dass bisherige Urteile relativ zum Stand des Wissens und der Erkenntnis
nicht mehr einschlägig oder tatsächlich falsch sind. Es liegt nahe, die Bedeutung
dieses Kriteriums erneut am Beispiel objektiv geltender Ansprüche in der Ethik zu
erläutern. Wenn es z.B. Erkenntnisse über die Entwicklungsstufen menschlichen
Lebens gibt, die dazu beitragen, dass sich die Urteile über den Beginn des
Lebensschutzes verändern, können sich frühere Festlegungen als unhaltbar erweisen.
Damit wird nicht die Geltung des Anspruchs auf Lebensschutz selbst revidiert,
sondern bisherige Urteile über dessen Beginn. Dagegen ließe sich einwenden, dass
sich das eine nicht vom anderen trennen lasse und die Geltung des Lebensschutzes
untrennbar mit seinem Beginn verbunden sei. Dieser Einwand würde nur dann
zutreffen,
wenn
der
Beginn
menschlichen
Lebens
eine
unbezweifelbare
wissenschaftliche Tatsache wäre und nicht eigens festgelegt werden müsste. Da die
Tatsache des Lebensbeginns aber Ergebnis einer Festlegung ist, trifft der Einwand
nicht zu. ‚Revidierbarkeit’ als Kriterium objektiver Geltung bedeutet, dass ethische
Urteile bei aller Entschiedenheit keinen absoluten, von neuen wissenschaftlichen
Erkenntnissen unabhängigen Status haben. Im Lichte neuer Einsichten sollten ethische
Urteile nicht nur überprüfbar, sondern auch veränderbar sein. Dies muss nicht heißen,
dass sich die Urteile in ihr Gegenteil verkehren. Modifikationen der Wertung
bestimmter Ansprüche und des Geltungsbereichs bestimmter Forderungen werden sich
aber in Modifikationen der Urteile niederschlagen.
Für ethische oder andere normative Urteile Objektivität und damit auch
Wahrheit zu fordern, ist nicht selbstverständlich. Es ist nämlich zum einen nicht klar,
in welchem Sinn normative Urteile überhaupt wahr sein können, zum andern hat die
Annahme, dass sie wahr sind, weitreichende Folgen. Wenn davon die Rede ist, dass
ein normatives Urteil wahr ist, geht es zunächst darum, ob das Urteil etwas behauptet,
was tatsächlich so ist. Urteile können nur wahr sein, wenn sich das, was sie behaupten,
auf Tatsachen bezieht. Es gibt, wie die Übersicht zu Beginn dieses Beitrags und eine
von E. Anscombe27 eingeführte Diskussion zeigt, unterschiedliche Arten von
Tatsachen und unterschiedliche Weisen, sie zu erklären und ihre Wahrheit zu
bestätigen. Tatsachen sind, wenn wir Wittgensteins schlichter Feststellung im Satz 2
seines Tractatus folgen wollen, „bestehende Sachverhalte“.28 Die Gravitation ist in
diesem Sinn z.B. ebenso eine Tatsache wie die Farbe eines Apfels. Beides sind
bestehende und nicht bloß mögliche Sachverhalte, und es ist typisch für bestehende
Sachverhalte, dass sie sich beschreiben und häufig auch erklären lassen. Es ist Sache
der Physik zu erklären, was ‚Gravitation’ für ein Sachverhalt ist; außerdem können wir
ihre Wirkung, wenn auch ungenau, wahrnehmen. Die Farbe eines Apfels können wir
ebenfalls wahrnehmen, beschreiben und wissenschaftlich erklären. Alle Urteile,
welche Sachverhalte dieser Art behaupten, sind wahr, weil sie sich auf Tatsachen
beziehen und diese Tatsachen selbst wahr sind.29 Wenn ethische Urteile wahr sein
sollen, müssen sie sich in ähnlicher Weise auf wahre Tatsachen beziehen. Nehmen wir
als Beispiel das Urteil ‚Oskar handelt verwerflich, weil er seinen Hund quält’. Wenn
dieses Urteil wahr sein soll, muss es sich auf eine wahre Tatsache beziehen, aber auf
welche? Wir können uns den gesuchten Bezug auf eine Tatsache als Schluss
vorstellen: Aus der Tatsache (1), dass es verwerflich ist, Menschen und Tiere zu
quälen und der weiteren Tatsache (2), dass Oskar seinen Hund Raudi quält, schließen
wir (3), dass Oskar verwerflich handelt, weil er seinen Hund Raudi quält. Es mag
ungewohnt sein, sittliche Grundnormen der Art, wie sie Satz (1) formuliert, als ‚wahr’
und als ‚Tatsachen’ zu bezeichnen. Dennoch handelt es sich um Tatsachen. Sie können
nicht natur-, dafür aber sozial- und kulturwissenschaftlich als Tatsachen der sozialen
und kulturellen Welt erklärt werden. Da sie auf ernst zu nehmende Weise erklärt
werden können, sollten wir sie auch als Tatsachen begreifen.
Es ließe sich nun einwenden, Tatsachen, die sozial- oder kulturwissenschaftlich
erklärt werden, seien lediglich Glaubenstatsachen und weniger zuverlässig als
physikalische. Dies ist ein Vorurteil. Letztlich müssen wir alle Tatsachen glauben; wir
27
Elizabeth Anscombe wies z.B. auf den Unterschied zwischen einfachen (brute) und institutionellen
(institutional) Tatsachen (facts) hin („On Brute Facts“, in: Analysis 18 (1957/58), 69-72).
28
Ludwig Wittgenstein, Tractatus logico-philosophicus, in: Werkausgabe Bd. 1, Frankfurt: Suhrkamp 1989, 11.
29
Peter Geach wies darauf hin, dass Wahres nur aus Wahrem folgen kann („Ascriptivism“, in: Philosophical
Review 69 (1960), 221-225 u. „Assertion“, in: Philosophical Review 74 (1965), 449-465). Diese logische
Forderung gilt für alle Folgerungsbeziehungen. Gerhard Ernst geht ausführlich auf dieses sog. Frege-GeachArgument ein (Die Natur der Moral, a.a.O., Kap. 2.2.).
tun es allerdings den jeweiligen Erklärungen entsprechend mit unterschiedlichen
Gründen. Es erscheint uns nur weniger problematisch zu sein, zu glauben, dass es die
Gravitation gibt oder dass der Apfel grün ist, als zu glauben, dass es verwerflich ist,
Menschen und Tiere zu quälen. Auch dies ist ein Vorurteil. Es mag daher rühren, dass
wir uns bei physikalischen Tatsachen und wahrnehmbaren Objekten mit Erklärungen
zufrieden geben, die zeigen, dass es sie gibt, und wie sie uns erscheinen. Bei sittlichen
Tatsachen wie der Verwerflichkeit des Quälens von Menschen und Tieren, wollen wir
aber gerne wissen, warum sie so sind, wie sie uns erscheinen.30 Wir sind bei solchen
Tatsachen eher geneigt, an ihrer Existenz zu zweifeln, weil wir nicht wirklich erklären
können, warum es sie gibt. Außerdem können wir ihren Tatsachencharakter nur
indirekt über das menschliche Handeln und Argumentieren wahrnehmen. Dagegen
nehmen wir Tatsachen wie die Farbe der Äpfel direkt wahr. Den Nachteil der
indirekten Wahrnehmung müssen wir bei sittlichen Tatsachen ebenso in Kauf nehmen
wie bei der Gravitation. Bei vielen Tatsachen kennen wir keine Antwort auf die Frage,
warum etwas so ist, wie es ist. Wir wissen z.B. nicht, welche Kraft hinter der
Gravitation steckt, also warum es sie überhaupt gibt, und ebenso wenig wissen wir,
warum es Äpfel gibt. Es ist aber dennoch möglich zu erklären, was beides ist. Wir sind
uns außerdem sicher, dass beides, Äpfel und die Gravitation, Tatsachen sind. Einer
ähnlichen Gewissheit steht die Skepsis31 im Weg, dass es uns vielleicht nur so
erscheint, als ob es tatsächlich verwerflich wäre, Menschen und Tieren zu quälen.
Dabei ist diese subjektive Skepsis auch bei allen anderen Tatsachen nicht restlos aus
der Welt zu räumen. Bei sittlichen Tatsachen fällt uns dies nur eher auf als bei
anderen. Die Gewissheit, dass es sittliche Tatsachen gibt, ist nicht unsicherer als jede
andere. Es ist ein Merkmal aller Tatsachen, dass sie so hinzunehmen sind, wie wir sie
auf der Grundlage der verfügbaren Erklärungen kennen. Für diese Gewissheit gibt es
keine zusätzlichen begründenden Argumente. Die Gewissheit gehört im Sinne
Wittgensteins zum Sprachspiel, obwohl es für sie keine Begründung gibt.
Wittgenstein trug in Über Gewissheit sehr viel dazu bei, dass wir grundlegende
Überzeugungen wie etwa die Verwerflichkeit des Quälens von Menschen und Tieren
als wahre Tatsachen verstehen können. Er wies nicht nur darauf hin, dass „am Grund
30
John Locke meint deswegen, dass moralische Regeln nicht zur angeborenen Ausstattung des Menschen
gehören und eines Beweises bedürften (An Essay Concerning Human Understanding, hg.v. A.S. PringlePattison, Oxford 1969, 29; Versuch über den menschlichen Verstand Bd.1, Hamburg 1981, 55).
31
J. L. Mackie hat mit seiner sog. Irrtumstheorie (error theory) und den Argumenten der Relativität und der
Sonderbarkeit (queerness) versucht, diese Skepsis zu untermauern (Ethics. Inventing Right and Wrong,
Harmondsworth 1977, bes. 36-42.
des begründeten Glaubens“ der unbegründete liege32, sondern fragte auch in seiner
unnachahmlichen Weise: „Warum soll es möglich sein, einen Grund zum glauben zu
haben, wenn es nicht möglich ist, sicher zu sein?“33 Die Sicherheit, dass etwas eine
„unwankende Grundlage“ eines Sprachspiels ist, macht diese Grundlage zu einer
Wahrheit in genau dieser Hinsicht.34 Nur weil uns der Glaube an die sittliche Tatsache,
dass es verwerflich ist, Menschen und Tiere zu quälen, Sicherheit gibt, können die
Urteile, die sich auf jene Tatsache beziehen, wahr sein.
Der Objektivität normativer, in diesem Fall ethischer Urteile liegen wahre
Tatsachen zugrunde, die unseren Urteilen in der von Wittgenstein beschrieben Weise
Sicherheit geben. Auf dieser Basis können selbst kontrafaktische Sätze, wie z.B.
‚wenn Oskar seinen Hund Raudi quälen würde, wäre dies verwerflich’, den Anspruch
erheben, wahr zu sein. Häufig nehmen ethische Urteile z.B. auf die Verfassung, das
Recht
und
die
höchstrichterliche
Rechtsprechung
Bezug.
Auch
für
verfassungsrechtliche Regelungen oder Entscheidungen gilt, dass wir sie als wahr
anerkennen können, weil sie tatsächlich gelten. Es sind sittliche Tatsachen oder
sittliche Grundnormen, auf die sich ethische Urteile so beziehen können, dass sie
selbst wahr sind. Auf diese Weise trägt z.B. auch die Verfassung durch ihre Geltung
zur Objektivität ethischer Urteile bei. Das Verfassungsrecht, insbesondere die in ihm
enthaltenen Grundrechte und die präzisierende höchstrichterliche Rechtsprechung sind
klare, greifbare, allgemeine und sicher auch stabile Manifestationen sittlicher
Geltung.35 Sie entsprechen mehrheitlich dem, was in einer Gesellschaft ungefragt und
wie selbstverständlich als gültig anerkannt wird. Damit gehören wesentliche Teile des
Rechts zu den Voraussetzungen und Geltungsbedingungen ethischer Urteile. Welche
Teile des Rechts in ethischen Urteilen vorausgesetzt werden, können wir nur von Fall
zu Fall sagen. Schließlich können ethische Urteile auf gut begründete Weise geltendes
Recht kritisieren und ihm sogar widersprechen. Selbst das Verfassungsrecht und das
32
Ludwig Wittgenstein, Über Gewißheit, a.a.O., §253.
A.a.O., §373.
34
A.a.O., §403.
35
Ähnliches gilt für das Kernstrafrecht (bes. §228 STGB) und die Bestimmungen des BGB zu dem, was ‚gute
Sitten’ und ‚objektive Wertordnung’ bedeuten (§242 BGB). Die historisch geprägten Abhängigkeiten des Rechts
von der jeweiligen menschlichen Lebenswelt, Kultur und Sittlichkeit beschrieb Ernst-Wolfgang Böckenförde in
seiner eindrucksvollen Geschichte der Recht- und Staatsphilosophie (Tübingen: Mohr Siebeck 2002; auch in:
Staat, Nation, Europa. Studien zur Staatslehre, Verfassungstheorie und Rechtsphilosophie, Frankfurt: Suhrkamp
1999, 208ff.). In analoger Weise stellte er fest, dass die „Lebensfähigkeit der Demokratie als Staats- und
Regierungsform“ vom „demokratischen Ethos bei Bürgern und politischen Amtsträgern“ abhänge (Staat,
Verfassung, Demokratie. Studien zur Verfassungstheorie und zum Verfassungsrecht, Frankfurt: Suhrkamp 1991,
359).
33
Kernstrafrecht, die im rechtlichen Sinn objektiv gelten, sind nicht immun gegen
ethische Kritik.
Wenn wir an das Hume-Prinzip36 denken und damit die Überzeugung
verbinden, dass aus Tatsachen keine Normen ableitbar sind, nimmt es sich wie ein
Trick aus, von ‚sittlichen Tatsachen’ zu sprechen, ihnen Wahrheit zuzuschreiben und
dann auch noch die Wahrheit normativer Urteile auf sie zurückzuführen. Tatsächlich
ignorieren wir mit dieser Argumentationsweise jenes Prinzip keineswegs. Es wird ja
kein Sollen aus einem Ist abgeleitet, sondern Faktisches aus Faktischem, nur dass
dieses Faktische gleichzeitig normativer Natur ist. Es wird also, ganz in Humes Sinn,
keine neue, unbegründete Beziehung hergestellt. Die von ihm unterstellte und nicht
weiter begründete Differenz zwischen Ought und Is wird angesichts des
Tatsachencharakters der Geltungsgrundlagen allerdings aufgehoben. Aus der
sittlichen, normativen Natur des Faktischen wird ein Urteil gebildet, das eine
entsprechende Verbindlichkeit zum Ausdruck bringt.37 ‚Sittlich’ und ‚normativ’ sind
Ausdrücke, welche die begründende Kraft einer Tatsache bezeichnen, der Tatsache
nämlich, dass etwas gewiss ist, was nicht weiter begründet werden kann. In gewisser
Weise haben alle Tatsachen eine ähnliche Kraft, sie wirkt sich nur meistens nicht nur
normativ, sondern auch empirisch und kognitiv aus. Die Verbindlichkeiten, die mit
Tatsachen verbunden sind, können dementsprechend verschieden sein. Es können,
wenn sie normativer Natur sind, Entscheidungen und Handlungen, wenn sie
empirischer oder kognitiver Natur sind, wahre Überzeugungen sein, zu denen sie
verpflichten.
Nach diesen Überlegungen dürfen wir normative Urteile dann als wahr
behaupten, wenn die ihnen zugrunde liegenden sittlichen Tatsachen oder
Grundnormen ebenfalls wahr sind. Die Einschlägigkeit, das fünfte Kriterium der
Objektivität, besagt, dass solche Urteile einen klaren und direkten Bezug zu den
tatsächlichen Problemen haben und nicht konstruiert sind.
Trotz ihres spannungsreichen wechselseitigen Verhältnisses enthält die Sitte
Geltungsgrundlagen für die Ethik. Zu diesen Grundlagen gehören neben dem Recht
ohne Zweifel auch religiöse Überzeugungen und die ethnischen Merkmale von
36
David Hume, A Treatise of Human Nature, ed. by L.A. Selby-Bigge, Oxford: Clarendon (1888) 1975, (book
III) 469f.
37
Aus demselben Grund erübrigt sich auch der Vorwurf eines naturalistischen Fehlschlusses. Argumente gegen
die Sein-Sollen-Differenz entwickelten u.a. Hilary Putnam (The Collapse of the Fact/Value Dichotomy,
Cambridge (Mass.) 2002) und David Wiggins (a.a.O., 330ff.).
Kulturen. Sie schaffen ihrerseits Geltungsbedingungen, die teilweise dem geltenden
Verfassungsrecht zugrunde liegen. Wenn nur das Recht und die Rechtsprechung, nicht
aber Religionen oder ethnische Charakteristika einer Kultur, als Bedingungen der
Objektivität ethischer Urteile gelten sollen, gibt es dafür drei Gründe. Zum einen
schließt die staatliche Rechtsordnung die religiösen Ansprüche, die wie die
Religionsfreiheit in einer säkularisierten Gesellschaft allgemein akzeptiert werden,
bereits ein. Zum anderen verbietet es die religiöse Neutralitätspflicht des Staates einer
bestimmten Religion einen Vorrang vor den anderen einzuräumen; es sei denn, es
sprechen übergeordnete Interessen wie z.B. der Schutz der Jugend vor sog.
Jugendsekten dagegen. Das Christentum hat zweifellos nicht nur wesentliche
verfassungsrechtliche Grundsätze wie den der Gleichheit und der Menschenwürde
geprägt. Über deren Interpretation im Zusammenhang mit konkreten Problemen haben
christliche Überzeugungen Einfluss auf
die höchstrichterliche Rechtsprechung.
Insofern kann man diese Rechtsprechung auch als Ausdruck der sittlichen
Verallgemeinerung religiöser Überzeugungen in unserer Gesellschaft betrachten. Der
dritte Grund ist, dass die Ethik zwar niemals sittlich neutral sein kann, aber zu Urteilen
verpflichtet
ist,
deren
Begründung
und
Rechtfertigung
argumentativen,
wissenschaftlichen Standards genügen sollten. Ethische Rechtfertigungen, die
wissenschaftliche Argumente durch einen Appell an sittliche Grundüberzeugungen
ersetzen, können keinen Anspruch auf Objektivität erheben. Es genügt z.B. nicht, auf
die Verwerflichkeit des Quälens von Tieren zu verweisen, wenn es darum geht, über
Tierversuche zu urteilen, die in der medizinischen Forschung als unersetzliche
Voraussetzung zur Entwicklung lebensrettender Therapien gelten. Es kommt darauf
an, ob sie tatsächlich unersetzlich sind. Wenn dies so ist, dann sind die Gründe, die
dafür sprechen, Teil der Begründung einer besonderen Erlaubnis von Tierversuchen.
Schluss
Im Konzept der ‚Geltung’ sind theoretische und praktische Ansprüche für
Grundlegungen aller Art noch ungetrennt. Es scheint so, als würden diese Ansprüche
in dem Konzept bei geeigneter Beleuchtung erst nachträglich zusammenlaufen. Dies
ist aber eine Vorher-Nachher-Verwechslung, denn das Konzept ist mit seinen
ungetrennt theoretisch-praktischen Ansprüchen logisch früher als diese Ansprüche in
ihren herkömmlichen, getrennten Ausprägungen. Sichtbar wird dies an dem Charakter
normativer Tatsachen, die der unabgeleiteten Geltung in allen ihren Ausprägungen
zugrunde liegen. Ebenso evident ist dies daran, dass die klassische Unterscheidung
zwischen Sein und Sollen zumindest bei unabgeleiteten Geltungen gegenstandslos ist.
Auf der Grundlage dieser Einsichten ist der Anspruch auf Objektivität normativer
Argumentationen im Bereich der Ethik und des Rechts durch die bekannten
skeptischen
Einwände
nicht
mehr
gefährdet.
Weiter
auszuarbeiten
und
klärungsbedürftig ist der holistische Charakter der unabgeleiteten und der abgeleiteten
Geltungen, und zwar gerade im Blick auf den Zusammenhang und die wechselseitige
Stützung theoretisch-praktischer Geltungen. Besonders geeignet für Klärungen dieser
Art sind die Sprachphilosophie und allgemein die Untersuchung des normativen
Charakters von Begriffen.38
Literatur
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Barth, C., Conceptual Beings, Diss. München 2005.
Böckenförde, E.-W., Staat, Verfassung, Demokratie. Studien zur Verfassungstheorie und zum Verfassungsrecht,
Frankfurt 1991.
Ders., Geschichte der Recht- und Staatsphilosophie, Tübingen 2002.
Ernst, G., Die Objektivität der Moral, Paderborn 2007.
Habermas, J., Faktizität und Geltung. Beiträge zur Diskurstheorie des Rechts und des demokratischen
Rechtsstaats, Frankfurt 1992, 4. durchges. u. erw. Aufl. 1994.
Herrschaft, L., Theoretische Geltung. Zur Geschichte eines philosophischen Paradigmas, Würzburg 1995.
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Smith, M., The Moral Problem, Oxford 1994.
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Weber, M., Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriss einer verstehenden Soziologie, 5. Aufl., hg.v. J.
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Wiggins, D., Ethics. Twelve Lectures on the Philosophy of Morality, Cambridge (Mass.) 2006.
Wittgenstein, L., Tractatus logico-philosophicus, in: Werkausgabe Bd. 1, Frankfurt 1989.
Ders., Über Gewißheit, hg. v. G.E.M. Anscombe u. G.H.v. Wright, in: Werkausgabe Bd. 8, Frankfurt 1989.
38
Eine Untersuchung dieser Art, u.a. im Rekurs auf die Arbeiten von R. Brandom, hat C. Barth vorgelegt
(Conceptual Beings, Diss. München 2005).
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