Rationalismus in der Neuzeit - UK

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Rationalismus in der Neuzeit
Rationalismus und Empirismus sind rivalisierende Positionen in der Erkenntnistheorie, die es
bereits in der Antike gab und die sich im Grunde bis heute mit wechselndem Erfolg
behaupten. Zu den Hauptvertretern des Rationalismus gehören Platon, Descartes, Spinoza,
Leibniz, Wolff und, was vielleicht einige überraschen wird, Kant. Aber auch gegenwärtig
erlebt der Rationalismus wieder eine Blütezeit, worauf ich noch zurückkommen werde. Zu
den Empiristen werden üblicherweise Aristoteles, Epikur, Bacon, Locke, Berkeley, Hume,
Mill, die Logischen Empiristen (Carnap und Ayer) und Quine gezählt. Aber diese Liste ist
natürlich unvollständig. Im 20. Jahrhundert war der Empirismus sicher die vorherrschende
Position. Rationalisten behaupten, grob vereinfachend gesprochen, dass die menschliche
Erkenntnis auf dem Verstand (lat.: ratio) beruht, während die Empiristen dagegen insistieren,
dass die menschliche Erkenntnis auf Sinneserfahrung (griech.: empeiria) beruht. Doch diese
Vereinfachung enthält eine deutliche Verzerrung der Frontstellung zwischen Rationalisten
und Empiristen. Die Rationalisten sind nämlich in der Regel weit davon entfernt, der
Sinneserfahrung jeglichen erkenntnistheoretischen Wert abzusprechen. Und die Empiristen
haben sehr wohl die erkenntnistheoretische Bedeutung der Rationalität erkannt. Sie sind in der
Regel keine Irrationalisten. Man muss deshalb die Differenz zwischen beiden etwas genauer
präzisieren. Empiristen behaupten, dass die Sinneserfahrung die einzige Quelle von
Erkenntnis über die Welt ist. Und Rationalisten bestreiten das einfach. Sie behaupten also,
dass es Quellen der Erkenntnis über die Welt gibt, die von der Sinneserfahrung unabhängig
sind.
Sehen wir uns unsere erkenntnistheoretische Position aus der Perspektive des Empiristen
etwas genauer an: Menschen leben und bewegen sich in einer Umwelt, über deren
augenfällige
Oberflächeneigenschaften sie durch ihre verschiedenen Sinnesorgane
empirische Informationen erwerben. Das geschieht, indem Tatsachen in unserer Umgebung
über den Weg unserer Sinnesorgane in uns Sinneserfahrungen verursachen, die von ihrem
Inhalt her im großen und ganzen ihren Ursachen in der Umgebung entsprechen. Erfahrungen
sind kausale Eindrücke oder Abdrücke der Umgebung auf uns. Und diese kausale Beziehung
erklärt, warum die Sinneserfahrung normalerweise der tatsächlichen Umgebung entspricht
und die auf sie gestützten Urteile in der Regel wahr sind. Beim Aufbau unseres Wissens sind
wir nach dem Empiristen jedoch nicht einfach der wahllosen Abfolge zufällig in uns
auftretender Sinneserlebnisse ausgeliefert. Wir können uns gezielt in die Umgebung von
1
Objekten versetzen, die uns interessieren, und wir können mit ihnen durch Experimente auf
gezielte Weise interagieren, so dass uns unsere Erfahrung auf vorgefasste Fragen Antworten
geben kann und das Testen bestimmter Annahmen über unsere Umgebung ermöglicht. Die
Ergebnisse können wir systematisch sammeln, so dass wir auf diese Weise zu einem immer
umfassenderen Wissen über unsere Umwelt gelangen. Empiristen bleiben jedoch nicht bei
Erkenntnissen stehen, die sie direkt auf die Sinneserfahrung stützen können. Und genau an
dieser Stelle kommt der Verstand ins Spiel. Mit Hilfe von logisch gültigen Schlüssen können
wir Informationen, die in unserem unmittelbaren Wahrnehmungswissen enthalten sind, weiter
verarbeiten und abstrahieren. Wir können durch die Überprüfung der Konsistenz unserer
unmittelbar auf Erfahrung gestützten Überzeugungen untersuchen, ob sich Fehler in unser
Überzeugungssystem eingeschlichen haben. Und wir können durch logische Schlüsse die
Konsequenzen sichtbar machen, die eine Hypothese für die Erfahrung hat, und diese
Hypothese so an der Erfahrung überprüfen. In allen diesen Fällen dient der Verstand der
Verarbeitung gegebener sinnlicher Information, aber er ist keine eigenständige Quelle von
Informationen und Erkenntnissen über die Welt. Wenigstens ist das die Auffassung des
Empiristen.
Doch halt, ist das überhaupt richtig? Was ist mit Erkenntnissen der folgenden Art:
„Wenn die Aussage p wahr ist und die Aussage wenn p, dann q, dann muss auch die Aussage
q wahr sein“
„Junggesellen sind unverheiratete Männer (wenn diese erwachsen und nicht verwitwet sind)“
„2+2=4“
Im ersten Fall haben wir es mit dem logischen Schlussprinzip des modus ponens zu tun, im
zweiten Fall mit einem klassischen Beispiel eines analytischen Satzes und im dritten Fall mit
einer mathematischen Wahrheit. Natürlich könnte man sagen (und einige Empiristen haben
sogar versucht, so etwas zu sagen), dass wir die Wahrheit dieser Aussagen empirisch
erkennen. Dass Junggesellen unverheiratet sind, kann man natürlich auch dadurch
herausfinden, dass man sich die Leute, die Junggesellen sind, genauer ansieht und das
Ergebnis induktiv verallgemeinert. Und dass 2 plus 2 gleich 4 ist kann man auch dadurch
erkennen, dass man es empirisch an seinen Fingern abzählt. Tatsächlich erkennen wir
logische, analytische und mathematische Wahrheiten jedoch unabhängig von der Erfahrung.
Es genügt, dass wir die durch die Sätze ausgedrückten Gedanken vollständig verstehen, um
unmittelbar einzusehen, dass sie wahr sind. Es bedarf keiner zusätzlichen empirischen Gründe
dazu. Dieses unmittelbare Einleuchten eines Gedankens aus sich selbst heraus nennt man auch
2
„Selbstevidenz“. Diese Selbstevidenz unterscheidet einen Gedanken wie „2+2=4“ von dem
Gedanken, dass sich vor mir viele Zuhörer befinden. Den letzteren Gedanken kann ich
verstehen, ohne dass mir seine Wahrheit einleuchtet. Ich bedarf zusätzlicher empirischer
Belege, um einen Grund zu haben, diesen Gedanken für wahr zu halten. Er ist also nicht
selbstevident, sondern wird durch eine entsprechende Wahrnehmung evident gemacht.
Die allermeisten Empiristen (ich möchte sie als gemäßigte Empiristen bezeichnen)
akzeptieren, dass logische, analytische und mathematische Urteile selbstevident sind, dass sie
also keiner empirischen Begründung bedürfen, sondern eine erfahrungsunabhängige oder
apriorische Quelle (im Verstand) haben. Was, so werden Sie sich jetzt vielleicht fragen,
unterscheidet diese Empiristen dann noch von ihren Gegnern, den Rationalisten? Offenbar
räumen sie doch ein, dass der Verstand eine Quelle von Erkenntnis sein kann. Entscheidend
ist hier, dass die gemäßigten Empiristen bestreiten, dass die selbstevidenten, apriorischen
Erkenntnisse sich auf die Welt beziehen. Es handelt sich ihrer Meinung nach um bloße
Tautologien, deren Wahrheit nicht von den Tatsachen in der Welt abhängt, sondern nur von
der Bedeutung der in den Gedanken enthaltenen Begriffe. Was ein Urteil wie „Junggesellen
sind unverheiratete Männer“ wahr macht ist die Tatsache, dass der Ausdruck „Junggeselle“
dasselbe bedeutet wie „unverheirateter Mann“. Und dass 2+2 als Ergebnis 4 hat folgt aus der
Definition der Zahl „2“ und der Definition des Pluszeichens. Auch logische Wahrheiten
enthalten danach keine Informationen, die über die in ihren Begriffen enthaltene Information
hinausgeht. Diese Tatsache erklärt auch, warum wir die Wahrheit der Gedanken allein
aufgrund unseres Verstehens dieser Gedanken erfassen können.
Der gemäßigte Empirist ist also gar kein entschiedener Gegner erfahrungsunabhängiger
(apriorischer) Erkenntnis, sondern er hält nur die Idee für mysteriös, dass wir durch bloßes
Nachdenken erkennen können, wie die Welt um uns herum beschaffen ist. Wie sollte das auch
möglich sein? Anders als im Fall der Sinneswahrnehmung fehlt uns offenbar ein Organ
intellektueller Wahrnehmung. Und selbst wenn wir ein solches intellektuelles Sensorium
besäßen, bliebe rätselhaft, wie logische Gesetze oder mathematische Tatsachen, wenn sie als
objektive Entitäten außer uns verstanden werden, kausal auf dieses Sensorium einwirken
sollten. Solche abstrakten Entitäten existieren sicher nicht im Bereich unserer natürlichen
Welt. Wir aber sind ein Teil dieser natürlichen Welt. Nimmt man nun an, dass die natürliche
Welt kausal geschlossen ist (d.h. jede Wirkung in der natürlichen Welt eine Ursache in der
natürlichen Welt hat), dann ist es geradezu ausgeschlossen, dass abstrakte Tatsachen in diese
3
natürliche Welt hineinwirken. Platos Rationalismus liegt die Idee einer intellektuellen
Wahrnehmung zugrunde. Er glaubte, dass wir unser Wissen von den Ideen durch Erinnerung
(anamnesis) gewinnen können. Eine solche Erinnerung setzt aber einen vorgeburtlichen
Wahrnehmungskontakt der Seele mit den Ideen voraus. Eine solche intellektuelle
Wahrnehmung erweist sich nun aber als hölzernes Eisen. Der gemäßigte Empirist lehnt also
rationalistisches Wissen von der Welt ab, weil er es für vollkommen unerklärbar hält.
Der neuzeitliche Rationalismus seit Descartes lässt sich nun als Reaktion auf diese
empiristische Skepsis gegenüber rationalistischem Wissen über die Welt verstehen. Die
neuzeitlichen Rationalisten haben zum einen zu zeigen versucht, dass ein solches
erfahrungsunabhängiges, apriorisches Wissen über die Welt unverzichtbar ist: unverzichtbar
als Fundament unseres empirischen Wissens über die Welt, so dass ein Zweifel am
Rationalismus letztlich zu einem globalen Skeptizismus führen würde, der auch das vom
Empiristen hoch gehaltene empirische Wissen beträfe; unverzichtbar aber auch als Grundlage
für zentrale Bereiche unseres philosophischen Wissens. Diese Unverzichtbarkeitsargumente
werden flankiert von alternativen Erklärungsversuchen rationalistischer Erkenntnis über die
Welt, die ohne die Annahme intellektueller Wahrnehmung auskommen. Beides – die
Unverzichtbarkeitsargumente sowie die Erklärungsversuche rationalistischen Wissens –
möchte ich mir in der verbleibenden Zeit mit Ihnen gemeinsam genauer ansehen.
Zu Beginn der Neuzeit ist es der Rationalist Descartes gewesen, der das erste
Unverzichtbarkeitsargument für erfahrungsunabhängiges Wissen über die Welt formuliert hat.
Ich werde sein Argument „Gewissheitsargument“ nennen:
(1)
Wissen im strengen Sinne erfordert Gewissheit.
(2)
Erfahrung gibt uns keine Gewissheit.
(3)
Wir haben Wissen.
Also: Es
muss
erfahrungsunabhängige
Quellen
der
Gewissheit
geben
(also
rationalistische Erkenntnis).
Nach Descartes liegt Gewissheit vor, wenn wir jede Möglichkeit eines Irrtums ausschließen
können. Für Wissen ist Gewissheit erforderlich, weil die Wahrheit einer Meinung solange
zufällig bleibt, solange nicht alle Irrtumsmöglichkeiten ausgeschlossen sind. Und bloß
zufällig wahre Meinungen bilden kein Wissen. Das kann man sich an einem simplen Beispiel
verdeutlichen. Stellen Sie sich vor, Sie würden mit Ihrem Auto bei herrlichem Wetter und
klarer Sicht durch eine ländliche Gegend Niederbayerns fahren. Sie sehen neben der Straße in
4
regelmäßigen Abständen Scheuen stehen. Jetzt ist es gerade wieder soweit und sie sagen zu
Ihrer Beifahrerin „Dort drüben steht eine Scheune“. Wissen Sie es? Nehmen wir einmal an,
das Gebäude, auf das Sie hinweisen, ist wirklich eine Scheune, dann sagen Sie etwas Wahres
und Sie sind aufgrund Ihrer Sinneserfahrung auch berechtigt zu dieser Behauptung. Nehmen
wir jetzt aber einmal zusätzlich an, dass diese Scheune (ohne dass Sie es bemerken) die
einzige echte Scheune in der Umgebung ist. Bei allen anderen Gebäuden handelt es sich in
Wirklichkeit um bloße Scheunenattrappen, die allein aus einer Vorderfront bestehen und für
eine Filmproduktion aufgebaut worden sind. In diesem Fall hätten Sie nur zufällig die
Wahrheit getroffen, sie hätten sich sehr leicht täuschen können, denn jede der so täuschend
echt aussehenden Attrappen hätten Sie für eine echte Scheune gehalten. Wenn das so wäre,
würden wir nicht sagen, dass Sie Wissen haben, wenn Sie einmal zufällig die Wahrheit
treffen. Wissen schließt also Irrtumsmöglichkeiten aus. Nun ist ebenfalls klar, dass unsere
Sinne uns leicht täuschen können: durch Illusionen, Halluzinationen oder – so inszeniert
Descartes den Fall – wenn uns ein böser Dämon permanent irreführende Sinneserfahrungen
vorgaukelt (die moderne Fassung dieses Täuschungsszenarios bietet uns der Film „Die
Matrix“). Wenn wir also überhaupt Wissen haben, dann nur durch erfahrungsunabhängige
Quellen, die den Status der Gewissheit erfüllen.
Für Descartes leistet das klare und deutliche rein intellektuelle Erscheinen der Wahrheit im
Falle von selbstevidenten Gedanken, die uns unmittelbar so sehr einleuchten, dass wir gar
nicht anders können, als an die Wahrheit dieser Gedanken zu glauben. Doch sind solche
selbstevidenten Gedanken tatsächlich gewiss im Sinne von Descartes? Ich denke, hier muss
die Antwort ganz klar „nein“ lauten. Auch wenn uns die Wahrheit noch so sehr psychologisch
als unausweichlich erscheint, ist es immer noch möglich, dass uns ein böser Dämon auch in
den Gedanken täuscht, die für uns selbstevident sind. Descartes’ Versuch, diese Möglichkeit
auszuschließen, indem er beweist, dass es für uns selbstevident ist, dass ein guter nichtbetrügerischer Gott existiert, mündet in einen grandiosen Zirkel, der die Gewissheit
selbstevidenter Einsicht bereits voraussetzt. Es ist sogar nicht nur möglich, sondern kommt
tatsächlich immer wieder vor, dass sich selbstevidente Gedanken als falsch herausstellen.
Lange hat man die Axiome der Euklidischen Geometrie oder der klassischen Aristotelischen
Logik für unangreifbar gehalten. Aber Einsteins Relativitätstheorie hat empirisch gezeigt,
dass eine Gerade nicht die kürzeste Verbindung zwischen zwei Punkten im Raum ist. Und
Freges Quantorenlogik hat die Aristotelische Logik abgelöst. Es gibt also selbst in den
apriorischen Grundlagen der Logik und Mathematik Fortschritt und Revision. Außerdem
5
beweisen die vielen Paradoxien, dass es Widersprüche zwischen selbstevidenten Annahmen
gibt und deshalb nicht alle wahr sein können. Rationalistisch gestützte Überzeugungen sind
also weder cartesianisch gewiss noch immer wahr. Das bedeutet nicht, dass es apriorische
Quellen der Erkenntnis über die Welt nicht gibt. Aber es bedeutet, dass diese Erkenntnis
keinesfalls den Status der Gewissheit hat. Das Gewissheitsargument ist demnach kein gutes
Argument für die Existenz apriorischer Erkenntnis.
Übrigens bedeutet das Fehlen cartesianischer Gewissheit nicht automatisch, dass ein globaler
Skeptizismus (der jegliches Wissen leugnet) Recht behält. Im Gewissheitsargument ist
nämlich die Prämisse (1) falsch („Wissen im strengen Sinne erfordert Gewissheit“). Es ist
zwar richtig, dass Wissen nur dann vorliegt, wenn die Wahrheit der gerechtfertigten Meinung
nicht zufällig ist. Dass die Wahrheit zufällig ist, lässt sich jedoch auf zwei unterschiedliche
Weisen verstehen. Wir können die Wahrheit einer Meinung zum einen
als zufällig
bezeichnen, solange Irrtum denkbar ist. Zum anderen können wir aber dieses Prädikat auch
den Meinungen vorbehalten, die – so wie die Welt tatsächlich aussieht – auch falsch sein
könnten. Im ersten Fall bemisst sich der Zufall an den von uns ins Spiel gebrachten
Denkmöglichkeiten. Im zweiten Fall an den Möglichkeiten, die durch die Tatsachen offen
gelassen werden. Sieht man genauer hin, dann schließt der Wissensbegriff nur aus, dass ein
Irrtum real möglich gewesen wäre. Dafür ist jedoch Gewissheit im cartesianischen Sinne (die
jeden denkmöglichen Irrtum ausschließt) nicht erforderlich. Wissen lässt sich demnach auch
ohne Gewissheit behaupten.
Sehen wir uns ein weiteres Unverzichtbarkeitsargument an: das Regressargument. Das
Argument lautet folgendermaßen:
(1) Eine Quelle kann eine Meinung normalerweise nur dann rechtfertigen (oder Wissen
generieren), wenn ihre Zuverlässigkeit durch eine Meinung höherer Ordnung
autorisiert wird, deren Rechtfertigung sich aus einer anderen Quelle speist.
(2) Daraus ergibt sich ein Regress der Metarechtfertigung.
(3) Dieser Regress kann nur durch Meinungen gestoppt werden, deren Rechtfertigung
keiner Autorisierung höherer Ordnung bedarf.
(4) Selbstevidente Meinungen sind die einzigen Meinungen, die ohne Autorisierung
höherer
Ordnung
gerechtfertigt
sind
und
die
Zuverlässigkeit
anderer
Erkenntnisquellen rechtfertigen können.
Also: Es gibt gerechtfertigte Meinungen nur, wenn es selbstevidente Meinungen gibt.
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Dieses Argument ist bereits in Aristoteles Antwort auf das antike Problem des Kriteriums
enthalten, so wie sie sich in den Zweiten Analytiken abzeichnet. Es spielt aber auch eine Rolle
bei Descartes und feiert seinen zweiten Frühling in der gegenwärtigen Renaissance des
Rationalismus (etwa bei Laurence BonJour). Die dahinter stehende Grundidee ist schlicht die
folgende: Damit etwa meine Sinneserfahrung, dass vor mir ein Tisch steht, mich in meiner
Überzeugung, dass vor mir ein Tisch steht, rechtfertigen kann, muss die Sinneserfahrung nicht
nur besagen, dass vor mir ein Tisch steht, sondern ich muss auch erkennen, dass die
Sinneserfahrung, auf die ich mich stützte, zuverlässig die Wahrheit indiziert. Um das zu
erkennen, brauche ich eine Erkenntnis höherer Ordnung über die Zuverlässigkeit meiner
Wahrnehmung usw. Der sich abzeichnende Regress darf nur abgebrochen werden, wenn es
Quellen der Rechtfertigung gibt, die ihre eigene Zuverlässigkeit verbürgen und deshalb keiner
höheren Autorisierung bedürfen. Und genau das sollen – aus der Perspektive des Rationalisten
– selbstevidente Gedanken leisten.
Doch können selbstevidente Gedanken das halten, was sie versprechen? Dafür müssen wir
uns das Phänomen der Selbstevidenz etwas genauer ansehen. Rationalisten beschreiben die
Sache in etwa folgendermaßen: Wenn ich mir überlege, ob etwa der Gedanke „Alles ist mit
sich selbst identisch“ wahr ist, dann komme ich ohne weitere Gründe zu dem Urteil, dass es
sich so verhalten muss, wie der Gedanke sagt. Ich komme also zu dem Ergebnis, dass alles
notwendigerweise mit sich selbst identisch ist. Doch wenn es mit sich selbst identisch sein
muss, dann ist die Wahrheit des Gedankens im höchsten Grade wahrscheinlich. Und deshalb
braucht man keine höhere Autorisierung, um den Inhalt des Gedankens gerechtfertigt zu
glauben. Wenigstens behauptet das der Rationalist. Ich glaube jedoch, dass es sich hier um
einen
Fehlschluss
handelt.
Selbstevidente
Zustände
besagen,
dass
sich
etwas
notwendigerweise auf eine bestimmte Weise verhält. Sie beziehen sich also von ihrem Inhalt
her auf notwendige Tatsachen – Tatsachen, die unter allen Umständen so wären, wie sie sind.
Daraus folgt jedoch nichts über die Zuverlässigkeit selbstevidenter Zustände:
Aus:
(1)
Notwendig p
folgt nicht:
(2)
Für alle p, notwendigerweise (wenn p selbstevident ist, dann p).
Und deshalb ist die Einsicht in die Notwendigkeit einer Tatsache nicht automatisch ein guter
Grund für die Zuverlässigkeit dieser Einsicht. Kurz: Ich sehe nicht, wie selbstevidente
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Gedanken den drohenden Metaregress stoppen können, wenn eine Autorisierung der
Zuverlässigkeit Bedingung jeder Rechtfertigung ist. Solche Gedanken können sich, wenn ich
Recht habe, nicht auf die geforderte Weise selbst autorisieren. Doch auch wenn ein
Regressstopp durch selbstevidente Gedanken nicht in Sicht ist, muss das nicht zwangsläufig
zu einem globalen Skeptizismus führen. Die in der ersten Prämisse enthaltene Behauptung,
dass jede Rechtfertigung eine höherstufige Autorisierung der Zuverlässigkeit des Grundes
erfordert, scheint mir nämlich viel zu stark zu sein. Der erkenntnistheoretische Externalist gibt
sie auf und verlangt nur, dass die Gründe tatsächlich zuverlässig sind. Aber für eine solche,
meiner Ansicht nach plausible, Position, möchte ich hier nicht eigens argumentieren. In jedem
Fall scheitert auch das Regressargument für die Existenz apriorischer Erkenntnis.
Ich hatte eingangs erwähnt, dass ich auch Kant zu den Rationalisten zähle, weil er den
Verstand als eigenständige Erkenntnisquelle betrachtet. Sehen wir uns nun sein
transzendentales Unverzichtbarkeitsargument an. Nach Kant kann es rein intellektuelle
Erkenntnisse über die Welt nicht geben. Unsere Erkenntnis reicht nicht über den Bereich der
erfahrbaren Wirklichkeit hinaus. Was wir aber nach Kant erfahrungsunabhängig erkennen
können ist die Grundstruktur der erfahrbaren Welt. Wie ist das möglich? Kants
Argumentation beginnt mit einigen unstrittigen Annahmen über den Inhalt der Erfahrung und
fragt dann nach den Bedingungen der Möglichkeit dieser Tatsachen über die Erfahrung. Das
Ergebnis der Argumentation lautet, dass diese Tatsachen nur dadurch erklärbar sind, dass der
Verstand die Erfahrungsinhalte strukturiert und formt. Deshalb können wir a priori wissen,
dass die Welt, sofern sie erfahren wird, unserer Verstandesstruktur entsprechen muss. In
diesem Sinne ist der Verstand eine Quelle unserer Erkenntnis über die Welt.
Sehen wir uns diese transzendentale Argumentation etwas genauer an. Kant geht davon aus,
dass unsere Erfahrung intentionale Objekte hat und dass wir uns unsere Erfahrungen selbst
zuschreiben können. Das ist beides erläuterungsbedürftig. Dass die Erfahrung intentionale
Objekte hat bedeutet, dass wir nicht einfach rötlich oder schmerzhaft erleben, sondern dass
wir etwa sehen, dass ein Gegenstand vor uns rötlich ist, oder dass wir empfinden, dass uns
eine bestimmte Stelle im Körper weh tut. Wir erfahren also, dass ein Objekt bestimmte
Eigenschaften hat. Die Selbstzuschreibbarkeit der Erfahrung bedeutet, dass jedes menschliche
Subjekt sich durch alle seine Erfahrungen hindurch reflexiv darüber bewusst werden kann,
dass jede dieser Erfahrungen und alle zusammen seine eigenen Erfahrungen sind. Das lässt
sich als eine erste Prämisse formulieren:
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(1) Jeder Mensch hat Erfahrungen von intentionalen Objekten, die er sich selbst als die
seinen zuschreiben kann.
Kant glaubt nun weiter, dass eine solche selbstzuschreibbare intentionale Erfahrung nur
möglich ist, wenn die Erfahrungen jeweils und alle zusammen einen einheitlichen
Zusammenhang bilden.
(2) Damit Erfahrungen von intentionalen Objekten und deren Selbstzuschreibbarkeit
möglich ist, müssen die Erfahrungen einen einheitlichen Zusammenhang bilden.
Außerdem glaubt Kant, dass solche Einheit kein Produkt unserer Sinne sein kann, sondern nur
durch den Verstand in die Erfahrung hineingebracht werden kann.
(3) Die Einheit der Erfahrung ist nur durch Verstandesleistungen möglich.
Kant
ist
ferner
der
Auffassung,
dass
diese
Verstandesleistungen
nicht
einfach
Erfahrungsinhalte wie ein logisches UND verbinden, sondern den Gegenständen der
Erfahrung ihre Struktur geben.
(4) Verstandesleistungen strukturieren die Gegenstände der Erfahrung.
Also: Der Verstand legt die Struktur der erfahrbaren Gegenstände fest.
Wenn wir das a priori erkennen, dann wissen wir damit a priori etwas über die Struktur der
erfahrbaren Welt (und das war ja die These des Rationalismus). Kurz: Nach Kant können wir
apriorische Erkenntnisse über die Welt haben, weil der Verstand den Inhalt der Erfahrung
strukturiert. Man darf die Erfahrung folglich nicht wie Aristoteles und Locke nach dem
Modell einer tabula rasa, eines unbeschriebenen Blattes, verstehen, sondern muss Erfahrung
als Produkt aus kausaler Einwirkung der Außenwelt (Rezeptivität) und konstruktiver
Verstandestätigkeit (Spontaneität) verstehen. Bereits Leibniz hatte in diesem Sinne auf
Lockes empiristisches Diktum, dass nichts im Verstande sei, was nicht zuvor in den Sinnen
gewesen sei, geantwortet. „Nichts außer dem Verstand selbst!“ Und deshalb wissen wir a
priori, dass die Erfahrungsgegenstände der kategorialen Verstandesstruktur entsprechen
müssen.
Mit dieser transzendentalen Argumentation Kants gibt es vor allem drei Probleme. Erstens
genügt es für apriorischer Erkenntnis über die Welt nicht, dass der Verstand die Erfahrung
von den Gegenständen strukturiert, die Struktur muss auch den Gegenständen selbst
entsprechen. Kant entschärft diesen Einwand bekanntlich dadurch, dass er unsere
Erkenntnisansprüche auf die Erscheinungen der Gegenstände beschränkt. Das ist die These
des transzendentalen Idealismus, deren Tragfähigkeit wir uns später noch ansehen werden.
Zweitens können wir auf diesem Wege nur dann apriorische Erkenntnis gewinnen, wenn der
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Verstand die Erfahrung nicht nur tatsächlich strukturiert, sondern wir auch davon wissen.
Dieses Wissen muss jedoch selbst a priori sein. (Wir müssen also alle Prämissen des zuvor
angeführten Arguments a priori erkennen können.) Doch dann wird durch das Argument eine
apriorische Bedingung der Erfahrung nur dadurch erwiesen, dass dabei bereits apriorisches
Wissen vorausgesetzt wird. Drittens erscheint mir die Prämisse (3) (dass also die Einheit der
Erfahrung
nur
durch
Verstandesleistungen
möglich
ist)
in
Anbetracht
neuerer
kognitionspsychologischer Untersuchungen äußerst fragwürdig. Danach ist es zwar richtig,
dass die Erfahrung in mehreren Schritten bis hin zur 3-D-Vorstellung konstruktiv aufgebaut
wird. Dieser Aufbau der Erfahrung geschieht jedoch ohne Einfluss des Verstandes,
vollkommen modular, d.h. abgekapselt von rationalen Einflüssen.
Lassen Sie mich die Ergebnisse meiner bisherigen Überlegungen kurz resümieren: Wir haben
uns drei klassischen Argumente der Rationalisten dafür angesehen, dass rationalistische
Erkenntnis das Fundament von Erkenntnis im Allgemeinen oder empirischer Erkenntnis
bildet. Alle drei Argumente – das Gewissheitsargument, das Regressargument und das
transzendentale Argument – haben sich als wenig überzeugend erwiesen. Die Rationalisten
haben jedoch nicht alle behauptet, dass es ein apriorisches Fundament unseres Wissens geben
müsse, sondern sie haben z.T. auch einen anderen Weg zu ihrer Verteidigung eingeschlagen.
Im Zentrum steht dabei die Behauptung, dass es objektive Tatsachen gibt, von denen wir
Wissen haben, obwohl es kein empirisches Wissen von diesen Tatsachen geben kann (weil es
sich um metaphysische Tatsachen handelt). Wissen von diesen erfahrungstranszendenten
Tatsachen können wir nur auf erfahrungsunabhängige Weise bekommen.
Um welche Tatsachen handelt es sich dabei? Klassische Rationalisten wie Descartes und
Leibniz hatten natürlich Dinge wie die Unsterblichkeit der Seele, den absoluten Anfang des
Kosmos oder die Existenz Gottes im Sinn. Alles Dinge, von denen wir heute sagen würden,
dass wir nicht mehr selbstverständlich davon ausgehen können, dass wir Wissen von ihnen
haben. So dass ein Beweis der Möglichkeit apriorischer Erkenntnis nicht von dieser Annahme
abhängen sollte. Daneben spielen vor allem für Leibniz die logischen und mathematischen
Axiome eine zentrale Rolle. Hier können wir kaum bestreiten, dass wir von ihnen ein Wissen
haben. Und wir können ebenfalls nur schwer bestreiten, dass dieses Wissen nicht auf
Erfahrung
beruht.
Doch
auch
dieser
Argumentationszug
kann
die
Existenz
erfahrungsunabhängiger Erkenntnis im rationalistischen Sinne nicht direkt beweisen, denn wir
hatten gesehen, dass die gemäßigten Empiristen eine apriorische Erkenntnis in der Logik und
10
Mathematik akzeptieren, jedoch behaupten, dass logische und mathematische Tatsachen keine
objektiven Tatsachen sind, sondern von unseren Begriffen abhängen. Wenn wir von diesen
Tatsachen wissen, dann wissen wir damit nichts über die Welt.
Es gibt nun jedoch noch einen dritten Bereich von Tatsachen, der beides zu erfüllen scheint:
wir haben erstens apriorisches Wissen von ihm und zweitens handelt es sich um objektive
Tatsachen und keine Reflexe unserer Begriffe. Ich meine den Bereich starker modaler
Tatsachen. Modale Tatsachen besagen, was möglicherweise der Fall ist, und dem, was
notwendigerweise der Fall ist. Dabei sind jedoch unterschiedliche Grade von Möglichkeit und
Notwendigkeit im Spiel. Sehen wir uns das zunächst für die Notwendigkeit an. Ich kann
sagen „Der Täter musste seine Tat begehen“ und meine damit, dass er diese Tat
notwendigerweise begehen musste, relativ zu seinen psychologischen Merkmalen. Aber diese
relative Notwendigkeit ist damit verträglich, dass der Täter seine Tat auch hätte unterlassen
können, wenn er andere psychologische Merkmale gehabt hätte. Wir sagen auch „Gegeben
das verursachende Ereignis musste das bewirkte Ereignis eintreten“, aber auch die dadurch
ausgedrückte Notwendigkeit ist relativ auf die bei uns geltenden Kausalgesetze. Wären diese
Gesetze andere gewesen, dann hätte die Wirkung (gegeben die Ursache) auch ausbleiben
können. Unter starker Notwendigkeit verstehe ich eine absolute Notwendigkeit, die nicht
mehr relativiert ist auf die möglichen Situationen, in denen bestimmte Tatsachen oder Gesetze
bestehen. Dasselbe gilt auch für Möglichkeiten. Nahe liegende Möglichkeiten wie „Ich hätte
heute auch nicht in die Universität kommen können“ oder „Wenn ich meinen Zug verpasst
hätte, dann wäre ich nicht rechtzeitig zu meiner Vorlesung gekommen“ können wir empirisch
begründen. Aber wenn wir Aussagen darüber treffen, dass etwas im stärksten Sinne absolut
notwendig ist, oder wenn wir Aussagen über einschränkungslos alle Möglichkeiten, also auch
die weit abliegenden wie „Ich hätte kein Wissen, wenn ein böser Dämon mich fortwährend
täuschen würde“ treffen wollen, dann können wir das nicht mehr auf der Grundlage unserer
Erfahrung tun. Überzeugungen mit einem starken modalen Inhalt können also nur
erfahrungsunabhängig gerechtfertigt und gewusst werden.
Es gehört nun zum Selbstverständnis der Philosophie, dass sie Wissen über starke modale
Tatsachen liefert. Klassische Rationalisten wie Leibniz haben dabei vor allem notwendige
Vernunftwahrheiten im Auge gehabt. Wenn man die Logik und Mathematik einmal außer
Acht lässt, dann wären Aussagen wie „Jedes Ding ist notwendigerweise mit sich selbst
identisch“ oder „Kein Ding kann zugleich ganz rot und ganz grün sein“ gute Beispiele. Aber
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Wissen über metaphysische Möglichkeiten spielte in der Philosophie auch von Anfang an
eine wichtige Rolle (auch wenn dieser Umstand methodologisch nicht genügend reflektiert
wurde). Denken Sie an die sokratischen Intuitionen darüber, ob bestimmte kontrafaktische
Fälle unter einen bestimmten Begriff (wie Tugend, Gerechtigkeit oder Wissen) fallen würden.
Um nichts anderes geht es Platon in seinen Frühdialogen. Durch solche sokratischen
Intuitionen (deren Nachfolger heute „Gedankenexperimente“ genannt werden) kann der
Philosoph die objektive Natur zentraler philosophischer Eigenschaften klären. Es geht dabei
nicht primär um eine Klärung unserer Begriffe, sondern darum, unter welchen notwendigen
und hinreichenden Bedingungen etwas ein Fall eines solchen Begriffes ist. Und die
Annahmen über solche notwendigen und hinreichenden Bedingungen werden an den
sokratischen Intuitionen überprüft. Dadurch können wir die Frage nach der objektiven Natur
der Wahrheit, des Wissens, der Freiheit, der Gerechtigkeit etc. beantworten.
Vielleicht werden Sie sich jetzt fragen, warum die Beantwortung dieser Frage für die
Philosophie so wichtig ist. Zunächst könnte man antworten, dass unsere natürliche Neugier
uns antreibt, grundlegende Phänomene wirklich verstehen zu wollen. Aber es gibt noch eine
weitergehende Antwort: Unser aufgeklärtes modernes Weltbild lässt es einfach nicht zu, alle
möglichen Phänomene unverbunden nebeneinander bestehen zu lassen. Deshalb taucht die
Frage, ob es denn Freiheit, Gerechtigkeit usw. wirklich gibt, hartnäckig immer wieder auf.
Um aber herauszufinden, ob sich diese Phänomene in unser bestehendes Weltbild ohne
Widerspruch integrieren lassen, müssen wir zunächst klären, welcher Natur diese Phänomene
sind. Hier liegt die eigentliche Bedeutung der Philosophie für die Metaphysik.
Aber warum muss man die Natur der Eigenschaften, die für die Philosophie von zentraler
Bedeutung sind, durch die apriorische Bewertung metaphysisch möglicher Situationen
herausfinden? Warum kann man die Phänomene nicht genauso wie natürliche Arten
empirisch untersuchen? Wenn wir die Natur natürlicher Arten wie chemischer Grundstoffe
oder biologischer Arten herausfinden wollen, dann untersuchen wir die paradigmatischen
Fälle solcher Arten mit Hilfe empirischer Methoden. So stellte sich beispielsweise heraus,
dass Walfische gar keine Fische, sondern Säugetiere sind. Betrachten Sie dagegen den Fall
von Wissen. Auch hier könnten wir uns paradigmatische Fälle herausgreifen, also
herausragende Beispiele von Wissen. Aber nun stellen Sie sich vor, wir würden entdecken,
dass in diesen Fällen – allem Anschein zum Trotz – die vorliegenden Überzeugungen gar
nicht wahr sind. Würde das bedeuten, dass die Natur des Wissens nichts mit Wahrheit zu tun
12
hat, so wie die Walfische ihrer Natur nach nichts mit Fischen zu tun haben? Ich denke, unsere
natürliche Reaktion wäre zu sagen, dass dann eben die Paradebeispiele von Wissen gar keine
echten Fälle von Wissen waren. Diese Asymmetrie zeigt, dass man den philosophisch
interessanten Phänomenen nicht empirisch, sondern nur mit Hilfe apriorischer Erkenntnis zu
Leibe rücken kann. Seiner Struktur nach lautet das modale Unverzichtbarkeitsargument, das
sich so ähnlich bereits bei Leibniz findet:
(1) Wenn wir Wissen von objektiven starken modalen Tatsachen haben, dann kann dieses
Wissen nur rationalistische Quellen haben.
(2) Wir haben Wissen von objektiven starken modalen Tatsachen (z. B. in der
Metaphysik).
Also: Es gibt Wissen aus rationalistischen Quellen.
Damit stehen wir vor folgendem Ergebnis: Anders als Descartes, Kant und einige
zeitgenössische Rationalisten geglaubt haben, dient apriorisches Wissen über die Welt weder
als Fundament oder Rahmen unseres Wissens im Allgemeinen noch ist es unfehlbar gewiss.
Rationale Intuitionen bilden vielmehr die Basis unseres starken modalen Wissens, das für die
Metaphysik eine wichtige Rolle spielt. So oder so ähnlich hat Leibniz die Rolle
rationalistischer Erkenntnis gesehen.
Der Rationalist kann sich auf dieser Position jedoch nicht ausruhen. Eigentlich kann er
nämlich nur eine bedingte Aussage machen: Wenn Metaphysik und Wissen von starken
modalen Tatsachen überhaupt möglich ist, dann muss es eine rationalistische Erkenntnis
geben. Aber wer sagt denn, dass eine philosophische Metaphysik überhaupt möglich ist?
Wenn sie es nicht wäre, dann stünde es schlecht um die Philosophie und viele unserer
Grundfragen müssten vielleicht unbeantwortet bleiben, aber das wäre kein Weltuntergang.
Gerade weil die rationalistische Erkenntnis nicht das Fundament unseres Wissens im
Allgemeinen ist, würde dieses Wissen auch die Widerlegung des Rationalismus überleben.
Will man die rationalistische Option verteidigen, dann muss man zweierlei gegen die
Empiristen zeigen. Man muss erstens zeigen, dass und wie rationalistische Methoden der
Meinungsbildung psychologisch gesehen funktionieren. Zweitens muss man aber erklären
können, wie es sein kann, dass die rationalistischen Methoden der Meinungsbildung (einmal
angenommen, dass es sie gibt) zuverlässig die Wahrheit indizieren, ohne dass die modalen
Tatsachen auf uns kausal einwirken (wie im Fall der Wahrnehmung). Eine solche kausale
13
Einwirkung der modalen Realität auf uns kann es nämlich, wie ich bereits angedeutet habe,
nicht geben.
Die neuzeitlichen Rationalisten haben nun im Grunde zwei verschiedene Alternativmodelle
angeboten, um die Zuverlässigkeit rationaler Einsicht zu erklären. Das erste Modell erklärt
rationalistische Erkenntnis über die Welt durch angeborenes Wissen bzw. angeborene
Begriffe. Dieses Modell wurde vor allem von Descartes und Leibniz vertreten. Diesem Modell
zufolge hat der allwissende und allgütige Gott uns von Geburt an mit Begriffen ausgestattet,
die der Welt entsprechen. Wenn wir also auf die in diesen Begriffen enthaltenen
Informationen reflektieren, gewinnen wir damit zuverlässige Information über die Welt. Und
rationalistische Erkenntnis beruht nach Descartes und Leibniz genau auf diesem
intellektuellen Zugriff auf unsere Begriffe. Der britische Empirist Locke hat das
rationalistische Modell angeborener Begriffe scharf attackiert. Wären Menschen mit
angeborenen Begriffen tatsächlich ausgestattet, so Locke, dann müsste ihnen das auf diese
Weise angeborene Wissen von Geburt an und universell zur Verfügung stehen. Dass das
offensichtlich nicht der Fall ist zeigt beispielsweise unser Wissen von logischen Prinzipien
(dem rationalistischen Paradebeispiel angeborener Prinzipien): Viele Kinder haben keinerlei
Wissen von solchen Prinzipien und auch viele Erwachsene kommen niemals dazu, solche
Prinzipen zu erkennen. Die Rationalisten haben jedoch schnell die Schwachstelle dieser
Argumentation erkannt. Es ist einfach nicht richtig, dass jede angeborene Anlage sich sofort
mit der Geburt manifestiert. Oft sind dazu Reifungsprozesse erforderlich, wie beispielsweise
für den Bartwuchs, der beim Mann sicher angeboren ist, sich aber erst in der Pubertät zeigt.
Und viele angeborene Dispositionen manifestieren sich erst durch auslösende Faktoren, doch
diese auslösenden Faktoren sind eben nicht identisch mit dem Erwerb der Disposition. So
gehen heute viel Linguisten nach Chomsky davon aus, dass Syntaxkompetenzen dem
Menschen angeboren sind, ihre Ausprägung jedoch davon abhängen, dass die richtigen
Umweltreize auftreten. Genauso plausibel wäre die Annahme, dass uns logische Prinzipien
angeboren sind, wir sie jedoch erst durch das richtige Maß an Reflexion als solche erkennen
können.
Das eigentliche Problem des Modells liegt meines Erachtens jedoch in Gott als Garant der
Korrespondenz zwischen den Begriffen und der Welt. Es besteht nicht darin, dass wir bereits
zirkulär apriorisches Wissen in Anspruch nehmen müssen, um von Gott zu wissen und so die
Möglichkeit apriorischer Erkenntnis erklären zu können. Denn auch bei der Erklärung
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empirischen Wissens über die Welt müssen wir bereits empirisches Wissen über unsere
kausale Interaktion mit unserer Umwelt in Anspruch nehmen. Darin liegt nichts an sich
Verwerfliches. Das Problem liegt vielmehr darin, dass die Möglichkeit selbst apriorischer
Gottesbeweise in der rationalistischen Tradition zunehmend problematisch geworden ist. An
Gott kann man glauben, aber wissen kann man von seiner Existenz nicht. Das gilt spätestens
seit Kant weithin, wenn auch keineswegs ungeteilt als ausgemacht. Erklärungen, deren
Prämissen man aber bloß glauben kann, hängen irgendwie in der Luft.
Nun gibt es neuerdings einen Versuch, die Erklärung rationalistischer Erkenntnis durch
angeborene Begriffe modifiziert wieder aufzugreifen. Die Vertreter der evolutionären
Erkenntnistheorie
(wie
Peter
Carruthers)
beanspruchen
nämlich,
dass
sie
die
Übereinstimmung unserer angeborenen Begriffe mit der Welt auch ohne Rückgriff auf
göttliche Garantien erklären können, und zwar durch evolutionäre adaptive Prozesse. Der
Selektionsdruck garantiere, dass die angeborenen Merkmale mit der Wirklichkeit
übereinstimmen, da ansonsten das Verhalten der Lebewesen unangepasst sei und wenig
Überlebenschancen habe. Diese evolutionäre Variante vermag nun meines Erachtens die
Zuverlässigkeit empirischer Erkenntnis sehr wohl zu erklären. Bezüglich rationalistischer
Erkenntnis muss sie jedoch scheitern, weil die Evolution nur die Adaption an die aktuale Welt
belohnt, zuverlässige Erkenntnis über stark modale Tatsachen vom evolutionsbiologischen
Standpunkt jedoch nutzlos ist. Möglichkeiten und Notwendigkeiten sind nicht das Brot, das
uns ernährt.
Der zweite neuzeitliche Ansatzpunkt für eine Erklärung rationalistischer Erkenntnis ist Kants
transzendentaler Idealismus. In ihm tritt das Subjekt an die Stelle Gottes als Garant der
Korrespondenz zwischen unseren apriorischen Urteilen über die Welt und der Welt selbst.
Kant behauptet nämlich, dass der Gegenstand der Erfahrung (auf den sich alle unsere
Erkenntnisse beziehen) gar nicht gänzlich unabhängig vom Subjekt sei, sondern durch den
Verstand konstruiert werde und deshalb auch seinen Grundbegriffen entsprechen müsse. Kant
beschreibt diesen Zusammenhang in der Einleitung in seine KrV auch wie folgt: „dass wir
nämlich von den Dingen nur das a priori erkennen, was wir selbst in sie legen.“ (B XVIII)
Dahinter steht die radikale These, dass die gesamte natürliche Erfahrungswelt vom Verstand
abhängt. Leider liefert Kant für diese These keine wirklich durchschlagenden Argumente.
(Denn aus der offensichtlichen Tatsache, dass Gegenstände für mich nur etwas sind, wenn ich
mich vorstellend auf sie beziehe, folgt nicht, dass diese Gegenstände bloß meine
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Vorstellungen oder Erscheinungen sind.) Und der transzendentale Idealismus impliziert
andererseits eine reduktionistische Behauptung, dass nämlich alle unsere Aussagen über die
erfahrbare Natur ohne Rest auf Aussagen über unsere Erfahrung der Natur reduziert werden
können. Doch dieser Reduktionsanspruch widerspricht dem in unsere Überzeugungen
eingebauten Alltagsrealismus, wonach die Natur unabhängig von uns Menschen existiert.
Letzten Endes kann also Kant die Möglichkeit rationalistischer Erkenntnis nur um den Preis
erklären, dass sie sich gar nicht wirklich auf eine von uns unabhängige Welt bezieht, sondern
nur von unserer Vorstellungswelt handelt. Und das bedeutet letztlich, dass er gerade nicht das
erklären kann, was der Rationalist beansprucht, dass wir apriorisches Wissen von einer von
uns unabhängigen Welt haben können.
Wenn jedoch die zwei neuzeitlichen Erklärungsmodelle – angeborene Begriffe und
transzendentaler Idealismus – sowie das antike Modell der intellektuellen Wahrnehmung
nicht das halten, was sie versprechen, ist dann rationalistische Erkenntnis am Ende nichts
anderes als das, wofür Empiristen es stets gehalten haben – ein obskures, mysteriöses,
unerklärliches Unding? Ich denke, wir müssen die Fragerichtung umkehren und noch einmal
überlegen, ob nicht am Ende die Erklärungsforderung der Empiristen selbst unangemessen
und überzogen ist. Damit Urteile, die sich auf eine bestimmte Quelle stützen, Erkenntnis oder
Wissen darstellen, muss ein nicht-zufälliger, zuverlässiger Zusammenhang zwischen diesen
Urteilen und ihrer Wahrheit bestehen. Soviel sollte unstrittig sein. Im Fall von Urteilen über
kontingente Tatsachen (die auch anders sein könnten) besteht kein solcher zuverlässiger
Zusammenhang, solange es keinen metaphysischen Zusammenhang zwischen der Quelle der
Urteile und den Tatsachen gibt, die diese Urteile wahr machen. Solange die Tatsachen in
unserer Umgebung unsere Sinneserfahrung nicht kausal bestimmen (wie etwa im Traum oder
bei einem durch einen Computer manipulierten Gehirn im Tank), ist nichts da, was
gewährleistet, dass die Erfahrung auch eine Veränderung der Tatsachen in der Umgebung
registrieren würde. Es fehlt die metaphysische Basis für eine zuverlässige Kovarianz
zwischen Tatsachen und Erfahrung. Und solange diese Basis fehlt, besteht auch kein
zuverlässiger Zusammenhang und damit auch keine Erkenntnis und kein Wissen. Wie wir
gesehen haben, kann das metaphysische Fundament der zuverlässigen Korrelation auch in
Gott und seinen Schöpfungsakten liegen oder in einer metaphysischen Abhängigkeit der
Tatsachen vom Subjekt, wie es der transzendentale Idealismus will. Aber ohne eine
metaphysische Basis gibt es keine zuverlässige Korrelation.
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Ganz anders sieht die Sache aus, wenn wir es mit rationalen Intuitionen zu tun haben, die sich
auf modale Tatsachen beziehen. Hier kann es eine zuverlässige Übereinstimmung auch ohne
metaphysischen Zusammenhang zwischen Intuitionen und Tatsachen geben, weil modale
Tatsachen sich nicht verändern können und auch nicht hätten anders sein können. Sie sind
stabil über alle möglichen Welten. Was möglich ist, ist notwendigerweise möglich, und was
notwendig ist, ist notwendigerweise notwendig. Wenn das richtig ist, dann kann es hier auch
eine zuverlässige Übereinstimmung ohne metaphysischen Zusammenhang geben, weil ein
Garant der Kovarianz nur dann erforderlich ist, wenn die Tatsachen, auf die sich unsere
Intuitionen beziehen, überhaupt variieren können. Das ist aufgrund ihrer Stabilität bei
modalen Tatsachen jedoch nicht der Fall. Was ich hier allenfalls andeuten kann, ist die
Asymmetrie zwischen Erkenntnissen über kontingente und Erkenntnissen über modale
Tatsachen. Im ersten Fall ist eine metaphysische Grundlage der erforderlichen zuverlässigen
Wahrheitsbeziehung nötig, die diese dann auch erklärt. Im zweiten Fall ist diese Erklärung
überhaupt nicht nötig. Und deshalb ist es zwar richtig, dass wir rationalistische Erkenntnis
nicht erklären können, aber diese Tatsache diskreditiert nicht den erkenntnistheoretischen
Status rationaler Intuition.
Mein Schnelldurchgang durch den neuzeitlichen Rationalismus hat einige Überraschungen zu
Tage gefördert. Zunächst einmal können rationalistische Erkenntnisse nicht die Funktion
übernehmen unserem empirischen Wissen ein Fundament zu geben. Rationalistische
Erkenntnisse sind basale Erkenntnisse neben anderen wie Wahrnehmung, Erinnerung,
Selbstwissen usw. Ihr Funktion liegt vor allem darin, die metaphysische Natur grundlegender
philosophischer Phänomene (wie Wissen, Freiheit, Wahrheit) ans Licht zu bringen, und zwar
mit Hilfe kontrafaktischer Überlegungen über Möglichkeiten. Darin liegt wohl eine
wesentliche Aufgabe der Philosophie. Abrücken müssen wir von der lieb gewonnenen
Vorstellung, dass Erkenntnis aus reiner Vernunft irrtumsimmun ist. Descartes hat diese Idee
propagiert, aber bereits viele vorsichtigere Rationalisten der Neuzeit haben bemerkt, dass
dieser Anspruch übertrieben ist. Wenn wir von der Unfehlbarkeit apriorischer Erkenntnis
abrücken,
machen
wir
sie
damit
jedoch
auch
weniger
angreifbar
durch
das
Totschlagsargument des universellen Fallibilismus. Eine Menge Tatsachen über rationale
Intuitionen liegen nach wie vor vollkommen im Dunkeln. So ist immer noch unklar, durch
welche psychologischen Prozesse sie zustande kommt und ob diese Prozesse tatsächlich
hinreichend unabhängig von der Erfahrung sind, um am Anspruch des Rationalismus
festhalten zu können. Außerdem müsste durch psychologische Studien genauer als bislang
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geschehen untersucht werden, ob rationale Intuitionen über die Zeit hinweg und zwischen
verschiedenen Personen konvergieren ausreichend konvergieren. Nur wenn das der Fall ist,
lässt sich der Anspruch des Rationalisten aufrechterhalten. Der Streit zwischen Rationalisten
und Empiristen ist also noch lange nicht entschieden. Aber ich hoffe, dass ich Ihnen zeigen
konnte, dass der Rationalismus nach wie vor eine attraktive Position ist.
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